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Bericht der

nationalräthlichen Kommission, betreffend den Niederlassungsvertrag mit Deutschland.

(Vom 21. Juni 1890.)

Die Vorgeschichte des neuen Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche ist noch in unser aller Erinnerung und bedarf daher keiner näheren Erörterung. Es kann uns Schweizer nur mit Genugthuung erfüllen, daß bei Anlaß der Verhandlungen über diesen neuen Vertrag sowohl unsere nationale Ehre gewahrt als unser gutes Recht hinsichtlich des wichtigsten Differenzpunktes anerkannt worden ist. Durch die jüngst erfolgte einstimmige Annahme des Vertrages durch das deutsche Parlament hat unser Asylrecht seitens eines unserer mächtigsten Nachbarn eine Sanktion erhalten, die um so werthvoller ist, als die Vertreter sämmtlicher Parteien ausdrücklich ihre volle Zustimmung zu der Vorlage erklärt haben.

Wenn wir daher nach dieser Richtung den neuen Vertrag nur begrüßen können, so dürfen wir uns andererseits nicht verhehlen, daß, wie auch von deutscher Seite schon hervorgehoben wurde, jeder internationale Vertrag, soweit er überhaupt Pflichten auferlegt und Rechte gewährt, eine Beeinträchtigung der unbeschränkten Freiheit in Ausübung der Souveränetätsrechte enthält. Es fällt das für die Schweiz um so mehr ins Gewicht, als sie kraft ihrer freien Institutionen, als Binnenland mitten im Herzen Europa's, einen Anziehungspunkt bildet, der so stark ist, daß die Zahl der bei uns niedergelassenen Ausländer von Jahr zu Jahr wächst und dermalen

634 beinahe 10 °/o unserer Wohnbevölkerung ausmacht, und daß das Verhältniß der in der Schweiz wohnenden Deutschen zu den im Deutschen Reich niedergelassenen Schweizern sich annähernd auf 10 zu 2 stellt. Unzweifelhaft sind daher die Vortheile, welche Deutschland durch den Vertrag erhält, schon an und für sich größer, als diejenigen der Schweiz. Wenn wir Ihnen gleichwohl beantragen, dem Vertrag die Genehmigung zu ertheilen, so geschieht es, weil einerseits ein vertragloser Zustand bei den freundschaftlichen und lebhaften Beziehungen zwischen beiden Ländern kaum denkbar ist, und wir andererseits keinen Grund haben, für unsere Niederlassungsverhältnisse gegenüber Deutschland einen anderen Maßstab anzulegen, als es gegenüber unseren anderen Nachbarstaaten, namentlich Frankreich, der Fall ist.

Was den Inhalt des Vertrages anbetrifft, so liegt demselben wie allen unseren Niederlassungsverträgen der Grundsatz der Gleichberechtigung und Reziprozität zu Grunde. Die Abweichungen vom bisherigen Niederlassungsvertrag vom 29. Juni 1876 beschlagen folgende Punkte: 1. Die Redaktion des Art. 2 ist nun derart festgestellt, daß ein Zweifel über die Berechtigung der Schweiz, jeden Deutschen bei sich aufzunehmen, erfülle er die im Vertrage aufgestellten Bedingungen oder nicht, durchaus ausgeschlossen ist. Die Denkschrift des deutschen Reichskanzlers zu der bezüglichen Vorlage an den Reichstag äußert sich hierüber folgendermaßen: ,,In dem neuen Art. 2 wird einerseits klar gestellt, daß die Schweiz damit dem Reich gegenüber l e d i g l i c h die e i n e V e r p f l i c h t u n g ü b e r n i m m t , denjenigen Deutschen, welche das vorgeschriebene Zeugniß über ihre, Staatsangehörigkeit und ihren Leumund beibringen, die im Art. l bezeichneten Rechte zu Es ist also das bei dem Notenaustausch des letzten Jahres so entschieden bestrittene Asylrecht der Schweiz deutscherseits nun voll und ganz anerkannt worden.

2. Die wichtigste Neuerung betrifft die zur Ausübung der durch den Vertrag garantirten Rechte notwendigen Voraussetzungen.

Im bisherigen Vertrag war die Beibringung folgender Ausweise vorgeschrieben : a. eines Heimatscheines und b. eines von der zuständigen Heimatbehörde ausgestellten Zeugnisses über den Vollgenuß der bürgerlichen Ehrenrechte und den Besitz eines unbescholtenen Leumundes.

635 Durch den neuen Vertrag sind diese Ausweise ersetzt worden durch einen sogenannten Immatrikulationsschein, d. h. ein Zeugniß der Gesandtschaft des Heimatlandes, durch welches seitens der letzteren bescheinigt wird, daß der Inhaber die deutsche Reichsangehörigkeit, bezw. ein schweizerisches Heimatrecht, besitze und einen unbescholtenen Leumund genieße. Infolge dessen ist den schweizerischen Gemeinden und Kantonen zwar das R e c h t der Prüfung der Legitimationspapiere der bei uns wohnsitznehmenden Deutschen entzogen und ganz in die Hände der deutschen Centralbehörden und diplomatischen Vertreter gelegt worden, dagegen werden sie auch d e r P f l i c h t dieser Prüfung enthoben. Es wird also das nämliche System angewendet, das in unsern Verträgen mit Frankreich und Spanien angenommen wurde; dei' französische Vertrag geht freilich noch einen Schritt weiter und verlangt nur die Bescheinigung der Staatsangehörigkeit.

