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III.

Bundesrathsbeschluß über

das Begehren der Herren Nationalräthe L. de Stoppani und C. Bernasconi, betreffend Ansetzung der Volksabstimmung über die Frage einer Partialrevision der Verfassung des Kantons Tessin.

(Vom 13. September 1890.)

Der schweizerische Bundesrath, nach Einsichtnahme: 1. einer Eingabe der Herren Nationalräthe L. de Stoppani und C. Bernasconi, d. d. Lugano, 1. September, dem Bundesrathe zugekommen am 4. September 1890, in welcher dieselben anzeigen, daß am 9. August d. J. dem Staatsrathe des Kantons Tessin in gesetzlich vorgeschriebener Form das von zirka 10,000 Bürgern unterzeichnete Begehren um Vornahme einer Partialrevision der Kantonsverfassung eingereicht worden sei, daß aber der Staatsrath, entgegen dem Art. 15 des tessinischen Verfassungsgesetzes vom 20. November 1875, welcher vorschreibt, daß die Volksabstimmung in einem solchen Falle innerhalb eines Monats stattzufinden habe, dieselbe nicht anordne, weßhalb die Petenten verlangen, daß der Bundesrath, gestützt auf Art. 102, Ziffer 3 und 10, der Bundesverfassung, die zur Aufrechthaltung und Vollziehung der Kantonsverfassung erforderlichen Maßnahmen ergreife ; 2. der Antwort des Staatsrathes vom 5. September, dem Bundesrathe zugekommen am 8. September 1890, in welcher die tessinische Regierung die Kompetenz des Bundesrathes zur Behand-

212 lung der vorliegenden Frage nicht bestveitet, in der Sache selbst aber behauptet, nicht bloß berechtigt, sondern geradezu verpflichtet zu sein, eine Untersuchung darüber anzustellen, ob die Unterzeichner des Revisionsbegehrens das Aktivbürgerreclit besitzen, und erklärt, daß sie, wenn das Vorhandensein der verfassungsmäßigen Zahl von 7000 stimmberechtigten Initianten festgestellt werde, innerhalb eines Monats nach dem Tage dieser Feststellung die Volksabstimmung über das Revisionsbegehren anordnen w<;rde; in Erwägung: daß Art. 15 des tessinischen Verf'assiingsgesetzes vom 20. November 1875, welches am 22. Dezember 1876 vom Bunde gewährleistet wurde, folgenden Wortlaut hat : ,,Die Kantonsverfassung kann ganz oder theilweise revidirt weiden: a. wenn die Mehrheit aller Mitglieder des Großen Rathes es verlangt ; b. wenn sieben tausend Aktivbürger in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form und Weise es verlangen.

,,§ 1. In diesen Fällen hat der Staatsrath innerhalb eines Monats dem Volke die Frage vorzulegen, ob es die Verfassung einer Revision unterworfen wissen wolle und, bejahenden Falles, ob die Revision durch den Großen Rath oder einen Verfassungsrath vorzunehmen sei, welch' letzterer, gegebenen Falles, nach den für die Wahl des Großen Rathes bestehenden Bestimmungen zu ernennen ist;" daß das tessinische Gesetz vom 9. Mai 1877 betreffend die Verfassungsrevisionsbegehren folgenden Wortlaut hat: ,,Der Große Rath etc., ,,in Ausführung von Littera Î) des Art. 15 des Verfassungsrevisionsstatuts vcm 20. November 1875, beschließt : ,,Art. 1. Das Begehren einer Total- oder Partialrevision der Kantonsverfassuug ist schriftlich, auf ungestempeltem Papier, dem Staatsrathe einzureichen.

,,Dasselbe kann nur von den im Kantone stimmberechtigten Bürgern gestellt werden.

,,Art. 2. Die Bürger, welche das Begehren stellen, haben dasselbe eigenhändig zu unterzeichnen.

213 ,,Die des Schreibens Unkundigen können ein Kreuzzeichen beisetzen, welches vom Sindaco oder seinem Stellvertreter, von einem Notar oder von zwei Zeugen zu beglaubigen ist.

