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21.070 Die Sicherheitspolitik der Schweiz Bericht des Bundesrates vom 24. November 2021

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Übersicht Der Bundesrat veröffentlicht in periodischen Abständen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz. Die Berichte dienen dazu, aufgrund einer umfassenden Analyse des Umfelds zu prüfen, ob und inwieweit die Sicherheitspolitik und ihre Instrumente angepasst werden müssen, damit die Schweiz auf sich verändernde Bedrohungen und Gefahren rasch und richtig reagieren kann, welche Strategie dabei verfolgt werden soll und welche Prioritäten gelten sollen. Der sicherheitspolitische Bericht legt die Stossrichtung und Grundzüge der Schweizer Sicherheitspolitik für die kommenden Jahre fest. Er dient als Basis für weitere und detailliertere Grundlagendokumente zu einzelnen sicherheitspolitischen Bereichen oder Instrumenten.

Die Sicherheitslage ist instabiler, unübersichtlicher und unberechenbarer geworden.

Spannungen und machtpolitische Rivalitäten haben zugenommen, ebenso das Risiko von Konflikten an den Rändern Europas. Der Einsatz von «hybriden» Mitteln zur Konfliktführung, wie etwa Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, hat sich verstärkt. Aber auch konventionelle militärische Mittel werden wieder stärker zur Verfolgung eigener Interessen eingesetzt. Gleichzeitig sind Bedrohungen wie der islamistische Terrorismus nicht verschwunden. Der Klimawandel wird zu häufigeren und stärkeren Naturkatastrophen führen, und zu all dem ist eine Pandemie hinzugekommen, die eine weltweite Krise ausgelöst hat. Die europäische Peripherie ist in den letzten Jahren insgesamt instabiler geworden, die Schutzwirkung des geografischen und politischen Umfelds der Schweiz hat abgenommen.

Der vorliegende Bericht analysiert diese Entwicklungen und legt dar, was sie für die Schweizer Sicherheitspolitik bedeuten. Er beschreibt die Prinzipien der schweizerischen Sicherheitspolitik, ihre Interessen und Ziele und zeigt auf, wie die Instrumente der Sicherheitspolitik zur Erreichung dieser Ziele beitragen und wie sie sich ausrichten müssen.

Ausgehend von einer umfassenden Analyse der Lage, legt der neue Bericht die sicherheitspolitischen Interessen und Ziele der Schweiz fest und zeigt auf, wie diese umgesetzt werden sollen. Er definiert neun Ziele, die in der Schweizer Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren als Schwerpunkte verfolgt werden sollen. Diese Ziele umfassen: eine Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen,
Gefahren und Krisen; eine Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, Stabilität und Sicherheit; eine verstärkte Ausrichtung auf hybride Konfliktführung; freie Meinungsbildung und unverfälschte Information; eine Verstärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen; die Verhinderung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus, organisierter und übriger transnationaler Kriminalität; eine Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit; die Verbesserung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen und der Regenerationsfähigkeit; die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Behörden und des Krisenmanagements.

Zu jedem der neun Ziele führt der Bericht konkrete Massnahmen auf, die es in den nächsten Jahren umzusetzen gilt. Damit diese Ziele erreicht werden können, arbeiten die einzelnen Politikbereiche (Aussenpolitik, Wirtschaftspolitik, Information und Kommunikation) und Instrumente (Armee, Bevölkerungsschutz, Nachrichtendienst, Polizei, Zollverwaltung, Zivildienst) im Verbund zusammen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Einleitung

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Lage 6 2.1 Globale Trends mit sicherheitspolitischer Bedeutung 2.1.1 Verstärkte Konkurrenz der Grossmächte 2.1.2 Globalisierung und Regionalisierung 2.1.3 Technologischer Fortschritt 2.1.4 Gesellschaftliche Polarisierung 2.1.5 Entwicklung des Konfliktbildes 2.2 Sicherheitspolitisch relevantes Umfeld der Schweiz 2.3 Bedrohungslage Schweiz 2.3.1 Bedrohungen aus dem Cyberraum 2.3.2 Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation 2.3.3 Terrorismus 2.3.4 Gewalttätiger Extremismus 2.3.5 Bewaffneter Konflikt 2.3.6 Entwicklung und Weiterverbreitung von Waffensystemen 2.3.7 Verbotener Nachrichtendienst 2.3.8 Schwere und organisierte Kriminalität 2.3.9 Katastrophen und Notlagen 2.3.10 Sicherheitspolitische Aspekte der Migration

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Sicherheitspolitische Interessen und Ziele 3.1 Prinzipien für die Sicherheitspolitik der Schweiz 3.2 Sicherheitspolitische Interessen 3.3 Sicherheitspolitische Ziele

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Umsetzung: Politikbereiche und Instrumente der Sicherheitspolitik 4.1 Politikbereiche und Instrumente 4.2 Umsetzung der sicherheitspolitischen Ziele 4.2.1 Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen 4.2.2 Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, Sicherheit und Stabilität 4.2.3 Verstärkte Ausrichtung auf hybride Konfliktführung 4.2.4 Freie Meinungsbildung und unverfälschte Information 4.2.5 Verstärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen 4.2.6 Verhinderung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus, organisierter und übriger transnationaler Kriminalität 4.2.7 Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit 4.2.8 Stärkung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen und der Regenerationsfähigkeit

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Fazit 49

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Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Behörden und des Krisenmanagements

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Bericht 1

Einleitung

Der Bundesrat veröffentlicht in periodischen Abständen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz. Die Berichte dienen dazu, aufgrund einer umfassenden Analyse des Umfelds zu prüfen, ob und inwieweit die Sicherheitspolitik und ihre Instrumente angepasst werden müssen, damit die Schweiz auf sich verändernde Bedrohungen und Gefahren rasch und richtig reagieren kann, welche Strategie dabei verfolgt und welche Prioritäten gelten sollen. Der letzte Bericht datiert vom 24. August 20161.

Die internationalen Entwicklungen sind weiterhin geprägt von grossem Tempo und Ungewissheit. Das gilt auch für die sicherheitspolitische Lage sowie die konkreten Bedrohungen und Gefahren für die Schweiz. Diese haben sich zwar in den letzten Jahren nicht grundlegend verändert, sie haben sich aber weiterentwickelt und teilweise verschärft. Der Umgang in der internationalen Sicherheitspolitik ist noch rauer geworden, das Verfolgen und Durchsetzen machtpolitischer Interessen noch ausgeprägter. Die Erosion multilateraler Zusammenarbeit und Sicherheitsstrukturen hat sich verstärkt, ebenso der Einsatz von Mitteln «hybrider» Konfliktführung. Die weiter rasch voranschreitende Digitalisierung und Vernetzung hat viele Vorteile; sie hat aber auch die Verletzlichkeit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erhöht. Bewaffnete Konflikte und Krisen an der Peripherie Europas dauern an und haben sich teilweise verschlimmert. Extreme Wetterereignisse nehmen im Zuge des Klimawandels zu, die Gefahren durch Pandemien haben sich mit der Covid-19-Pandemie drastisch bestätigt.

Der Bericht analysiert diese Entwicklungen und legt dar, was sie für die Schweizer Sicherheitspolitik bedeuten. Er beschreibt die Prinzipien der schweizerischen Sicherheitspolitik, ihre Interessen und Ziele und zeigt auf, wie die Instrumente der Sicherheitspolitik zur Erreichung dieser Ziele beitragen und wie sie sich ausrichten müssen.

Sicherheitspolitik ist in der Schweiz eine Verbundaufgabe. Wie schon bei den letzten Berichten wurden deshalb die Kantone in die Erarbeitung dieses Berichts einbezogen.

Dieses Vorgehen ist Ausdruck davon, dass Sicherheitspolitik in der Schweiz umfassend und breit verstanden wird. Sie umfasst die Gesamtheit aller Massnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden zum Schutz der Schweiz und ihrer Bevölkerung vor machtpolitischen, kriminellen
oder natur- und zivilisationsbedingten Bedrohungen und Gefahren. Das Ziel der schweizerischen Sicherheitspolitik ist, die Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Integrität der Schweiz und ihrer Bevölkerung sowie ihre Lebensgrundlagen gegen Bedrohungen und Gefahren zu schützen und einen Beitrag zu Stabilität und Frieden jenseits der Grenzen zu leisten.

Dieser Bericht legt die Stossrichtung und Grundzüge der Schweizer Sicherheitspolitik für die kommenden Jahre fest. Er dient als Basis für weitere und detailliertere Grundlagendokumente zu einzelnen sicherheitspolitischen Bereichen oder Instrumenten.

Der sicherheitspolitische Bericht ist abgestimmt auf die Botschaft vom 29. Januar

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20202 zur Legislaturplanung 2019­2023 und ist dort als Massnahme zur Umsetzung von Ziel 15 aufgeführt: «Die Schweiz kennt die Bedrohungen ihrer Sicherheit und verfügt über die notwendigen Instrumente, um diesen wirksam entgegenzutreten.» Der Bundesrat beabsichtigt, künftig in jeder Legislaturperiode einen Bericht zur Sicherheitspolitik zu veröffentlichen.

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Lage

2.1

Globale Trends mit sicherheitspolitischer Bedeutung

Die Sicherheit der Schweiz wird vor allem von folgenden Trends beeinflusst: der verstärkten Konkurrenz der Grossmächte, einer Globalisierung mit teils gegenläufigen Regionalisierungs- und Nationalisierungstendenzen, dem technologischen Fortschritt und gesellschaftlicher Polarisierung. Die internationale Sicherheitspolitik ist geprägt vom Ringen um Einflusssphären und einem sich wandelnden Konfliktbild. Die globale Vernetzung setzt sich fort, obwohl manche Staaten versuchen, ihre eigene Einbindung zu beschränken oder gar zu verringern.

2.1.1

Verstärkte Konkurrenz der Grossmächte

Die internationale Sicherheitslage ist heute von einer verstärkten Konkurrenz der Grossmächte und aufstrebender Regionalmächte geprägt. Dies zeigt sich insbesondere im Ringen um Einflusssphären. Russland, China, die USA sowie eine Reihe regionaler Mächte setzen verstärkt Druckmittel ein, um ihre Ansprüche durchzusetzen: durch politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss, eigene Rechts- und Verhaltensnormen sowie die Kontrolle von Infrastruktur, Technologien, Ressourcen und Transportwegen und unter Einsatz von Informationsmitteln.

