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Schweizerisches Bundesblatt.

42. Jahrgang. Y.

Nr. 50.

6. Dezember 1890.

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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890.

(Vom 29. November 1890.)

Tit.

Mit Schreiben vom 19. d. M. haben Landammann und Regierungsrath des Kantons St. Gallen uns die neue Verfassung dieses Kantons übermittelt und das Gesuch gestellt, wir möchten für dieselbe in Gemäßheit von Art. 6 der Bundesverfassung die eidgenössische Gewährleistung erwirken.

Diese Verfassung ist von dem zu ihrer Berathung bestellten Verfassungsrathe am 30. August 1890 einstimmig und vom st. gallischen Volke am 16. November mit 28,OS3 gegen 6440 Stimmen angenommen worden.

Der Regierungsrath theilt mit, daß er durch Beschluß vom 19. November die neue Verfassung als mit dem 16. November 1890 in Kraft getreten erklärt habe. Er zweifelt nicht daran, daß dem nunmehrigen Grundgesetze des Kantons St. Gallen die Garantie des Bundes werde gewährt werden, da dasselbe nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalte, die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Formen sichere und jederzeit auf Verlangen der absoluten Mehrheit der stimmenden Bürger einer Revision unterworfen werden könne.

Wir kommen, nachdem wir die neue st. gallische Verfassung in ihren einzelnen Bestimmungen geprüft haben, zu dem Schlüsse, daß ihr die verlangte Garantie zu ertheilen sei.

Bandesblatt. 42. Jahrg. Bd. V.

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Mit ihrer Annahme ist die Verfassung vom 17. November 1861, welche infolge Großrathsbeschlusses vom 10. Juni 1875 in Bezug auf das Referendum des Volkes abgeändert worden war, außer Kraft getreten. Die neue Verfassung ist Ihnen ausgetheilt worden. Wie Sie sehen, sind eine Reihe Neuerungen von theilweise weittragender konstitutioneller Bedeutung eingeführt. Wir heben die folgenden hervor: Eine Gruppe von Bestimmungen kann als solche v o l k s w i r t hs c h a f 11 i c h er Natur bezeichnet werden. Es ist durch dieselben für die Gesundheitspolizei der verfassungsmäßige Boden geschaffen worden: Der Staat unterstützt die öffentliche Krankenpflege und betheiligt sich an der Gründung von Krankenhäusern und deren Betrieb; er ist berechtigt, unter Mitwirkung der Gemeinden für die Unterbringung von Trinkern in zweckentsprechenden Anstalten zu sorgen, indem er entweder die notwendigen Asyle gründet, oder sich an dei; Errichtung oder dem Betrieb derselben beiheiligt (Art. 11 und 12). Der Staat erklärt sodann auf den der Fabrikgesetzgebung nicht unterstellten Gebieten den Schutz der Arbeitskraft, insbesondere derjenigen von Frauen und Kindern, und gewährleistet die Sonntage, sowie die gemeinsamen Feiertage als öffentliche Ruhetage (Art. 13). Zur Hebung der Erwerbsfähigkeit des Volkes unterstützt er Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe durch Gründung voti Fachschulen, Förderung des Genossenschaftswesens und der Versicherung gegen Schäden, Beilragsleistung an Gewässerkorrektio-nen, Entsumpfungen, Aufforstungen, Güterzusammenlegungen. Der Stuat nimmt das Hoheitsrecht über die Gewässer in Anspruch, deren Benutzung auf dem Wege der Gesetzgebung geregelt und gefördert werden soll, wobei die elektrische WeiterJeitung von Wasserkräften als Sache des Staates erklärt werden kann. Ueber die Verwaltung der Sparkassen und Krankenkassen wird dem Staate die Oberaufsicht übertragen (Art. 15, 16, 18, 19).

Im J u s t i z w e s e n ist die Möglichkeit einer Aenderung der bestehenden Gerichtsorganisation geboten, ein möglichst rasches, das materielle Recht schützendes und nur mit den nothwendigsten Formen umgebenes Zivilprozeßverfahren als Postulat aufgestellt, die Schaffung von allgemein verbindlichen Schieds- und Fachgerichten vorgesehen (Art. 20, 79, 80).

Das S t i m m r e c h t ist wesentlich erweitert worden. Dasselbe
ist nun in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten auch den schweizerischen Aufenthaltern ertheilt (Art. 39). Von der Stimmfähigkeit ausgeschlossen sind nur noch die staatlich Bevormundeten, die Armenunterstützungsgenössigen, die infolge Straferkenntnisses im Aktivbürgerrecht Eingestellten (Art. 38).