,,Art. 3. Die Eigenschaft der Unterzeichner als Aktivbürger muß kostenfrei vom Sindaco (oder dem Stellvertreter) desjenigen Ortes bezeugt sein, wo sie ihre politischen Rechte ausüben.

,,Art. 4. Fälschungen, die in diesen Aktenstücken sicli iinden könnten, werden nach Maßgabe des Strafgesetzes geahndet"; daß nach Maßgabe der angeführten Vorfassungs- und Gesetzesbestimmungen dem Staatsrathe des Kantons Tessiu ii? casu nur die Aufgabe zukam, festzustellen, ob das Verfassungsrevisionsbegehren von mindestens 7000, zufolge Bescheinigung der Gemeindepräsidenten (Sindaci) im Kanton, stimmberechtigten Bürgern ausgeht, eine anderweitige, materielle Prüfung aber durch Verfassung und Gesetz ihm nicht übertragen ist und Angesichts der kategorischen Vorschrift der Verfassung betreffend die Vornahme der Volksabstimmung innerhalb Monatsfrist nicht wohl übertragen werden konnte, indem Verfassung und Gesetz ganz unzweifelhaft den Sinn haben, daß in b e i d e n F ä l l e n , sowohl wenn die Mehrheit der Mitglieder des Großen Käthes als wenn 7000 Bürger die Revision der Verfassung verlangen, die bezügliche Volksabstimmung innerhalb Monatsfrist nach Stellung des Begehrens, d. h. im zweiton Falle nach Einreichung des Begehrens beim Staatsrathe, stattfinden muß ; daß die im Falle des Volksbegehrens von der Kantonsbehörde anzustellende Prüfung als eine innerhalb weniger Tage vollendbare kanzleiische Arbeit sich darstellt; daß der Staatsrath zugesteht, die Listen, welche das Revisionsbegehren enthalten, seien am 9. August 1890 einem seiner Mitglieder übergeben und von diesem zu Händen der Behörde entgegengenommen worden; in Anwendung von Art. 102, Ziffer 3, der Bundesverfassung, welche den Bundesrath verpflichtet, für die Garantie der Kantonalverfassungen zu wachen, beschließt : 1. Der eidgenössische Kommissär im Kanton Tessili wird beauftragt, dafür zu sorgen, daß unverzüglich festgestellt werde, ob ein verfassungsmäßiges Begehren um Partialrevision der tessinischen Verfassung gemäß Art. 15 des Verfassungsgesetzes vom 20. November 1875 vorliegt oder nicht, und daß bejahenden Falls in

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kürzester, gesetzlich zuläßiger Frist die Volksabstimmung über dasselbe stattfinde.

2. Dieser Beschluß ist dem eidgenössischen Kommissär für sich und zu Händen des tessinischen Staatsrathes, sowie den Herren Nationalräthen L. de Stoppani und C. Bernasconi schriftlich mitzutheilen.

B e r n , den 13. September 1890.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident: L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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IV.

Einberufungsdekret der

Gemeindeversammlungen für die Volksabstimmung über die Partialrevision der kantonalen Verfassung.

D e r eidg. K o m m i s s ä r in Republik und Kanton Tessin, Der h. Bundesrath hat unterm 13. September bezüglich des von den Nationalräthen de Stoppani und ßernasconi gegen die Tessiner Regierung erhobenen Rekurses wegen Verzögerung der Einberufung der Wahlgemeinden für die Volksabstimmung über die Revision der kantonalen Verfassung folgenden Beschluß gefasst: ,,Der eidg. Kommissär im Kanton Tessin wird beauftragt, dafür zu sorgen, daß ohne irgend welchen Aufschub festgestellt werde, ob ein gesetzliches Verlangen nach Revision der tessinisehen Verfassung gemäß Art. 15 der Riformetta vom 20. November 1875 vorhanden sei oder nicht. Bejahenden Falls wird er die nöthigen Maßnahmen tretfen, damit die Volksabstimmung über die Revision innert der kürzesten gesetzlich möglichen Frist stattfinden kann.11 Nach Einsicht einer Erklärung des Herrn Dr. Arnolde Buetti,.