Ursache für diese Entwicklung ist in erster Linie, dass die USA ihre Führungsrolle in den letzten Jahren nur noch selektiv wahrgenommen haben. Insbesondere China und Russland nutzen das dazu, ihren Einfluss zu vergrössern. Sie verfügen aber bislang nicht über die militärischen oder wirtschaftlichen Kapazitäten, und noch weniger über sogenannte «soft power», um die Welt so tiefgreifend und nachhaltig zu prägen, wie es die USA nach dem Zweiten Weltkrieg getan haben. Die Europäische Union (EU) hat das Potenzial zu globalem Einfluss; es ist aber noch unklar, inwieweit es ihr künftig gelingen wird, dieses auszuschöpfen.

Gleichzeitig sinkt die Handlungsfähigkeit internationaler Sicherheitsorganisationen wie der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die vom Willen ihrer Mitgliedsstaaten, insbesondere der Grossmächte, abhängen. Hier zeigt sich deutlich, dass unter den Grossmächten kein Konsens darüber besteht, wie globale Zusammenarbeit strukturiert sein und was sie bewirken sollte. Diese Entwicklungen begünstigen das Ringen

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um Einflusssphären mit unilateralen Sanktionen sowie diplomatischen und militärischen Mitteln. Dies erhöht Instabilität, Spannungen und auch das Risiko bewaffneter Konflikte.

Das Ende des Kalten Kriegs war das Ende der Bipolarität in der internationalen Sicherheitspolitik. Die darauffolgende Phase der Dominanz der USA scheint nun auch zu Ende zu gehen. Es ist fraglich, ob sich in absehbarer Zeit wieder eine stabile Struktur ­ zum Beispiel eine neue bipolare Ordnung zwischen den USA und China oder eine multipolare Ordnung ­ herausbilden wird.

2.1.2

Globalisierung und Regionalisierung

Die wirtschaftlichen, technologischen, politischen und gesellschaftlichen Verflechtungen nehmen insgesamt weiter zu. Aber es gibt auch Gegentrends: Nationalismus und protektionistische Reflexe haben vielerorts Auftrieb erhalten. In manchen Industriegesellschaften wächst die Skepsis gegenüber der Globalisierung. Der Umstand, dass keine einzelne Grossmacht global dominiert, fördert eine Regionalisierung von Ordnungssystemen.

Auch weltwirtschaftlich gibt es Tendenzen zur Regionalisierung. Die Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie könnten diese verstärken. Die Pandemie hat zwar die Bedeutung internationaler Kooperation verdeutlicht, aber auch die Risiken globaler Wertschöpfungs- und Lieferketten vor Augen geführt: Abhängigkeiten, beispielsweise in der wirtschaftlichen Versorgung, die auch sicherheitspolitisch von Belang sind. Die Versorgungsengpässe bei medizinischem Schutzmaterial und pharmazeutischen Produkten zu Beginn der Covid-19-Pandemie veranschaulichen dies. Umwälzungen in der Industrieproduktion infolge von Digitalisierung und Automatisierung könnten die Regionalisierung zusätzlich fördern, beispielsweise durch eine Rückverlagerung von Fabriken aus Tieflohnländern. Im Energiebereich dürfte der Übergang von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien ebenfalls stärker regional ausgeprägte Versorgungssysteme hervorbringen.

Aus sicherheitspolitischer Perspektive sticht der nachhaltige Bedeutungszuwachs nichtstaatlicher Akteure hervor. Dazu gehören auf der einen Seite Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen sowie private Sicherheitsdienstleister, aber auch Kriminelle und terroristische Organisationen. Auch grenzübergreifende Bewegungen entfalten politische oder wirtschaftliche Wirkung. Gemeinsame Merkmale sind die weltweite Vernetzung sowie die hohe Geschwindigkeit bei der Organisation und Koordination. Einige im Technologiesektor tätige Grossunternehmen haben in manchen Bereichen eine solch dominante Marktposition, dass sie über grossen internationalen Einfluss verfügen. Die wirtschaftlichen Interessen dieser Firmen stehen teils im Widerspruch zu den sicherheitspolitischen Interessen von Staaten. In Krisen kann dies die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit von Staaten einschränken.

Auch wenn nichtstaatliche Akteure an Macht gewonnen haben, spielen Staaten weiterhin
eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung staatspolitischer, normativer oder wirtschaftlicher Interessen. Die Bedeutung des Staates hat sich auch in der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie in vielen Ländern gezeigt. Es ist möglich, dass Produk-

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tionsketten stärker in Regionen verankert werden, um grössere Verlässlichkeit zu erreichen. Staaten oder Staatengruppen könnten sich auch von globalen Wirtschaftsgremien abwenden, was eine Schwächung internationaler Normen zur Folge hätte.

Wenig wahrscheinlich erscheint ein eigentlicher Bruch mit der Globalisierung, zumal das massive Kostenfolgen hätte und nicht rasch umgesetzt werden könnte.

2.1.3

Technologischer Fortschritt

Neue Technologien werden immer schneller entwickelt und breiter eingesetzt. Digitalisierung und Fortschritte in der Sensorik führen zu mehr und besseren Daten. Moderne Kommunikationstechnologien ermöglichen den Austausch stetig wachsender Datenmengen, die mit leistungsfähigen Rechnern und Algorithmen erfasst, verknüpft, analysiert und verfügbar gemacht werden. Die Nutzung und Auswertung dieser Daten wird zum Wettbewerbsvorteil, birgt aber Missbrauchspotenzial. Im Zuge der Digitalisierung übernimmt Software immer öfter die Steuerung bislang manueller Prozesse, auch solcher mit physischen Auswirkungen.

In den nächsten Jahren werden auch das maschinelle Lernen und die Automatisierung, die sogenannte künstliche Intelligenz, voranschreiten. Damit funktionieren Systeme zunehmend eigenständig, und Maschinen können Entscheidungen ohne direkten menschlichen Einfluss fällen, wobei es immer schwieriger wird, maschinelle Entscheidprozesse restlos nachzuvollziehen. Automatisierte Entscheide betreffen zunehmend auch kritische Prozesse. Diese zunehmende Delegation von Entscheiden wirft politische, rechtliche und ethische Fragen auf.

Staaten können in Abhängigkeit von Akteuren geraten, die bei der Entwicklung dieser Technologien führend sind. Grundsätzlich ist ein möglichst offener Austausch von Informations- und Kommunikationstechnologien von Vorteil, weil damit Wahlfreiheit und Sicherheit unterstützt werden. Allerdings kann der offene Austausch aus sicherheits- oder machtpolitischen Interessen eingeschränkt oder unterbunden werden, beispielsweise zum Schutz eigener Infrastruktur, Forschung und Entwicklung oder um Konkurrenten den Zugang zu Märkten zu verwehren. Dadurch entstehen Ketten von Technologien und Herstellern, deren Produkte und Systeme mit jenen anderer Technologieketten inkompatibel sind. Das könnte zu einer Fragmentierung der technologischen Entwicklung führen und selbst Staaten dazu zwingen, sich für eine bestimmte Technologiekette zu entscheiden. Auf jeden Fall ist mit einer eingeschränkten Handlungsfreiheit bei der Auswahl und Beschaffung von neuen Technologien zu rechnen, wie der Zwist um die Nutzung von chinesischen Technologien durch westliche Staaten bereits zeigt.

2.1.4

Gesellschaftliche Polarisierung

Sicherheitspolitisch relevant ist auch der laufende Wandel individueller und kollektiver Verhaltensweisen. Neben materiellen Treibern wie wirtschaftlichem Druck oder Einkommensunterschieden ist ein wesentliches Merkmal dieser Entwicklung das

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Erstarken der «Identität» als Kern politischer Bewegungen. Dieses auch als Identitätspolitik bezeichnete Phänomen stellt Eigenschaften wie Geschlecht, Ethnie, Sprache, Herkunft oder politische Ausrichtung in den Vordergrund. Identität wird als individuelle Wahl und grenzüberschreitend wahrgenommen. Diese Entwicklung fördert gesellschaftliche Fragmentierung und Polarisierung: Während bestimmte Gruppen die Zunahme von gesellschaftlicher Offenheit und Diversität begrüssen und auch für sich oder andere Gruppen Gleichstellung fordern, verlangen andere eine Abschottung und hetzen gegenüber Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Eigenschaften. Diese Gruppen stehen sich zusehends unversöhnlich gegenüber. Mit Fragmentierung und Polarisierung verbunden ist das Risiko von politischer Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus.

Social Media und Suchmaschinen prägen heute zunehmend die Informationslandschaft. Sie sind überwiegend als Plattformen für den Austausch von Inhalten angelegt und bleiben weitgehend ohne redaktionelle Betreuung. Dabei kann die algorithmisch personalisierte Selektion von Inhalten dazu führen, dass Internet-Nutzende fast nur Informationen ausgesetzt werden, die ihren bestehenden Einstellungen entsprechen.

Dies begünstigt die Entstehung von sogenannten «Filterblasen». Das Selektionsverhalten der Nutzenden kann auch die Bildung von «Echokammern» unterstützen, in denen Personen mit derselben Meinung interagieren und sich über die Zeit hinweg radikalisieren. Die tatsächliche Wirkung beider Mechanismen ist aber geringer als zuweilen angenommen; die grosse Mehrheit wendet sich nach wie vor traditionellen Medien als Informationsquelle zu und ist in Social-Media-Netzwerke mit vielfältigen Meinungen eingebettet. Allerdings können an den politischen Rändern durchaus Echokammern entstehen.

2.1.5

Entwicklung des Konfliktbildes

Die Art, wie Konflikte ausgetragen werden, wandelt sich. Das heutige Konfliktbild spiegelt die machtpolitischen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre.

Die Gewaltbereitschaft in internationalen Beziehungen ist auf globaler Ebene anhaltend hoch. Staaten, welche die bestehenden Machtverhältnisse mit Gewalt verteidigen oder verändern wollen, agieren aber mehr als früher in der Grauzone zwischen bewaffnetem Konflikt und Frieden. Sie verwischen absichtlich die Grenzen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, beispielsweise durch den Einsatz von Söldnerfirmen anstelle regulärer Streitkräfte. Diese Vorgehensweise zielt darauf ab, Aktionen verdeckt auszuführen und deren Urheberschaft abstreiten zu können, wenn auch oft mit geringer Glaubwürdigkeit. Dadurch sollen die mit einem offenen Konflikt verbundenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten gemieden und entschlossene Gegenreaktionen erschwert werden. Heutige Konflikte folgen deshalb weniger als früher einem klassischen Eskalationsprozess. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass politische, wirtschaftliche, militärische, nachrichtendienstliche, informationelle und auch kriminelle Mittel unter Einbezug moderner Waffen und Technologien, insbesondere im Informations- und Cyberbereich, orchestriert und so lange wie möglich verdeckt unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts eingesetzt werden.