Wir verweisen bezüglich dieser Immatrikulationsscheine auf die Ausführungen der bundesräthlichen Botschaft und bemerken bloß, daß die im Schooße der Kommission geäußerten Zweifel über die Bedeutung dieser Scheine beim Domizilwechsel von einem Kanton in den ändern durch den Hinweis auf den Art. l des Vertrages beseitigt wurden, nach welchem jeder mit einem solchen Schein versehene Deutsche einem Angehörigen eines ändern Kantons völlig gleichgestellt ist. Der Immatrikulationsschein ersetzt in diesem Falle eben den durch Art. 45 der Bundesverfassung vorgeschriebenen Heimatsohein.

Sodann hat man den Nachweis des Vollgenusses der bürgerlichen Ehrenfähigkeit fallen gelassen. Abgesehen davon, daß dies auch im Vertrag mit Frankreich der Fall ist, und es sich schon deshalb kaum rechtfertigen würde, weitergehende Bestimmungen im Verhältnisse mit Deutschland aufzustellen, ist der Begriff der bürgerlichen Ehrenfähigkeit in den einzelnen Kantonen ein so verschiedener, und ist der Verlust derselben in so mannigfaltiger Weise geregelt, daß die Schweiz kaum ein Interesse daran haben kann, einen daherigen Nachweis zu verlangen oder von ihren Bürgern verlangen zu lassen. Irgendwelche nachtheilige Folgen könneu sich hieran nicht knüpfen ; steht es doch jedem Kanton frei, vor Bewilligung der Niederlassung bezügliche Informationen einzuholen, wenn dazu Veranlassung gegeben ist, und ist ja beiden Staaten
das Recht gewahrt, den Angehörigen des Mitkontrahenten den Aufenthalt zu verweigern oder zu entziehen, wenn hinlängliche Gründe hiefür vorliegen. Dieses Recht der Ausweisung, bisher in Art. 7 des alten Vertrages geregelt, findet sich nun in Art. 4 und 7

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der Vorlage etwas präziser definirt, und es bilden die Bestimmungen des Zusatzprotokolls vom 21. Dezember 1881, durch welches speziell das Verfahren in solchen Fällen vereinfacht und beschleunigt wurde, welche sich durchaus bewährt haben, einen integrirenden Bestandteil auch des neuen Vertrages.

3. Als ziemlieh schwere Belastung wird, besonders Seitens der Grenzkantone und der Grenzstädte, die gemäß Art. 11 aufgestellte Verpflichtung empfunden, erkrankte Angehörige des Nachbarstaates so lange zu verpflegen, bis deren Rückkehr in die Heimat ohne Nachtheil für ihre und Anderer Gesundheit geschehen kann. Die daherigen Bestimmungen decken sich freilich sowohl mit denjenigen des alten Vertrages, als mit dem Inhalte des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1875 über die Kosten der Verpflegung erkrankter und der Beerdigung verstorbener armer Angehöriger anderer Kantone. Allein, die Kommission glaubt doch, den hohen Bundesrath darauf aufmerksam machen zu sollen, daß eine grundsätzliche Verständigung über solche Fälle höchst wünschbar wäre, in denen die Transportunfähigkeit längere Zeit andauert.

Sie sieht sich gleichzeitig veranlaßt, denselben an die durch Nationalrathsbeschluß vom 8. Juni 1889 erheblich erklärte Motion Dufour und Consorten zu erinnern, welche den gleichen Gegenstand beschlägt.

4. Durch das Schlußprotokoll ist schließlich noch eine Verständigung darüber getroffen worden, daß bis zu Erlaß anderweitiger gesetzlicher Bestimmungen für unsere Angehörigen in Deutschland der Immatrikulationsschein durch einen Heimatschein und ein Leumundszeugniß ersetzt wird, insofern beide Urkunden von den zuständigen Behörden des Heimatkantons beglaubigt sind.

Es erscheint aber wünschbar und liegt in der Natur der Sache, daß in Fällen, wo der letzte Wohnsitz des in Deutschland um Aufnahme nachsuchenden Schweizers nicht seine Heimathgemeinde war, das Leumundszeu°;niß statt von der letztern von der letzten Wohnsitzgemeinde ausgestellt werde. Wie man uns mitgetheilt hat, sind von Seiten des deutschen Reiches daherige Zusicherungen bereits in Aussicht gestellt worden. Um jeden daherigen Konflikt zu vermeiden, halten wir es aber für nothwendig, auf dem "Wege eines Notenwechsels eine förmliche Anerkennung nach dieser Richtung zu erhalten zu suchen, was kaum auf Schwierigkeiten stoßen wird.

Gestützt auf diese Auseinandersetzungen beantragen wir demnach einstimmig vorbehaltlose Annahme des vom hohen Bundesrathe »

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vorgelegten Bundesbeschlusses betreffend die Ratifikation des in Frage stehenden Niederlassungsvertrages, indem wir der bestimmten Hoffnung leben, daß derselbe geeignet sei, die nun gänzlich wieder hergestellten guten Beziehungen zu unserem Nachbarstaate zu befestigen.

B e r n , den 21. Juni 1890.

Namens der Kommission: F. Bühlmann.

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Bericht der nationalräthlichen Kommission, betreffend den Niederlassungsvertrag mit Deutschland. (Vom 21. Juni 1890.)

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