Sekretärs des kantonalen Departements des Innern, aus welcher hervorgeht, daß das genannte Departement vom 18. bis 31. August die Verifikation der 10,099 eingereichten Unterschriften vorgenommen hat und daß nach Urtheil dieses Sekretärs und des Direktors des Departements, des Herrn Staatsrathes Respini, und in Uebereinstimmung mit dem von Letzterem schon vorbereiteten Einberufungsdekret, die 7000, durch den Gesetzeserlaß vom 20. November 1875 geforderten rechtsgültigen Unterschriften eingereicht worden sind.

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In Erwägung, datò das Verlangen nach Revision der Verfassung folgenden Wortlaut hat: ,,1. Der Verfassung-serlaß vom H. Januar 1880 (Riformino) solle aufgehoben werden, in dem Sinne, daß die Wahl der Deputirteii in den Großen Ruth wieder nach den altun Wahlkreisen vorgenommen werde, gemäß Art. l der Verfassungsrevision vom 24. November 1876, welcher verfügt: ,, D e r G r o ß e R a t h w i r d n a c h M a ß g a b e deifa k t i s c h e n B e v ö l k e r u u g d e r g e g e n w ä r t i g e n W a h l k r e i s e , a u f G r u n d d e r e i cl g. V o l k s z ä h l u n g , u a e a d e m V e r li ä 11 n i ß v o n e i n e in D e p u t i r t e n a u f j o l 0 0 0 E i n w o h n e r , g e w ä h l t . J e d e B r u c h z a h l ü b er 5 0 0 w i r d f ü r 1 0 0 0 S e e l e n b e r e c h a o t.

,,2. Art. 2 des Verfassuugsgesetzes vom 10. Februar 1883 solle iu dem Sinne revidirt werden, daß die Richter I. Instanz direkt vom V^olke Oaewählt werden.

,,3. Art. 23 der Verfassung vom Jahre 1830 solle in dem Sinne revidirt werden, daß der Staatsrath ebenfalls vom Volke gewählt werde. a Nach Eiusiehi des Art. 15 der citirten Riformetta, der folgenden Wortlaut hat : ,,Die Kantons Verfassung kann ganz oder theil weise revidirt werden : a. wenn die Mehrheit aller Mitglieder des Großen Uatlie.s es verlangt ; b. wenn sieben tausend Aktivbürger in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form und Weise es verlangen.

,,§ 1. In diesen Fällen hat der Staatsrath innerhalb eines Monats dem Volke die Frage vorzulegen, ob es die Veiiassuug einer Revision unterworfen wissen wolle und, bejahenden Falles, ob die Revision durch den Großen Rath oder einen Verfassungsrath vorzunehmen sei, welch' letzterer, gegebenen Falles, nach den für die Wahl des Großen Rat.hes bestehenden Bestimmungen zu ernennen ist.

,,§ 2. Die Berathungen über die Verfassungsrevision, seien sie vorbereitender oder grundsätzlicher Xatur, haben in den Gemeindeversammlungen stattzufinden, bei geheimer Abstimmung und nach der Mehrheit der bei den Versammlungen anwesenden Bürger."1

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In Erwägung, daß bei der Einberufung der Gemeindeversammlungen für die Volksabstimmung die von Art. 5 und 6 des Gesetzes vom 19. September 1872 vorgesehenen Fristen für die Vorbereitung und Auflegung der Stimmlisten zu beobachten sind*); verordnet: 1. Die Wahlgemeinden des Kantons werden auf Sonntag den ö. Oktober, 10 Uhr Vormittags, einberufen, um sich, mit j a oder n e i n , über das obenerwähnte Verlangen nach einer partialen Verfassungsrevision, nach folgendem Fragenschema, auszusprechen: a. Wollt ihr eine Partialrevision der Kantonsverfassung ?

b. Bejahenden Falls, soll die projektirte Revision durch den Großen Rath vorgenommen werden?

c. Oder soll sie durch einen Verfassungsrath vorgenommen werden?

2. Die Wahlgemeinden sollen gemäß den Vorschriften des Verfassungserlasses vom 20. November 1875, des Gesetzes vom 10. Februar 1877 und nach den vom Gesetze vom 3. Dezember 1888 statuirten Abänderungen abgehalten werden.