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Auch der verdeckte Einsatz von chemischen Kampfstoffen ist in den letzten Jahren vorgekommen.

Diese sogenannt hybride Art der Konfliktführung zielt zunächst auf die politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität von Gesellschaft und Staat sowie auf die staatliche Handlungsfähigkeit. Sie ist geprägt von Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit und zielt vor allem auf die Bevölkerung, um Sympathien zu gewinnen und die gesellschaftliche Kohäsion zu schwächen. Personen, Gruppen und auch Staaten können durch flächendeckende oder fokussierte Information, z. B. über soziale Medien, direkt erreicht werden. Desinformation (irreführende oder vollständig erfundene Meldungen) wird genutzt, um politische Prozesse zu beeinflussen oder zu sabotieren, die Glaubwürdigkeit von Institutionen und Medien anzugreifen und Zweifel an Informationen schlechthin zu säen. Der Einsatz von Cyber- und Informationsmitteln für machtpolitische Zwecke ist heute Standard und dürfte in den kommenden Jahren durch eine zunehmende Zahl staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure zunehmen.

Die traditionellen (militärischen) Mittel der Konfliktaustragung werden dadurch aber nicht irrelevant. Cyber- und Informationsmittel können zur Zermürbung als Vorbereitung eines Angriffs dienen und schliesslich in bewaffnete Konflikte münden. Im heutigen Umfeld muss mit einer breiten Palette von Angriffsmitteln und -arten gerechnet werden. Dazu gehören der Einsatz von Sonderoperationskräften und Präzisionswaffen und auch weltraumgestützte Aktionen. Das schliesst Bedrohungen im und aus dem Luftraum ein, zumal immer mehr staatliche und nichtstaatliche Akteure Waffen auf grosse Distanzen einsetzen können. Die rasante Entwicklung von neuen Technologien und künstlicher Intelligenz bietet neue Möglichkeiten, auch für autonome Waffensysteme. Insbesondere Drohnen erweitern das Potenzial für Angriffe, Aufklärung und Datenübermittlung erheblich, dies zu geringen Kosten und Risiken. Die Streitkräfte in Europa müssen deshalb nach wie vor einem gleichwertigen Gegner zumindest räumlich und zeitlich begrenzt begegnen können. Dabei setzen sie auf Mobilität, Formationen mit hoher Bereitschaft, Luftverteidigung, leistungsfähige und vernetzte Kontroll-, Kommunikations- und Führungsfähigkeiten und Digitalisierung.

Um diesem breiten Spektrum an Angriffsmöglichkeiten
zu entsprechen, müssen Streitkräfte auch in der Grauzone zwischen offenem bewaffnetem Konflikt und Frieden operieren können. Dazu werden ihre defensiven und offensiven Fähigkeiten im Cyberbereich ausgebaut. Die Behörden müssen in der Lage sein, Beeinflussungshandlungen und Desinformation zu erkennen und je nach Ausprägung des Konflikts darauf zu reagieren.

Die modernen Mittel zur Konfliktaustragung unterminieren Abschreckungsstrategien.

Abschreckung basiert darauf, einem Gegner glaubhaft zu kommunizieren, dass man ihm einen Schaden zufügen kann, den er nicht bereit ist, zu ertragen. Wenn aber ein Angriff unter der Schwelle eines bewaffneten Konflikts ausgetragen wird, dessen Urheber nicht schlüssig nachgewiesen werden kann und die Bevölkerung in Folge von Desinformation sich teilweise vom eigenen Staat abwendet, ist Abschreckung weitgehend wirkungslos. Militärische Abschreckung wird deshalb mit einem Mix von zivilen Instrumenten für Konfliktprävention und die Stärkung der Resilienz von Gesellschaft und Staat gegenüber hybriden Angriffen ergänzt.

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Wesentliche Veränderungen bei den globalen sicherheitspolitischen Trends Die internationale Sicherheitspolitik ist von der Konkurrenz der Grossmächte geprägt. Diese äussert sich in einem Kampf um Einflusssphären und wird durch den technologischen Fortschritt verstärkt; insbesondere im Technologiebereich entsteht eine systemische Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Wirtschaftsund Entwicklungsmodellen. Ebenso bringt der technologische Fortschritt zusammen mit der globalen Vernetzung neue sicherheitspolitisch relevante Akteure hervor wie globale Technologieunternehmen. Feststellbar ist zudem eine verstärkte Polarisierung von Gesellschaften, die sich in Extremismus äussern kann. Das Konfliktbild hat sich noch stärker in die Richtung weiterentwickelt, die im sicherheitspolitischen Bericht 2016 skizziert wurde. Die Bedeutung von Cyber- und Informationsmitteln steigt weiter an, um Konflikte möglichst verdeckt auszutragen, aber konventionelle Fähigkeiten der Streitkräfte spielen weiterhin eine wichtige Rolle. Klassische Abschreckung allein ist weitgehend wirkungslos geworden; es braucht das Zusammenspiel von zivilen und militärischen Mitteln und verstärkte Resilienz.

2.2

Sicherheitspolitisch relevantes Umfeld der Schweiz

Das sicherheitspolitisch relevante Umfeld der Schweiz hat sich in den vergangenen Jahren weiter gewandelt: Die Konkurrenz zwischen Grossmächten und aufstrebenden Regionalmächten hat zugenommen, die Handlungsfähigkeit der EU und der Nato ist herausgefordert, die Instabilität an der Peripherie Europas hat sich verstärkt. Gleichzeitig sind internationale Organisationen in sicherheitspolitisch bedeutsamen Dossiers oft blockiert.

Der Wille einiger, darunter auch europäischer Staaten, sich gemeinsam für Sicherheit zu engagieren, hat abgenommen, wie dies nationale Alleingänge oder Ad-hoc-Koalitionen zeigen. Europäische Staaten und auch die USA sind zudem mit internen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen konfrontiert, die auch in gewaltsame Auseinandersetzungen münden könnten und deshalb die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger in hohem Masse absorbieren. Insgesamt nimmt die Schutzwirkung des geografischen und politischen Umfelds der Schweiz ab, weil dieses Umfeld instabiler geworden ist und auch weit entfernte Ereignisse rasch und direkt die Sicherheit der Schweiz tangieren können.

West- und Mitteleuropa zeigt sich relativ stabil und krisenfest. Die wirtschaftliche und politische Integration unter den west- und mitteleuropäischen Staaten könnte trotz Brexit und verschiedener Krisen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Als eine der grössten Volkswirtschaften der Welt und als global ausgerichtete Akteurin hat die EU das Potenzial, sich gegenüber Grossmächten wie China und den USA zu behaupten. Viel hängt aber von ihrer inneren Kohäsion ab. Die Konsensfindung in der aussenpolitischen Positionierung bleibt schwierig. Während die EU als weltweit grösste Geberin von Entwicklungshilfe und Verteidigerin der multilateralen Ordnung

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unbestrittenes Gewicht hat, spielte sie in der Verteidigungspolitik bislang eine untergeordnete Rolle. Initiativen wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit oder der Europäische Verteidigungsfonds zeugen vom politischen Willen, die Verteidigungsfähigkeit zu stärken, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU in dieser Hinsicht weiterhin stark zwischenstaatlich funktioniert und in der Verteidigung auf absehbare Zeit noch auf strategische Mittel der USA und der Nato angewiesen ist.

Bei der inneren Sicherheit zeigt sich ein anderes Bild: Dank der Schengener-Abkommen ist es der EU gelungen, eine wirksame polizeiliche Kooperation zu fördern; zahlreiche Weiterentwicklungen konnten erfolgreich abgeschlossen werden.

Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass Staaten und Gesellschaften reflexartig zunächst zum nationalen Alleingang neigen. In der EU ist die Gesundheitspolitik Sache ihrer Mitglieder, weshalb die Union erst nachgelagert und im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Finanzfragen zum Zug kam. Derzeit ist nicht ersichtlich, inwiefern sich die Krise strukturell auswirken wird und welche Folgen sie für die (sicherheitspolitische) Kohäsion und Handlungsfähigkeit der EU haben wird.

Die Bruchlinien zwischen Europa und Russland haben sich weiter verstärkt, was direkte Konsequenzen für die westlichen Nachbarstaaten Russlands hat, aber auch Schweizer Interessen tangieren kann. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der anhaltende bewaffnete Konflikt in der Ostukraine sowie der Einsatz von chemischen Kampfstoffen gegen missliebige Personen belasten die Beziehung zwischen Europa und Russland. Auch die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Belarus bleiben ungewiss. Die erheblichen politischen Spannungen und ungelösten Konflikte im Südkaukasus behalten weiterhin das Potenzial zu erneuten Gewaltausbrüchen.

Südosteuropa ist weiterhin mit Spannungen konfrontiert. Im Westbalkan wirkt sich der europäische Annäherungsprozess stabilisierend auf die Region aus, obwohl Konfliktpotenzial vor Ort bestehen bleibt, etwa in den Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo sowie innerhalb von Bosnien und Herzegowina.

Die Instabilität der Staaten Nordafrikas hat direkte Konsequenzen für die Sicherheit in Europa. Diese Staaten spielen eine wichtige Rolle bei der Kanalisierung der Migration aus Afrika
südlich der Sahara. Die Covid-19-Pandemie hat die Instabilität erhöht. Algerien hat mit verschärften wirtschaftlichen und innenpolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Beim Konflikt in Libyen ist kurz- bis mittelfristig keine tragfähige politische Lösung zu erwarten. Die Lösungsfindung wird insbesondere dadurch erschwert, dass ausländische Akteure politisch und militärisch in den Konflikt eingreifen.