Die S c h u l f r a g e wurde im Sinne eines Kompromisses zwischen den verschiedenen Parteien gelöst. Es können fortan die politischen Gemeinden die Verschmelzung konfessioneller Schulgemeinden in »ihrem Gebiete beschließen. Der Staat leistet nicht nur Beiträge an das Primarschulwesen und liefert unentgeltlich die obligatorischen gedruckten Lehrmittel, er sorgt auch für den Schulunterricht von Kindern, denen wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen der Besuch der Volksschule verschlossen ist oder die verwahrlost sind, und gründet oder unterstützt Besserungsanstalten für jugendliche Verbrecher (Art. 5, 6).

Auch die R e c h t e des g e s a m m t e n V o l k e s sind erweitert.

Die Referendumsziffer ist von 6000 auf 4000 herabgesetzt und einem Drittel der Mitglieder des Großen Rathes das Recht eingeräumt, bei Erlaß eines Gesetzes oder Beschlusses die Volksabstimmung zu begehren. Ferner wurde ein sog. konsultatives Referendum eingeführt, d. h. der Große Rath für befugt erklärt, über Aufnahme einzelner Grundsätze in ein Gesetz eine Volksabstimmung ergehen zu lassen. Auf dem Wege der Initiative können 4000 Stimmberechtigte den Erlaß, die Aufhebung oder die Abänderung eines Gesetzes oder eines nicht ausschließlich in die Kompetenz des Großen Rathes fallenden Beschlusses in der Form der einfachen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfes verlangen, die Aufhebung oder Abänderung eines Erlasses indessen erst drei Jahre nach Inkrafttreten desselben. Dabei hat allerdings der Große Rath das Recht, gleichzeitig eigene Anträge auf Verwerfung des Initiativvorschlages oder auf abgeänderte Fassung desselben der Volksabstimmung zu unterbreiten. In Bezug auf die Verfassungsrevision ist es im Wesentlichen bei den Bestimmungen der bisherigen Verfassung verblieben; die Einrichtung einer jederzeitigen Verfassungsinitiative wurde abgelehnt. Dagegen hat das Volk das Recht erhalten, den Regierungsrath -- frei aus der Zahl den- Stimmberechtigten des Kantons -- zu wählen.

Für alle kantonalen und Bezirkswahlen ist die g e h e i m e A b s t i m m u n g mittelst der Wahlurnen eingeführt, an Stelle der bisherigen (fakultativ) geheimen oder offenen Abstimmung; für die Wahl der Gemeindeammänner, Gemeinderäthe und Vermittler findet geheime Abstimmung statt, falls ein Drittheil der Wählerschaft es verlangt; bei Vornahme der
übrigen Gemeindewahlen beschließt jeweilen die Wählerschaft, ob dieselben in offener oder geheimer Abstimmung geschehen sollen, und im letztern Falle, ob mittelst der Wahlurnen oder auf anderem Wege (Art. 47, 48, 49; 59; 81; 82).

Der VII. Abschnitt der Verfassung von 1861, welcher Vorschriften über die konfessionelle P a r i t ä t in den B e h ö r d e n aufstellt, die seit 1874 Angesichts des Art. 49 der Bundesverfassung nicht mehr durchführbar waren, ist nun ausgemerzt worden.

Nach diesem kurzen Ueberblick beehren wir uns, Ihnen die Annahme des nachstehenden Beschlußentwurfes zu beantragen, das heißt : Ihnen die Uebernahme der Bundesgarantie für die neue st. gallische Verfassung zu empfehlen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

B e r n , den 29. November 1890.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident: L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

Ringier.

. 5 (Entwurf.)

Bundesbeschluß betreffend

die eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890.

D i e B u n d esvers a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrathes vom 29. November 1890 über die neue Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890; in Betracht: daß diese Verfassung nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung zuwiderliefe; daß sie die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Formen sichert und revidirt werden kann,, wenn die absolute Mehrheit der stimmenden Bürger es verlangt; daß sie am 16. November 1890 vom Volke des Kantons St. Gallen angenommen worden ist; in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, besch ließt: 1. Der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890 wird die Bundesgarantie ertheilt.

2. Der Bundesrath ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890. (Vom 29.

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06.12.1890

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