§ 1. Die Staatsbeamten und die Post-, Telegraphen-, Zoll-, Eisenbahn- und Dampfschiff-Angestellten, sowie die Mitglieder des ständigen kantonalen Polizeikorps sollen von den Bureaux zur Stimmabgabe zugelassen werden, sobald sie sich präsentiren.

§ 2. In den Gemeinden Airolo, Faido, Biasca, Darò, Bollinzona, Locamo, Lugano und Chiasso soll die Abstimmung nicht vor 2 Uhr Nachmittags geschlossen werden.

§ 3. Das Bureau einer jeden Gemeinde soll dafür sorgen, daß mindestens 2 Bürger von entgegengesetzter politischer Meinung allen Handlungen des Büreau's bis zum Schluß der Wahlgemeinde *) Kantonales Gesetz vom 19. September 1872. -- Art. 5. Die Gemeindebehörden müssen wenigstens 14 Tage vor jeder Wahl oder Abstimmung die Stimmregister, d. h. die Listen derjenigen Bürger, welche gemäß den vorhergehenden Artikeln das Stimmrecht besitzen, durchgesehen haben.

Besagte Register sollen für alle Bürger, sowohl Tessiner wie Angehörige anderer Kantone, gleichmäßig aufgestellt und geführt werden.

Art. 6. Die nach obiger Vorschrift aufgestellten Stimmregister müssen für Jeden, der dieselben einzusehen wünscht, am gewöhnlichen Orte der öffentlichen Anschläge in den einzelnen Gemeinden während wenigstens 14 Tagen vor jeder Wahl oder Abstimmung aufgelegt sein und dürfen nicht vor den drei letzten der Abstimmung vorangehenden Tagen geschlossen werden (Art. 6 des Bundesgesetzes vom 9. Juli 1872).

Bundesblatt.

42. Jahrg. Bd. IV.

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218 frei beiwohnen und besonders die Herausnahme und Registrirung der Stimmzeddel überwachen können. Ein Bureau, welches sich weigert, diese Vorschrift zu beobachten, wird in eine auf administrativem Wege auszusprechende Geldstrafe von Fr. 20 bis 200 verfällt werden, unter Vorbehalt überdies einer allfälligen strafrechtlichen Verfolgung.

3. Bei Aufstellung und Vervollständigung der Slimmregister und ihrer Veröffentlichung, mindestens 14 Tage vor der Abstimmung, haben sich die Gemeindebehörden an die Bestimmungen des Gesetzes vom 15. Juli 1880 über die Ausübung der politischen Rechte und an die übrigen zu Kraft bestehenden Bestimmungen zu halten.

4. Die stimmberechtigten Militärs, welche sich am angesetzten Tag im Militärdienst befinden, werden ebenfalls in gewohnter Weise an der Abstimmung theilnehmen, wofür vom Militärdepartement gesorgt werden soll.

5. Durch den Kantonsarchivar werden den lobi. Gemeindebehörden das AbstimmuDgsmaterial und die Stimmzed'lel übermittelt werden ; letztere haben mindestens 2 Tage vor der Abstimmung an die Bürger zur Vertheilung zu gelangen und zwar, ohne daß hiedurch der Gebrauch der vom Gesetze vorgesehenen unbedruckten Stimmzeddel ausgeschlossen würde.

6. Eine Kopie der Protokolle, mit den Beilagen und den Stimmzeddeln, letztere in besonderer, versiegelter Verpackung, soll von den Gemeindebehörden sofort nach Beendigung der Abstimmungsarbeiten an die kantonale Staatskanzlei übersandt werden.

7. Gegenwärtige Verordnung ist im Amtsblatt zu veröffentlichen und dient als förmliche Benachrichtigung und Einberufung für die Gemeindebehörden und die Bürger.

B e 11 i n z o n a , den 15. September 1890.

Der e i d g . K o m m i s s ä r im T e s s i n L (sig.) Oberstdivisionär Künzli.

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III. Bundesrathsbeschluß über das Begehren der Herren Nationalräthe L. de Stoppani und C. Bernasconi, betreffend Ansetzung der Volksabstimmung über die Frage einer Partialrevision der Verfassung des Kantons Tessin. (Vom 13. September 1890.)

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1890

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40

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27.09.1890

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211-218

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