Die bereits früher prekäre Sicherheitslage in der Sahel-Region hat sich weiter verschlechtert. Zu Separatismus, interethnischer Gewalt, schlechter Staatsführung, Korruption und Kriminalität ist der dschihadistische Terrorismus hinzugekommen. Dieser hat sich über die Sahel-Region hinaus in Westafrika ausgebreitet. Die Staaten der Region dürften aus eigener Kraft kaum fähig sein, diese Bedrohungen zu meistern; internationales Engagement bleibt deshalb für die Stabilität der Region wichtig. Der Bevölkerungszuwachs in vielen Sahel-Staaten dürfte von den Volkswirtschaften der Region kaum aufgefangen werden, und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie bremsen die Entwicklung zusätzlich. Es ist von einem anhaltend

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hohen Migrationsdruck auf die Staaten Nordafrikas und nachfolgend auf Europa auszugehen.

Die Konflikte im östlichen Mittelmeerraum und in daran angrenzenden Räumen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit anhalten. Eine politische Lösung für Syrien fehlt, bleibt aber Bedingung für ein Ende des Konflikts. Die Türkei kooperiert selektiv mit Russland, auch wenn die strategischen Interessen nicht immer übereinstimmen. Ziel der türkischen Politik bleibt, eine eigene Einflusszone in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten zu schaffen. Die wirtschaftlichen Realitäten, einschliesslich der Konsequenzen der Covid-19-Pandemie, könnten allerdings die Reichweite der türkischen Aussen- und Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren einschränken. Die Konfrontation zwischen den USA, Israel und den arabischen Golfstaaten einerseits und dem Iran andererseits wird die Dynamik in der Region weiterhin prägen. Eine militärische Eskalation scheint zwar derzeit wenig wahrscheinlich, könnte aber beispielsweise durch einen militärischen Zwischenfall oder durch einen massiven Ausbau der iranischen Uran-Anreicherungstätigkeit ausgelöst werden. Die Staaten der Region, insbesondere der Irak und der Libanon, sehen sich schweren, anhaltenden sozioökonomischen und politischen Krisen gegenüber, die von der Covid-19-Pandemie verschärft wurden. Hinzu kommen Spannungen zwischen religiösen und ethnischen Gruppen. Der Nahostkonflikt bleibt ungelöst und für die Region von anhaltender Bedeutung, wenngleich sein Mobilisierungspotenzial in der internationalen Öffentlichkeit abgenommen hat. Dschihadistische Gruppierungen werden auch in Zukunft Spannungen und Konflikte, wirtschaftliche Schwäche und gesellschaftliche Polarisierung in den Staaten der Region zum eigenen Vorteil nutzen. Das Zusammenwirken dieser Faktoren kann zu innerstaatlichen und internationalen bewaffneten Konflikten wie auch zum Zerfall von einzelnen Staaten führen.

Der teilweise Rückzug der USA aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie ihre Zurückhaltung in Nordafrika vergrössern die Einflussmöglichkeiten von Russland, China, der Türkei und dem Iran in diesen Regionen. Europäische Staaten dürften sich sicherheitspolitisch weiter in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten engagieren, müssen sich dabei aber zunehmend mit den Tätigkeiten Chinas und Russlands vor Ort abstimmen.
Konkurrierende Grossmächte Die USA richten ihre Sicherheitspolitik strategisch auf die Herausforderung durch China aus. Die Tendenz, unilateral vorzugehen und sich aus internationalen Organisationen oder Vereinbarungen zurückzuziehen, hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt, wird nun aber unter der aktuellen Administration zumindest teilweise wieder rückgängig gemacht. Die USA verfügen weiterhin über massive wirtschaftliche, diplomatische und militärische Mittel sowie eine immer noch beachtliche «soft power». Sie sind nach wie vor die einzige Grossmacht mit einem klaren Potenzial für eine globale Führungsrolle. Sie haben dieses Potenzial aber in den vergangenen Jahren wenig genutzt.

Es ist zu erwarten, dass die USA auch in den kommenden Jahren stark auf wirtschaftliche Machtmittel wie Sonderzölle und Sanktionen setzen werden. Trotz Fokussierung auf den Wettbewerb mit China wird auch Europa weiterhin mit solchem Druck der USA rechnen müssen. Für das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz von Belang 13 / 50

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ist insbesondere, dass die USA ihre europäischen Verbündeten wahrscheinlich weiter drängen werden, ihre Beiträge für die gemeinsame Verteidigung zu erhöhen.

Russland bleibt eine militärische Macht und fordert die Dominanz der USA punktuell heraus. Angetrieben wird es von machtpolitischen Überlegungen und Misstrauen gegenüber dem Westen. Als Nuklearmacht und aufgrund seiner militärischen Interventionen im Kaukasus, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika, seiner Rolle im Ukraine-Konflikt sowie seines Gewichts in internationalen Organisationen spielt Russland eine wichtige Rolle in der internationalen Sicherheitspolitik. Es hat den politischen Willen und die diplomatischen Mittel, um Einfluss auf regionale und globale Entwicklungen zu nehmen. Der russische Machtapparat scheut auch nicht davor zurück, tödliche Gewalt gegen unliebsame Personen anzuwenden, auch im Ausland.

Es fehlen Russland jedoch die wirtschaftlichen Mittel und ein attraktives Gesellschaftsmodell, um in der Weltpolitik eine Führungsrolle nachhaltig zu besetzen. Das wird sich auch mit Erfolgen etwa im Bereich der Versorgung von Ländern mit Impfstoff gegen Covid-19 nicht grundlegend ändern. Russland will insbesondere entlang den Grenzen der früheren Sowjetunion eine exklusive Einflusssphäre konsolidieren.

Fokus seiner Politik werden voraussichtlich weiterhin Osteuropa, der Balkan und der Mittelmeerraum sein.

Militärisch hat Russland in den vergangenen Jahren in einigen Bereichen wesentlich an Potenzial dazugewonnen. Es bleibt der Nato in konventioneller Hinsicht aber auf absehbare Zeit unterlegen ­ sofern die USA ihren Beitrag zur europäischen Sicherheit aufrechterhalten. Die strategische Abschreckung zwischen den USA und Russland bleibt trotz der Erosion des Rüstungskontroll- und Abrüstungsregimes für die kommenden Jahre erhalten. Der kombinierte Einsatz einer breiten Palette von Mitteln ­ zivil und militärisch, offen und verdeckt ­ zur Druckausübung ist für Russland typisch. Russland wird weiterhin versuchen, die Nato und die EU zu schwächen, deren Mitglieder gegeneinander auszuspielen und seinen Interessen dienliche Akteure in diesen Staaten zu fördern. Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten Russlands gegen europäische Interessen werden auf hohem Niveau fortgeführt werden. Von Bedeutung für schweizerische Sicherheitsinteressen
ist auch die russische organisierte Kriminalität.

China ist zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt und zu einer Grossmacht globaler Bedeutung aufgestiegen. Es setzt seine sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen in Asien teilweise mit wenig Rücksicht auf die Interessen anderer Länder und bisweilen im Widerspruch zu internationalem Recht durch. In Kombination mit der Modernisierung seiner Streitkräfte führt sein wirtschaftlicher Aufstieg zu einer Verschiebung des internationalen Machtgefüges. China fordert die Dominanz der USA heraus und weitet seinen Einfluss kontinuierlich mit wirtschaftlichen, politischen und auch machtpolitischen Mitteln aus. Es ist aber noch offen, inwieweit China wirklich eine globale Führungsrolle sucht und eine solche international auf Akzeptanz stossen würde. Das chinesische Regierungsmodell bleibt ein Einparteienstaat unter Führung der Kommunistischen Partei Chinas. In den letzten Jahren hat eine noch stärkere Zentralisierung der politischen Macht stattgefunden. Zudem wurden die gesellschaftliche Kontrolle und die Repression im Innern verstärkt. Die überschuldete Wirtschaft und das verlangsamte Wachstum könnten zu einer Herausforderung für die herrschende Partei werden.

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Die gegenseitige, durch Entstehung und Verlauf der Covid-19-Pandemie akzentuierte Bedrohungswahrnehmung der USA und Chinas verschärft die Konkurrenz in den Bereichen Politik, Handel, Technologie und Militär. Mit der «Belt and Road Initiative» erschliesst China weitere Märkte und investiert in Infrastrukturprojekte und den Abbau von Bodenschätzen. Es beabsichtigt, die dazugehörige Infrastruktur selbst zu kontrollieren. In Asien setzt China paramilitärische und militärische Mittel zur Druckausübung ein, z. B. im Südchinesischen Meer. In Afrika spielt China bereits eine wirtschaftliche Schlüsselrolle, und im Nahen und Mittleren Osten weitet es sein wirtschaftliches Engagement kontinuierlich aus. Es ist aber bestrebt, sich aus regionalen Konflikten herauszuhalten. Auch in Europa weitet sich der chinesische Einfluss aus, durch politisches Engagement oder den Erwerb von Unternehmen und Infrastrukturen oder Teilen davon. Daraus resultieren für westliche Staaten Abhängigkeiten, beispielsweise aufgrund der Kontrolle von Transport-, Kommunikations- und Logistikinfrastrukturen durch chinesische Staatsunternehmen.

Das chinesische Vorgehen in Xinjiang und Hongkong sowie Chinas Politik im Zusammenhang mit der Pandemie haben in den USA und vielen europäischen Staaten Gegenreaktionen hervorgerufen. Die China-Politiken zahlreicher westlicher Staaten dürften insgesamt kritischer werden. Dabei ist grundsätzlich von einer Mischung aus Dialog und Eindämmung auszugehen. Diese Entwicklungen dürften aus Sicht Chinas bedeutsam sein, weshalb mit einer zunehmenden Intensität nachrichtendienstlicher Aktivitäten Chinas zu rechnen ist.

Internationale Organisationen und Zusammenarbeit Für die Nato löste die Annexion der Krim 2014 zusätzliche Anstrengungen zur Erhöhung ihrer Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung aus. Dazu gehörten eine verstärkte Nato-Präsenz an der Ostflanke und die Wiedereinführung von bündnisweiten Mobilisierungs- und Verlegungsübungen. Die Nato-Staaten ergriffen auch Massnahmen, um als Allianz besser mit einem hybriden Konfliktbild umgehen zu können, z. B. durch die Bezeichnung von Cyberangriffen als mögliche Auslöser für die kollektive Verteidigung und durch eine Stärkung ihrer Fähigkeiten im Krisenmanagement. Der Umgang mit dem veränderten Konfliktbild bleibt dennoch eine Herausforderung für die Nato,
insbesondere hinsichtlich der Umsetzung der Beistandsverpflichtungen nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags.

