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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung zum Entwurf des Bundesgesetzes betreffend die Auslieferung gegenüber dem Ausland.

(Vom 9. Juni 1890.)

Tit.

Die Bundesbehörden haben sieh alljährlich mit einer erheblichen Anzahl von Auslieferungsbegehren zu beschäftigen, welche von Seiten der angrenzenden, sowie verschiedener anderer Staaten bei der Schweiz gestellt werden; anderseits kommt auch der Bundesrath jedes Jahr in den Fall, eine, wenn gleich nicht so bedeutende, doch immerhin ansehnliche Zahl von Auslieferungen bei auswärtigen Regierungen nachzusuchen*). Obwohl somit die Auslieferungsangelegenheiten im Geschäftskreise unserer auswärtigen Beziehungen eine hervorragende Stelle einnehmen, haben bisher weder iiie Voraussetzungen für die Bewilligung oder für die Stellung eines Auslieferungsbegehrens, noch auch das Verfahren eine bundesgesetzliche Regelung gefunden. Daher begegnen wir denn auch auf diesem Gebiete einem bedauerlichen Maugel an Gleichförmigkeit, indem die zu verschiedenen Zeiten abgeschlossenen Verträge mit dem Ausland in den wesentlichsten Punkten erhebliche Abweichungen aufweiten. Für den Verkehr mit solchen Staaten, mit welchen keine Ablieferungsverträge bestehen, sowie für alle *) So beträgt für das letzte Jahrzehnt, 1880/1889, die jährliche Durchschnittszahl der bei der Schweiz gestellten Auslieferungsbegehren 170, diejenige der von der Schweiz bei auswärtigen Regierungen nachgesuchten Auslieferungen 97. Für das Nähere verweisen wir auf die der Botschaft beigedruckten Tabellen I und II (Seite 362, 363).

317 in den vorhandenen Verträgen nicht vorgesehenen Fälle gelten überhaupt keine bestimmten Vorschriften: das Verfahren wird lediglich durch eine in ihren Grundlagen überdies stark bestrittene Administrativpraxis beherrscht. Endlich beruht die Ausscheidung der Kompetenzen des Bundesrathes und des Buudesgerichts, dieser beiden in Auslieferungssachen zuständigen Bundesbehörden, nur auf einer zwischen ihnen getroffenen Vereinbarung, deren Tragweite gleichfalls zu Meinungsverschiedenheiten Anlaß gegeben hat.

Schon längst ist die Ansicht zum Ausdrtick gebracht worden, daß diese Fragen auf gesetzgeberischem Wege ihre Regelung finden sollten. Ja, wir können diesen Gedanken sogar bis in die ersten Zeiten unserer bundesstaatlichen Organisation zurück verfolgen.

Die Bundesversammlung hat schon am 2. Dezember 1850 den Bundesrath in Form eines Postulates eingeladen, ,,den Entwurf zu einem Gesetze betreffend die Auslieferung von Verbrechern . . . .

von der Schweiz an das Ausland und umgekehrt zu hinterbringen".

Der Antrag hiezu war von der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrathes ausgegangen, welche denselben in ihrem Berichte über die Geschäftsführung des Bundesrathes während des Jahres 1849 folgendermaßen motivirte: (Die Kommission) ,,geht.... von der Ansicht aus, . . . daß die Bundesversammlung mit Beziehung auf die Auslieferung von Verbrechern aus der Schweiz nach dem Auslande und aus dem Auslande nach der Schweiz jene organischen Vorschriften erlassen sollte, die sich, da die Bundesverfassung dieser Art von Auslieferungen nirgends ausdrückliche Erwähnung thut, und die Bestimmungen der Bundesverfassung, welche etwa auf dieses Verhältmß bezogen werden können, nur sehr allgemein lauten, als durchaus nothwendig herausstellen. Die Kommission nimmt an, es würden solche Vorschriften am angemessensten u in ein Bundesgesetz niedergelegt (Bundesbl. 1850, III, 375).

Der Bundesrath gab diesem Postulate keine Folge, ohne Zweifel von dem Gedanken geleitet, der Erlaß eines Gesetzes erscheine angesichts der stets wachsenden Anzahl von Auslieferungsverträgen als Überflüssig. Die Bundesversammlung ihrerseits kam auf diesen Gegenstand nicht zurück, und so ist heute, nach 40 Jahren, jenes Gesetz noch nicht erlassen, das man schon 1850 als ,,durchaus noth wendig" bezeichnete, und dessen Wünsch barkeit das Handbuch
des schweizerischen Bundesstaatsrechts von BlumerMorel (Bd. III, S. 546 und 551) von verschiedenen Gesichtspunkten aus hervorgehoben hat. Der Grund hiefür liegt in der Materie selbst, welche der gesetzliehen Regelung außerordentliche Schwierigkeiten entgegenstellt. Diese Hindernisse sind indessen nunmehr großeutheils beseitigt, nachdem die sich stets vermehrenden Aus-

318 lieferungsverträge zwischen den zivilisirten Staaten eine Reihe gemeinsamer Grundsätze zur Geltung gebracht, und so gewissermaßen ein vertragsmäßiges Gewohnheitsrecht gebildet haben, welches sowohl für die wissenschaftliche Erörterung als für die gesetzgeberische Bearbeitung als Grundlage dienen kann.

An der Versammlung des schweizerischen Juristenvereins vom 26. September 1887 in Bellinzona sprachen im Verlaufe der Verhandlungen über die Frage der Auslieferung von Kanton zu Kanton mehrere Redner den Wunsch aus, es möchte auch die Auslieferung gegenüber dem Auslande durch ein Bundesgesetz geregelt werden. Für die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Frage wurde infolge dessen eine Preisbewerbung eröffnet, welche die Krönung einer diesbezüglichen Abhandlung *) von Hrn. Jacques Berney zur Folge hatte. Auch diese verdienstvolle Arbeit spricht sich aus mehrfachen Gesichtspunkten für den Erlaß eines Bundesgesetzes über den fraglichen Gegenstand aus.

Eine Anzahl von Staaten, nämlich Belgien, Holland, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Großbritannien, Luxemburg, der Unabhängige Kongostaat, die Argentinische Republik, sind bereits zum Erlasse von Auslieferungsgesetzen geschritten. In Frankreich und Italien liegen bezügliche Entwürfe vor. Gleichwohl hätten wir vielleicht noch längere Zeit gezögert, das Beispiel jener Staaten zu befolgen und Ihnen den Entwurf eines Auslieferungsgesetzes zu unterbreiten, hätte nicht das Zusammentreffen verschiedener Umstände, die wir in Kürze erörtern wollen, uns dies ganz, besonders und dringend nahe gelegt.

1. Obschon wir stets auf den Abschluß von Auslieferungsverträgen mit den zivilisirten Staaten bedacht gewesen sind, besitzt die Schweiz bis jetzt nur 16 derartige Verträge, von denen sich einer, derjenige mit Ecuador, lediglich auf die Zusicherung des Gegenrechts beschränkt. Außerdem enthalten die Niederlassungsverträge mit dem Unabhängigen Kongostaat und mit der Südafrikanischen Republik je eine Bestimmung betreffend die Auslieferung.**) Nun sind wir aber häufig in der Lage, ein Auslieferungsbegehren auch an solche, besonders überseeische Staaten richten zu müssen, welche mit uns keine Auslieferungsverträge *) De la procédure suivie en Suisse pour l'extradition des malfaiteurs aux pays étrangers. Exposé critique, en vue de l'élaboration d'une loi fédérale,
par Jacques Berney. Baie. Detloff. 1889.

**) Bine vollständige Aufzählung der gegenwärtig in Kraft bestehenden Auslieferungsverträge der Schweiz mit dem Ausland siehe Beilage 111, Seite 364.

319 abgeschlossen haben; ebenso kommt es, wenngleich seltener, vor, daß Staaten, die sich in dieser Lage befinden, bei der Schweiz ein Auslieferungsbegehren stellen. Für derartige Fälle hat sich auf Grund von Art. 102, Ziffer 8, der Bundesverfassung, wonach der Bundesrath ,,die Interessen der Eidgenossenschaft nach Außen, wie namentlich ihre völkerrechtlichen Beziehungen, wahrt, und die auswärtigen Angelegenheiten überhaupt besorgt"1, eine feste Uebung herausgebildet, welcher die Bundesversammlung ihre Zustimmung stillschweigend ertheilt hat; danach kann der Bundesrath auf die bloße Zusicherung des Gegenrechts hin eine Auslieferung bewilligen oder, falls das Auslieferungsbegehren von ihm ausgeht, eine solche Gegenrechts-Zusicherung ertheilen. Genau genommen, wird mit der Abgabe einer derartigen Erklärung eine Art, Vertrag eingegangen, jedenfalls eine völkerrechtliche Verpflichtung übernommen, und da dies ohne Mitwirkung der Bundesversammlung geschieht, ist das Verfahren verfassungsrechtlich nicht unanfechtbar.

Sind vvir auch im Interesse der Rechtspflege über dieses Bedenken hinweggegangen, so geschah dies doch mit dem Wunsche, es möchten in Zukunft durch Ertheilung der nöthigen Befugnisse an den Buudesrath beziehungsweise au das Bundesgericht diese Verhältnisse gesetzmäßig geordnet werden.

Noch heikler gestaltet sich die Frage der Gegenrechtszusicherung, wenn ein Vertrag zwar besteht, das von uns gestellte Begehren jedoch ein Vergehen betrifft, das im Vertrag als Auslieferungsdelikt nicht vorgesehen ist. Auch für diese Fälle wurde anfänglich durch eine langjährige Uebung die Kompetenz des Bundesrathes zum Austausch von Gegenrechtserklärungen anerkannt, eine Befuguiß, von welcher besonders im Verkehr mit Deutschland, Frankreich und Italien Gebrauch gemacht worden ist. Die Bundesversammlung gab ihr Einverständniß mit diesem Vorgehen jeweilen dadurch zu erkennen, daß sie die Geschäftsberichte des Bundesrathes, worin sich derartige Verhandlungen erwähnt fanden, ohne Bemerkung, genehmigte.*) *) Siehe z. B. U l l m e r , Staatsrechtliche Praxis, Bd. II, Seite 684.: 1377. Auf ein Gesuch der f r a n z ö s i s c h e n Gesandtschaft um Auslieferung eines Franzosen, Namens G u i s s a r t , wegen Nothzncht, wollte die Regierung von Wallis nicht eintreten, weil es sich um ein in dem Staatsvertrage nicht
vorgesehenes Verbrechen handle. Mit Note vom 1. September 1862 begründete dann die Gesandtschaft das Begehren folgendermaßen: Schon längst sei anerkannt, daß der Artikel V des Vertrages vom 18. Juli 1828 nicht limitativ sei. In Wirklichkeit sei er schon oft auf andere Verbrechen ausgedehnt worden, als die dort speziflzirten, sofern wenigstens diese Verbrechen in beiden Ländern mit Leibes- oder entehrenden Strafen bedroht seien. Aus diesem Grunde habe ein Dekret vom 24. Juni 1858 auf Begehren des Bnndesrathes die Auslieferung eines gewissen P a h r n i bewilligt,

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Diese Uebung blieb unangefochten bis zum Jahre 1885, iu welchem Jahre zum ersten Male im Nationalrath gegen die Kompetenz des Bundesrathes zur gültigen Eingehung von solchen Gcgeurechtsverpflichtuugen Bedenken geäußert wurden. Man wollte zwar dem-Bundesrathe diese Befugniß nicht schlechthin absprechen, insbesondere nicht für diejenigen Fälle, wo ein. Auslieferungsvertrag fehlt; dagegen fand man, sobald ein Vertrag vorliege, worin die Auslieferuiigsdelikte einzeln aufgezählt seien, müsse man diese Aufzählung als eine erschöpfende und damit die Materie als durch die gesetzgebenden Räthe endgültig geregelt betrachten; weßhalb denn auch dem Bundesrathe nicht das Recht zugestanden werden könne, die Auslieferung wegen anderer als der im betreffenden Vertrage vorgesehenen Vergehen zu bewilligen oder eine solche Bewilligung zum Voraus zuzusichern. Der Bundesrath wendete hiegegen ein, wenn man ihm die Befugniß zuerkenne, in Ermangelung von Staatsverträgen bindende Verpflichtungen einzugehen, so müsse ihm folgerichtig auch das -- praktisch viel wichtigere -- Recht eingeräumt werden, gegenüber denjenigen Staaten, mit denen die Schweiz durch Verträge verbunden und der Verkehr in Aüslieferungssacheu überdies ein viel regerer ist, ähnliche Erklärungen abzugeben. Die buudesräthliche Kompetenz beruhe in beiden Fällen auf der nämlichen Grundlage; man müsse dieselbe entweder in beiden Fällen .gutheißen oder in beiden als mißbräuchlich erklären.

Die Bundesversammlung hielt die Frage für noch nicht genügend abgeklärt und beschränkte sich darauf, am 26. Juni 1885 ein Postulat folgenden Inhalts zu beschließen: ,,Der Bundesrath wird ersucht, über die konstitutionelle Zulässigkeit der blos administrativen ^Auslieferungen, d. h. der Auslieferungen auf Reziprozität trotz vorhandenen Staatsverträgen, Bericht zu erstatten, und falls derartige Auslieferungen zulässig der in der Schweiz wegen Nothzuchtversuch.es an einem Mädchen unter 15 Jahren und wegen zahlreicher Attentate auf die Unschuld junger, seiner Sorge anvertrauter Mädchen angeklagt gewesen. Ebenso habe im Jahre 1842 die Regierung von Bern einen gewissen B a r g e r e y an die französische Regierung ausgeliefert, der in Prankreich wegen mehrfacher Nothzuchtsversuche verfolgt worden sei. Es wäre zu bedauern, wenn eine andere Praxis Platz greifen würde.

Der Bundesrath
sprach gegenüber der Regierung von Wallis die Geneigtheit aus, auf das Begehren einzutreten, also die Auslieferung beim "Verbrechen der Nothzucht, das ohnehin in den diesfälligen Verträgen mit Baden, Oesterreich, Sardinien, Belgien, Bayern, Holland und Nordamerika vorgesehen sei, auch der französischen Regierung auf eine förmliche Gregenrechtszusichernng zu bewilligen. Die Regierung von Wallis erklärte sich dann auch wirklich in diesem Sinne mit der Auslieferung einverstanden.

(B.-B1. 1863, II, 97.)

321 erklärt würden, weiter zu untersuchen, ob es nicht am Platze wäre, sie mit den nämlichen Garantien zu umgeben, wie die auf Grund bestehender Verträge bewilligten Auslieferungen.* Diesem Postulate zu entsprechen, ist der Hauptzweck des vorliegenden Gesetzentwurfes. Derselbe gibt, wie wir glauben, der erwähnten Frage eine vom Standpunkte des Verfassungsrechtes unanfechtbare Lösung.

2. Ein weiterer Zweck eines Auslieferungsgesetzes ist, zwischen den Kompetenzen des Bundesgerichts und denen des Bundesrathes eine genaue Grenzlinie zu ziehen. Seitdem das Bundesgericht in den Auslieferungsangelegenheiten, welche bis zum Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874 dem Bundesrathe allein zugewiesen waren, mitzusprechen berufen ist, hat bisher auf gesetzgeberischem Wege eioe genaue und folgerichtige Kompetenzausscheidung zwischen diesen beiden Behörden nicht stattgefunden. Das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege enthält in Art. 58 nur die Bestimmung: ,,Das Bundesgericht entscheidet über Auslieferungen, welche kraft bestehender Staatsverträge verlangt werden, sofern die Anwendbarkeit des betreffenden Staatsvertrages bestritten wird. Die vorläufigen Verfügungen bleiben in der Kompetenz des Bundesrathes."

Dieser Grundsatz wurde im Einverständnis mit dem Bundesgericht durch Bundesrathsbeschluß vom 25. Januar 1875 (Bundesbl.

1875, I, 122) dahin präzisirt, daß das Bundesgericht auf Grund des citirten Art. 58 nicht nur über die Frage der Anwendbarkeit des Auslieferungsvertrages, sondern direkt über die Bewilligung oder Verweigerung der Auslieferung zu entscheiden hat. Dahin gehören z. lì. die Fälle, wo sich der Angeklagte auf den politischen Charakter seiner Handlung, auf Verjährung, auf seine Eigenschaft als Schweizerbürger beruft, oder wo er die Strafbarkeit der ihm zur Last gelegten Trmt bestreitet. Wird dagegen, wie das sehr häufig vorkommt, die Anwendbarkeit des Staatsvertrages nicht in Frage Bestellt, sondern nur irgend eine andere Einrede, z. B. diejenige der Unschuld, gegen die Zulässigkeit der Auslieferung geltend gemacht, so entscheidet der Bundesrath. Gegen diese Unterscheidung läßt sich vom Standpunkte der Logik aus nichts einwenden. Stützt sich dagegen das Auslieferungsbegehren auf eine bloße Gegenrechts/iisicherung, so steht io a l l e n Fällen der Entscheid dem Bundesralhe
allein zu. Das Buadesgericht verschließt hier dem Verfolgten sein Forum, von der Ansicht ausgehend, seine Kompetenz erstrecke, sieh nicht auf die Frage der Anwendbarkeit einer lediglich adcniniBundesblatt. 42. Jahrg. Bd. III.

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322 strativen Reziprozitätserklärung, sei dieselbe nun als Nothbehelf statt eines mangelnden oder in Ergänzung eines bestehenden Staatsvertrages abgegeben worden. Dies ist wenigstens der Grundsatz, nach welchem das Bundesgericht noch im Jahre 1884 den Fall Rigaud (E. d. B. G. X , S. 345) entschieden hat; der Genannte wurde in Frankreich wegen fahrlässiger Tödtung verfolgt , und berief sich gegenüber dem Auslieferungsbegehren der französischen Botschaft darauf, daß das fragliche Vergehen im schweizerisch-französischen Auslieferungsvertrage vom 9. Juli 1869 unter den Auslieferungsdelikten nicht aufgezählt sei; der Bundesrath hatte jedoch kurz vorher gerade über dieses Vergehen mit der französischen Regierung eine Reziprozitätserklärung ausgewechselt. Das Bundesgericht seinerseits erklärte nun blos, es könne auf die Beurtheilung des Falles materiell nicht eintreten, da es sich nicht um ein auf Grund eines bestehenden Vertrages gestelltes Auslieferungsbegehren handle. Dem Bundesrath war somit freie Hand gelassen, und er konnte die Auslieferung auf Grund jener Reziprozitätserklärung bewilligen, ohne dadurch einen Kompetenzkonflikt mit dem Bundesgericht herauf zu beschwören. Das letztere soll aber den Entscheid in Sachen Rigaud durchaus nicht ohne Bedenken und nicht einstimmig gefaßt haben, und es läßt sich nicht voraussehen, ob sein Urtheil in einem neuen Falle ähnlicher Art gleich ausfallen würde.

Hier liegt somit ein Keim zu Kompetenzkonflikten, welcher unbedingt beseitigt werden muß. Der vorliegende Entwurf erreicht diesen Zweck, indem er die auf Grund des Auslieferungsgesetzes abgegebenen Gegenrechtserklärungen den eigentlichen Staatsverträgen gleichstellt, und so den Auszuliefernden, sei die Grundlage des Begehrens, welche sie wolle, die Vortheile einer unbefangenen richterlichen Beurtheilung sichert.

3. Art. III des neuen, am 17. November 1888 unterzeichneten, von der Bundesversammlung indeß noch nicht genehmigten Auslieferungsvertrages zwischen der Schweiz und Oesterreich-Ungarn bestimmt: ,,In Ansehung der politischen Verbrechen und Vergehen besteht keine Verpflichtung zur Auslieferung", und fährt sodann fort : ,,Gemäß dieser Bestimmung wird jedoch die Auslieferung nicht verweigert, wenn die strafbare Handlung, welche dem Auslieferungsbegehren zu Grunde liegt, nach den Gesetzen des um die
Auslieferung angegangenen Staates den Thatbestand eines gemeinen Deliktes begründet.

