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Bnndesrathsbeschlnß über

den Rekurs der Herren W. Matt und Mithafte gegen ein Urtheil des Polizeigerichtspräsidenten von Basel-Stadt, betreffend Verlassen der Arbeit ohne Kündigung.

(Vom 22. Dezember 1890.)

Der schweizerische Bundesrath, auf den Antrag seines Industrie- und Landwirthschaftsdepartements ; nach Einsicht der Akten, aus welchen sich ergibt: Den 26. Dezember 1889 wurden Maschinenmeister W. Matt und die Schriftsetzer K. Fricker, Karl Wissmann, Anton Bergmann, Clemens Troxler, Hans Huber, Jos. Jordan, Lazard Frank, sämmtliche in Arbeit gewesen in der Buchdruckerei K. J. Wyß in Basel, wegen Verlassens der Arbeit ohne Kündigung (infolge Strikes) vom Polizeigerichtspräsidenten von Basel-Stadt, gestützt auf Art. 9 und 19 des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken, vom 23. März 1877, und auf S 37 des kantonalen Polizeistrafgesetzes, zu Geldbußen verurtheilt, und zwar W. Matt zu einer solchen von Fr. 20 (eventuell 3 Tagen Haft), die übrigen zu Bußen von je Fr. 40 (eventuell zu 6 Tagen Haft).

Nachdem die verurtheilten Matt und Konsorten gegen diesen Spruch des baselstädtischen Polizeigerichtspräsidenten beim eidg.

Kassationsgericht Einsprache erhoben hatten, wurden sie von demselben am 24. April 1890 ,, w e g e n I n k o m p e t e n z " abgewiesen und zu der Bezahlung der Gerichts- und Abfertigungsgebühren

516 angehalten. Das Gericht bemerkt in seinen Erwägungen: ,,Beschwerden, welche die Verletzung verwaltungsrechtlicher oder polizeilicher Vorschriften des eidg. Fabrikgesetzes betreffen, sind vielmehr gemäß Art. 59, Ziffer 8, 0. G., an den Bundesrath zu richten."

Infolge dessen reichte Herr Fürsprech Alex. Reichel in Bern, Namens Matt und Konsorten, beim Bundesrathe einen vom 27. Juni 1890 datirten Rekurs ein mit dem Schlußantrag : ,,Es sei das Urtheil des Polizegerichtspräsidenten von BaselStadt, vom 26. Dezember 1889, wegen unrichtiger Anwendung des Fabrikgesetzes aufzuheben, unter Kostenfolge gegen wen Rechtens."

Diese Rekursschrift wurde dem Regierungsrath des Kantons Basel Stadt zur Begutachtung überwiesen, welcher da er ,,an der Fällung des betreffenden Urtheils nicht betheiligt gewesen" sei, mit Zuschrift vom 20. September abhin, die bezügliche Antwort des kantonalen Polizeigerichtspräsidenten übermittelte. Letzterer beantragt Abweisung des Rekusbegehrens Das Gutachten der eidg. Fabrikinspektoren vom 25. Oktober 1890 empfiehlt dagegen Begründeterklärung des Rekurses, ebenso auch dasjenige des eidg. Justizdepartements vom 11. November 1890; in Erwägung: 1. Im Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fabriken sind, abgesehen von den Art. 8 und 9, nirgends Vorschriften enthalten, welche der Arbeiter von sich aus zu beobachten hat, es handelt vielmehr naturgemäß, als Arbeiterschutzgesetz, meistens von den Pflichten der Arbeitgeber. Artikel 8 verlangt vom Arbeiter, daß er der amtlich genehmigten Fabrikordnung Folge leiste, und Art. 9 enthält Vorschriften, in welcher Weise er das Verhältniss zum Arbeitgeber zu lösen habe. Gemäß Art. 7 desselben Gesetzes bildet die Regelung der Kündigung einen integrierender Bestandtheil der Fabrikordnung, da in dieser "die Bedingungen des Eh> und Austritts" enthalten sein müssen. Die Verletzung der Kündigungsfrist schließt demnach eine Verletzung der Fabrikordnung in sich ; für eine solche hat sich aber der Arbeiter nach Art. 8, Alinea 3, lautend: ,,Die genehmigte Fabrikordnung ist für den Fabrikbesitzer und die Arbeiter verbindlich. Zuwiderhandlungen seitens des Erstem fallen unter Art. 19 dieses Gesetzes", n i c h t vor dem Forum des Polizeirichters zu verantworten.

2. Würde aberauch-angenommen, daß Verletzungen der Kündigungstermine flicht unter die Bestimmungen von Art. '8, Alinea 3,

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des Fabrikgesetzes fallen, so muß doch anerkannt werden, daß Streitigkeiten wegen Kündigung, wie dies Art. 9 desselben Gesetzes deutlich genug zu erkennen gibt, nicht Gegenstand des öffentlichen Rechtes sind. Dies erhellt außerdem aus der Thatsache, daß das Gesetz dem Arbeitgeber ein besonderes Recht, dasjenige des Lohnrückhalts von 6 Arbeitstagen als Garantie für Innehaltung der Kündigungsbestimmungen, zuspricht, und daß dieser Décompte dem Arbeitgeber bei ungesetzlicher Lösung des Verhältnisses zwischen ihm und dem rechtswidrig austretenden Arbeiter verfällt.