Die seit Jahrzehnten anhaltende Diskussion über die Lastenverteilung unter den NatoMitgliedern verschärfte sich in den vergangenen Jahren. Vor der Covid-19-Pandemie hatten viele europäische Staaten ihre Verteidigungsausgaben erhöht. Es ist noch offen, ob nicht mindestens ein Teil der Nato-Staaten im Zuge der Pandemie ihre Rüstungsund Verteidigungsbudgets temporär wieder reduzieren werden.

Die Nato wird in den kommenden Jahren politisch und militärisch handlungsfähig und damit für die Sicherheit Europas wesentlich bleiben, wenn die USA ihr europäisches Engagement nicht substanziell reduzieren. Weiterbestehen werden die Bruchlinien zwischen den östlichen Nato-Alliierten, die einen Fokus der Organisation auf die militärische Abschreckung Russlands fordern, und jenen Alliierten, die sich stärker durch Entwicklungen an der Nato-Südflanke bedroht fühlen. Die türkischen Interessen im Mittelmeerraum stehen teilweise im Konflikt mit den Interessen anderer NatoStaaten ­ diese Spannungen fordern die Handlungsfähigkeit der Nato ebenso heraus.

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Auf globaler Ebene spielen die UNO und namentlich der Sicherheitsrat trotz einer tendenziellen Schwächung internationaler Organisationen weiterhin eine bedeutende Rolle in Fragen der internationalen Sicherheit. Internationale Normen, Vereinbarungen und Organisationen werden indessen derzeit regelmässig durch staatliche und nichtstaatliche Akteure unterlaufen und geschwächt. Dies zeigt sich auch bei der Rüstungskontrolle und beim völkerrechtlichen Gewaltverbot. Wenn ständige Mitglieder des Sicherheitsrats direkte Interessen in einer Konfliktregion haben, dürften die Gremien der UNO auch in den kommenden Jahren bei der Konfliktbeilegung häufig blockiert bleiben.

Auf regionaler Ebene ist die OSZE zu nennen, die einzige Sicherheitsorganisation für Europa, die Russland und die USA gleichberechtigt einschliesst und die ein Forum für Dialog und Vertrauensbildung bleibt. Die OSZE wird sich wegen der stärker gewordenen Polarisierung weiterhin schwertun, in wichtigen Fragen Konsens zu finden.

Die eingeschränkte Handlungsfähigkeit internationaler Organisationen fördert die Verlagerung auf Ad-hoc-Koalitionen und informelle Gruppierungen wie die G7 oder G20. Dieser Trend weg von internationalen Organisationen dürfte sich in den kommenden Jahren fortsetzen, namentlich wenn es um die Durchsetzung machtpolitischer oder regionalpolitischer Interessen von Staaten oder Staatengruppen geht.

Wesentliche Veränderungen im sicherheitspolitisch relevanten Umfeld Die Orientierung der USA wirkt sich direkt auf die Kohäsion der Nato aus und beeinflusst wesentlich das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz. Der UNOSicherheitsrat und die OSZE sind grundsätzlich handlungsfähig, sind aber wegen gegensätzlicher Grossmachtinteressen in ihrer politischen Entscheidungsfindung teilweise blockiert. Die EU sieht sich weiterhin mit politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Ihre internationale Handlungsfähigkeit wird von ihrer Kohäsion abhängen und die eigenständige europäische Verteidigungsfähigkeit auf absehbare Zeit weiterhin beschränkt bleiben. Die europäische Peripherie ist noch instabiler geworden, auch aufgrund des machtpolitischen Ringens um Einfluss. China stellt die westlichen Staaten vor die Herausforderung, wie mit diesem Land politisch und wirtschaftlich umzugehen ist. Russland fordert die europäischen
Staaten und die USA sicherheitspolitisch weiterhin stark heraus.

Insgesamt hat die Schutzwirkung des geo-grafischen und politischen Umfelds der Schweiz in den vergangenen Jahren abgenommen.

2.3

Bedrohungslage Schweiz

Nachfolgend werden die einzelnen Bedrohungen für die Schweiz diskutiert. Dabei ist zu beachten, dass die einzelnen Bedrohungen gleichzeitig, koordiniert und sich wechselseitig verstärkend auf die Schweiz einwirken und das politische System der Schweiz, ihre Bevölkerung und ihre Lebensgrundlagen gefährden können.

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2.3.1

Bedrohungen aus dem Cyberraum

Cyberangriffe werden zu unterschiedlichen Zwecken durchgeführt: für Spionage, Sabotage, Manipulation, Desinformation oder für kriminelle Zwecke. Dahinter stehen Akteure wie Cyberkriminelle, Hacktivistinnen und Hacktivisten, profitorientierte Hacking-Firmen, staatliche Tarnfirmen oder staatliche Organisationen. Einige Staaten bauen ihre Fähigkeiten im offensiven Cyberbereich stark aus, sei dies über eine Aufrüstung eigener Kapazitäten oder über die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Gruppen. Es ist deshalb mit einer Zunahme von staatlichen Cyberangriffen mit unklarer Täterschaft zu rechnen. Die Bedrohung im Cyberraum wächst aber auch wegen der zunehmenden Bereitschaft, Cybermittel in Konflikten offensiv einzusetzen, und wegen abnehmender Skrupel von Cyberkriminellen, Schäden in Kauf zu nehmen.

Seit einigen Jahren ist eine Ausweitung der offensiven Cyberaktivitäten Russlands, Chinas und des Irans zwecks Spionage in der Schweiz zu beobachten. Die von chinesischen und russischen Cyberangriffen ausgehende Bedrohung für wirtschaftliche und politische Ziele in der Schweiz bleibt weiterhin hoch. Zu den Zielen gehören unter anderem die Behörden, die Armee, die in Genf ansässigen internationalen Organisationen und ausländische Vertretungen sowie der Finanz- und Technologiesektor. Im kriminellen Bereich gibt es zunehmend Angriffe mit Verschlüsselungstrojanern (sog.

Ransomware), bei denen Daten verschlüsselt und damit unbrauchbar gemacht werden.

Solche Angriffe können ganze Systeme und Unternehmen weitgehend lahmlegen.

Die Bedrohungslage im Cyberbereich wird massgeblich von der Digitalisierung von Geschäfts- und Produktionsprozessen beeinflusst. Treiber sind neue Technologien wie Industrie 4.0, digitale Haustechnik oder vernetzte Stadtinfrastrukturen, die durch die Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G weitere Entwicklungsmöglichkeiten erhalten. Damit einher geht eine verstärkte Delegation von bislang von Menschen kontrollierten Prozessen an Systeme der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT). Entscheidkompetenzen für Prozesse mit teils auch physischen Auswirkungen werden vermehrt auch bei kritischen Infrastrukturen an digitale Systeme übertragen, die selbstständig Steuerungsentscheide fällen. Mit der Verkettung von Entscheiden, die aufeinander aufbauen, werden zunehmend komplexe
Entscheidungsabläufe von autonomen IKT-Systemen ausgeführt. Diese Abläufe werden nicht mehr notwendigerweise vom eigentlichen Betreiber kontrolliert; sie können an aussenstehende Leistungserbringer ausgelagert sein.

Mit der Digitalisierung von Geschäftsprozessen bilden die dazu benötigten Hard- und Softwarelösungen eine zentrale und kritische Komponente. Die Herkunftsländer der Hersteller werden sich dabei in den nächsten Jahren weiter auf einige wenige Staaten, namentlich die USA und China, beschränken. Diese kontrollieren damit die globale IKT-Lieferkette und verfügen in Standards setzenden internationalen Gremien wie der International Telecommunication Union über grossen Einfluss. Als Folge von Exportkontrollmassnahmen und Sanktionen der USA zeichnet sich die Bildung zweier voneinander abgegrenzter Räume ab. Im Extremfall könnte dies bedeuten, dass die Schweiz sich künftig auf die Kooperation mit einem der beiden Länder, den USA oder China, und ihren oder dessen Partnern beschränken müsste, mit all den damit verbundenen Abhängigkeiten.

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Die starken systemischen Interdependenzen und Abhängigkeiten von globalen Lieferketten führen zu erhöhter Verwundbarkeit und der Vermehrung von Effekten, die von Cybervorfällen ausgelöst werden können. Damit erhöht sich auch die Gefährdung für kritische Infrastrukturen, die selbst bei Cybervorfällen, die nicht direkt auf ihre Schädigung zielen, Schaden nehmen können.

2.3.2

Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation

Beeinflussungsaktivitäten zielen darauf ab, die Wahrnehmung, das Denken und das Handeln von Individuen, Gruppen und Gesellschaften zu manipulieren.

Sicherheitspolitisch relevant sind Beeinflussungsaktivitäten, wenn sie von Staaten ausgehen und sich gegen das Funktionieren eines Staats und einer Gesellschaft richten und darauf abzielen, die demokratische Ordnung eines Staats zu unterminieren. Es kann darum gehen, Entscheidungsfindungsprozesse zu verzögern, Entscheidungen in eine gewünschte Richtung zu lenken oder generell das Vertrauen in demokratische Prozesse und staatliches Handelns zu untergraben.

Solche Aktivitäten umfassen den koordinierten Einsatz legaler und illegaler Mittel und Methoden, Aktivitäten im Bereich Kommunikation, Propaganda und Desinformation, verdeckte Aktionen von Nachrichtendiensten und die Ausübung politischen, wirtschaftlichen und militärischen Drucks. Dies grenzt Beeinflussungsaktivitäten auch von üblicher Interessenvertretung im Rahmen der Diplomatie ab.

Mit dem bewussten und massiven Einsatz von falschen, in einen falschen Zusammenhang gesetzten oder auf andere Art manipulierten Informationen richten sich Beeinflussungsaktivitäten vor allem gegen offene und demokratische Gesellschaften, die auf einem redlichen Wettstreit der Ideen auf einer gemeinsamen Faktenbasis beruhen.

Angesichts der machtpolitischen Konfrontationen muss die Schweiz davon ausgehen, dass das Risiko wächst, dass Gesellschaft und Behörden zum Ziel von Beeinflussungsaktivitäten werden. Die Schweiz ist als Staat in Europa und Teil der westlichen Wertegemeinschaft sowie wegen ihrer starken internationalen wirtschaftlichen und politischen Vernetzung bereits heute indirekt Ziel von allgemeinen, auf westliche Staaten abzielenden Aktivitäten. Es besteht zudem das Risiko, dass das Territorium der Schweiz als Drehscheibe für Beeinflussungsagentinnen und -agenten missbraucht wird, um aus der Schweiz heraus Beeinflussungsaktivitäten gegen Drittstaaten oder gegen internationale Organisationen durchzuführen oder zu finanzieren.