,,Die Beurtheilung und Entscheidung dieser Frage steht dem um die Auslieferung angegangenen Staate zu, welcher auch be-

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rechtigt ist, von dem die Auslieferung nachsuchenden Staate alle hiefür erforderlichen Aufklärungen und Nachweise über den Thatbestand zu verlangen. tl Die vorstehende Bestimmung ist in der Kommission des Nationalrathes, welcher die Priorität für die Behandlung dieses Gegenstandes hatte, lebhaften Bedenken begegnet. Verschiedene Kommissionsmitglieder machten darauf aufmerksam, daß kein Bundesgesetz bestehe, welches den Unterschied zwischen politischen und gemeinen Verbrechen definire, und daß auch die kantonalen Gesetzbücher keine klare Lösung dieser Frage enthalten ; die Kommission kam daher zu dem Schlüsse, bevor dem vorgelegten Vertrage zugestimmt werden könne, sollte die genannte Unterscheidung bundesgesetzlich festgestellt sein ; sie gab dieser Ansicht da.durch Ausdruck, daß sie mit Schreiben vom 8. Juni "1889 den Bundesrath um seine Vernehmlassung über die Frage ersuchte, ,,ob es nicht geboten wäre, allgemeine, das Auslieferungswesen beschlagende Normen festzustellen, welche der Schweiz als Basis gegenüber allen Staaten dienen würden, und zwar sowohl bei der Abschließung von diesbezüglichen Verträgen, als auch für das Verhalten in denjenigen Fällen, wo es an solchen mangelt".

Am 11. Juni 1889 antwortete der Bundesrath, die Vorarbeiten für ein Auslieferungsgesetz werden möglichst befördert werden, und stellte zugleich die baldige Vorlage eines Berichtes und eventuell auch eines Gesetzentwurfes über diese Materie in Aussicht, worauf die Behandlung des Auslieferungsvertrages mit Oesterreich-Ungarn bis zur nächsten Session verschoben wurde.

Damit war nun offenbar ein weiterer Grund für die Ausarbeitung eines Bundesgesetzes über das Auslieferungsrecht gegeben. Wir haben uns bestrebt, für die vielumstrittene Frage betreffend die Auslieferung wegen politischer Delikte im vorliegenden Entwurfe eine Lösung zu finden, welche zugleich den berechtigten Gefühlen des Schweizervolkes und unserer Stellung im Verbände der zivilisirten Staaten entsprechen dürfte.

4. Außer den oben erörterten grundsätzlichen Fragen und den Postulaten der Bundesversammlung, von denen namentlich das letzterwähnte eine beförderliche Erledigung erheischt, haben wir aber noch auf einen weitern Umstand hinzuweisen, welcher gleichfalls den Erlaß eines Auslieferungsgesetzes im höchsten Grade wünschbar macht. Wenn wir uns vergegenwärtigen,
daß seit dem Abschluß unserer ersten Auslieferungsverträge (mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika 1850, mit den Niederlanden 1853) mehr als ein Menschenalter verflossen ist, und daß die Daten der

324 einzelnen Verträge zeitlich meist ziemlich weit auseinander liegen, daß ferner die bezüglichen Unterhandlungen ohne Zugrundlegung eines einheitlichen Planes und durch verschiedene Bevollmächtigte geführt wurden, können wir uns über die tiefgreifenden Abweichungen nicht verwundern, welche sich gerade mit Bezug auf sehr wichtige Punkte, wie namentlich die Feststellung der Auslieferungsdelikte, in diesen Verträgen vorfinden. Ein innerer Grund für derartige Abweichungen besteht aber in keiner Richtung. Daher hat unser Justizund Polizeidepartement um 1882 ein Normalprojekt für Auslieferungsverträge ausgearbeitet, welches seither wiederholt als Grundlage für Vertragsunterhandlungen benutzt worden ist, das sich aber infolge der gemachten Erfahrungen als lückenhaft und in jeder Hinsicht revisionsbedürftig herausgestellt hat. Bei Gelegenheit der nothweudig gewordenen Revision mußte es sich empfehlen, das erwähnte Normal- ' projekt zu einem eigentlichen Gesetze umzuarbeiten, welches naturgemäß für die Verhandlungen mit fremden Regierungen eine viel festere Grundlage zu bieten geeignet ist, als ein bloßes Schema ohne jede gesetzliche Kraft.

Durch den Erlaß eines Auslieferungsgesetzes wird schließlich auch ein Zustand beseitigt, welcher gegenwärtig die verfassungsmäßigen Rechte der Schweizerbürger und der Bundesversammlung in unzuläßiger Weise schmälert. Einerseits kann nämlich die Bundesversammlung beim heutigen Stande unseres Staatsrechts durch den Abschluß von Ablieferungsverträgen die Schweiz dem Auslande gegenüber nach freiem Ermessen binden, ohne daß das Volk im Mindesten über die leitenden Grundsätze sich auszusprechen Gelegenheit hat. Anderseits ist auch der Bundesrath bisher in der Lage gewesen, Reziprozitätserklärungen auszuwechseln, d. h. internationale Verpflichtungen vertraglichen Charakters einzugehen, ohne hiezu weder die Ermächtigung noch die nachträgliche Zustimmung der gesetzgebenden Räthe einholen zu müssen.

Wir beabsichtigen, in dem Ihnen vorgelegten Gesetz diese Kompetenzverhältnisse mit den verfassungsmäßigen Grundlagen in Einklang zu bringen, indem einerseits die Bundesversammlung in die Lage gesetzt wird, für die Abgabe von Gegenrechtserklärungen durch den Bundesrath bindende Schranken aufzustellen, und anderseits das Schweizervolk nun endlich Gelegenheit erhält, sei es stillschweigend,
sei es ausdrücklich, seinen maßgebenden Willen mit Bezug auf jene grundlegenden Fragen kund zu geben, welche bisher ungeachtet ihrer außerordentlichen Wichtigkeit lediglich dem Ermessen seiner Vertreter, ja sogar in einzelnen Fällen demjenigen der Vollziehungsbehörde anheimgegeben waren. Mag auch der Bundesrath hiebei stets nach bestem Wissen und Gewissen "ehaudelt

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haben, so entbehrte eben doch sein Vorgehen der wünschbaren, genau abgegrenzten staatsrechtlichen Grundlage.

Dieß, hochgeachtete Herren, sind die verschiedenen Erwägungen, welche uns veranlaßt haben, den vorliegenden Gesetzentwurf vorzubereiten.

Die äußerst schwierigen Vorarbeiten für diesen Entwurf haben wir unserm hervorragenden Mitbürger, Herrn Professor Dr. Alphons Rivier, schweizerischem Generalkonsul in Brüssel, übertragen, dessen Wahl durch seine ausgedehnten Kenntnisse, durch seine Erfahrung auf dem Gebiete des praktischen Auslieferungsrechts, sowie durch seine zahlreichen Abhandlungen völkerrechtlichen Inhalts von selbst gegeben war. Herr Rivier hat diese Aufgabe bereitwillig übernommen und mit der ihm eigenen Gewandtheit gelöst. Sein vom 12. Oktober 1889 datirter Vorentwurf mit den ihn begleitenden ausgezeichneten Motiven, aus welchen die vorliegende Botschaft reichlich geschöpft, hat, diente als werthvolle Grundlage für die Berathungen einer Expertenkommission, welche durch unser Justiz- und Polizeidepartement aus folgenden Mitgliedern bestellt wurde: Herr Prof. Dr. Rivier, schweizerischer Generalkonsul in Brüssel, ,, Nationalrath Bezzola, in Chur, ,, Prof. Favey, Advokat, in Lausanne, ,, Nationalrath Jeanhenry, in Neuenburg, ,, Bundesrichter Dr. Morel, in Lausanne, ,, Prof. Dr. von Orelli, in Zürich, ,, Scherb, eidg. Generalanwalt, in Bern, ,, Prof. Dr. Stooß, Oberrichter, in Bern, ,, Pro). Dr. Zürcher, in Zürich.

Die Kommission tagte unter dem Vorsitz von Herrn Bundesrath Ruchonnet, Vorsteher des eidg. Justiz- und Polizeidepartements, vom 14. bis 23. April 1890 in Bern.

Nachdem sie sich von vorneherein einstimmig für den Erlaß eines Auslieferungsgesetzes ausgesprochen hatte, trat sie auf die artikelweise Berathung des von Herrn Prof. Dr. Rivier ausgearbeiteten Vorentwurfes ein, unter gleichzeitiger Berücksichtigung einer Anzahl von Anträgen, welche Herr Bundesrichter Dr. Morel zum voraus einzureichen die Güte hatte.

Der Bundesrath hat sich unbedenklich der von der Expertenkommission festgestellten Vorlage angeschlossen, und der Gesetzentwurf, den wir Ihnen zu unterbreiten die Ehre haben, entspricht bis auf einige wenige Abänderungen den aus den Erörterungen der Vorberalhungskommission hervorgegangenen Beschlüssen. Durch die

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nun folgenden Erläuterungen hoffen wir, Ihnen sowohl die leitenden Gedanken und das System des Entwurfes, als auch die Zweckmäßigkeit und Tragweite der einzelnen Bestimmungen erschöpfend klar legeu zu können.

Bevor wir auf die Detailbesprechung der vorgeschlagenen Artikel eingehen, mögen noch einige Bemerkungen allgemeiner Natur hier Plate finden.

Das vorliegende Gesetz beschlägt lediglich die Auslieferung im internationalen Verkehr,, und nicht auch diejenige von Kanton zu Kanton, welche bekanntlich den Gegenstand des Bundesges'etzes vom 24. Juli 1852 bildet. Die Neuordnung dieses letztem Gegenstandes durch ein besonderes Gesetz ist seitens des schweizerischen Juristen Vereins bei Gelegenheit seiner Jahres Versammlung in Bellinzoua lbS7 angeregt worden und soll in Angriff genommen werden, sobald die dringendere, in der Regelung des internationalen Auslieferungsö i O O O rechts bestehende Aufgabe ihre Lösung gefunden haben wird.

Die soeben erwähnte Aufgabe selbst bestand nun für uns nicht darin, die bisher für die Auslieferung von Staat zu Staat beobachteten Normen von Grund aus umzugestalten.

Vielmehr werden O Sie alsbald die Ueberzeugung erhalten, daß wir bestrebt gewesen sind, Neuerungen möglichst zu vermeiden und lediglich die Resultate vierzigjähriger Erfahrung, welche zugleich die in der Mehrzahl der civilisirten Staaten beobachtete Praxis darstellen, in ein Gesetz niederzulegen. Es ist uns freilich nicht entgangen, daß diese Praxis heutzutage durch eine Reihe hervorragender Gelehrter lebhaft angegriffen wird. Eine neuere Lehre, welche vielleicht später einmal die herrschende werden wird, geht dahin, die Auslieferung sei als bloße Frage der internationalen Rechtshillfe zu behandeln und im direkten Verkehr der Gerichtsbehörden ohne Einmischung der beidseitigen Regierungen zu erledigen. Wir haben diese Anschauungsweise nicht zu der unsrigen machen können. In Fragen des internationalen Verkehrs mehr als auf jedem ändern Gebiete muß der Gesetzgeber die gegebenen Verhältnisse berücksichtigen und sich davor hüten, idealen Spekulationen nachzugehen. Das gegenwärtige Auslieferungsverfahren ist bei der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der bestehenden Staatsverträge eine so komplizirte Einrichtung, daß man dabei das unmittelbare Eingreifen der Centralbehörde unmöglich entbehren kann. Einzig die
Centralbehörde ist dadurch, daß alle einzelnen Fälle durch ihre Hände gehen, iu den Stand gesetzt, die Verhältnisse in ihrer Gesammtheit zu überblicken, jederzeit die nöthigen Maßnahmen anzuordnen, alle Mängel und Formfehler sofort zu erkennen uud zu verbessern, und alle auftauchenden Zwischenfragen rasch und sicher zu erledigen. Wir haben

327 daher den Grundsatz aufrecht erhalten, daß die Auslieferung als eia aus dem Selbstbestimmungsrecht des Staates sich herleitender Vorgang, somit als Gegenstand diplomatischer Verhandlung, als ,,Staatsangelegenheitu zu behandeln ist. Dabei verkannten wir indessen nicht, daß auf diesem Gebiete eine Reihe von Fragen rechtlicher Natur vorkommen können, worüber die Entscheidung am richtigsten den Gerichten überwiesen wird. Die Beiziehung des Bundesgerichtes für die Erledigung von Auslieferungsangelegenheiten rechtfertigt sich übrigens Von einem doppelten Gesichtspunkte aus: einmal werden auf diese Weise die individuellen Rechte der betheiligten Privatpersonen vollständiger gewahrt, und anderseits wird auch das Interesse der nationalen Selbständigkeit den Ansprüchen fremder Mächte gegenüber besser geschützt, wenn gewisse, besonders heikle Fragen durch den Spruch der obersten Gerichtsbehörde entschieden werden. Wir haben demgemäß den Kompetenzkreis des Bundesgerichtes in Auslieferungssachen im Vergleich zum gegenwärtigen Zustande erweitert, jedoch dabei daran festgehalten, daß das Bundesgericht solche Fragen nicht als Strafgerichtsbehörde, sondern, wie bisher, in seiner Eigenschaft als S t a a t s g e r i c h t s h o f zu entscheiden hat.

Ein weiterer Punkt, worin wir der neuen Lehre entgegengekommen sind, und womit zugleich ein angesichts der modernen raschen Verkehrsmittel nothwendiger Fortschritt sanktionirt wird, ist die gesetzliche Zulassung der vorläutigen Verhaftung auf direktes Ansuchen einer auswärtigen Gerichtsbehörde. Dieses ursprünglich blos geduldete Verfahren ist in allen neueren Staatsverträgen vorgesehen ; es ermöglicht eine beförderliche Einleitung und Durchführung der dem eigentlichen Auslieferungsverfahren iti den allermeisten Fällen vorausgehenden Nachforschungen, wie sie auf dem Wege der blos diplomatischen Korrespondenz in solcher Raschheit nicht erreichbar wäre.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen endlich noch die Bemerkung, daß das vorliegende Gesetz weder die Auslieferungsverträge noch auch die Gegenrechtsvereiobarungen überflüssig machen, vielmehr den Abschluß derselben dadurch erleichtern soll, daß es ihnen als Grundlage dient. In den durch das Gesetz gebildeten festen Rahmen werden sich die einzelnen Bestimmungen der Verträge je nach der geographischen Lage und den
Rechtszuständen der Mitkoutrahenten, sowie nach den Verhältnissen ihres internationalen Verkehrs mit der Schweiz einfügen lassen. Die Bundesversammlung wird darüber wachen, daß die Staatsverträge den Vorschriften des Auslieferuogsgesetzes entsprechen, und der Bundesrath seinerseits wird keine Erklärungen auswechseln, welche den Bestimmungen dieses Gesetzes zuwiderlaufen würden.

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MotiTe.

Der T i t e l des Entwurfes lautet: ,, B u n d e s g e s e t z b e t r e f f e n d d i e A u s l i e f e r u n g g e g e n ü b e r d e m A usi an d a .

Man mag vielleicht vom rein grammatikalischen Standpunkt aus versucht sein, den Zusatz ,,gegenüber dem Ausland" für überflüssig zu halten, weil der Begriff der Auslieferung streng genommen voraussetzt, daß der Verfolgte aus dem Staatsgebiete weg und einer auswärtigen Behörde zugeführt werde; dies ist auch die anerkannte Bedeutung des gleichwerthigen französischen Ausdruckes ,,extradition tt . Das Verfahren der Zulieferung eines Angeklagten ,,oder Verurtheilten von einer Kantonsbehörde an die andere, innerhalb der Schweizergrenze, wäre im Gegensatz zur Auslieferung um ehesten als Rechtshülfe in Strafsachen zu bezeichnen. Da jedoch das diesbezügliche Bundesgesetz vom 24. Juli 1852 schlechthin den Titel ,,Bundesgesetz über die Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldigten"1 führt, waren wir genöthigt, im Titel des vorliegenden Entwurfes die Verschiedenheit des Gegenstandes durch den Hinweis auf dessen internationale Natur anzudeuten.

Artikel 1. Der in Absatz l aufgestellte Grundsatz ist der Ausdruck einer in der Natur der Sache begründeten und im Laufe der Zeit zur ausschließlichen Herrschaft gelangten Praxis, welche, wenngleich in der bundesrechtlichen Theorie niemals ausdrücklich anerkannt,' doch ohne vollständige VerkennunaO der maßgebenden VerO ö hältnisse ernstlich nicht augefochten werden kann : die Auslieferungen sind als Angelegenheiten internationaler Natur B u n d e s s a c h e ; denn die Auslieferung beruht auf einer völkerrechtlichen Verpflichtung, und zwar gleichviel, ob sie auf Grund eines bestehenden Auslieferungsvertrages oder ohne vertragsmäßige Gebundenheit stattfinde. Ursprünglich*) hatte man zwar in dieser Beziehung unterschieden, indem nur diejenigen Auslieferungsfälle, in denen die Anwendung eines Staats Vertrags oder das Interesse der Eidgenossenschaft in Frage kommt, den Bundesbehörden, alle übrigen, den Kantonen zugewiesen werden sollten, und auch später noch finden wir bis zum Jahre 1875 diese Anschauungsweise in einzelneu Erlaßen des Bundesrathes vertreten.**) Sobald man aber dem Bundesrath das Recht zugesteht, seine Kompetenz in Auslieferungssachen nach freiem Ermessen durch Auswechslung von Reziprozitätserklärungen
zu erweitern, wird jene Unterscheidung unhaltbar, zumal *) Vergi. Bnndesbl. 1850, III, S. 116, 117, erster Geschäftsbericht des Bundesrathes.

**) Vergi, ßundesbl. 1870, II, 1026, Nr. Ili, uad 1875, I, 125.

329 sie von Anfang an einer logischen Grundlage entbehrt ; denn einerseits sind alle Auslieferungsfalle, seien sie nun auf Grund eines Vertrages anhängig gemacht oder nicht, Angelegenheiten internationaler Natur, welche in den Geschäftskreis der Bundesbehörden fallen, und anderseits ist bei der Frage, ob, eventuell unter welchen Garantien, es angemessen sei, beim Fehlen eines Vertrages eine Auslieferung zu bewilligen, das Interesse des Gesammtstaates ebensosehr betheiligt, als dasjenige des einzelnen Kantons, weßhalb die Entscheidung hierüber nicht dem Gutdünken einer Kantonsregierung anheim gestellt werden kann.

Wenn dieses Alinea den Bundesrath vorbehaltlos als einzige ausliefernde Behörde nennt, so ist diese Fassung auch da gerechtfertigt, wo das Bundesgericht infolge eines Einspruchs des Auszuliefernden, in das Verfahren einzugreifen berufen ist (Art 24).

In diesen Fällen hat zwar das Bundesgericht materiell das entscheidende Wort zu sprechen, indem es bestimmt, ob die Auslieferung stattzufinden hat oder nicht; nach außen und formell tritt aber der Bundesrath einzig als redend und handelnd auf; daß er an ,,die Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes", und in allen wichtigeren Fällen an den Spruch des Bundesgerichts gebunden ist, muß als eine interne Frage des Staatsrechts betrachtet werden, welche die Stellung des Bundesrathes nach außen formell nicht berührt.

Regelmäßig wird der Bundesrath von der ihm ertheilfen Befugniß zur Auslieferung eines Verfolgten nur u n t e r V o r b e h a l t des G e g e n r e c h t s Gebrauch macheu : wenn es aber auch meist im Interesse der Schweiz liegen wird, eine Reziprozitätserklärung auszubedinsjen, so darf man sich doch nicht für solche Fälle die Hände binden, wo die Bewilligung einer Auslieferung für die Schweiz von Vortheil, der ersuchende Staat aber infolge seiner innern Verhältnisse nicht in der Lage ist, eine formelle Gegenrechlserklärung abzugeben ; es muß vielmehr die Möglichkeit geboten sein, die Auslieferung unter Umständen auch ohne Gegenrechtserklärung zu bewilligen. Erfolgt doch diese Bewilligung, wie Herr Rivier sehr richtig bemerkt, nicht ausschließlich im Interesse des Requirirendeii.