3. Art. 9 des Fabrikgesetzes hat keinen pôlizeîrechtlichen Charakter; sein Inhalt ist civilrechtlicher Natur, und zwar enthält er, wie die Rekursschrift richtig ausführt, dispositives, d. h. nur für den Fall, daß Arbeitgeber und Arbeiter nichts Anderes vereinbaren, -eintretendes Recht, also vom Gesetze normirtes Vertragsrecht. Die Parteien können unter gewissen Vorbehalten eine beliebige Kündigungsfrist aufstellen, es kann aber auch jede Kündigungsfrist ausgeschlossen werden, wodurch sogar Art. 9 zum Theil ganz außer Wirkung gesetzt wird. So läßt diese ausnahmsweise Behandlung der Kündigungsfrage voraussetzen, daß Art. 9 nicht als eine bestimmte f a ' b r i k p o l i z e i l i c h e Vorschrift, sondern lediglich als die Festsetzung der Art und Weise zu betrachten sei, wie die vertragsrechtliche Frage der Kündigung geregelt werden müsse. Und daß die Kündigung des Fabrikarbeiters in gleicher Weise zu behandeln sei, wie die Auflösung jedes beliebigen Dienstoder Werkvertrages, geht nicht nur aus dem Ingreß von Art. 9, der ausdrücklich von einem Vertragsabschluß spricht, hervor, sondern auch aus dem 2. Alinea desselben Artikels, welches Streitigkeiten über die gegenseitige Kündigung (resp. Nichtkündigung) und alle übrigen Vertragsverhältnisse dem zuständigen Richter überweist, unter welchem nur der Civilrichter verstanden sein kann.

4. Es mag allerdings befremdend erscheinen, daß nicht alle Uebertretungen des Fabrikgesetzes, seien sie vom Arbeiter oder Arbeitgeber begangen, nach Art. 19 in gleicher Weise bestraft werden. Bei genauerer Betrachtung rechtfertigt sich jedoch eine verschiedene Behandlung vollkommen. Nach Art. 8, Alinea 3, werden Zuwiderhandlungen gegen die Fabrikordnung nur dann richterlich bestraft, wenn sie vom A r b e i t g e b
e r begangen sind.

Bei Verletzungen der Fabrikordnung seitens des A r b e i t e r s kann derselbe vom Prinzipal nicht nur mit sofortiger Entlassung, sondern auch mit Buiie bis zu einer gewissen Höhe bestraft werden. Sollte nun der Arbeiter sich auch noch vor dem Strafrichter zu verantworten haben, so würde er zwiefach zur Verantwortung gezogen, während der Arbeitgeber nur vor einem Tribunal Rechenschaft

518 abzulegen hat. Eine solche Ungleichheit vor dem Gesetze wollte der Gesetzgeber vermeiden und er bestimmte deßhalb ausdrücklich, daß nur der Arbeitgeber wegen Zuwiderhandlungen gegen die Fabrikordnung strafrechtlich verfolgt werde.

5. Endlich sei darauf hingewiesen, daß die Kongruenz der in vorstehenden Erwägungen zum Ausdruck gebrachten Anschauung mit derjenigen des Gesetzgebers auch aus der Geschichte des Art. 19 des Fabrikgesetzes hervorgeht. Im Entwurf des Bundesrathes, vom 2. November 1875, enthielt der dem Art. 19 entsprechende Art. 18 folgendes Alinea 4 : ,,Civilrechtliche Streitigkeiten, welche aus dem Vertragsverhältnisse zwischen dem Fabrikbesitzer und Arbeitern entstehen (Art. 9), können keine Strafen zur Folge haben.tt Dieses Alinea wurde nur deßhalb gestrichen, weil die nationalräthliche Kommission in ihrem Bericht vom 24. Mai 1876 ,,Streichung dieses, sowie dos letzten Alinea, welches wir für v o l l s t ä n d i g ü b e r f l ü s s i g erachtena, beantragte, beschließt: 1. Der Rekurs des Herrn Fürsprech A. Reichel in Bern, Namens seiner Klienten W. Matt und Mithafte, wird als begründet erklärt und das Urtheil des Polizeigerichtspräsidenten von BaselStadt, vom 26. Dezember 1889, aufgehoben.

2. Gemäß feststehender Praxis tritt die administrative Bundesrekursinstanz auf die von den Rekurrenten erhobene Kostenfrage nicht ein.

3. Von diesem Beschlüsse ist den Rekurrenten unter Zustellung der von ihnen beigebrachten Akten, sowie dem Regierungsrath des Kantons Basel-Stadt zu Händen des dortigen Polizeigerichtspräsidenteo Kenntniß zu geben.

4. Dieser Beschluß ist im Bundesblatt zu veröffentlichen.

B e r n , den 22. Dezember 1890.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes : Der Bundespräsident:

L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesrathsbeschluß über den Rekurs der Herren W. Matt und Mithafte gegen ein Urtheil des Polizeigerichtspräsidenten von Basel-Stadt, betreffend Verlassen der Arbeit ohne Kündigung. (Vom 22. Dezember 1890.)

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27.12.1890

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