Hervorzuheben ist dabei das Bedrohungspotenzial von Beeinflussungsaktivitäten für die Schweiz als aussenpolitische Akteurin und als Standort zahlreicher internationaler Organisationen. So wurden in der Vergangenheit Schweizer Institutionen und in der Schweiz angesiedelte internationale
Organisationen Ziel russischer Beeinflussungsaktivitäten. Dies stand im Zusammenhang mit politischen und nachrichtendienstlichen Vorgängen, die vordergründig nicht die Schweiz betrafen. Bei den breit angelegten Beeinflussungsaktivitäten im Kontext der versuchten Tötung des russischen Agenten Skripal wurde das Labor Spiez zum Ziel solcher Aktionen. Ebenso standen internationale Sportorganisationen im Fokus russischer Aktivitäten.

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Bislang standen für die Schweiz im Zusammenhang mit Beeinflussungsaktivitäten Russland und China im Vordergrund. Diese Staaten verfolgen mit ihren Beeinflussungsaktivitäten nicht dieselben Ziele und setzen entsprechend unterschiedliche Mittel ein. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft auch weitere Staaten in der Lage und willens sind, derartige Aktivitäten gegen die Schweiz und in der Schweiz durchzuführen.

2.3.3

Terrorismus

In der Schweiz wurden Personen und Zellen entdeckt, die in Verbindung standen mit dem «Islamischen Staat». Einig Personen wurden wegen der Beteiligung an Planungen für Anschläge von Schweizer Territorium aus verurteilt. Die Untersuchungen der schweizerischen Behörden haben gezeigt, dass dschihadistisch motivierte Reisende aus der Schweiz in die Planung für Anschläge auf Infrastrukturen auf unserem Territorium involviert waren. Die Propaganda von dschihadistischen Gruppierungen kann einzelne Personen, die oft in sozial prekären Situationen leben oder psychische Problemen haben, zu Gewalttaten in der Schweiz inspirieren.

Wie es die Anschläge in Morges (12. September 2020) und Lugano (24. November 2020) gezeigt haben, geht die wahrscheinlichste Terrorbedrohung in der Schweiz von Personen aus, deren gewalttätige Orientierung ebenso in persönlichen und psychischen Krisen wie in ideologischen Überzeugungen wurzelt. Die radikalisierten Personen, die am ehesten zur Ausübung von Gewalttaten neigen, sind von dschihadistischer Propaganda inspiriert, ohne notwendigerweise direkte Kontakte zu solchen Gruppierungen oder Organisationen zu haben. Diese Art von Anschlägen bleibt eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden.

Das Spektrum von möglichen Anschlägen reicht von einfachen Angriffen, ausgeführt von isolierten Individuen oder kleinen Gruppen, bis zu logistisch komplexen Operationen (z. B. mit Verwendung von biologischen Kampfstoffen oder Drohnen). Die von isolierten Individuen oder kleinen Gruppen verübten Anschläge, die vom Dschihadismus inspiriert sind und nur wenig logistische Mittel benötigen, erfolgen unabhängig von den Kapazitäten des Islamischen Staats oder der Al-Qaïda als Organisation. In der Regel agieren solche Einzelpersonen oder kleinen Gruppen spontan, ohne Direktiven oder finanzielle Unterstützung von aussen. Sogar komplexere, grössere Angriffe mit Hilfe von Explosivstoffen, chemischen Produkten wie giftigen Gasen (z. B. Chlor) oder anderen giftigen Substanzen (z. B. Rizin) benötigen nur wenig Mittel und Ressourcen.

Die dschihadistisch motivierte Terrorbedrohung für die Schweiz hält an. Die Ideologie, die junge Menschen aus Europa für die Reise nach Syrien und in den Irak mobilisiert hat, ist immer noch lebendig, dies trotz der Zerstörung des durch den Islamischen Staat ausgerufenen
Kalifats. Zudem werden die gewaltsamen Konflikte, die zur Entstehung verschiedener dschihadistischer Gruppierungen geführt haben, in nächster Zeit wahrscheinlich nicht enden. Die Bedrohung durch solche Akteure wird deshalb in den nächsten Jahren weiterbestehen. Dschihadistisch motivierte Reisende bleiben eine Bedrohung für die innere und äussere Sicherheit der Schweiz. Ihre mögliche Rückkehr stellt die Behörden auf allen Ebenen vor Herausforderungen (Rechts-, Integrations- und Sicherheitsfragen).

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Es ist davon auszugehen, dass die Schweiz weiterhin ein sekundäres Ziel für Anschläge von dschihadistischen Gruppierungen bleibt, ausser es würden in solchen Kreisen politische Entscheide als feindlich gegenüber Musliminnen und Muslimen oder dem Islam wahrgenommen werden. Jedoch können internationale Organisationen sowie Einrichtungen oder Personen von Drittstaaten, die auf internationaler Ebene eine massgebliche Rolle im Kampf gegen den Terrorismus spielen, Ziele von Angriffen auf Schweizer Territorium sein.

Schweizer Einrichtungen oder Personen im Ausland können jederzeit Ziel sein von opportunistischen oder zufälligen Aktionen dschihadistischer Gruppierungen, beispielweise in Nordafrika oder in der Sahel-Region. Die dschihadistische Bedrohung wird sich wahrscheinlich weiter ausdehnen und könnte auch Staaten betreffen, die bisher davon verschont geblieben sind, wie die Staaten im Golf von Guinea. Gleichzeitig werden im Nahen und Mittleren Osten dschihadistische Gruppierungen angesichts der dortigen Spannungen und Konflikte, aber auch der erschwerten ökonomischen und sozialen Bedingungen weiterhin eine Bedrohung für zahlreiche Staaten darstellen.

Trotz dieser Entwicklungen werden Terrorgruppierungen mit unterschiedlichem ideologischem Hintergrund das Territorium der Schweiz weiterhin vor allem für Aktivitäten zur Rekrutierung, Propaganda sowie logistischen und finanziellen Unterstützung nutzen.

2.3.4

Gewalttätiger Extremismus

Aktuell werden drei Szenen als gewalttätig-extremistisch erachtet: jene der Linksextremen, der Rechtsextremen und des monothematischen Extremismus (darunter fallen derzeit Teile der Tierrechtsbewegung und der Gegner der behördlichen Massnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie). Bislang liegt die Ausübung von Gewalt in diesen drei Bereichen unterhalb der Schwelle des Terrorismus.

Die rechts- und die linksextreme Szene könnten die Ausübung von Gewalt allerdings verstärken und die Intensität der Gewaltanwendung erhöhen; aus ihnen heraus könnten sich Terrorgruppierungen entwickeln. Auch wenn aktuell die Motivation innerhalb dieser Gruppen fehlt, so sind das Gewaltpotenzial sowie die taktischen und technischen Kenntnisse dazu vorhanden. Auch könnten Individuen, die nicht direkt zu diesen Strukturen gehören, aber ihre Ideologie teilen, rasch zu gewalttätigen Aktionen schreiten. Auch wenn solche Personen ihre Tat allein planen und ausführen, sind sie von gesellschaftlichen Strömungen beeinflusst, können Kontakte zu anderen radikalisierten Personen pflegen und sich mit anderen extremistischen Personen oder Gruppierungen austauschen.

Eine solche Entwicklung vom gewalttätigen Extremismus in Richtung Terrorismus ist in verschiedenen europäischen Ländern zu beobachten. So gibt es etwa häufigere Angriffe von Einzelpersonen mit rechtsextremer Gesinnung, und die dabei verwendeten Mittel gleichen vermehrt solchen, die als terroristisch qualifiziert werden können.

Es besteht das Risiko, dass die Schweiz in den nächsten Jahren auch mit diesem Phänomen konfrontiert sein wird.

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Andere Bewegungen könnten in den nächsten Jahren ebenfalls dazu übergehen, ihre politischen Ideen mit dem Einsatz von Gewalt zu verfolgen ähnlich wie dies aktuell bei der gewalttätigen coronaextremen Szene beobachtet werden kann. Anhängerinnen und Anhänger von extremen Ansichten und Ideologien könnten sich radikalisieren, falls sie ihre Anliegen im Rahmen der ordentlichen politischen Prozesse als nicht berücksichtigt erachten. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie könnten solche Tendenzen noch verstärken.

2.3.5

Bewaffneter Konflikt

Immer häufiger werden Konflikte hybrid geführt, beispielsweise durch den Einsatz von nicht gekennzeichneten Truppen oder Cybermitteln und Desinformation. Aber auch die direkte Androhung oder Anwendung bewaffneter Gewalt durch staatliche Akteure bleibt in Europa eine Realität.

Die Konfrontation zwischen Russland und westlichen Staaten ist kein kurzfristiges Phänomen. Russland und die Nato sind zwar bemüht, einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden, das Risiko dafür ist jedoch in den letzten Jahren gestiegen. Russland hat sein militärisches Potenzial deutlich verstärkt und strebt an, im Westen Krieg gegen einen starken konventionellen Gegner führen zu können. Dies widerspiegelt sich auch in den Szenarien der jährlichen strategischen Grossübungen. Auch die Nato und bündnisfreie europäische Staaten richten sich wieder stärker auf einen konventionellen Konflikt aus.

Ein schwerwiegender Krisenfall an der Nato-Ostgrenze würde zu einer grossen Herausforderung für Europa und könnte zu politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Instabilitäten führen, ebenso zu Ausfällen der Versorgungsketten sowie Migrationsbewegungen. Ein Konflikt zwischen der Nato und Russland könnte sich aber auch aufgrund einer Eskalation an der europäischen Peripherie ergeben ­ mit denselben Konsequenzen. In einem eskalierenden Krisenfall in Europa könnte Russland an der Nato-Ostgrenze mit militärischen Mitteln Fakten schaffen. Die Herstellung des Status quo ante wäre dann nur mit einer weiteren Eskalation des Konflikts möglich.