Es liegt auch im eigenen Interesse, daß der Staat die Angeschuldigten, Angeklagten oder Schuldigen, welche vom zuständigen Staat zur Beurtheilung oder Bestrafung
reklamirt werden, ausliefert. Denn der Zufluchtsstaat hat keinerlei Interesse daran, wie die italienische Kommission malerisch sich ausgedrückt hat, eine ,,cloaca maxima"von verdächtigen oder verbrecherischen Individuen zu werden. Der Bundesrath darf daher durch das Gesetz nicht in der Weise gebunden sein, daß er die Auslieferung einem Staate gegenüber ver-

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weigern müßte, welcher das Gegenrecht nicht zusichern wollte oder könnte; er muß frei sein, um je nach der Lage des Falles zu erwägen, ob die Auslieferung ohne Gegenrecht zweckmäßig und angezeigt ist. Das ist gegenwärtig die herrschende Ansicht. Das völkerrechtliche Institut hat dieselbe in seiner Sitzung zu Oxford im Jahr 1880 nach reiflicher Erwägung folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: (These 5.) ,,Die Ausbedingung des Gegenrechts kann hier durch die Politik geboten sein ; ein Beforderniß der Gerechtigkeit ist sie nicht."

Die Auslieferung findet nur dann statt, wenn der Verfolgte ein A u s l ä n d e r ist. Ein Schweizer soll niemals an einen fremden Staat ausgeliefert werden. Artikel 2 ist speziell diesem Grundsatze gewidmet; derselbe ist zu wichtig, als daß man sich auf eine beiläufige Erwähnung beschränken könnte.

Der Artikel sagt: ,, j e d e n Fremden". Er unterscheidet nicht zwischen Fremden, welche dem ersuchenden Staat, und solchen, welche einem dritten Staate angehören. Es kann sich ein Staat versprechen lassen, daß die Schweiz ihm anzeige, wenn von irgend einem ändern Staate die Auslieferung eines seiner Bürger verlaugt wird. Das Vertragsrecht ist in dieser Beziehung frei, und der Bundesrath soll nicht durch das Gesetz, welches übrigens auf diese Einzelheiten nicht eintreten kann, gebunden sein. Heutzutage kümmern sich übrigens die Regierungen viel weniger als früher um das Schicksal ihrer im Auslande befindlichen Staatsangehörigen, deren Auslieferung daselbst von einem ändern ausländischen Staate verlangt wird.

Die Worte : ,,durch die zuständigen Gerichte des ersuchenden Staates verfolgt, in Untersuchung gezogen oder in Anklagezustand versetzt oder verurtheilt", genügen, um die verschiedenen Wandlungen, deren das Verfahren gegen den Verfolgten fähig ist, anzudeuten.

* ,, D u r c h d i e zuständigen G e r i c h t s b e h ö r d e n d e s e r s u c h e n d e n S t a a t e s . a Die Zuständigkeit des ersuchenden Staates für die Verfolgung der dem Auslieferungsbegehren zu Grunde liegenden Handlung ist eine nothwendige Voraussetzung; dieses Begehrens. Sie bedarf aber in einem Gesetz keiner eingehenderen Bestimmung. Eine solche wäre, angesichts der Mannigfaltigkeit der in den verschiedeneu Staaten diesbezüglich geltenden Grundsätze, sogar bedenklich. So befolgen zum Beispiel England und
die Vereinigten Staaten das reine Territorialsystem, während andere Staaten überdies eine durch die Staatsaugehörigkeit begründete Kompetenz anerkennen. Der natürliche und häufigste Fall wird derjenige sein, O

O

O

O

331 wo die strafbare Handlung auf dem Gebiete des ersuchenden Staates begangen worden ist. Im Zweifelsfalle ist es Sache des Bundesgerichts, zu prüfen, ob die Bedingung der Zuständigkeit erfüllt ist.

Gelangt es zu der Ueberzeugung, daß dem ersuchenden Staat die Kompetenz zur Verfolgung der betreffenden Person fehlt, so wird die Auslieferung verweigert (Art. 24). Die Zuständigkeit rechtfertigt sich natürlich nach dem Rechte des ersuchenden Staates; man wird aber verlangen dürfen, daß dieses Recht n i c h t i m W i d e r s p r u c h mit dem schweizerischen Gesetz stehe (Oxforder These 8).

In A b s a t z 2 wird dem Bundesrath die Befugniß ertheilt, das Gegenrecht zuzusichern, wenn mit dem angegangenen Staat kein Vertrag besteht und derselbe die Bewilligung der Auslieferung an diese Bedingung knüpft.

Durch diese Bestimmung wird einer langjährigen, aber bisher nur durch ihre unumgängliche Notwendigkeit gerechtfertigten Uebung die gesetzliche Anerkennung, aber zugleich auch eine feste Begrenzung gegeben, indem der Bundesrath in Zukunft für die Abgabe von Gegenrechtserklärungen zwar ausdrücklich kompetent erklärt, aber in diejenigen Schranken gewiesen wird, welche durch die von der Bundesversammlung aufgestellten und vom Volke genehmigten Grundsätze ein für alle Mal gezogen sind. Wie nothvvendig es ist, die Möglichkeit der Abgabe vou Gegenrechtserklärungen vorzubehalten, muß Jedermann einleuchten, wenn man bedenkt, daß 20 Staaten den Anträgen der Schweiz behufs Abschluß von Ablieferungsverträgen noch keine Folge gegeben haben ; diesen Staaten müssen wir, um von ihnen die Auslieferung einer verfolgten Person zu erzielen, wenigstens die Beobachtung des Gegenrechts zuzusichern im Falle sein.

Indeß bleibt nach wie vor der Austausch von Gegenrechtserklärungen nichts als ein Nothbehelf, welchem der Abschluß eines eigentlichen Auslieferungsvertrages -- gemäß Abs. 3 -- stets vorzuziehen sein wird. ,,Denn die Auslieferung läßt sich in sicherer und regelmäßiger Weise nur auf Grund von Verträgen handhaben und es ist deren stetige Vermehrung anzustreben." (Oxforder These 4.)

Wir beabsichtigen, den Abschluß von Auslieferungsverträgen in gleicher Weise wie den Austausch von Gegenrechtserklärungen au die Bestimmungen des vorliegenden Gesetzes zu binden. Man hat uns entgegen gehalten, dadurch werde den Befugnissen
der Bundesversammlung Abbruch gethan, unser Staatsrecht betrachte dia Staatsverträge als den Bundesgesetzen gleichweHhige gesetzgeberische Erlasse, und gestatte die Abänderung oder Aufhebung

332 einer Gesetzesbestimmung durch einen Staatsvertrag; die Bundesversammlung müsse daher durchaus freie Hand haben, jede geeignet scheinende internationale Verpflichtung einzugehen, ohne durch den Stand der Gesetzgebung gebunden zu sein.

Wir können den vorstehenden Einwänden eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Allein der Umstand, daß Fälle vorgekommen sind, wo die Nichtbeobachtung von Bestimmungen der Bundesgesetzgebung, beim Abschluß von Verträgen durch Gründe höherer Ordnung entschuldigt schien, genügt noch nicht, um derartige Vorgänge allgemein zu rechtfertigen ; dieses Vorgehen trägt stets den Stempel der Unregelmäßigkeit und ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Schaffung eines bindenden Programms für den Abschluß von Verträgen ist gerade der Hauptzweck des vorliegenden Gesetzes, dessen Vortheil eben darin liegt, daß wir die von uns nach e i g e n e m f r e i e m E r m e s s e n aufgestellten Grundsätze zu einem festen Rahmen für unsere Verhandlungen mit dem Ausland machen und damit verhindern, daß jene Grundsätze in jedem Einzelfalle wiederum diskutirt und in Frage gestellt werden. Dieß setzt aber voraus, daß wir uns selbst durch das Gesetz als gebunden betrachten; will man dieß nicht, so ist der Erlaß des Gesetzes von vornherein überflüssig. Früher oder später mag ja der Fall eintreten, daß wir uns durch diese oder jene Bestimmung des Gesetzes beengt fühlen, so z. B., wenn wir je beabsichtigen sollten, den Grundsatz der Auslieferung eigener Staatsangehöriger in einen Auslieferungsvertrag aufzunehmen ; unter solchen Umständen wird man eben das Gesetz einer Revision unterziehen, ein Vorgehen, das, ohne eine übermäßige Verzögerung herbeizuführen, vor der auf dem Umwege eines Staatsvertrages erfolgenden Abänderung oder Aufhebung einer Gesetzesbestimmung den bedeutenden Vortheil größerer Korrektheit besitzt.

A b s a t z 4. Der Austausch e r g ä n z e n d e r Erklärungen wird durch das Vorhandensein eines Vertrages nicht ausgeschlossen.

Denn wenn eine Auslieferung bewilligt werden kann, wo gar kein Vertrag besteht, kann sie es um so mehr in den Fällen, wo die Schweiz mit einem Staat vertraglich schon verbunden ist, der Vertrag aber sich als lückenhaft erweist.

Die in den Verträgen enthaltenen Aufzählungen der Auslieferungsdelikte dürfen -- im Gegensatz zu derjenigen des Gesetzes
(vergi, unten S. 21, ff.) -- im Zweifelsfalle nicht strikte interpretivi werden; wollte man die Auslieferung wegen aller anderen Vergehen absolut ausschließen, so müßte dieß ausdrücklich gesagt sein.

Atikel 2. A b s a t z l stellt den Grundsatz der Nichtauslieferuug der eigenen Staatsangehörigen auf. Wir können diese Bestimmung nicht

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besser rechtfertigen, als durch nachstehende, den Motiven des Herrn Rivier entnommene Ausführungen : ,,Die heutige Richtung in der Wissenschaft geht auf Auslieferung der eigenen Staatsangehörigen; sehr geachtete Schriftsteller sprechen sich i u diesem Sinne aus, und das paßt vortrefflich zum Gedanken, daß die Staatsgrenzen sich allmälig verwischen. Vom Standpunkte des Strafrechts und sogar des idealen Völkerrechts wäre die Auslieferung der eigenen Staatsangehörigen unstreitig gerecht und folgerichtig. Es ist überdieß zu bemerken, daß dieß früher der Brauch war und daß die Lehre von der Nichtauslieferung sehr neuen Ursprungs ist; die Engländer, Amerikaner und Skandinavier haben sie nicht oder nicht vollständig angenommen.

,,Abgesehen von den soeben genannten Staaten liefert jedoch keiner seine Angehörigen der fremden Gerichtsbarkeit aus; alle vereinbaren in ihren Auslieferungsyerträgen, daß ihre Staatsaugehörigen nicht ausgeliefert werden sollen. So sind auch alle unsere Staatsverlräge in diesem Sinne abgefaßt; sogar von Kanton zu Kanton werden die Kantonsangehörigen nicht ausgeliefert. In den an die Schweiz angrenzenden Ländern, mit welchen wir fast täglich in AuslieferungssHchen verkehren, ist der Grundsatz der Nichtauslieferung der Staatsangehörigen durchaus anerkannt. Es empfiehlt sich daher für uns nicht -- noch nicht, wenn man so will -- in unser Gesetz den entgegengesetzten Grundsatz aufzunehmen.

,,Uebrigens versteht die öffentliche Meinung, der Volksinstinkt, dieses Wort in seinem erhabensten Sinn genommen, die Auslieferung der eigenen Staatsaugehörigen nicbt, -- noch nicht --. Man sieht darin, meist mit Unrecht, eine Härte, beinahe eine Feigheit. Und das gegenwärtige Völkerrecht entspricht diesem Gefühl. Der Staat hat, kraft seines Selbsterhaltungsrechts, die Befugniß, seine Staatsangehörigen zu behalten, und die Pflicht, sie zu beschützen.

,,Nachdem einmal der Grundsatz ausgesprochen ist, läßt er keine Unterscheidung mehr zu. Wenn der Verfolgte zur Zeit, wo das Auslieferungsbegehren an den Bundesrath gelangt, Schweizerbürger ist, so findet die Auslieferung nicht statt. Daß er es bei Begehung der strafbaren Handlung vielleicht noch nicht war, ist gleichgültig. Es läßt sich kaum annehmen, daß derselbe zwischen der Stellung des Auslieferungsbegehrens und dein Zeitpunkte der Entscheidung
über dieses Begehren naturalisirt würde; wollte mau eine solche Vermuthung zulassen, so müßte man sich ebenfalls dahin aussprechen, daß die Auslieferung nicht stattfindet.

,,Ich nehme sogar an, daß, im Falle des Verzichts des reklamirteu Individuums auf die Geltendmachun" seiner schweizerischen

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Staatsangehörigkeit, der Bundesrath, wenn er von derselben Kenntniß hätte, die Auslieferung verweigern müßte. Der Staat wendet sein Recht um seiner selbst, um des Ganzen willen an, und es steht keinem Bürger zu, diese Anwendung zu hindern. Ich halte die gebietende und absolute Fassung des ersten Absatzes für gerechtfertigt und kann bei der gegenwärtigen Sachlage für die Schweiz die Oxforder Thesen 6 und 7, wenigstens praktisch, trotz ihrer vorsichtigen Fassung nicht anerkennen.*) ,,Gemäß den allgemeinen Rechtsgrundsätzen wird selbstverständlich die Frage der schweizerischen Staatsangehörigkeit nach schweizerischem Rechte entschied en.tt A b s a t z 2. Soll der Grundsatz der Nichtauslieferung der eigenen Staatsangehörigen nicht deren Straflösigkeit für von ihnen im Auslande begangene Verbrechen zur Folge haben, so muß der Bundesrath, wenn er die Auslieferung eines Schweizerbürgers mit Rücksicht auf dessen Staatsangehörigkeit verweigert, auf das Begehren des verfolgenden Staates zugleich die Uebernahme der Strafverfolgung durch die heimatlichen Behörden zuzusichern in der Lage sein. Dazu ist er aber kraft des Grundsatzes ,,non bis in idem" nur dann verpflichtet, wenn der betreffende Staat seinerseits auf jede weitere Strafverfolgung wegen der dem Auslieferungsbegehren zu Grunde liegenden Handlung, ja sogar auf den Vollzug eines allfällig hereits ergangenen Urtheils, wenigstens für den Fall verzichtet, daß durch das schweizerische Gericht eine Verurtheiluug erfolgt und der Vollzug der Strafe wirklich stattfindet. Andernfalls, z. B., wenn es dem Verfolgten gelingt, sie!) dem Strafvollzug durch die Flucht zu entziehen, kann man freilich dem auswärtigen Staat nicht wohl zumuthen, dadurch seinen Strafanspruch als erledigt zu betrachten.

Seitens gewisser Staaten wird, infolge des Standes ihrer Gesetzgebung, die in der vorliegenden Bestimmung vorgesehene Zusicherung überhaupt nicht erhältlich sein. Die französische Regierung hat zum Beispiel noch im vorigen Jahre erklärt, wenn ein Ausländer wegen eines in Frankreich begangenen Vergehens an seinem heimatlichen Gerichtsstande zur Verantwortung gezogen werde, so könne sie zwar die Anhebung einer Untersuchung am Orte der That verhindern ; sei diese Untersuchung aber einmal gerichtlich eingeleitet, so stehe es nicht mehr in der Macht der Behörden, ihren Lauf
zu *) These 6 lautet: ,,Im Verkehr zwischen Staaten, deren Straf rech t und Strafverfahren auf übereinstimmenden Grundsätzen beruht, und deren Gerichtsorganisation gegenseitiges Vertranen einflößt, wäre die Auslieferung der eigenen Staatsangehörigen ein geeignetes Mittel zur Durchführung einer guten Strafrechtspflege, indem eine möglichst ausgedehnte Anwendung des Gerichtsstandes der begangenen That als wünschbar erscheint."

335 hemmen. (Fall Dousse: Bundesbl. 1890, II, 196) Aehnlich hat es die deutsche Regierung abgelehnt, auf die Verfolgung am Gerichtsstand der That zu verzichten. (Bundesbl. 1876, II, 296.) Die belgische Regierung erklärte sich nur bereit, die in der Schweiz, auferlegte Strafe auf die in Belgien auszuspreehende anzurechnen.

Wir haben uns damals (Bundesbl. 1887, II, 722) mit dieser Zusicherung befriedigt erklärt, während sie nach Annahme der vorliegenden Bestimmung nicht mehr als genügend wird betrachtet werden können. Der Fall ist also nicht ausgeschlossen, daß ein Schweizerbürger, der in Deutschland, Frankreich oder Belgien sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, straflos ausgeht, wenn es ihm gelingt, sich in die Schweiz zu flüchten. Wir bedauern aufrichtig einen derartigen Zustand ; allein nicht wir sind dafür verantwortlich, sondern jene Staaten selbst, die sich in einem offenbaren Widerspruch mit sich selbst befinden, indem sie die Rechtshülfe unserer Gerichte anrufen und doch nicht das nöthige Vertrauen in dieselben setzen, um zu ihren Gunsten auf die Ausübung der eigenen Strafgerichtsbarkeit zu verzichten. Wir können übrigens beifügen, daß diese Fälle zu den Ausnahmen gehören und nach und nach ganz verschwinden werden. Unsere neueren Verträge mit Monaco und Serbien, sowie die mit Oesterreich und Argentinien vereinbarten Entwürfe enthalten sämmtlich eine ausdrückliche Bestimmung behufs Ausschluß einer doppelten Verfolgung wegen einer und derselben Handlung, und auch mit Frankreich steht eine derartige Ordnung dieser Frage in Aussicht, sobald die begonnene Revision der dortigen Strafgesetzgebung durchgeführt sein wird.

A b s a t z 3 hat den Zweck, die Durchführung einer vom Bundesrath im Sinne von Absatz 2 ertheilten Zusicherung zu ermöglichen und zu regeln. Zu diesem Ende wird zunächst derjenige Gerichtsstand bestimmt, der an Stelle des Forums der begangenen That zu treten hat, und sodann festgestellt, daß eine durch einen Schweizerbürger im Auslande begangene Handlung gleich zu behandeln und nach dem gleichen Strafgesetz zu ahnden ist, wie wenn sie innerhalb des Staatsgebiets begangen worden wäre. Eine solche Bestimmung ist besonders angesichts derjenigen kantonalen Strafgesetzgebungen nothwendig, welche, wie z. B. die bernische, die außerhalb des Kantonsgebiets durch Kantonsangehörige
begangenen Vergehen straflos lassen oder nur einen Theil derselben bestrafen -- Verhältnisse, welche unserm Justiz- und Polizeidepartement fast alljährlich zu Klagen Anlaß geben.*) *) Vergi. Bundesbl. 1878, II, 525; 1879, II, 626; 1883, II, 898; 1890, II, 193.

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Artikel 3. A b s a t z 1. Die hier einzeln aufgezählten gemeinen Verbrechen und Vergehen bilden die Liste der sog. Auslieferungsdelikte.

Dieselben sind zur Begründung eines Auslieferungsbegehrens geeignet, wenn sie sowohl nach der Gesetzgebung des ersuchenden Staates als auch in demjenigen Kanton mit Strafe bedroht sind, in welchem der Verfolgte betroffen wurde. Die Forderung, daß diesem ,,Grundsatz der beidseitigen Strafbarkeit"1 Genüge geleistet sei, rechtfertigt sich durch sich selbst. In der That wäre es dem angegangenen Staate unmöglich, einen angeblich Schuldigen auszuliefern, welcher nach seiner eigenen Gesetzgebung unschuldig ist und welchen er, wenn er ihn, anstatt auszuliefern, selber beurtheilen wollte, weder verfolgen, noch bestrafen könute. Ebenso undenkbar ist es, daß der ersuchende Staat die Auslieferung eines Unschuldigen verlange, welchem er nach seinem eigenen Gesetz nichts anhaben könnte.

Damit wird indeß nicht die Identität der Bezeichnungen, d. h.

die Subsumtion unter den nämlichen Verbrechensbegriff verlangt; es genügt vielmehr, daß die betreffende Handlung nach beiden Gesetzgebungen den Thatbestand eines der im vorliegenden Gesetze aufgezählten Delikte erfüllt. *) lieber die Zweckmäßigkeit einer Aufzählung der Auslieferungsdelikte läßt sich streiten. So fand sich auch in der Vorberathungskommission eine Minderheit, welche aus Besorgoiß, die Liste möchte unvollständig sein, von der Aufstellung einer solchen im Gesetz absehen und dieselbe in die Verträge verweisen wollte; danach sollte sich der Gesetzgeber darauf beschränken, n e g a t i v diejenigen Fälle auszuscheiden, in denen eine Auslieferung n i c h t stattfinden kanu, (rein militärische, politische Vergehen, Widerhandluugen gegen Fiskalgesetze u. dgl.). Die Mehrheit hat sich indeß für die Aufstellung einer Musterliste ausgesprochen; sie wollte damit dem Buudesrath für Vertragsunterhandlungen und Gegenrechtserklärungen eine bindende Wegleitung geben, auf welche er gegebenen Falls auch gegenüber allzu weit gehenden Ansprüchen auswärtiger Regierungen sich berufen könnte. Zu diesem Ende mußte der Aufzählung ein einschränkender Charakter verliehen werden, in dem Sinne, daß durch Verträge zwar einzelne der vorgesehenen Delikte aus Zweckmäßigkeitsgründen weggelassen, niemals aber neue Auslieferungsdelikte geschaffen werden
können. Eine derartige Zusammenstellung sämmtlicher, sich zu Auslieferungsdelikten eignender Verbrechen und Vergehen erheischte von Seite der Kommission die eingehendste Sorgfall, besonders auch angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, welche die Verschiedenheit der Begriffsbezeich*) E. d. B.-G. A. S. II, 492, 496; IV, 126; VIII, 292.