Eine direkte militärische Bedrohung durch einen terrestrischen Angriff auf die Schweiz ist kurz- und mittelfristig unwahrscheinlich. Die Auswirkungen eines solchen Angriffs wären jedoch derart gravierend, dass dies nicht vernachlässigt werden darf. Im Falle eines bewaffneten Konflikts zwischen der Nato und Russland könnte sich für die Schweiz aber mit zunehmender Konfliktdauer eine direkte Bedrohung ergeben, falls eine der Konfliktparteien mit militärischen Mitteln wirtschaftliche, politische oder militärische Konzessionen von der Schweiz erzwingen wollte. Ein Gegner könnte dabei Abstandswaffen, Sonderoperationskräfte und Cybermittel gegen militärische und zivile Ziele in der Schweiz zum Einsatz bringen oder den Einsatz androhen. Ein direkter terrestrischer Vorstoss gegen die Schweiz ist hingegen auch in einem solchen Szenario unwahrscheinlich.

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Durch die zunehmende hybride Art der Konfliktführung wäre die Schweiz als Teil der europäischen Staatengemeinschaft jedoch auch bei einem bewaffneten Konflikt ausserhalb der Schweiz auf dem europäischen Kontinent oder an seiner Peripherie direkt betroffen (auch ohne Beteiligung Russlands oder der Nato). Auf jeden Fall bestünde in einem solchen Szenario eine Bedrohung der Schweiz durch Cyberangriffe, Sabotage, Desinformation, Subversion, den Missbrauch von Schweizer Territorium für logistische Unterstützung sowie Spionage. Es wäre ebenso damit zu rechnen, dass die Schweiz sich mit Fragen zur Neutralität im Zusammenhang mit der Nutzung des Territoriums und des Luftraumes für militärischen Transit auseinandersetzen müsste.

Aufgrund ihrer zentralen Lage in Europa und ihrer Anbindung an verschiedene europäische kritische Infrastrukturen (z. B. Elektrizität, Kommunikation, Verkehr) ist die Schweiz auf das reibungslose Funktionieren dieser Infrastrukturen ihrer Nachbarn angewiesen. Ein Angriff auf die zivilen kritischen Infrastrukturen eines europäischen Landes könnte daher auch die Schweizer Infrastrukturen betreffen. Eine Gefährdung bestünde auch für Schweizer Staatsangehörige im Krisengebiet. Wie rasch Schweizer Interessen in Krisengebieten bedroht sein können, hat sich bei der Eskalation in Afghanistan im August 2021 gezeigt, als eine Evakuation von Schweizer Staatsangehörigen sowie Personen mit Bezug zur Schweiz nötig wurde.

Ein bewaffneter Angriff auf die Schweiz oder auf andere europäische Länder könnte auch von ausserhalb Europas über grosse Distanz geführt werden. Dafür kommen insbesondere ballistische Lenkwaffen, Marschflugkörper und Hyperschallwaffen in Frage. Derzeit sind nur wenige Staaten zu solchen Angriffen fähig, und bei diesen sind keine entsprechenden Absichten erkennbar oder zu erwarten. Die Verbreitung solcher Waffensysteme wird aber fortschreiten. Ein Angriff auf die Schweiz mit weitreichenden Waffen wird zwar für die nächsten Jahre als nicht wahrscheinlich erachtet, die Libyen-Krise 2008­2010 hat aber gezeigt, wie ein Staat ohne lange Vorwarnung drastische Massnahmen gegenüber der Schweiz ergreifen kann. Falls ein derartiger Akteur über weitreichende Waffen verfügt, könnte er die Schweiz auch mit militärischen Mitteln bedrohen und erpressen.

2.3.6

Entwicklung und Weiterverbreitung von Waffensystemen

Die Rüstungskontrolle und Abrüstung wurde in den vergangenen Jahren durch Verstösse gegen bestehende Abkommen und vor allem durch die Kündigung wichtiger Abkommen durch Grossmächte stark geschwächt.3 Es ist möglich, aber keineswegs sicher, dass der Regierungswechsel in Washington zu einer Trendumkehr führen wird.

Die Bestände an Kernwaffen der Grossmächte sind quantitativ stabil, werden jedoch qualitativ weiterentwickelt. Die zunehmenden Spannungen haben dazu geführt, dass

3

Insbesondere das Nuklearabkommen mit dem Iran (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPoA), der Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty, INF) und der Vertrag über den «offenen Himmel» zur Zulassung von Überwachungsflügen (Open Skies Treaty).

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bedeutende Investitionen in die Modernisierung der Waffenarsenale und die Entwicklung neuer Trägersysteme getätigt wurden. Hyperschallwaffen könnten besonders destabilisierend sein. Es gibt gegen sie keine wirksame Abwehr, sie verwischen die Trennlinie zwischen nuklearer und konventioneller Rüstung und ihre Geschwindigkeit bedeutet, dass ein Staat bei einem Anzeichen von Angriffen mit solchen Waffen aus Zeitnot sofort zurückschlagen muss, was das Risiko von Irrtürmern erhöht.

Im Bereich der Marschflugkörper ist eine qualitative Erhöhung des Bedrohungspotenzials (vor allem eine Verbesserung der Überlebensfähigkeit) wie auch eine weitere Verbreitung solcher Waffen zu erwarten. Insbesondere Russland baut solche Systeme, die auch die Schweiz bedrohen könnten, weiter aus. Es steigert auch markant die Anzahl der Einsatzplattformen für Marschflugkörper (U-Boote, Überwasserkampfschiffe). Weitere Staaten werden Marschflugkörper beschaffen, in deren Reichweite die Schweiz liegen wird; es sind dies jedoch konventionell bestückte Flugkörper.

Einige nichtstaatliche Akteure verfügen ebenfalls über Marschflugkörper und ballistische Lenkwaffen von allerdings nur kurzer Reichweite.

Weitere Staaten werden die Fähigkeit zur vernetzten Kriegführung in entfernten Operationsgebieten gewinnen. Die dafür notwendige Entwicklung leistungsfähiger Sensorik und Drohnen schreitet weltweit voran.

Die Schweiz als innovativer Forschungs- und Industriestandort ist vom Risiko der Weiterverbreitung von Technologie für hochtechnologische Waffen betroffen und muss weiterhin Massnahmen umsetzen, um eine solche Proliferation zu verhindern.

Die Schweizer Industrie verfügt über Fähigkeiten in den Materialwissenschaften, die z. B. für die Entwicklung von Hyperschallwaffen wichtig sind. Robotik und zivile Drohnenentwicklung in der Schweiz können fremden militärischen Entwicklungen zudienen. Präzisionsinstrumente gehören seit je zu den Kernkompetenzen der Schweizer Wirtschaft. Um Zugang zu Technologie zu erhalten, beschaffen ausländische Staaten nicht nur einzelne Güter, sondern kaufen Technologieträger auf oder bieten Schweizer Hochschulen attraktive Kooperationsabkommen an. Dabei kann es auch dazu kommen, dass dies für Entwicklungen genutzt wird, welche die Schweiz gefährden.

2.3.7

Verbotener Nachrichtendienst

Die Schweiz ist als Sitz internationaler Organisationen und multinationaler Konzerne, Ort internationaler Verhandlungen, Finanz- und Handelsplatz und Standort von Technologie und Forschung ein attraktives Spionageziel. Zudem können Nachrichtendienste Schweizer Interessen direkt bedrohen, indem sie Angehörige des diplomatischen Korps, der Armee, der Gemeinde-, Kantons- und Bundesbehörden, Journalistinnen und Journalisten, Forscherinnen und Forscher, Wirtschaftsmanagerinnen und -manager sowie exponierte Personen bestimmter Diasporagemeinschaften ins Visier nehmen.

Die Schweiz wird auch künftig von verbotenem Nachrichtendienst betroffen sein.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Ressourcen und Fähigkeiten der Nachrichtendienste weltweit ausgebaut werden. In diesem Zusammenhang werden auch offensive Cybermittel kontinuierlich weiterentwickelt. Die Digitalisierung schafft 23 / 50

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neue Möglichkeiten, sensible Informationen zu stehlen oder Informationssysteme zu sabotieren. Es ist damit zu rechnen, dass der in den letzten Jahren beobachtete Anstieg von Cyberangriffen mit staatlicher Urheberschaft zu Spionagezwecken weitergehen wird.

2.3.8

Schwere und organisierte Kriminalität

Die Kriminalität in der Schweiz ist geprägt von den sich rasch entwickelnden technologischen Möglichkeiten. Die kriminelle Welt passt ihre Arbeitsweisen an und nutzt diese neuen Instrumente. Bei digitaler Kriminalität (Cybercrime) werden moderne Technologien wie Internetdienste, soziale Medien und Verschlüsselung eingesetzt, insbesondere für Vermögensdelikte. Diese können sowohl von organisierten kriminellen Gruppierungen als auch von Täterschaften mit tieferem Organisationsgrad begangen werden.

Die Bedrohung in der organisierten Kriminalität geht vor allem von italienischen Mafia-Organisationen aus, die landesweit aktiv sind und die die rechtsstaatlichen Institutionen der Schweiz und den Schweizer Finanzplatz erheblich gefährden. Sie sind durch ihre langjährige und starke Präsenz, familiäre Bindungen in der Schweiz und die sprachliche Nähe in der Lage, Verwaltung und Wirtschaft zu infiltrieren.

Ein erhöhtes Bedrohungspotenzial für die Schweiz besteht ausserdem durch kriminelle Gruppierungen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Sie verfügen oft über beträchtliche wirtschaftliche Mittel und teilweise politischen Rückhalt in ihren Herkunftsstaaten. Sie sind in Deliktsbereichen aktiv, für welche die Schweiz wegen ihres attraktiven Finanzplatzes besonders anfällig ist (z. B. Geldwäscherei) oder welche die Funktion der Behörden direkt tangieren (z. B. Korruption). Aus der grossen Bedeutung des Schweizer Finanzplatzes für die Machtelite dieser Staaten ergeben sich neben sicherheitspolitischen auch aussenpolitische Risiken.

Von kriminellen Gruppierungen aus Südosteuropa geht ebenfalls eine erhebliche Gefährdung aus. Diese Gruppierungen dominieren bestimmte Kriminalitätsformen wie den Drogen- und Menschenhandel, sind sehr gewaltbereit und gut organisiert.