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mingen in der deutschen und französischen Reehtssprache mit sich bringt. Um möglichste Vollständigkeit zu erreichen, sind nehen dea vorsätzlichen auch mehrere fahrläßige Delikte aufgenommen, und namentlich die gemeingefährlichen Verbrechen sorgfältig berücksichtigt worden.

A b s a t z 2. Der Grundsatz ist allgemein anerkannt, daß der Mechanismus des Auslieferungsverfahrens wegen Vergehen untergeordneter Art nicht in Bewegung gesetzt werden soll, zumal solche Fälle als durch die Verbannung, die sich der Verfolgte selber auferlegt, hinreichend gesühnt betrachtet werden können. Es wäre überdieß ein Mißbrauch der Auslieferung, wenn man sie auf solche Vergehen anwenden wollte, für welche die angedrohte Strafe nicht einmal die voraussichtliche Dauer der vorläufigen Haft erreicht.

Die Schwierigkeit liegt in der Bestimmung der erforderlichen Minimalschwere. Auf den ersten Blick erschien der Vorschlag des Herrn Rivier, hiefiir auf das in den beidseitigen Strafgesetzbüchern angedrohte Strafmaximum abzustellen, die geeignetste Lösung der Frage zu bieten. Nach seinem Vorentwurfe sollte die Auslieferung nur bewilligt werden können, wenn das Vergehen ,,sowohl nach dem Rechte des Kantons, wo der Verfolgte betroffen wurde, als auch nach demjenigen des ersuchenden Staates mit einer M a x i m a l s t r a f e v o n m i n d e s t e n s e i n e m J a h r G e f ä n g n i ß bedroht isla. Allein die Strafandrohung an sich bildet keinen genügenden Maßstab zur Beurtheilung der Schwere der That im einzelnen Falle.

So ist z. B. im Deutschen Reichsstrafgesetzbuch Gefängnißstrafe bis auf 5 Jahre auch für den unbedeutendsten Diebstahl vorgesehen, wo der Thäter vielleicht mit ein paar Tagen Einsperrung davonkommt. Ein Schluß auf die höhere oder geringere Strafbarkeit einer bestimmten Handlung läßt sich mit Sicherheit erst dann ziehen, wenn der objektive Thatbestand einerseits und das Moment der Verschuldung anderseits festgestellt sind, d. h. in dem Augenblicke, wo das Urtheil die für eine Kategorie von Thatbeständen allgemein umschriebene Strafandrohung auf die in casu vorliegende That unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Angeklagten anwendet. Für die ausliefernde Behörde ist somit die Schwere der Thrtt nicht schon aus der Strafandrohung, sondern erst aus der verhängten Strafe erkennbar. Diese Erwägung'
hat die Expertenkommission nach mehrfachen Redaktioosversuchen schließlich dahin geführt, von der Strafandrohung als Mittel zur Beantwortung der Frage, ob eine That das Merkmal hinlänglicher Schwere besitze, ganz abzusehen, und nur für die Fälle, wo eine Verurtheiluug erfolgt ist, zu verlangen, daß die ausgesprochene Strafe mindestens awei Monate Gefänguiß betrage. Wo noch kein Urtheil vorliegt^ Bundesblatt.

42. 3nhrg. Bd. III.

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ist den Staatsverträgen zur Vereinbarung näherer Bestimmungen freier Spielraum gelassen. Auch im Falle einer Verurtheilung zu zwei Monaten Gefängniß oder mehr besteht noch keine Verpflichtung zur Auslieferung; die Prüfung der Schwere der That bleibt auch hier vorbehalten, wobei insbesondere in Betracht zu ziehen sein wird, ob ein im kontradiktorischen Verfahren ergangenes oder ein Kontumazialurtheil vorliegt, da Urtheile der letztern Art häufig außerordentlich strenge und mit der wirklichen Strafbarkeit der Handlung nicht übereinstimmende Strafsentenzen ausfällen.

Nach einem ändern im Schooße der Kommission gestellten Antrag sollte ein Minimalbetrag des verursachten Schadens (z. B.

100 oder 50 Franken) festgesetzt werden, welcher in casu vorliegen müsse, um ein Auslieferungsbegehren zu rechtfertigen. Dieser Maßstab findet sich zwar in unsern Auslieferungsverträgen mit Italien und Portugal, muß aber als durchaus unzulänglich verworfen werden, denn einerseits erstreckt er sich überhaupt nur auf die Verbrechen und Vergehen gegen das Vermögen, anderseits berücksichtigt er neben dem Vermögensschaden keines der übrigen Merkmale (wie Rückfall u.

dgl.), welche zur Beurtheilung der Schwere einer strafbaren Handlung mindestens ebenso wichtig sind, als der verursachte Schaden. Wenn die der Frage durch die Expertenkommission gegebene Lösung bei Ihnen vielleicht den Eindruck einer gewissen Unbestimmtheit hervorruft, so weisen wir darauf hin, daß eine klarere Regelung erst auf Grundlage der einheitlichen Strafenskala eines eidgenössischen Strafgesetzbuches wird erfolgen können.

Artikel 4 enthält eine nothwendige Einschränkung des Grundsatzes der beidseitigen Straftmrkeit. Daß dieser Grundsatz nicht berühit wird, wenn die betreffende Handlung nach beiden Strafgesetzen zwar strafbar ist, aber verschiedenen Deliktsbegriffen als Grundlage dient, haben wir unter Artikel 3 erwähnt. Nun gibt es aber gerade in der Schweiz eine Reihe von Vergehen, welche in der Strafgesetzgebung schlechthin mit Stillschweigen übergangen sind, nämlich alle mit der überseeischen Schifffahrt zusammenhängenden Vergehen, wie die Seeräuberei und die Handlungen, welche den Untergang oder die sonstige Zerstörung eines Seeschiffes bezwecken. Diese Lücken erklären sich einfach aus der geographischen Lage unseres Landes, welche den Gedanken an
das Vorkommen derartiger Vergehen nicht an den Gesetzgeber herantreten ließ, oder wenigstens jedes Interesse an deren Bestrafung ausschloß.

In diesen und ähnlichen Fällen darf daher aus dem Stillschweigen des Gesetzgebers nicht schlechthin gefolgert werden, daß er jenen, seinem Gesichtskreis entzogenen Handlungen den Stempel der Recht-

339 mäßigkeit aufdrücken wollte, und es liegt in der Natur der Sache, duß die Auslieferung wegen solcher Vergehen nicht verweigert werden kann *). Von obigen Erwägungen ließ sich auch der Bundesrath im Jahr 1886 leiten, als von Norwegen die Auslieferung eines Schiffskapitäns wegen betrügerischer Strandung seines Schiffes, nach vorgängiger Versicherung der Ladung über ihrem wahren Werth, verlangt wurde; die Auslieferung würde ohne Bedenken bewilligt worden sein, wenn der Verfolgte, der übrigens nicht zur Haft gebracht werden konnte, nicht das Schweizerbürgerrecht besessen hätte.

Artikel 5. Eine folgerichtige Durchführung des Grundsatzes der b e i d s e i t i g e n S t r a f b a r k e i t scheint zu verlangen, daß bei geringerer Strafandrohung des Zufluchtsstaates die Strafausmessung durch den Richter des ersuchenden Staates jenes mildere Maximum nicht überschreiten dürfe, da, streng genommen, eine schwerere Strafe nicht mehr durch eine beiden Staaten gemeinsame Strafandrohung gedeckt wäre. So weit zu gehen, gestatten indeß die praktischen Bedürfnisse nicht. Abgesehen davon, daß besondere Rücksichten eine strengere Bestrafung der betreffenden Handlung im ersuchenden Staate sehr wohl rechtfertigen können, wären wir bei dem gegenwärtigen Stande unserer Strafgesetzgebung häufig in Verlegenheit, die Strafe mit Sicherheit anzugeben, welche der eine oder andere Kanton für ein bestimmtes Vergehen androht.

Etwas anders verhält es sich mit der Frage der S t r a f a r t.

Auch hier wird im Allgemeinen nicht Identität, sondern nur Analogie der Strafandrohungen verlangt. Dagegen gibt es gewisse Strafarten, die in einem Staate als den Menschenrechten oder der Menschenwürde widersprechend grundsätzlich ausgeschlossen sind. Gehört nun die im ersuchenden Staate für das Auslieferungsdeiikt angedrohte Strafe zu den im Zufluchtsstaat aus höheren Gründen untersagten Strafarten, so verlangt ein berechtigtes Gefühl, daß der Auszuliefernde wenigstens vor der Anwendung dieser verpönten Strafart geschützt werde. So haben wir in den Auslieferungsvertrag mit Portugal, welcher unter der Herrschaft des verfassungsmäßigen Verbots der Todesstrafe ratifizirt wurde, die Bestimmung aufgenommen, daß die Auslieferung wegen solcher Verbrechen, ,,auf welche nach der Gesetzgebung des reklamirendeu Staates die Todesstrafe anwendbar ist,
*) Oxforder These 11 : ,,Regelmäßig ist zu verlangen, daß die Handlung, auf welche sich das Ausliefernngsbegehren gründet, nach der Gesetzgebung beider Staaten strafbar sei; ausgenommen sind die Fälle, wo der Thatbestand eines Delikts wegen der besondern Einrichtungen oder der geographischen Lage eines Staates auf dessen Gebiet nicht eintreten kann."

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nur unter der Bedingung der Umwandlung dieser Strafe" bewilligt werden kann. Nachdem nunmehr die Todesstrafe wiederum zuläßig erklärt ist, stünde es der Schweiz nicht wohl an, diese im Inland grundsätzlich anwendbare Strafart zu Gunsten eines Ausländers auszuschließen.

Körperliche Strafen dagegen sind auch heute noch in der Bundesverfassung untersagt. Auf sie trifft somit die obige Auseinandersetzung zu, und wir haben daher in Artikel 5 die Umwandlung der Strafe der körperlichen Züchtigung als Auslieferungsbedingung erklärt.

Wir verhehlen uns nicht, daß diese Ordnung der Dinge den Eindruck einer gewissen Inkonsequenz machen kann ; allein wir mußten die dargelegten Gründe als für uns entscheidend betrachten, es Ihrem Ermessen überlassend, ob Sie den dem Ausländer gewährten Schutz noch weiter ausdehnen wollen. In welchem Sinn indeß auch Ihr Entscheid ausfallen mag, versteht es sich von selbst, daß kein HiudernilJ besteht, um in den Verträgen einen Grundsatz aufzunehmen, dessen allgemeine Proklamirung im Gesetz sich vielleicht nicht empfahl. Die Verträge können weiter gehen als das Gesetz, und der Ausschluß der Todesstrafe auf Grund gegenseitigen Einverständnisses bleibt selbstverständlich vorbehalten.

Artikel 6. Diese Bestimmung ist ebenfalls ein -- auch in die Auslieferungsgesetzentwürfe für Prankreich uud Italien aufgenommener -- Ausfluß des Grundsatzes der beiderseits bestehenden Straf barkeit. Durch die Verjährung der Strafklage oder des Strafvollzugs in einem der beiden Staaten erlischt für denselben die Strafburkeit der Handlung.

Je nachdem sich der verfolgende oder der Zufluchtsstaat in diesem Falle befindet, fehlt für den erstem die Grundlage des Auslieferungsbegehrens, für den letztern die Möglichkeit, demselben Folge zu geben.

Artikel 7. Der hier aufgestellte Grundsatz wird in der Wissenschaft als derjenige der ,,Spezialität der Auslieferung 11 bezeichnet. Es gilt gegenwärtig als allgemein anerkannt, daß der ersuchende Slaat, indem er die Auslieferung für einzelne bestimmte Vergehen nachsucht, zugleich die Verpflichtung übernimmt, die Ausübung seiner Strafgerichtsbarkeit auf die Beurtheilung dieser Handlungen einzuschränken; will er derselben weitere strafbare-Handluugeri dergleichen Person unterwerfen, so ist hiefür beim Zufluchtsstaat eine nacht'-ägliche Bewilligung einzuholen. Dieser wird die allgemeinen Grundsätze des Auslieferungsrechts auch auf das neue Begehren

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anwenden*), und die Bewilligung verweigern, wenn er wegen der betreffenden Handlungen, z. B. weil sie rein militärischer oder politischer Natur sind, die Auslieferung von Anfang an nicht bewilligt hätte. So wird der Soldat, der mit' der KompagnieUasse das "Weite gesucht hat, nur wegen Diebstahls ausgeliefert, und eine Bestrafung wegen Fahnenflucht auch nachträglich nicht bewilligt werden.

Von dem Grundsatze der Spezialität der Auslieferung werden diejenigen Thatsachen nicht betroffen, welche zwar vielleicht die Handlung zu einer schwereren qualifiziren, oder einem allgemein bezeichneten Vergehen· neue Einzelthatbestände hinzufügen; in derartigen Fällen wird sich das Urtheil ohne Weiteres auch auf diese im Auslieferungsbegehren nicht vorgesehenen Elemente erstrecken können. Allein auch da, wo jener Grundsatz prinzipiell zutreffen würde, darf dessen Anwendung nicht auf die Spitze getrieben werden. Wir halten es demnach auch dann nicht für nöthig, eine nachträgliche Bewilligung einzuholen, wenn die Untersuchung nacb erfolgter Auslieferung Handlungen des Ausgelieferten zu Ta»e fördert, welche an sich selbstständige Delikte darstellen, im vorliegenden Fall aber mit der Begehung des der Auslieferungsbewilligung zu Grunde liegenden Vergehens in irgend einem Zusammenhange stehen ; dasselbe gilt für den Fall, wo die genauere Feststellung des Thatbestandes ein vom ursprünglich vermutheten Vergehen begrifflich verschiedenes, aber immerhin thatsächlich analoges Delikt ergibt. **) Aus der Natur der Sache folgt schließlich die Einschränkung des Grundsatzes der Spezialität der Auslieferung auf die v o r der Stellung des Auslieferungsbegehrens begangenen Vergehen. Nur für diese kann eine Anführung im Auslieferungsbegehren überhaupt verlangt, bezw. aus dem Stillschweigen des letzteren ein Verzicht auf ihre Bestrafung gefolgert werden. Sobald die Auslieferung vollzogen ist, steht der Ausgelieferte wiederum allein dem ersuchenden Staate gegenüber, und hat sich kein fremder Staat mehr in dieses Verhältniß zu mischen. Wollte man dem Verdachte Raum *) Vgl. Oxforder Thesen 22 und 23: ,,Diejenige Kegierung, auf deren Ansuchen eine Auslieferung wegen eines bestimmten Vergehens bewilligt worden, ist in Ermangelung gegentheiliger Vereinbarungen von Amtes wegen gehalten, den Ausgelieferten einzig wegen dieser Handlung
beurtheilen und bestrafen zu lassen. -- Diejenige Regierung, welche eine Auslieferungsbewilligung ertheilt hat, kann der Verfolgung des Ausgelieferten auch wegen anderer als derjenigen Handlungen, wegen deren die Auslieferung bewilligt worden ist, nachträglich zustimmen, vorausgesetzt, daß diese Handlungen die Auslieferung zu rechtfertigen geeignet wären."

**) Vgl. B.-B1. 1864, I, 388.

342 gebeu, ein Staat könnte unter dem Verwände nachträglich begangener Vergehen eine unzulässige Verfolgung des Ausgelieferten anordnen, so müßte man von vorneherein die Auslieferung au einen mit so wenig zutrauenerweckenden Gerichten ausgestatteten Staat grundsätzlich aussehließen.

Auf der eigentlicheu Grundlage des völkerrechtlichen Verkehrs in Auslieferungsaijgelegenheiten, nämlich auf dem gegenseitigen Vertrauen des einen Staates in die Integrität der richterlichen Behörden des ändern, beruht auch der Satz, daß die Einwilligung des Ausgelieferten zur Anhebung einer nachträglichen Untersuchung die Bewilligung des Zufluchtsstaates ersetzt. Der mit dem Verdachte eines Verbrechens belastete Ausgelieferte kacn, wie Herr Rivier richtig ausführt, ein großes Interesse daran haben, seine Unschuld darzuthun, und der ausliefernde Staat soll ihm diese Möglichkeit nicht nehmen, indem er sich dem von Jenem selbst gewünschten Verfahren widersetzt.

Das Interesse der Rechtspflege erfordert schließlich, daß der Ausgelieferte der aus dem Grundsatze der Spezialität der Auslieferung für ihn hervorgehenden Vortheile verlustig erklärt werde, ·wenn er während einer bestimmten Zeit nach seiner Haftentlassung freiwillig auf dem Gebiete des verfolgungsberechtigteu Staates sich aufgehalten hat. Mann kann darin eine Art stillschweigenden Verzichtes auf jene Vortheile sehen, indem der Ausgelieferte selbst sich ganz so verhält, wie Einer, der von Anfang an freiwillig zurückgekehrt wäre; jedenfalls aber kann einem Staate nicht zugemuthet werden, eine unter schwerem Verdacht stehende Person auf unbeschränkte Zeit in seinem Bereiche zu dulden, ohne sie zur Verantwortung zu ziehen.

Artikel 8. Auch das Verbot der Weiterlieferung durch den ersuchenden an einen dritten Staat ohne Zustimmung des Zufluchtsstaates ergibt sich naturgemäß aus dem Grundsatz dei 1 Spezialität der Auslieferung; vergi, z. B. den Fall Dürrich, und Leroy, E. des B. G. III, 108--111.

Artikel 9. Diese besondere Bestimmung betreffend die Ausnahmegerichte erschien als geboten; denn die Auslieferung beruht, \vie schon bemerkt, auf dem gegenseitigen Vertrauen der zivilisirten Stauten in die Unparteilichkeit ihrer richterlichen Behörden, und dieses Vertrauen erstreckt sich eben nur auf die ordentlichen Gerichte, während die Einsetzung eines Ausnahmegerichts für einen einzelneu Fall diesem Gerichte gegenüber nothwendig den Verdacht der Parteilichkeit erweckt. Der Ausdruck ,,Ausnahmegerichte"

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bezieht sieh indeß nicht auf ordentliche Gerichte besonderer Art (z. B. Militärgerichte), denen die Rechtspflege für einzelne Bevölkerungsklassen übertragen ist, welche nach gemeinsamen und in der Natur der Sache begründeten Merkmalen ausgeschieden sind.

Der Oxforder Kongreß hat die Frage der Ausnahmegerichte in Verbindung mit derjenigen der politischen Delikte behandelt.*) Unseres Erachtens sind jedoch beide Fragen unabhängig von einander; überdieß handelt es sich bei dem Ausschluß der Ausnahmegerichte um einen Grundsatz allgemeiner Natur; wir haben daher geglaubt, ihm einen Artikel widmen zu sollen..

Artikel 10 regelt die Stellung der politischen Delikte im Ausliefei uugsrecht.

Die hier vorgeschlagene Lösung dieser vielumstrittenen Frage ist das Ergebuiß eines Ausgleichs zwischen den verschiedenen, durch die Mitglieder der Expertenkommission vertretenen Ansichten; sie ist die Frucht gegenseitiger Zugeständnisse, eingegeben von dem gemeinsamen Wunsche, sich auf eine Fassung zu einigen, welche den verschiedenen theoretischen Standpunkten annehmbar erschiene und allen berechtigten Ansprüchen, den im Volksbewußtsein lebenden Ueberzeugiingeii sowohl als den Anforderungen der internationalen Rechtshülfe, Rechnung trüge.

Wir glaubten auch unserseits dem also erzielten Einverständnisse beitreten zu sollen und haben daher den Kommissionalantrag mit einer unwesentlichen Abänderung, die wir weiter unten rechtfertigen werden, in unsern Entwurf aufgenommen.

Gestatten Sie uns, auf die vorwürfige Frage erläuterungsweise etwas näher einzutreten.

Der landläufige Begriff der ,,politischen Delikte"· umfaßt zwei von einander wohl zu unterscheidende Hauptklassen von strafbaren Handlungen. ,,Politisch im engern Sinnett sind diejenigen Delikte, deren Thatbestand nur auf dem Gebiete der staatsrechtlichen Zustände sich abspielen kann, Handlungen, welche lediglich deswegen mit Strafe bedroht sind, weil sie jene Zustände gefährden oder verletzen. Diese Thatbestände sind regelmäßig zu besondern Deliktsbegriffen ausgestaltet, und entziehen sich nach dem vorliegenden Gesetz schon deswegen der Auslieferung, weil die betreffenden *) Die betreffende These (15) lautet: ,,Jedenfalls soll die Auslieferung wegen eines Verbrechens, welches sowohl den Charakter eines politischen als denjenigen eines gemeinen Deliktes hat, nur bewilligt werden, wenn der ersuchende Staat die Zusichernng ertheilt hat, daß der Auszuliefernde nicht durch ein Ausnahmegericht beurtheilt werde."

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Deliktsbegrif in Art. 3 unter den Auslieferungsdelikten nich aufgezählt sind. Uebrigens sind diese spezifisch politischen Vergehen heutzutage nicht blos in der Schweiz, sondern in allen Staaten von der Auslieferung ausgeschlossen ; der innere Grund hief dürfte in demselben Gedanken liegen, welcher das Prinzip der ,,Nichtintervention" zur allgemeinen Geltung gebracht hat. Würde es sich nur darum handeln, für solche rein politische Delikte die Auslieferung zu verbieten, so bedürfte es demnach hiefür keiner besondern Bestimmungen im Gesetze; ihr Ausschluß ist ein Gebot des Völkerrechts, und die Frage, ob die Auslieferung auf Grund derselben zu bewilligen sei, ist wie schon Herr Serment richtig bemerkt hat*), von vorneherein in veraeinendem Sinne gelöst.

Allein wenn in Staatsverträgen oder Gesetzen vom Ausschluß der Auslieferung wegen ,,politischer Verbrechen und Vergehen" die Rede ist, so sind damit nicht sowohl jene rein politischen Handlungen, als vielmehr die sogenannten ,, r e l a t i v " politischen Delikte gemeint. Mit dieser von Lammasch aufgebrachten Benennung pflegt man einerseits solche Handlungen zu bezeichnen, deren Thatbestand sowohl die Merkmale eines gemeinen Verbrechens, als auch diejenigen eines rein politischen Deliktes oder doch wenigstens der Vorbereitungshandlung zu einem solchen enthält ; etwa auch solche Verbrechen und Vergehen, welche an sich gemeine Delikte und nichts als gemeine Delikte sind, aber mit politischen Delikten in engem juristischem oder thatsächlichem Zusammenhang stehen. In beiden Fällen erhält die Handlung für die öffentliche Meinung nach der in einigen unserer Verträge gebrauchten Ausdrucksweise einen ,,politischen Charakter", d. h. eine Färbung, welche die vollständige Gleichbehandlung mit der That eines sogenannten ,,gemeinen" Verbrechers ausschließt.

Welcher Art nun aber die Einwirkung der politischen Verhältnisse auf den Willen des Thäters oder die Verbindung des politischen mit dem gemeinen Verbrechensthatbestand sein soll, um im einzelnen Fall der strafbaren Handlung einen politischen Charakter zu geben, darüber herrscht die größte Meinungsverschiedenheit. Die Einen verlangen, daß der Z w e c k des Thäters ein politischer, sein Wille unmittelbar auf Erreichung eines politischen Erfolges gerichtet sei. Aeußerlich charakterisir sieh in diesem Falle die
That durch ihr O b j e k t , so daß diese Auffassung sich thatsächlich so ziemlich mit derjenigen anderer Rechtslehrer deckt, *) Bericht an die XVIII. Versammlung des Schweiz. Juristenvereins in Bern, 1880, Stämpfli, S. 122.

Vergl, auch L a m m a s c h , Das Recht der Auslieferung wegen polizeilicher Verbrechen. S. 36 ff., 53 ff.

345 welche den politischen Charakter der Handlung in dem ,,objektiven Thatbestand01 derselben suchen. Andere ziehen den Kreis weiter,, indem sie schon dem bloß innern, äußerlich nicht erkennbaren B e w e g g r u n d die Kraft zuschreiben, einer Handlung einen politischen Charakter zu verleihen. ' Wieder Andere betrachten den t h a t s ä c h l i c h e n Z u s a m m e n h a n g a l s entscheidend, in welchem die einzelne That mit den allgemeinen politischen Vorgängen steht, und bezeichnen als politische Delikte die im Verlaufe und unter dem Einfluß eines Bürgerkrieges oder einer Volkserhebung begangenen Rechtsverletzungen.

Die Definitionen sind nach der geistvollen Bemerkung von Herrn Soldan*) auf diesem Gebiete stets den Schlüssen angepaßt, welche aus ihnen gezogen werden sollen. So waren auch in der Kommission alle die oben dargelegten Anschauungen in entsprechenden Anträgen verkörpert.

Indessen ist es gelungen, durch Ausscheidung der rein theoretischen Streitfragen sich auf dem Boden derjenigen Grundsätze zu einigen, welche durch die .Macht der Verhältnisse gegeben sind und auch bei abweichender wissenschaftlicher Anschauung praktisch anerkannt werden müssen.

Diese Grundlage, auf welcher sich die weiteren Erörterungen der Vorberathungskomrnission aufbauten, läßt sich dahin zusammenfassen, daß der Grundsatz der Nichtauslieferung über den Kreis der rein politischen Delikte hinaus auch auf die relativ politischen Delikte auszudehnen, daß aber anderseits auch nicht jedes gemeine Verbrechen mit politischer Färbung als relativ politisches Delikt zu schützen sei.

Das erstere dieser beiden Postulate, nämlich die Berücksichtigung des politischen Elements auch in einem an sich dem gemeinen Strafrecht unterliegenden Verbrechen ist für die Schweiz geradezu eine historische Nothwendigkeit. Wir würden den Sinn des Schweizervolkes schwer verkennen, wenn wir ihm zumuthen wollten, einer Vorschrift seine Zustimmung zu ertheilen, wie sie die Auslieferungsverträge zwischen Rußland einerseits und Preußen und Bayern anderseits aufstellen, indem sie bestimmen: ,,Der Umstand, daß das Verbrechen oder Vergehen, wegen dessen die Auslieferung verlangt' wird, in politischer Absieht begangen worden ist, kanu in k e i n e m F a l l e als Grund zur Auslieferungsverweigerung dienen*. Einer derartigen Klausel kann nur beistimmen,
wer, allen Lehren der Weltgeschichte zum Trotz, die Ansicht vertritt, daß *) C h a r l e s S o l d a n , L'extradition des criminels politiques. Paris, Thovin, 1882, p. 14.

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politische Umwälzungen sich ohne gewaltsame Handlungen und ohne jeden Einbruch in die Privatrechtssphäre vollziehen können, wer an jene bahnbrechenden Ereignisse des Völkerlebens den nämlichen Maßslab anlegen möchte, womit wir im Leben des Einzelnen Recht und Unrecht abzumessen gewohnt sind.

Jene Klausel des russisch-preußischen Vertrages wird denn auch von den meisten Vertretern der Völkerrechtswissenschaft als Ausfluß übertriebener reaktionärer Bestrebungen rückhalllos mißbilligt*). Sie mag für Staaten, deren Regierungsgrundsätze auf gleichartigen politischen Anschauungen beruhen, als Mittel zum gegenseitigen Schütze der Regierungen unter einander, gewissermaßen als politische Versicherung auf Gegenseitigkeit, geeignet sein ; als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts würde sie bei der so verschiedenartigen Gestaltung der staatsrechtlichen Zustände und der politischen Ueberzeugungen für die einzelnen Staaten eine schwere Gefährdung ihres Selbstbestimmungsrechtes bedeuten. Wir können daher Herrn Rivier nur zustimmen, wenn er sagt : ,,Der Ausschluß der relativ politischen Delikte vom Recht und der Pflicht zur Auslieferung ist durchaus gerechtfertigt; ihn gänzlich beseitigen wollen, wäre gegenwärtig eine Thorheil. u Dies führt uns zur zweiten Hauptfrage: soll der Grundsatz der Nichtauslieferung wegen relativ politischer Delikte durch Gesetz oder Vertrag au gewisse Schranken gebunden werden ?

Die Schweiz hat diese Frage bisher verneint. Sie hat z. B. ihre Zustimmung zu der berühmten ,,belgischen Attentatsklausel", wonach die gegen ein auswärtiges Staatsoberhaupt oder ein Familienglied desselben gerichteten Verbrechen des Mordes, des Todtschlags oder der Vergiftung niemals als politische Delikte betrachtet werden sollen, jederzeit abgelehnt, obschon derartige Bestimmungen nach dem Vorgang des belgischen Gesetzes von 1856 in die meisten neuern Auslieferungsverträge der auswärtigen Staaten A u f n a h m e gefunden haben.

Damit soll nicht von vornherein gesagt sein, daß die Schweiz die Auslieferung eines Königsmörders in jedem Falle verweigern würde. Sie wollte sich lediglich zur unabhängigen Würdigung aller Verhältnisse ihre volle Freiheit wahren,**) was um so gerechtfertigter erscheint angesichts des Umstandes, daß jene Klausel *) Vergi. Lammasch in Holtzendorff's Handbuch des Völkerrechts, Bd. HI,
S. 508.

**) Vgl Botschaft des Bundesrathes an die h. Bundesversammlung betreffend den Ausliefernngsvertrag mit Frankreich, vom 29. November 1869 (B.-B1. 1869, III, 462 ff.).

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für die Schweiz infolge ihrer staatsrechtlichen Organisation eine einseitige Verpflichtung zu Gunsten ihres Mitkontrahenten bedeuten würde, wobei die Möglichkeit der Reziprozität durch die Verhältnisse überhaupt ausgeschlossen «'are. Die durch die belgische Klausel für einzelne Persönlichkeiten im Staate kraft Gesetzes Oseschaffene Ausnahmestellung steht übrigens zu der bürgerlichen Rechtsgleichheit, auf welcher sich unser ganzes demokratisches Staatsrecht aufbaut, in allzu scharfem Gegensatze, als daß wir zu ihrer Durchführung Hand bieten könnten.

Auch der Rechtswissenschaft des Auslandes ist es nicht entgangen, daß jene Bestimmung den Stempel eines Gelegenheitsgesetzes -- eines ,,V e r legenheitsgesetzesa, \vie boshaft bemerkt -worden ist -- doch gar zu deutlich trägt, und dieser Makel der Inkonsequenz ist gerade der Punkt, an welchem die Kritik mit dem unanfechtbaren Argument eingesetzt hat, wenn die jener Klausel zu Grunde liegende Auffassung berechtigt sei, so müsse man sie auch in ihre Konsequenzen verfolgen und nicht nur dem Königsmord, sondern dem p o l i t i s c h e n M o r d überhaupt den Schutz der Nichtauslieferung entziehen. Die Auslieferung eines jeden Mörders, ohne Rücksicht auf den etwaigen politischen Charakter seiner That, ist denn auch seit 20 Jahren das Ziel aller derjenigen Bestrebungen, welche sich mit dem grundsätzlichen Ausschluß der Auslieferung wegen .politischer Delikte nicht befreunden können. Es ist nun nicht zu leugnen, daß diese Richtung gerade in dem Vorgehen gewisser extremer Gruppen ihre kräftigste Unterstützung findet, indem die öffentliche Meinung der zivilisirteu Nationen durch die in jüngster Zeit besonders eifrig betriebene terroristische ,,Propaganda der That a nicht nur erschreckt, sondern auch in ihrem Rechtsgefühle empfindlich verletzt und zu einem lauten Protest dagegen geführt wurde, daß jene Verbrecher, deren Schandthaten sich auf dem Hintergründe der humanitären Bestrebungen unserer Zeit doppelt grell abheben, durch bloße Flucht über die Grenze thatsäfhlich völlige Straflösigkeit sich sollten sichern können. Niemand konnte sich des Gefühls erwehren, daß die menschliche Gesellschaft in ihrer Gesammtheit durch eine allgemeine Gefahr bedroht sei, welcher im Interesse der eigenen Selbsterhaltung mit gemeinsamen Maßregeln unter Hintansetzung aller aus dem
Mißtrauen der Staaten gegen einander hervorgehenden Bedenken begegnet werden müsse.

Es ist nicht zu verkennen, daß in diesen sozialpolitischen Verbrechen ein Element liegt, welches bisher dem Begriff des politischen Deliktes fehlte. Das Verbrechen wird von gewisser Seite nicht mehr bloß als letztes Auskunftsmittel, als ultima ratio einer bedrückten und gehetzten Partei betrachtet, die sich anders

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nicht mehr zu helfen weiß, sondern als regelmäßiges, ja sozusagen einziges Kampfmittel zum Zwecke der Terrorisirung der Bevölkerung empfohlen. Daher richtet sich auch seine Spitze nicht mehr nur gegen einzelne, ein politisches System gewissermaßen verkörpernde Persönlichkeiten, sondern ohne Unterschied gegen jeden, auch den friedlichsten Bürger.

Unter diesem Einfluß hat sich die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, das Anwendungsgebiet der Auslieferung wegen politischer Delikte zu erweitern, nicht nur der breitesten Volksschichten, sondern auch der maßgebendsten Vertreter der Völkerrechtswissenschaft bemächtigt. Einer derselben gibt diesem Gedanken folgenden Ausdruck :*) ,,Es bleibt nichts übrig, als iu der Terminologie des Strafrechtes jene Thaten aufzuzählen, welche unter allen Umständen von der modernen Sittlichkeit reprobirt werden, so daß sie durch keinen noch so edeln und bewundernswerthen politischen Zweck und durch keinen Zusammenhang mit großen politischen Aktionen gerechtfertigt, oder auch nur entschuldigt werden können."· Vom gleichen Gesichtspunkte aus machte schon im Jahre 1808 eine durch die englische Regierung einberufene Kommission den Vorschlag, die Verbrechen des Mordes und des Todtschlags von dem zu Gunsten der politischen Delikte statuirten Privileg der Nk-htauslieferung auszunehrnen.

Die russische Regierung ist im Jahre 1881 auf diesen Aul rag zurückgekommen, indem sie den Zusammentritt einer Konferenz der europäischen Mächte beantragte, zum Zwecke, die Aufnahme folgender Bestimmung in alle Auslieferungsverträge zu vereinbaren: ,,Als politische Delikte gelten in Zukunft nicht mehr der Meuchelmord und die Vergiftung, sowie der Versuch dieser Verbrochen, die Theilnahme an denselben und die vorbereitenden Handlungen zum Zwecke ihrer Begehung."' Wenngleich jener Kongreß nicht stattgefunden hat, so erzielte Rußland wenigstens gegenüber Preußen und Bayern im Jahre 1885 das schon erwähnte Uebereinkommen, das in dieser Richtung noch viel weiter geht als der obige Vorschlag.

Das völkerrechtliche Institut seinerseits hat seine Anschauungsweise in folgender, auf dem Kongreß in Oxford 1880 angenommener These (14, a) niedergelegt: ,,Handlungen, welche alle Merkmale von Verbrechen des gemeinen Rechts iu sich vereinigen (Mord, *) L a m m a s c h . Das Recht der Auslieferung .wegen politischen Verbrechen. Seite 100.

349 Brandstiftung, Diebstahl), sollen von der Auslieferung, bloß weil ·die Absicht ihrer Urheber eine politische war, nicht ausgenommen werden" 1 ; die hier vorgeschlagene Gleichstellung der Verbrechen der Brandstiftung und des Diebstahls mit demjenigen des Mordes bedeutet eine weitere Einschränkung des Asylrechts.

Weniger weitgehende Schriftsteller beanspruchen nur die Auslieferung wegen M e u c h e l m o r d e s (mit Einschluß der Vergiftung) und lassen dagegen Denjenigen, der einen Todtschlag in offenem Kampfe begangen hat, der Wohlthat des Asylrechts theilhaftig werden. So schreibt Lammasch :*) ,,Eine Norm dieser Art, daß Meuchelmord unter allen Umständen zur Auslieferung verpflichte, sofern nur die allgemeinen Bedingungen einer Auslieferung vorliegen, könnten alle Staaten in ihr Recht aufnehmen, mögen sie sich selbst was immer für eine Regierungsform gegeben haben, mag ihre Bevölkerung mit gewissen revolutionären Bestrebungen in einigen fremden Staaten noch so sehr sympathisiren, und mag die Regierung, gegen welche dis revolutionären Bestrebungen sich richten, in der Thnt des auch nur indirekten Schutzes von Seite fremder Staaten noch so unwürdig sein. Den Meuchelmörder können und müssen alle Staaten ächten, mag was immer für ein Motiv ihn geleitet, was immer für ein Zweck ihn bestimmt haben.111 Man kann diesen Ausspruch des berühmten Rechtsgelehrten als den zusammenfassenden Ausdruck der gegenwärtig herrschenden Lehre bezeichnen, und es fragt sich nun, ob die Schweiz diese Lehre annehmen und für sich zum Gesetz erheben soll.

Herr Rivier steht nicht a n , diese Frage zu bejahen. Er ist der Ansicht, ,,die schweren, die gemeinen Verbrechen -- foul crimes -- sollten -- zur Ehre unserer Rechtscivilisation -- niemals unbestraft O bleiben. Es wäre eine Ehre für unser Land, wenn es den Grundsatz ausspvechen würde, daß der Mord und die abscheulichsten Verbrechen durch einen politischen oder sozialen Zweck weder verändert noch gemildert werden. a Dem bloßen politischen Bew e g g r u n d spricht Herr Rivier überhaupt die Kraft ab, einem gemeinen Delikt einen die Auslieferung n umschließenden Charakter zu geben.

Dem entsprechend hat Hr. Kivier seinen Antrag folgendermaßen formulirt: ,,Wegen eines gemeinrechtlichen Delikts, welches zu Zwecken der Politik oder in politischer Absicht begangen worden ist, kann *) 1. o. Seite 103.

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die Auslieferung verweigert werden, es sei denn, daß dasselbe sich als schweres Verbrechen, wie z. B. Mord, Brandstiftung, Zerstörung durch Explosion, Diebstahl, Fälschung, qualifizirt. Im Zweifelsi'alle entscheidet die Anklagekammer des Bundesgerichts auf Gruud des Thatbestandes und der Gesetzgebung des Kantons, in welchem der Verfolgte betroffen wurde.

,,Die Auslieferung wegen eines gemeinrechtlichen Delikts soll nicht lediglich aus dem Grunde verweigert werden, weil das reklamirte Individuum vorgibt, aus einem wirklich oder angeblich politischen oder religiösen Beweggrunde gehandelt zu haben."

Die Kommissionsmehrheit vermochte sich nicht auf diesen Standpunkt zu stellen, trotzdem er durch die Autorität des Oxforder Kongresses gedeckt erschien. Der grundsätzliche Ausschluß gewisser Verbrechen vom Asylrechte würde voraussetzen, daß die Ueberzeugung gerechtfertigt wäre, es sei ein seinem objektiven Thatbestande nach gemeines Delikt jener Art uuter keinen Umständen geeignet, die Verweigerung der Auslieferung zu rechtfertigen. Wir brauchen nur au Charlotte Corday zu erinnern, um den Beweis erbracht zu haben, daß sogar der Meuchelmord unter gewissen Umständen entschuldbar erscheinen kann. Die Verlheidiger der Oxforder These selbst können sich übrigens der Einsicht nicht verschließen, daß ihr Grundsatz Ausnahmen erfahren muß; wenn aber mit Bezug auf das erwähnte Beispiel -- wie z. B. von Lammasch*) -- behauptet wird, Charlotte Corday würde von einer politisch unbefangenen, materielle Gerechtigkeit übenden Jury freigesprochen worden sein, so ist das eine Ausrede, der jedenfalls nicht die Kraft eines ernsthaften Argumentes beigemessen werden kann. Die Beurtheilung ist allerdings in jenem Falle durch ein Ausnahmegericht erfolgt, was nach Art. 9 des vorliegenden Gesetzes die Verweigerung der Auslieferung gerechtfertigt hätte ; allein es ist leider nur zu wahrscheinlich, daß auch die ordentlichen Gerichte eines Staates unter den gleichen Umständen keinen vorurtheilsfreieren Spruch fällen würden. · Wenn man ferner geltend macht, daß seit 100 Jahren die Anschauungen milder geworden seien, daß das menschliche Leben höher als früher gewertliet werde, und wenn man als Beweis dafür anfuhrt, daß man heutzutage Bedenken trage, selbst den verworfensten Verbrecher mit dem Tode zu bestrafen, so lassen zwar diese
Erwägungen die Schuld Desjenigen um so schwerer erscheinen, welcher in blinder Wnth fremde Menschenleben seinen mehr oder weniger klaren politischen Hirngespinnsten zum Opfer bringt; -- allein *) 1. c. S. 78.

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die Thatsache kann dadurch nicht beseitigt werden, daß es Interessen gibt, die für die Menschheit werthvoller sind, als das Leben eines Einzelnen, und daß die bedeutungsvollen Fortschritte des Völkerlebens je und je mit Blut haben erkauft werden müssen.

Die erwähnte Oxforder These geht daher unzweifelhaft zu weit. Es ist schlechthin unmöglich, ohne Weiteres gewisse Handlungen für politische Zwecke gleichsam als ,,untaugliche Mittel*-1 zu erklären. Wenn der Meuchelmord mit Recht als ein Verbrechen gemeinster Art gilt, so erscheint doch der Justizmord, wobei sich die verwerflichsten Motive unter dem Talar des Richters heuchlerisch verbergen, noch weit verabscheuungswürdiger. Und doch will jene Theorie, welche die Auslieferung der Charlotte Corday verlangt, weil sie einen Meuchelmord begangen habe, da« Asylrecht Denjenigen gewähren, welche für die Hinrichtung Ludwigs XVI.

gestimmt haben, bloß weil deren Handlungsweise nicht gerade den Thafbestand jenes speziellen Delikts erfüllt. Der verbrecherischo Gehalt der konkreten That läßt sich eben nicht nach der juristischen Formel einer Definition, sondern nur aus der Gesammtheit der Thatumstiinde bestimmen ; er richtet sich nicht nach der Kategorie, in die das Verbrechen logisch eingeschachtelt werden kann, sondern er ist für jede Einzelthat wiederum verschieden und nur für sie individuell bestimmbar. Wenn die Völkerrechtswissenschaft einzelne, besonders hervorstechende Vorgänge der zeitgenössischen Geschichte ihrer Rechnung zu Grunde legte und daraus gewisse Einteilungen abstrahir'te, so mag sie damit die öffentliche Meinung aufklären und den Behörden «Is Wegweiser bei der Beurtheilung der einzelnen Auslieferungsfälle dienen ; sie kann aber nicht verlangen, daß ihren Abstraktionen gesetzliche Geltung verliehen und damit die mehr oder weniger künstliehe Unterordnung unter eine Kategorie an Stelle der freien Würdigung des einzelnen Falles gesetzt werde. Gerade das aber wäre die Wirkung der Annahme der Oxforder These.

Soweit hat die Kommission nicht gehen wollen, und wir haben ihr unbedenklich Recht gegeben, in der Ueberzeugung, daß die überwiegende Mehrheit des Schweizervolkes diese Ansicht theilt.

Wenn sich zwar jener Beschluß des Oxforder Kongresses nicht zur Aufnahme in das Auslieferungsgesetz eignet, so ist doch seine bahnbrechende Bedeutung nicht
zu verkennen, welche darin liegt, daß er einen Grundsatz aufstellt, der trotz seiner unbestreitbaren Richtigkeit bisher eine gebührende Würdigung noch nicht gefunden hat. Es liegt nämlich darin die Anerkennung der Thatsache, daß das bloße Vorhandensein eines politischen Momentes im Thatbestande eines gemeinen Deliktes nicht genügt, urn die Straflösigkeit des Thäters vom Standpunkt des Zufluchtstaates aus zu rechtfertigen.

352 Diese Thatsache fordert Berücksichtigung. Allgemeine Unterscheidungsmerkmale, aus deren Zusammenfassung Kategorien gebildet werden könnten, gibt es nicht. Die Verschiedenheit liegt genau betrachtet nicht in der A r t der Handlung, in ihrer Q u a l i t ä t , sondern sie ergibt sich aus der Abwägung der begleitenden Umstände, aus dem Gewicht, das ihnen mit Rücksicht auf die einzelne That beigelegt werden kann.

Es folgt daraus, daß jede einzelne strafbare Handlung darauf geprüft werden muß, welcher Charakter ihr v o r w i e g e n d zukomme*), und dies wollte die Kommission durch folgenden Antrag ermöglichen, auf den sie sich schließlich geeinigt hat: ,,Wegen politischer Verbrechen und Vergehen wird die Auslieferung nicht bewilligt.

,,Die Auslieferung kann indessen bewilligt werden, obschon der Thäter einen politischen Beweggrund oder Zweck vorschützt, wenn die Handlung, wegen deren die Auslieferung verlangt wird, vorwiegend den Charakter eines gemeinen Verbrechens oder Vergehens hat.

,,Das Bundesgericht entscheidet im einzelnen Falle über die Natur der strafbaren Handlung auf Grund des Thatbestandes."

Diese Bestimmung hat in unserm Entwurfe eine unwesentliche Abänderung erfahren, indem wir statt der fakultativen Fassung: ,,Die Auslieferung kann indessen bewilligt werden.. ." eine zwingende Wendung vorschlagen, mit den Worten: ,,Die Auslieferung wird indessen bewilligt. . .". Hat das Bundesgericht einmal erklärt, daß die Handlung v o r w i e g e n d den Charakter eines gemeinen Verbrechens oder Vergehens hat, so ist in dei- That nicht einzusehen, weßhalb die Auslieferung auch dann noch verweigert werden sollte.

Der Ausweg, eine Auslieferung wegen des vorwiegend politischen Charakters der betreffenden Handlung zu verweigern, gewährt für alle Bedenken hinreichenden Raum, und der Hinweis auf weitere Verweigerungsgründe wäre geradezu verwirrend.

Wenn wir Ihnen beantragen, dem Vorschlage der Expertenkommission Ihre Zustimmung zu ertheilen, so sind wir uns wohl *) Vergl. das Votum von Hrn. Prof. Dr. K ö n i g an der XVIII. Versammlung des Schweiz. Juristenvereins ; Verhandlungen 8. 153: der Grund der "Nichtauslieferung bei gleichzeitigem Vorhandensein eines gemainen Vergehens kann ,,nur in dem U e b e r w i e g e n des politischen Charakters der Handlung liegen".

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bewußt, daß dieser Vorschlag nicht über alle Kritik erhaben ist.

Vor Allem wird hervorgehoben werden, er bringe keine Lösung der Frage, sondern schiebe die Aufgabe nur von den Schultern des Gesetzgebers auf diejenigen des Richters über. Das ist indeß kein Vorwurf, es liegt darin vielmehr die kräftigste Rechtfertigung unseres Antrags: der Gesetzgeber m u ß hier dem Richter freien Spielraum lassen; in dieser so heikein Materie ist die Lage des einzelnen Falles entscheidend, die Formel ' vermag die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Wirklichkeit nicht zu umspannen.

Der Entscheid des Bundesgerichts wird sich auf umfassende und zugleich eingehende Würdigung einer großen Zahl von Erwägungen der verschiedensten Art gründen müssen ; auch Rücksichten politischer Natur sind dabei nicht ausgeschlossen, indem naturgemäß die Frage der politischen Einrichtungen des ersuchenden Staates und insbesondere das Vertrauen, welches dessen Gerichtsbehörden zu erwecken geeignet sind, für die Urtheilsfällung entscheidendes Gewicht haben werden. Es liegt darin für das Gericht eine schwere Verantwortlichkeit, allein seine Zusammensetzung läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß es seiner großen Aufgabe in jeder Richtung gewachsen sein wird, und das Eingreifen des obersten Gerichtshofes in diese schwierigen Verhältnisse bietet die beste Gewähr dafür, daß der Entscheid stets von dem im Volke lebenden Rechtsgefühle getragen und niemals durch ausserhalb des Rechtsgebiets liegende Rücksichten getrübt werde. Daher wird sich auch die auswärtige Regierung bei einem allfällig abweisenden Entscheide jenes Gerichtshofes unschwer beruhigen, denn sie weiß, daß derselbe von Männern ausgeht, welche nur der Stimme ihres Gewissens und niemals einem Druck von irgend welcher Seite gehorchen.

A l i n e a 4 dieses Artikels stellt die Bestimmung auf, die Auslieferung solle nur unter der Bedingung bewilligt werden, ^daß der Auszuliefernde wegen seines politischen Zweckes oder Beweggrundes nicht strenger behandelt werden dürfe u .

Da der politische Charakter der Handlung den Ausschluß der Auslieferung zu bewirken geeignet ist, so darf er selbstverständlich da, wo er zur Auslieferungsverweigerung nicht hinreichend ausgeprägt erscheint, wenigstens nicht als Erschwerungsgrund für die Behandlung des Delinquenten Veranlaßung bieten.

Wir bemerken
schließlich noch, daß die Kommission die von Hrn. Rivier in Verbindung mit den politischen Verbrechen und Vergehen behandelten r e l i g i ö s e n D e l i k t e , d. h. die nur mit Rücksicht auf ihren religiösen Charakter strafbaren Handlungen, Bandesblatt. 42. Jahrg. Bd. III.

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nach einigem Zögern hat fallen lassen, und zwar unseres Erachtens mit Recht.

Auch hier ist wieder zwischen spezifisch und relativ religiösen Verbrechen und Vergehen zu unterscheiden. Erslere, wie z. B.

Gotteslästerung, Proselytenrnacherei, Religioaswechsel, eignen sich schon deshalb nicht zur Auslieferung, weil sie in der Schweiz nicht strafbar und unter die durch Art. 3 ausschließlich als Auslieferungsdelikte aufgezählten Verbrechen und Vergehen nicht aufgenommen sind.

Was dagegen diejenigen Delikte betrifft, deren Thatbestand unter das gemeine Strafrecht fällt, aber gewissermaßen eine religiöse Färbung aufweist, wie z. B. Verbrechen aus Fanalismus, so glauben wir hier keine Ausnahme im Sinne der Auslieferungsverweigerung machen zu sollen. Wenn je ein außerordentlicher Fall eine besondere Behandlung erheischen sollte, so erscheint der Begriff der politischen Delikte dehnbar genug, um ihn im weitern Sinne auch zur Deckung eines derartigen Thatbestandes zu verwenden.

Artikel 11. Die Vorschrift ergibt sich a contrario schon aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 7. Obgleich sie somit hier nicht gerade nothwendig wäre, haben wir es doch für zweckmäßig erachtet, sie in positiver Fassung ausdrücklich aufzustellen, weil sie einen durch die Schweiz oftmals ausgesprochenen und stets befolgten Grundsatz bildet *).

Unter den Militärvergehen sind nur diejenigen Delikte begriffen, wobei die Eigenschaft des Thäters als Militärperson ein wesentliches Element des Thatbestandes bildet, wie Disziplinarvergehen, Verletzung der einzig den Militärpersonen obliegenden besonderen Pflichten, als Fahnenflucht u. dgl.

Artikel 12. Ohschon es nach Rivier ,,als unzweifelhaft gelten sollte, daß der Staat, auf dessen Territorium eine strafbare Handlung begangen worden,' naturgemäß und zunächst verpflichtet ist, dieselbe zu ahnden, und daß er sich nicht mittelst einer Auslieferung dieser Obliegenheit entziehen k a n n , weil die territoriale Zuständigkeit jeder ändern vorgeht", so ist doch dieser Grundsatz nicht jederzeit zur Anwendung gebracht worden. So hat der Bundesrath im Jahr *) Vergi. B.-B1.1876, II, 295.

Oxforder These Nr. 16: Die Auslieferung soll wegen Fahnenflucht von Land- und Seesoldaten, sowie wegen rein militärischer Delikte nicht bewilligt ·werden.

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1856 dur österreichischen Regierung die Auslieferung zweier Personen bewilligt, welche sich in Einsiedeln der versuchten Fälschung österreichischer Banknoten schuldig gemacht hatten *), und noch im Jahr 1875 sprach das Bundesgericht sich dahin aus, es sei auf die Einrede, daß das Verbrechen oder Vergehen in der Schweiz begangen und daher die schweizerischen Gerichte allein zuständig seien, dann nicht einzutreten, wenn der Fall bei den schweizerischen Behörden nicht anhängig gemacht worden sei **). Im Jahre 1880 ist indeß das Bundesgericht zu dem von uns in Art. 12 aufgestellten Grundsatz übergegangen durch Annahme der Erwägung : ,,Die Auslieferung ist derjenige Vorgang, wodurch eine Person von einem Staate wegen eines n i c h t auf d e s s e n G e b i e t begangenen Verbrechens oder Vergehens einem ändern Staate, dessen Strafgerichtsbarkeit jene Person unterliegt, auf sein Gesuch übergeben wird ***).

Damit ist die Vermuthung ausgeschlossen, es könnte im Abschluß eines Auslieferungsvertrages ein Verzicht seitens des angegangenen Staates auf die Beurtheilung derjenigen Handlungen gesehen werden, welche auf seinem Gebiet begangen worden, und durch seine Gesetzgebung mit Strafe bedroht sind f).a · Der Bundesrath hat im Jahr 1886 in gleichem Sinne entschieden ff).

Art. 13. Eine dem Inhalt dieses Artikels entsprechende Bestimmung findet sich in unsern sämmtlichen Verträgen, und es ist in der Natur der Sache begründet, daß kein Staat eine Person aus seiner Gewalt entläßt, bevor sein Strafanspruch gegen dieselbe völlig erledigt ist. Unseres Erachtens geht Herr Berney -j-ft) zu weit, wenn er verlangt, daß stets derjenige Staat den Vorrang erhalte, auf dessen Gebiet die schwerste Handlung begangen worden ist, und daß dieser Grundsatz sogar gegen den Zufluchtstaat in Anwendung gebracht werde.

Art. 14. In A b s a t z l wird ein Grundsatz aufgestellt, der ganz natürlich aus dem allgemein anerkannten Prinzip der Territorialität hervorgeht, und den der Oxforder Kongreß in These 9 folgendermaßen formulirt hat : ,,Konkurriren mehrere Auslieferungsbegehren wegen einer und derselben Handlung, so sollte derjenige Staat den Vorzug erhalten, auf dessen Gebiet das Delikt begangen wurde."

*) Ullmer II, Nr. 1393, S. 675.

**) E. d. B. G. I, 426, Erw.

***) Vergi. Billot, Traité d'extradition, p. 1.

t) Entsch. des B. G. VI, 435 ; IX, 519, Erw. 2.

tt) Fall Meyer, B. Bl. 1887, II, 720, Nr. 20.

ttt) I- o. p. 60.

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In A b s a t z 2 handelt es sich um die Konkurrenz mehrerer Begehren gegen die nämliche Person wegen verschiedener Handluugen.

Für diesen Fall sieht nach Berney*) beinahe jeder Vertrag ein anderes Verfahren vor, weßhalb es sich empfahl, dem Ermessen des Bundesrathes einen möglichst weiten Spielraum zu gewähren, und auch die nachstellende durch den Oxforder Kongreß in These 10 aufgestellte Regel nicht ausnahmslos anzunehmen: ,,Wird die Auslieferung einer und derselben Person von mehreren Staaten wegen verschiedener strafbarer Handlungen begehrt, so soll der angegangene Staat im Allgemeinen die verhältnißmäßige Schwere der That in Betracht ziehen Im Zweifelsfalle hat er zunächst dasjenige Begehren zu berücksichtigen, welches zuerst gestellt worden ist.a Art. 15 U. ff. handeln vom Auslieferungsverfahren. Dasselbe bietet für die Schweiz besondere, aus dem notwendigen Ineinandergreifen der eidgenössischen und kantonalen Verwaltung und Rechtspflege hervorgehende Schwierigkeiten.

Wie Herr Rivier betrachten auch wir die Auslieferung vor Allem als eine Aeußerung des staatlichen Selbstbestimmungsrechts, eine Thatsaehe, welche sowohl am Anfang als am Schlüsse des Auslieferungsverfahrens zur Geltung gelangen muß. Der Staat handelt dabei als Völkerrechtssubjekt; daher ist es die S c h w e i z , welche die Auslieferung verlangt, sie ist es, an welche der auswärtige Staat sein Begehren richtet, und sie ist es, welche dieses Begehren bewilligt oder verweigert. Dies hat auch noch zur Folge, was allgemein anerkannt und durch alle Verträge mit Ausnahme von zwei oder drei, sowie durch alle Auslieferungsgesetze gewährleistet und auch von dem völkerrechtlichen Institut in der Oxforder Schlußnahme 18 aufgestellt worden ist. nämlich daß ,,die Auslieferung auf diplomatischem Wege stattfinden muß a . Die Theorie von der internationalen Rechtspflege, welche die Landesgrenzen unberücksichtigt läßt, mag diese Vorschrift für veraltet erachten, allein es genügt, einige Auslieferungsfälle praktisch gesehen zu haben, um die Notwendigkeit jener Bestimmung zu erkennen.

Das diplomatische Verfahren allein bietet hinreichende Gewähr dafür, daß der bedeutungsvolle und wichtige Vorgang der Auslieferung, welcher für Private und für den Staat von Folgen der verschiedensten Art begleitet sein kann und übrigens seinem Wesen nach ein Akt
von S t a a t zu S t a a t ist, ordnungsgemäß sich vollzieht. Man darf ihn nicht in die Hände unterer Behörden legen, welche in unbedachter Weise Begehren stellen könnten, um sie nachher unter Umständen wieder zurückzuziehen ; auch muß der *) 1. c. p. 57.

357 Fall berücksichtigt werden, daß auf ein nach dem Gesetze wirklich oder wenigstens scheinbar begründetes Begehren nichtsdestoweniger aus höherem Interesse nicht eingetreten werden kann.

Die oberste Staatsbehörde allein vermag Fälle dieser Art zu erwägen. Endlich trägt der Staat allein, d. h. die Schweiz, und nicht der Kanton, die Verantwortlichkeit gegenüber fremden Staaten.

Daher ist es der Bundesrath, welcher die Auslieferung auf diplomatischem Wege verlangt, und es kann dieselbe mit Erfolg auch nur bei ihm auf diplomatischem Wege nachgesucht werden.

Formen des diplomatischen Verkehrs sind auch die direkte Korrespondenz zwischen den Staatsregieruugen, wie sie mit Luxemburg und den angrenzenden süddeutschen Staaten besteht, sowie die Vermittelung durch die Konsulate, wo keine eigentlichen diplomatischen Vertreter bestellt sind.

A b s a t z 2 zählt die dem Auslieferungsbegehren anzuschließenden Belege auf, welche den Zweck haben, Mißgriffe zu vermeiden, sowie dem Bundesrathe und eventuell auch dem Bundesgerichte das nöthige Material zur Entscheidung an die Hand zu geben.

Da unseres Erachtens die Schuldfrage für das Auslieferungsverfahren vollständig außer Betracht fällt, so verlangen wir keine Angabe von Beweismitteln oder auch nur von Schuldindizien für die Begehung der That durch den Verfolgten. (Vgl. Art. 24.)

Art. 16. Der Inhalt dieses Artikels entspricht den im Kreisschreiben vom 26. Januar 1875 (Bundesbl. 1875, I, 122) aufgestellten Vorschriften und dem gegenwärtigen Usus.

Stützt sich das Auslieferungsbegehren nicht auf einen bestehenden Vertrag, so entscheidet gemäß A b s a t z 2 der Bundesrath endgültig über die Frage, ob auf das Begehren einzutreten sei oder nicht. Verneint er sie, so ist damit die Sache erledigt.

Tritt er auf das Begehren ein, so greift das gewöhnliche Verfahren Platz, und das Bundesgericht entscheidet im Falle eines Einspruchs, ob die Auslieferung gemäß den Bestimmungen des vorliegenden Gesetzes bewilligt werden kann.

· Art. 17. Die hier zugelassene Verhaftung auf Grund eines provisorischen Gesuches vor Eingang des Auslieferungsbegehrens und des Haftbefehls ist äußerst zweckmäßig und daher allgemein gebräuchlich. Indeß soll die provisorische Verhaftung stets nur zum Zwecke der Auslieferung erfolgen, und das betreffende Gesuch daher die Zusicherung ausdrücklich
enthalten, daß der Verhaftbefehl besteht und die Auslieferung verlangt werden wird. Auch hier empfiehlt sich der diplomatische Verkehr zur Vermeidung von Verhaftungsgesuchen ohne ernstliches Be.dürfniß und ohne ge-

358 hörige Garantien. Für Fälle äußerster Dringlichkeit sehen Art. 19 und 20 weitere Erleichterungen vor.

Die provisorische Verhaftung kann nur während einer bestimmten und zwar möglichst kurzen Frist aufrecht erhalten werden. 0 Artikel 18 entspricht dem Inhalt des Kreisschreibens vom 26. Januar 1875.

Artikel 19. Es handelt sich hier um Anordnung eines superprovisorischen Fahndungs- und Verhaftungsverfahrens auf dem Wege des direkten telegraphischen oder brieflichen Verkehrs zwischen den zuständigen Behörden des ersuchenden Staates und den kantonalen Regierungen oder Gerichtsbehörden. Dieses Verfahren kann für die Festnahme eines Flüchtigen wesentliche, ja unentbehrliche Dienste leisten; es empfahl sich also, dasselbe zuzulassen; indeß soll es sich auf die'Fälle äußerster Dringlichkeit beschränken, und es ist überdieß den kantonalen Behörden freigestellt, ob sie einem derartigen Begehren Folge geben wollen oder nicht.

Auch hier kommt iudeß der Gedanke zum Ausdruck, daß es sich nur um vorbereitende Maßnahmen zum Zwecke der Auslieferung handelt und daß von vorneherein der ersuchende Staat als solcher das Vorgehen seiner Behörden durch Uebernahme der Verantwortlichkeit decken soll : es ist daher von jedem derartigen direkten Begehren dem Bundesrathe Mittheilung zu machen, und zwar sowohl auf diplomatischem Wege seitens des ersuchenden Staates als durch den angegangenen Kanton selbst.

Niemals und unter keinen Umständen, selbst dann nicht, wenn der Auszuliefernde zustimmt, soll die Auslieferung vor Eingang des diplomatischen Begehrens vollzogen werden.

Das Gesetz räumt somit auf mit jener regelwidrigen Praxis der Auslieferung ,,brevi manu tt , wonach gewisse Kantone trotz aller Vorstellungen auswärtiger Regierungen*) und der wiederholten Weisungen des Bundesrathes **) bis in die neueste Zeit stets dem *) B.-B1. 1867, I, 645, Nr. 7: -- 1870, 11, 178, Mr. 6.

**) B.-B1.1876, II, 293, Nr. 2; -- 1878, II, 519: ,,Wir haben uns dahiu ausgesprochen, daß die Auslieferung nicht vollzogen werden dürfe, bis ein gehöriges Auslieferungsbegehren vorliege, das nach allen Verträgen auf diplomatischem Wege gestellt werden muß. Daraus folgt, daß eine Auslieferung nur mit Bewilligung der Bundesbehörden vollzogen werden darf, zumal nach Art. 8 und 10 und 102 der Bundesverfassung der Abschluß und die Vollziehung von
Staatsverträgen in die Kompetenz des Bundes fällt und der diplomatische Verkehr speziell dem Bundesrathe zusteht. Die Kantone sind daher nicht berechtigt, ein ihnen als Verbrecher signalisirtesund infolge dessen auf spezielles Ansuchen provisorisch verhaftetes Individuum, polizeilich der reklamirenden Behörde zuführen zu lassen und auf diesem versteckten Wege eine Auslieferung zu vollziehen." B.-B1.1885, II, 709, Nr. 9; -- 1886, I, 973, Nr. 6; -- 1888, II, 813, Nr. 3.

359

Wunsche nachgaben, die auf ihrem Gebiete festgenommenen Personen so schnell als möglich wieder los zu werden.

Die Auslieferung brevi manu entbehrt der nöthigen Garantien für die> gehörige Wahrung der Rechte des Verfolgten und für die richtige Anwendung der Staatsverträge. Es darf nicht verkannt werden, daß, wie wir dieß in einem besondern Falle*) ausgeführt haben, ,,auch der Verfolgte durch seinen Eintritt auf das Gebiet der Schweiz Rechte erworben hat, bei denen er durch den Staatsvertrag nur dann geschützt werden kann, wenn das gehörige Verfahren beoachtet wird a .

Artikel 20. Eine ähnliche Bestimmung enthält Art. 7 des Bundesgesetzes über die Auslieferung von Kanton zu Kanton. Die Notwendigkeit dieser sofortigen Mittheilung von der erfolgten Verhaftung an den Bundesrath ist, da es sich fast ausnahmslos um Ausländer handelt, ein Ausfluß der den Bundesbehörden zustehenden Oberaufsicht auf dem Gebiete der Fremdenpolizei.

Artikel 21. ,,Nach Prüfung der Identitätsfrage.a Bei offenbarem Mangel der Identität kann die kantonale Behörde den Verhafteten sofort von sich aus auf freien Fuß setzen. Im Zweifelsfalle wird dem Verfahren freier Lauf gelassen und über jene Frage bleibt der Entscheid des Bundesgerichtes vorbehalten.

Weigert sich der Verhaftete, darüber Auskunft zu geben, ob er in seine Auslieferung einwilligt oder nicht, so wird er, da er keinen Einspruch erhoben hat, als Einwilligender behandelt.

Artikel 22. Durch die Einwilligung des Auszuliefernden wird der Bundesrath der Prüfung mit Bezug auf die Gesetzmäßigkeit der Auslieferung nicht enthoben. Der Inhalt der Artikel 2, 3, 5, 6, 9, 10, 11, 12 gehört dem öffentlichen zwingenden Rechte an, und es kann auf die Geltendmachung dieser Bestimmungen durch Privatdisposition nicht verzichtet werden. Besäße z. B. der Verfolgte das Sehweizerbürgerrecht, so würde er auch dann nicht ausgeliefert, wenn er seiner Auslieferung zugestimmt hätte. Vorkommenden Falls würde auch ein Vorbehalt ohne Zuthun des Verfolgten der Auslieferungsbewilligung hinzugefügt werden.

Durch Artikel 23 und 24 wird dem Bundesgericht die Entscheidung, ohne Rücksicht auf den Einspruchsgrund und darauf, ob das Begehren sich auf einen förmlichen Vertrag stützt oder nicht, *) B.-B1. 1883, II, 896, Nr. 4.

360

in jedem streitigen Falle übertragen, und damit sein Wirkungskreis im Vergleich zum gegenwärtigen Zustande bedeutend erweitert.

Der Entscheid selbst ist nicht, wie in den meisten anderà Staaten, ein bloßes Gutachten, sondern ein endgültiges Urtheil, das nur noch der Vollziehung durch den Bundesrath bedarf.

Das Urtheil des Bundesgerichtes beantwortet einzig die Frage, ob das Auslieferungsbegehren durch das vorliegende Gesetz und durch den einschlägigen Staatsvertrag, bezw. durch die ausgewechselte Gegenrechtserklärung gerechtfertigt erscheint. Insbesondere erstreckt es sich nicht auf die Frage der Glaubhaftigkeit der Anklage. Die Schweiz hat niemals sich auf den von England und den Vereinigten Staaten von Nordamerika eingenommenen Standpunkt gestellt, wonach die Schuld des Angeklagten den Behörden des ersuchten Staates glaubhaft dargethan werden muß, obgleich dieser Standpunkt auch vom Oxforder Kongreß (These 21) vertreten wird. Mit der häufig sehr schwierigen Sammlung und Prüfung der nöthigen Belege geht viel Zeit verloren, wodurch die vorläufige Haft des Auszuliefernden verlängert und jene Bestimmung für ihn statt vorteilhaft geradezu nachtheilig wird.

Wenn das Gesetz überall vom ,,Bundesgericht"1 schlechthin spricht, so soll damit nicht gesagt sein, daß stets der Gerichtshof in pieno urtheilen müsse. Bei der in Vorbereitung befindlichen Revision des Bundesgesetzes betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege wird naturgemäß das Auslieferungsverfahren je nach seinen verschiedenen Stadien den einzelnen Kammern des Bundesgerichts (Anklagekammer, Kriminalkammer u. s. w.) zugewiesen werden. Indessen werden wir darauf halten, daß bei politischen Delikten das Bundesgericht in pieno urtheilen soll.

Artikel 25. Für die Anordnung der provisorischen Freilassung wurde bisher ausschließlich die ersuchende Behörde als kompetent betrachtet. Juristisch rechtfertigt sich die Anerkennung dieses Rechts für den Zufluchtstaat aus dessen territorialer Justizhoheit, und materiell durch Rücksichten der Zweckmäßigkeit, Angesichts des doppelten Umstandes, daß die Einholung der Weisung der ausländischen Behörde mit Umständlichkeiten und Zeitverlust verbunden, und jene Behörde meist gar nicht in der Lage ist, die Verhältnisse gehörig zu würdigen. Von dieser Befugniß werden indeß die Bundesbehörden nur ausnahmsweise
(z. B. im Falle langjähriger Niederlassung des Verfolgten oder bei auffallend langer Verzögerung des Auslieferungsbegehrens) und nur bei Bestellung genügender Sicherheit Gebrauch machen.

361

Die Artikel 26 bis 30 bedürfen keiner weitern Erläuterungen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 9. Juni 1890.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident: L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier Hiezu 3 Tabellen als Seilagen,

Tabelle Nr. I.

Auslieferungsbegehren von der Schweiz an das Ausland.

Ersuchte Staaten.

1. Belgien 2. Deutsches Reich 3. Frankreich 4. Griechenland 5. Großbritannien 6 . Italien . . . .

7. Luxemburg 8. Monaco 9. Niederlande 10. Oesterreich-Ungarn 11 Rußland . . .

12. Spanien 13. Vereinigte Staaten von Amerika . .

14. Argentinien 15. Brasilien 16. Mexiko 17. Aegypten Ausland im Allgemeinen

1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 4

20 591 2 1

5

3 40 65 3 2 1 1 1 3

1 3 W ?4 43 55 1 1 3 3 5

?3 53

25 48

6

1 1

2

1 4

2 2 1 2

1

8 33 46

1

2 3

1

3

3 41 61

10

1

30 56

21 54

9,

2 3

5

3

1 2 5 1

1 1 2

3

1 1

14 29 1 5| 29

2 j

4

2

1 1

1

--

2

--

1

87 121

33 285 533

5 1

9 4 1

4

2

2 3 14

87 120 111

86

97e

2 --

Total.

2

86

--

91

-- 87

1 1

98

6

1

Tabelle Nr. II.

Auslieferungsbegehren vom Ausland an die Schweiz.

Ersuchende Staaten.

1. Belgien 2 Deutsches Reich 3. Frankreich 4 Großbritannien .

5. Italien 6. Luxemburg 7. Oesterreich- Ungarn 8 . Rumänien .

9. Rußland 1 0 . Schweden 11. Serbien 12. Spanien 13. Vereinigte Staaten

. . . .

. .

1880

1881

1882

1

3 77 5?, 1 36

2 69 49 17

87 73 30

.

.

.

.

. . .

.

.

.

. . . .

fi 1 ?,

fi 3

1883

1884

1886

1

4

66 65 fi5 64

92 5?,

68 44

62 56

59 6-7

2 58 37

40

37

39

37

?7

49

39 1

4

5

6

3

6

3

6

45 1

1

4

3 1

2

1

1

19 1 1 4 3

1

2

3

1887

1888

1889

1 --

von Amerika . .

--

--

Total.

1885

--

2

1

1 3

--

17 703 554 1 351 1

200 178 139 176 177 194 158 160 175 144 1701

364

Tabelle Nr. III.

Verzeichniss der

gegenwärtig bestehenden Auslieferungsverträge zwischen der Schweiz und auswärtigen Staaten.

Abgeschlossen : 1. Vereinigte Staaten von Amerika (Art. XI]I bis XVII des allgemeinen Vertrages) . 1850 Nov. 25. A. S. V. 201, 2. Niederlande 1853 Dez. 21. ,, IV. 98.

3. Oesterreich-Ungarn . . . 1855 Juli 17. ,, V. 188.

4. Italien 1868 Juli 22. ,, IX. 732.

5. Frankreich 1869 Juli 9. ,, X. 35.

6. Portugal 1873 Okt. 30. A. 8. n. F. 1.161.

7. Russland l873 Nov. 17./5. A. S. XI. 410.

8. Deutsches Reich . . . . 1874 Jan. 24. A. S. n. F.

I. 82!

9. Belgien 1874 Mai 13. ,, ,, I. 59.

Abändernde Uebereinkunft hiezu 1882 Sept.ll. ,, ,, VI. 617.

10. Luxemburg 1876 Febr. 10. ,, ,, 11.120.

11. Großbritannien 1880 Nov. 26. ,, ,, V. 313.

12. Spanien 1883 Aug. 31. ,, ,, VII. 357.

13. Salvador 1883 Oct. 30. ,, ,, VII. 694.

14. Monaco 1885 Dez. 10. ,, ,, VIII. 467.

15. Serbien 1887 Nov. 28. ,, ,, X. 677.

16. Ecuador (provisorisches Uebereinkommen) . . . . 1888 Juni 22. ,, ,, I I . S. 1.219.

Vorläufige Bestimmungen über die Auslieferung enthalten die Freundschafts-, Niederlassungs- und Handelsverträge mit: 17. Transvaal (Art. X) . . . 1885 Nov. 6. A. S. n. F. X. 284.

18. dem unabhängigen Congostaat (Art. 15) 1889 Nov.l6.A.S.n.F.II.S.I.427.

Abgeschlossen, aber noch nicht ratifizir sind die Verträge mit: der argentinischen Republik 1887 Nov. 22. B.-Bl. 1888.11. 761.

Oesterreich-üngarn . . . 1888 Nov. 17. ,, 1889.1.856.

365

Entwurf eines

Bundesgesetzes betreffend

die Auslieferung gegenüber dem Auslande.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf Art. 102, Ziff. 8, der Bundesverfassung; nach Einsicht einer Botschaft vom 9. Juni 1890, beschließt:

Erster Titel.

Bedingungen der Auslieferung.

Art. 1. Der Bundesrath kann, mit oder ausnahmsweise selbst ohne Vorbehalt des Gegenrechts, einem auswärtigen Staate auf dessen Ansuchen und gemäß den Vorschriften ·des gegenwärtigen Gesetzes jeden Fremden ausliefern, welcher durch die zuständigen Gerichtsbehörden des ersuchenden Staates verfolgt, in Untersuchung gezogen oder in Anklagezustand versetzt oder verurtheilt ist und auf dem Gebiete der Eidgenossenschaft betroffen wird.

366 Der Bundesrath kann, wenn er bei einem auswärtigen Staate die Auslieferung einer Person nachsucht, welche strafrechtlich verfolgt, in Untersuchung gezogen oder in Auklagezustand versetzt oder durch ein zuständiges schweizerisches Gericht verurtheilt ist, das Gegenrecht zusichern, soweit dies mit den Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes vereinbar ist.

Auslieferungsverträge mit fremden Staaten können nur in Uebereinstimmung mit den Vorschriften dieses Gesetzes abgeschlossen werden.

Wenn zwischen der Schweiz und dem ersuchenden Staate ein Auslieferungsvertrag besteht, so kann der Buudesrath gleichwohl, mit oder auch ohne den Vorbehalt des Gegenrechts, die Auslieferung wegen einer im Vertrag nicht vorgesehenen strafbaren Handlung innerhalb der Grenzen des gegenwärtigen Gesetzes bewilligen. Wird die Auslieferung von der Schweiz verlangt, so kann der Bundesrath innerhalb derselben Grenzen das Gegenrecht zusichern.

Der Bundesrath hat die Bundesversammlung von der Annahme oder der Ertheilung solcher Gegenrechtserklärungen in Kenntniß zu setzen.

Art. 2. Kein Schweizerbürger darf an einen fremden Staat ausgeliefert werden.

Bei der Verweigerung der Auslieferung sichert der Bundearath dem ersuchenden Staate zu, daß der Schweizerbürger, dessen Auslieferung wegen eines im Staatsvertrag oder in der Gegenseitigkeitserklärung vorgesehenen Vergehens verlangt worden ist, in der Schweiz nach dem im Gebiete des zuständigen Gerichtes geltenden Rechte beurtheilt und gegebenen Falles bestraft werden wird. Diese Zusicherung wird jedoch nur gegeben, sofern der ersuchende Staat seinerseits auf die nochmalige Verfolgung jenes Schweizerbürgers, beziehungsweise auf die Vollstreckung des von seinen Gerichten gegen ihn ausgefälllen Strafurtheils ver-

367

ziehtet, es wäre denn, daß derselbe die in der Schweiz gegen ihn verhängte Strafe nicht verbüßt hätte.

Wird diese Zusicherung ertheilt, so ist der Niederlassungskanton und in Ermangelung eines solchen der Heimatkanton verpflichtet, die Beurtheilung nach Maßgabe derjenigen kantonalen oder eidgenössischen Gesetzesbestimmungen vorzunehmen, welche zur Anwendung gelangen müßten, wenn das Vergehen im Gebiete des Kantons begangen worden wäre.

Art. 3. Die Auslieferung kann für folgende gemeine Verbrechen oder Vergehen bewilligt werden, wenn dieselben sowohl nach dem Rechte des Kantons, in dem die auszuliefernde Person betroffen wurde (Zufluchtskanton), als nach demjenigen des ersuchenden Staates strafbar sind : 1) Mord, Vergiftung, Verwandtenmord, Kindsmord, vorsätzliche oder fahrläßige Tödtung ; 2) Abtreibung der Leibesfrucht; 3) Aussetzung, böswillige Verlassung von Kindern und hülflosen Personen; 4) Entführung, Verheimlichung, Unterschiebung, Vertauschung von Kindern, Unterdrückung des Familienstandes; 5) Entführung von Minderjährigen ; 6) Menschenraub und widerrechtliches Gefangenhalten von Personen ; 7) Verletzung des Hausrechts; 8) Androhungen gewaltsamer Handlungen gegen Personen oder gegen Eigenthum ; 9) Bigamie; 10) Nothzucht; 11) Gewaltsamer Angriff auf die Schamhaftigkeit ; Schändung einer wehr- oder bewußtlosen Person ; Unsittlichkeit mit Kindern oder Pflegebefohlenen;

368

12) Unzüchtige Haadlungea mit Erregung- öffentlichen Aergernisses ; 13) Gewerbsmäßige Kuppelei; 14) Verleitung von Minderjährigen durch deren Eltern, deren Vormund oder jede andere mif ihrer Obhut betraute Person zu Unzucht; 15) Blutschande; 16) Körperverletzung, welche entweder den Tod oder eine Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit von mehr als 20 Tagen veranlaßt, oder die Verstümmelung, Amputation oder Unbrauchbarkeit eines Gliedes oder eines Organes oder andere bleibende Gebrechen zur Folge gehabt hat; Theilnahme an einem Raufhandel, in welchem eine derartige Körperverletzung begangen wurde; 17) Raub, Erpressung, Diebstahl, Unterschlagung, Hehlerei ; 18) Betrug und Vertrauensmißbrauch; 19) betrüglicher Bankerott und betrügerische Handlungen im Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren; 20) Fälschung von Grenzzeichen ; 21) falsche Anschuldigung; 22) Meineid oder falsches Gelöbniß an Eideastatt; 23) falsches Zeugniß, falsche Expertise, falsche Erklärung eines Dolmetschers, sowie Verleitung dazu; 24) Fälschung von Urkunden oder telegraphischen Depeschen, betrügerischer Gebrauch falscher oder gefälschter Schriftstücke oder Telegramme, Mißbrauch eines Blanketts; 25) vorsätzliche Zerstörung, Veränderung, Unterdrückung öffentlicher oder privater Urkunden; .26) Nachahmung oder Fälschung von Siegeln, Stempeln, Marken oder Clichés, betrügerischer Gebrauch gefälschter oder Mißbrauch ächter Siegel, Stempel, Marken oder Clichés;

369 27) Nachahmung oder Fälschung von Münzen, Papiergeld oder Werthzeichen (Postmarken u. s. w.) ; Einführung oder Ausgabe von falschen oder gefälschten Münzen oder Werthzeichen oder von falschem oder gefälschtem Papiergeld in betrügerischer Absicht; 28) Nachahmung oder Fälschung von Banknoten, Obligationen und ändern Titeln, welche durch den Staat oder mit dessen Genehmigung durch Korporationen, Gesellschaften oder Private ausgegeben 'worden sind; Ausgabe, Inverkehrsetzung solcher Banknoten, Obligationen und anderer Titel in betrügerischer Absicht; 29) Bestechung von öffentlichen Beamten, von Geschworneu und Schiedsrichtern; 30) Veruntreuung, Amtsmißbrauch seitens öffentlicher Beamten zu betrügerischen Zwecken oder infolge Bestechung ; 31) vorsätzliche oder fahrläßige Brandstiftung, Mißbrauch von Sprengstoffen, Verursachung einer gemeingefährlichen Ueberschwemmung ; o

32) vorsätzliche oder fahrläßige, gänzliche oder theilweise Zerstörung von Eisenbahnen, Dampfschiffen, Dampfmaschinen, elektrischen, insbesondere telegraphischen und telephonischen Apparaten und Leitungen; vorsätzliche oder fahrläßige Störung des Post- oder Eisenbahnbetriebs durch alle Mittel, welche geeignet sind, die auf einer Eisenbahn, einem Schiffe oder einem zur Beförderung der Post dienenden Wagen befindlichen Personen oder Waaren einer erheblichem Gefahr auszusetzen ; 33) Unterschlagung von Briefen oder Telegrammen, Verletzung des Brief- oder Telegraphengeheimnisses ; 34) vorsätzliche oder fahrläßige Verbreitung von Krankheiten bei Menschen und Thieren, gemeingefährliche Vergiftung von Quellen, Brunnen und Gewässern ; Bnndesblatt. 42. Jahrg. Bd. III.

25

370

35) vorsätzliche Beimischung von lebensgefährlichen oder gesundheitsschädlichen Stoffen zu Lebensmitteln, sowie Feilbieten oder Austheilung von solchen gefälschten oder von gesundheitswidrigen und verdorbenen Lebensmitteln unter Verschweigung ihrer schädlichen Eigenschaften 5 36) vorsätzliche Zerstörung oder Beschädigung von beweglichem oder unbeweglichem, öffentlichem oder privatem Bigenthum ; 37) Seeräuberei, sowie vorsätzliche oder fahrläßige Handlungen, welche die Zerstörung, Strandung oder deu Untergang eines Schiffes bewirken ; 38) Anerbietungen oder Vorschläge zur Begehung eines Verbrechens oder zur Theilnahme an einem solchen i 39) Komplott zur Begehung der durch dieses Gesetz vorgesehenen strafbaren Handlungen.

Für leichtere Vergehen geringfügiger und ungefährlicher Art wird die Auslieferung verweigert und auf die Stellung eines Auslieferungsbegehrens verzichtet; so namentlich dann, wenn die bereits ^erfolgte Verurtheilung eine Freiheitsstrafe von zwei Monaten nicht übersteigt.

Unter die Bestimmungen dieses Artikels fallen auch der Versuch, die Theilnahme oder Mitthäterschaft und die Begünstigung, wenn dieselben nach dem Rechte des Zufluchtskantons und nach demjenigen des ersuchenden Staates strafbar sind.

Art. 4. Die Auslieferung wegen einer in Artikel 3 erwähnten Handlung kann auch dann bewilligt werden, wenn die Handlung zwar nach den Gesetzen des ersuchenden Staates strafbar, in dem Strafgesetze des Zufluchtskantons jedoch nicht besonders erwähnt ist, sofern diese Nicht» erwähnung lediglich die Folge äußerer Verhältnisse ist, wie z. B. der Verschiedenheit der geographischen Lage beider Länder.

371

Art. 5. Wenn das Strafgesetz des ersuchenden Staates für die strafbare Handlung, um deren willen die Auslieferung begehrt wird, eine Körperstrafe androht, so wird die Auslieferung nur unter der Bedingung bewilligt, daß die Strafe gegebenen Falles in eine Freiheits- oder Geldstrafe umgewandelt werde.

Art. 6. Die Auslieferung wird verweigert, wenn nach den Gesetzen des Zufluchtskantons oder nach denjenigen des ersuchenden Staates die Strafe oder die Strafklage vor der Stellung des Auslieferungsbegehrens verjährt ist.

Art. 7. Die Auslieferung wird nur unter der Bedingung bewilligt, daß der Ausgelieferte ausschließlich für diejenige Handlung bestraft wird, um deren willen die Auslieferung erfolgt ist, keineswegs aber für andere strafbare Handlungen, welche er vor der Stellung des Auslieferungsbegehrens begangen haben mag und welche mit jener in keinem Zusammenhange stehen, es sei denn, daß der Ausgelieferte ausdrücklich einwilligt oder während eines Monats nach seiner endgültigen Freilassung von der- Möglichkeit, das Gebiet des ersuchenden Staates zu verlassen, keinen Gebrauch gemacht hat.

Der Bundesrath kann auf erneutes Begehren des ersuchenden Staates gestatten, daß der Ausgelieferte wegen einer früher begangenen, im ersten Auslieferungsbegehren nicht augeführten strafbaren Handlung verfolgt oder bestraft werde.

Der Bundesrath kann seinerseits auf die in Absatz l erwähnte Bedingung eingehen, wenn im entsprechenden Fall das Auslieferungsbegehren von der Schweiz gestellt wird.

Art. 8. Dem Staate, an welchen die Auslieferung stattgefunden hat, steht ohne Zustimmung des Bundesrathes das Recht nicht zu, die betreffende Person an einen dritten Staat weiter auszuliefern, es sei denn, daß die in Art. 7, Absatz l, erwähnten Voraussetzungen zutreffen.

372

Art. 9. Die Auslieferung wird nicht bewilligt, wenn die strafbare Handlung von einem Ausnahmegericht zu beurtheilen ist.

Art. 10. Wegen politischer Verbrechen und Vergehen wird die Auslieferung nicht bewilligt.

Die Auslieferung wird indessen bewilligt, obgleich der Thäter einen politischen Beweggrund oder Zweck vorschützt, wenn die Handlung, um deren willen die Auslieferung verlangt wird, vorwiegend den Charakter eines gemeinen Verbrechens oder Vergehens hat.

Das Bundesgericht entscheidet im einzelnen Falle über die Natur der strafbaren Handlung auf Grund des Thatbestandes.

Wenn die Auslieferung bewilligt wird, so stellt der Bundesrath dem ersuchenden Staate die Bedingung, daß der Auszuliefernde wegen seines politischen Beweggrundes oder Zweckes nicht strenger u ö v behandelt werden dürfe.

Art. 11. Wegen Uebertretung fiskalischer Gesetze und wegen Militärvergehen wird die Auslieferung nicht bewilligt.

Art. 12. Die Auslieferung wird nicht bewilligt, wenn die strafbare Handlung, wegen welcher dieselbe verlangt wird, auf dem Gebiete der Eidgenossenschaft begangen worden ist, oder wenn dieselbe zwar im Auslande begangen, aber in der Schweiz endgültig beurtheilt worden ist oder daselbst strafrechtlich verfolgt wird.

Art. 13. Wenn die Person, deren Auslieferung anbegehrt wird, in der Schweiz wegen einer ändern strafbaren Handlung strafrechtlich verfolgt wird oder verurtheilt worden ist, so wird sie erst nach Beendigung des Strafverfahrens oder nach Verbüßung der Strafe ausgeliefert.

Der Bundesrath kann indessen gestatten, daß die betreffende Person, behufs Stellung derselben vor die Gerichte

373

des ersuchenden Staates, vorübergehend an den letztern ausgeliefert werde, unter der Bedingung, daß sofort nach beendigtem Prozesse die Zurücklieferung an die Schweiz stattfinde.

Art. 14. Wird die Auslieferung von mehreren Staaten wegen einer und derselben Handlung verlangt, so ist sie vorzugsweise an denjenigen Staat zu bewilligen, auf dessen Gebiet die That, oder, wenn das Verbrechen in mehreren Staaten verübt wurde, an denjenigen, in welchem die Haupthandlung begangen worden ist.

Wird die Auslieferung von mehreren Staaten wegen verschiedener strafbaren Handlungen begehrt, so erhält'derjenige Staat den Vorzug, dessen Begehren das schwerste Verbrechen anführt. Sind die Verbrechen gleich schwer oder erscheint es zweifelhaft, welches das schwerere sei, so hat der Bundesrath in der Regel zunächst dasjenige Begehren zu berücksichtigen, welches zuerst gestellt worden ist; er kann aber auch die geographische Lage der ersuchenden Staaten, sowie die Staatsangehörigkeit des Auszuliefernden in Betracht ziehen. Bei der Bewilligung der Auslieferung kann der Bundesrath den Vorbehalt machen, daß die ausgelieferte Person nach ihrer Beurlheilung und Bestrafung dem oder den anderen Staaten übergeben werde, welche ebenfalls deren Auslieferung begehrt hatten.

Besondere Vereinbarungen bleiben vorbehalten.

Zweiter Titel.

Auslieferungsverfahreu.

Art. 15. Jedes Auslieferungsbegehren ist auf diplomatischem Wege an den Bundesrath zu richten. Ist die Schweiz der ersuchende Theil, so wendet sich der Bundesrath ebenfalls auf diplomatischem Wege an den auswärtigen Staat.

Dem Auslieferungsbegehren muß in Urschrift oder beglaubigter Abschrift ein von der zuständigen Behörde und

374

nach den gesetzlichen Formen des ersuchenden Staates erlassener Verhaftsbefehl oder eine andere Urkunde beigegeben sein, welche in dem ersuchenden Staate gebräuchlich ist und wenigstens die gleiche Kraft hat, wie ein Verhaftsbefehl. In dieser Urkunde muß das eingeklagte Verbrechen, sowie Ort und Zeit der Begehung desselben angegeben sein. Beizufügen sind überdieß die Bezeichnung und wenn nöthig eine Abschrift der auf die eingeklagte Handlung anwendbaren Gesetzesbestimmungen, soweit möglich das Signalement des Auszuliefernden und möglichst genaue Angaben über dessen Identität, Persönlichkeit und Staatsangehörigkeit.

Art. 16. Der Bundesrath überweist das Auslieferungsbegehren zur Prüfung an das eidg. Justiz- und Polizeidepartement.

Wird die Auslieferung nicht gestützt auf einen bestimmten Staatsvertrag verlangt, so entscheidet der Bundesrath, ob er, so viel an ihm liegt, die Auslieferung zugebe, mit oder ohne Vorbehalt des Gegenrechts.

Entspricht das Begehren den in Art. 15 gestellten Bedingungen, so trifft der Bundesrath gemäß Art. 18 die nöthigen Maßnahmen, um die Person, deren Auslieferung begehrt wird aufsuchen und verhaften zu lassen.

Wird dagegen das Begehren als ungenügend erachtet, so kann der Bundesrath den ersuchenden Staat einladen, dasselbe vorschriftsgemäß einzureichen oder zu vervollständigen; er kann jedoch gleichwohl, wenn er es für angemessen hält, sofort die in Art. 18 vorgesehenen Maßnahmen treffen.

Art. 17. Der Bundesrath trifft die in Art. 18 vorgesehenen Maßnahmen auch bei Empfang eines Begehrens um provisorische Verhaftung, sofern dasselbe gleichfalls auf diplomatischem Wege gestellt wird, das Bestehen eines Verhaftbefehls bestätigt, die demnächstige Stellung des Auslieferungsbegehrens ankündet und überdies die in Art. 15 als nothwendig bezeichneten Angaben enthält.

375 In einem solchen Falle wird jedoch die verhaftete Person, sie wäre denn aus einem ändern Grunde in Haft zu behalten, auf freien Fuß gesetzt, wenn der von der zuständigen Behörde erlassene Verhaftsbefehl und das Auslieferungsbegehren nicht innerhalb einer bestimmten Frist vorschriftsgemäß vorgelegt werden. Diese Frist beträgt 20 Tage, von der Verhaftung an gerechnet, wenn der ersuchende Staat an die Schweiz grenzt, 30 Tage, wenn derselbe ein nicht angrenzender europäischer Staat ist; wird die Auslieferung von -einem außereuropäischen Staate verlangt, so kann die Frist bis auf 3 Monate ausgedehnt werden.

Art. 18. Wenn aus dem Auslieferungsbegehren oder auf andere Weise ersichtlich ist, in welchem Kanton die verfolgte Person Zuflucht genommen hat, so ersucht der Bundesrath die Regierung des Kantons, mit möglichster Beförderung der gesuchten Person nachforschen und sie verhaften zu lassen.

Die Anordnung und der Vollzug der Verhaftung erfolgt in der von der kantonalen Gesetzgebung vorgeschriebenen Weise durch die hiefür zuständige Behörde. Dabei findet nach Maßgabe des Verhaftsbefehls jede Durchsuchung oder Beschlagnahme statt, welche vom kantonalen Gesetze gestattet oder vorgeschrieben ist.

Ist der Zufluchtskanton unbekannt, so ordnet das eidgen.

Justiz- und Polizeidepartement die zur Auffindung der gesuchten Person erforderlichen Schritte an und läßt wenn nöthig deren Signalement veröffentlichen, mit der Aufforderung an die kantonalen Polizeibehörden, dieselbe aufzusuchen und zu verhaften.

Bleiben die Nachforschungen erfolglos, so gibt der Bundesrath dem ersuchenden Staate hievon Kenntniß.

Art. 19. In dringlichen Fällen können die kantonalen Regierungen und Gerichtsbehörden den Begehren um provisorische Verhaftung Folge geben, welche auf telegraphischem

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Wege oder durch die Post von den zuständigen ausländischen Behörden direkt an sie gerichtet werden. Sie haben io einem solchen Falle den Bundesrath unverzüglich zu benachrichtigen und demselben gegebenen Falls die Gründe mitzutheilen, welche sie etwa veranlassen, die verlangte Verhaftung aufzuschieben.

Von einem derartigen Begehren muß dem Bundesrathe unverzüglich auf diplomatischem Wege Kenntniß gegeben werden.

Die verhaftete Person wird in Freiheit gesetzt, wenn die Voraussetzungen des Art. 17, Abs. 2, zutreffen.

Art. 20. In schwereren Fällen und falls Gefahr im Verzüge ist, sind die kantonalen Polizeiorgane berechtigt, auf einen zu ihrer Kenntniß gelangten ausländischen Steckbrief hin die Verhaftung des Ausgeschriebenen vorzunehmen, unter sofortiger Anzeige an den Bundesrath.

Art. 21. Sobald die Verhaftung erfolgt ist, läßt die Regierung des Kantons die verhaftete Person durch die nach der kantonalen Gesetzgebung zuständige Behörde einvernehmen.

Nach Prüfung der Identitätsfi-age werden dem Verhafteten die Auslieferungsbedingungen eröffnet. Derselbe kann, wenn er es wünscht, einen Rechtsbeistand zuziehen.

Der Verhaftete wird ferner aufgefordert, sich zu erklären., ob er in seine unverzügliche Auslieferung einwillige oder ob er sich seiner Auslieferung zu widersetzen beabsichtige.

Das Binvernahmeprotokoll ist mit alleo Belegen und Nachweisen dem Bundesrathe einzusenden.

Art. 22. Hat der Verhaftete in seine unverzügliche Auslieferung eingewilligt, so genehmigt der Bundesrath dieselbe und theilt dieseo Beschluß dem ersuchenden Staate, sowie der betreffenden Kantonsregierung mit; er beauftragt die letztere, den Beschluß zu vollziehen und ihm darüber Bericht zu erstatten.

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Art. 23. Wenn der Verhaftete gegen seine Auslieferung Einsprache erhebt, übersendet der Bundesrath alle Akten an das Bundesgericht und gibt der betreffenden Kantonsregierung hievon Kenntniß.

Das Bundesgericht kann eine Vervollständigung der Akten anordnen.

Das Bundesgericht ordnet, wenn es dies für nothwendig erachtet, das persönliche Erscheinen des Verhafteten an ; derselbe kann einen Rechtsbeistand zuziehen, welcher nöthigenfalls von Amtes wegen ernannt wird. Die Verhandlung ist öffentlich, sofern nicht das Gericht aus wichtigen Gründen, welche im Protokoll anzugeben sind, den Ausschluß der Oeffentlichkeit verfügt.

Der eidgenössische Generalanwalt kann bei der Voruntersuchung und bei der Hauptverhandlung sich betheiligen.

Art. 24. Das Bundesgericht entscheidet beförderlich auf Grund des gegenwärtigen Gesetzes, der bestehenden Staatsverträge oder Gegenrechtserklärungen, ob die Auslieferung stattzufinden hat oder nicht.

Art. 25. Die provisorische Freilassung des Verhafteten kann gestattet werden, wenn diese Maßregel den Urnständen nach geboten erscheint.

Die Erlaubniß dazu wird vom Bundesgerichte ertheilt, wenn der Fall bei demselben anhängig ist; andernfalls vom Bundesrathe.

Art. 26. Wird die Auslieferung bewilligt, so ist nach Art. 22 zu verfahren.

Wird dieselbe verweigert, so macht der Bundesrath dem ersuchenden Staate hievon Mittheilung ; der Verhaftete wird sofort in Freiheit gesetzt, sofern er nicht aus einem ändern Grunde in Haft zu behalten ist.

Art. 27. Tritt der in den Art. 22 und 26, Absatz l, vorgesehene Fall ein, so wird der Auszuliefernde an die

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Grenze geführt und von den zuständigen Polizeibeamten den Behörden oder Beamten des ersuchenden Staates übergeben.

Es werden denselben auch die Papiere, Werthsaehen und die ändern Gegenstände ausgehändigt, welche in Beschlag genommen worden sind und sich auf das Vergehen beziehen, wegen dessen die Auslieferung stattfindet.

Wenn die Auslieferung nicht vollzogen werden kann, weil der Auszuliefernde sich gefluchtet hat, gestorben ist, oder weil er nicht verhaftet werden konnte, so werden die obenerwähnten Papiere, Werthsaehen und Gegenstände gleichwohl dem ersuchenden Staate zugestellt, und ebenso in der Folge die nachträglich aufgefundenen Gegenstände oben genannter Art, welche von dem Auszuliefernden versteckt oder in Verwahrung gegeben worden waren. Vorbehalten bleiben die Rechte, welche dritte, in die Untersuchung nicht verwickelte Personen auf die genannten Gegenstände erworben haben können.

Art. 28. Wenn binnen zwanzig Tagen, von der Mittheilung des Auslieferungsbeschlusses an gerechnet, der ersuchende Staat für die Uebernahme der auszuliefernden Person nicht Sorge getragen hat, so wird dieselbe in Freiheit gesetzt. Der Bundesrath kann eine Verlängerung dieser Frist bewilligen.

Dritter Titel.

Durch lieferung.

Art. 29. Der Bundesrath kann die üurchlieferung (Transit) der von einem fremden Staate an einen ändern fremden Staat ausgelieferten Personen über das Gebiet der schweizerischen Eidgenossenschaft gestatten, wenn von dem ersuchenden Staate ein entsprechendes Begehren auf diplomatischem Wege an den Bundesrath gerichtet und von einem der in Art. 15 erwähnten Aktenstücke begleitet wird. Die Durchlieferung wird indessen in denjenigen Fällen verweigert, in welchen gemäß den Artikeln 2, 10 und 11 auch eine Auslieferung nicht statthaft wäre.

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Vierter Titel, Verschiedene Bestimmungen.

Art. 30. Der Artikel 58 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 ist aufgehoben.

Der Bundesrath wird beauftragt, auf Grundlage der Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 17. Juni 1874, betreffend die Volksabstimmungen über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, die Veröffentlichung dieses Gesetzes zu veranstalten und den Beginn der Wirksamkeit desselben festzusetzen.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung zum Entwurf des Bundesgesetzes betreffend die Auslieferung gegenüber dem Ausland. (Vom 9. Juni 1890.)

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1890

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26

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21.06.1890

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316-379

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