Wesentliche Änderungen in der Bedrohungslage Zugenommen haben insbesondere Bedrohungen hybrider Art, so etwa aus dem Cyber- und Informationsraum durch Spionage, Beeinflussungsaktivitäten und digitale Kriminalität. Technologische Entwicklungen und die Erosion von Rüstungskontrollinstrumenten erhöhen die Proliferationsrisiken und das Missbrauchspotenzial von Technologien, die in der Schweiz erforscht oder hergestellt werden. Die Bedrohungen durch Terrorismus und organisierte Kriminalität bleiben bestehen. Die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung
kann zur Verschärfung der Bedrohung durch gewalttätigen Extremismus beitragen. Die Schweiz sieht sich derzeit keiner direkten Bedrohung durch einen direkten militärischen Angriff gegenüber; eine solche könnte sich jedoch im Verlauf einer militärischen Konfrontation zwischen der Nato und Russland ergeben. Im Vordergrund stünden

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in einem solchen Fall wahrscheinlich der Einsatz von Präzisionswaffen, Sonderoperationskräften sowie Cyberattacken auf militärische und zivile Ziele. Die Schweiz, ihre Bevölkerung und ihre Lebensgrundlagen können aber auch bei bewaffneten Konflikten an der Peripherie Europas auf vielfache Art betroffen sein.

2.3.9

Katastrophen und Notlagen

Katastrophen und Notlagen sind Ereignisse und Situationen, die so grosse Schäden oder Störungen verursachen, dass Personal und Material der betroffenen Gemeinschaft zur Bewältigung nicht ausreichen. Sie können natur-, technik- und gesellschaftsbedingte Ursachen haben. Katastrophen treten plötzlich auf (z. B. Erdbeben, Stromausfall), Notlagen hingegen bahnen sich oft über längere Zeit an und dauern länger (z. B. Hitzewelle, Strommangellage oder Pandemie). Dabei besteht auch das Risiko von parallelen Katastrophen im Naturgefahrenbereich (Vegetationsbrand, Hochwasser, Trockenheit, Hitzewelle, Erdbeben etc.) und von Notlagen wie zum Beispiel einer Pandemie.

Die Covid-19-Pandemie hat deutlich gemacht, wie verletzlich die Schweiz gegenüber Katastrophen und Notlagen ist. Es ist zu erwarten, dass sich das Risiko für ähnliche Ereignisse in den kommenden Jahren aufgrund verschiedener Trends wie Klimawandel, Urbanisierung oder Digitalisierung erhöht. Die Schweiz gehört zudem zu den am dichtesten besiedelten Staaten in Europa. Dies führt zu einer hohen Konzentration an Infrastrukturen, was hohe Schäden zur Folge haben kann, wenn diese beeinträchtigt oder zerstört würden, z. B. durch Erdbeben oder Hochwasser.

Überall in der Schweiz ist man mit Naturgefahren konfrontiert. Aufgrund des Klimawandels nehmen die Häufigkeit und die Intensität von Ereignissen wie Starkniederschlägen, Hochwasser, Hitzewellen, aber auch längeren Trockenperioden zu. Trockenheit und Hitzewellen wie 2015 und 2018 werden in der Schweiz infolge des Klimawandels wahrscheinlich häufiger und intensiver auftreten. Hitzewellen gehören dabei zu den grössten Gefährdungen für die Schweiz. Durch Hitzewellen und Trockenheit ausgelöste Vegetationsbrände sowie durch Starkniederschläge verursachte Hochwasser sind ebenfalls Gefährdungen, die sich häufen dürften. Winterstürme dürften weiterhin grosse Schäden verursachen. Hanginstabilitäten, verschärft durch den Klimawandel mit häufigeren starken Niederschlägen, führen zu Rutschungen und Murgängen, die ebenfalls Siedlungsgebiete und Infrastrukturen schädigen können.

Fels- und Bergstürze sind eine wachsende Gefahr. Obwohl die Schweiz eine geringe bis mittlere seismische Aktivität aufweist, gehören Erdbeben wegen des damit verbundenen Schadenpotenzials zu den grössten Risiken bezüglich Naturkatastrophen
in der Schweiz.

Für technikbedingte Gefahren ist wesentlich, dass die Abhängigkeit der Gesellschaft von kritischen Infrastrukturen (z. B. Stromversorgung, Verkehr, Mobilfunk) zunimmt. Ausfälle, Störungen oder Unfälle, verursacht durch technische Fehler, Cyberangriffe, Naturereignisse, Sabotage oder Fehlhandlungen, haben zunehmend gravierende Auswirkungen. Die fortschreitende Digitalisierung, verbunden mit dem Wegfallen oder Fehlen funktionierender Rückfallebenen, kann die Krisenbewältigung 25 / 50

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erschweren. Die möglichen Auswirkungen umfassen Umweltverschmutzung, Störfälle in Produktionsanlagen, Ausfälle in der Versorgungs-, Verkehrs-, Informationsund Kommunikationsinfrastruktur sowie Verunreinigungen von Lebensmitteln und Trinkwasser; bei langanhaltenden Stromausfällen kann es auch zu erhöhter Kriminalität oder Unruhen kommen. Die Kombination oder Verkettung von Ereignissen ist ein besonders grosses Risiko. Beispielsweise führt eine Kombination von niedrigen Pegelständen, einem Ausfall von Kraftwerken und Stromimportrestriktionen über mehrere Wochen mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einer Strommangellage.

Die Verletzlichkeit nimmt unter anderem wegen der zunehmenden Konvergenz der verschiedenen Sektoren zu. Auch aus raumplanerischen Gründen werden Energie-, Verkehrs- und Telekommunikationsnetze vermehrt gebündelt. Dadurch können beispielsweise Cyberangriffe oder Sabotageakte gleichzeitig mehrere Sektoren und Infrastrukturbereiche treffen und zu grossflächigen und sektorenübergreifenden Ausfällen führen.

Gesellschaftsbedingte Katastrophen und Notlagen können komplexe und weitreichende Auswirkungen haben, wie die Covid-19-Pandemie deutlich gezeigt hat. Eine schwere Pandemie mit gravierenden Konsequenzen kann jederzeit wieder auftreten.

Pandemien zählen damit neben einer grossflächigen, mehrwöchigen Strommangellage zu den grössten Risiken für die Schweiz im Bereich Katastrophen und Notlagen.

Neben Pandemien, die direkt den Menschen bedrohen, haben auch Tierseuchen wie etwa die Afrikanische Schweinepest ein grosses Schadenpotenzial. Abgesehen von diesen gesundheitlichen Gefährdungen können auch Terroranschläge ­ sowohl konventioneller Art als auch mit nuklearen, biologischen oder chemischen Mitteln ­ oder komplexe Cyberangriffe zu Katastrophen und Notlagen führen.

Wesentliche Änderungen bei Katastrophen, Notlagen und anderen Grossereignissen Vor allem die gesellschaftsbedingten Gefahren haben sich akzentuiert, mit der Covid-19-Pandemie als eindrücklichem Beispiel. Aber es ist zu erwarten, dass sich wegen des Klimawandels auch Naturkatastrophen weiter häufen werden.

Dabei sind extreme Starkniederschläge ebenso möglich wie Notlagen durch anhaltende Trockenheit und Hitzewellen. Die Wahrscheinlichkeit von technikbedingten Katastrophen konnte zwar in den letzten fünf Jahren durch präventive
Massnahmen tendenziell gesenkt werden, wegen der Verdichtung von Agglomerationen und Infrastrukturen sowie komplexer Versorgungsketten und der Cyberrisiken haben die Verletzlichkeiten aber gleichzeitig zugenommen.

2.3.10

Sicherheitspolitische Aspekte der Migration

Die Migration ist an sich keine sicherheitspolitisch relevante Bedrohung für die Schweiz, kann aber sicherheitspolitisch bedeutsame Begleiterscheinungen zur Folge haben, z. B. Menschenschmuggel und -handel, Kriminalität, gewalttägiger Extremismus und Terrorismus. Insbesondere die Migration aus Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrika birgt das Risiko, dass dschihadistische Akteurinnen 26 / 50

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und Akteure eingeschleust werden. Viele europäische Staaten, darunter auch die Schweiz, haben aber ihre Kontrollen bei Asylsuchenden mit Fokus auf mögliche Dschihadistinnen und Dschihadisten verschärft. Zudem sind viele Migrationsrouten nicht mehr so offen und durchlässig; die Transitländer auf den wichtigsten Migrationsrouten haben ihre Grenzkontrollen verbessert, und auch die Kontrolle an den Aussengrenzen der EU wurde verstärkt.

Auslöser der globalen Migration sind in den Herkunftsländern militärische, ethnische oder religiöse Konflikte, soziale Spannungen, schlechte Sicherheitslagen, politische Verfolgung, das Bevölkerungswachstum in Ländern mit niedrigem Einkommen, schlechte Wirtschaftslagen, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Armut und fehlende Bildungsmöglichkeiten. Auch Klimaveränderungen werden mittel- bis langfristig zu vermehrter Migration führen. In den Zielländern fördern Arbeitskräftebedarf bei einer alternden Bevölkerung in Ländern mit hohem Einkommen, Familienzusammenführungen, bestehende Diasporagemeinschaften, politische Sicherheit, gute Sicherheitslage und Bildungsmöglichkeiten die Immigration. Die Covid-19-Pandemie dürfte praktisch in allen Staaten zu einer Verschlechterung der Wirtschaftslage und höherer Arbeitslosigkeit führen. Sie wird sich aber auf viele Staaten Afrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens stärker auswirken und könnte deshalb innerhalb von ein bis drei Jahren zu einer gesteigerten Migration führen.

Asylsuchende flüchten in erster Linie in die umliegenden Länder. Europa und die Schweiz bleiben aber ein wichtiges Ziel für Migration vor allem aus Ländern des Nahen und Mittleren Osten und Afrika. Für die Schweiz bleibt die Migration auf der zentralen Mittelmeerroute (primär von Libyen nach Italien) wegen der geografischen Gegebenheiten prioritär. Zweitwichtigste Route ist die östliche Route via Mittelmeer und Balkan. Die westliche Route (Meerenge von Gibraltar und Kanarische Inseln) nimmt für die Migration nach Westeuropa zwar insgesamt an Bedeutung zu, ist aber hinsichtlich der Sekundärmigration in die Schweiz von geringer Bedeutung. Aus geografischen Gegebenheiten werden dies die drei Hauptrouten über das Mittelmeer bleiben. Jedoch ist von einer (weiteren) Diversifizierung der Routen und einer Anpassung der Schleppernetzwerke und Methoden auf die jeweiligen
Massnahmen der Transit- und Zielländer auszugehen. Alternative Routen, z. B. eine nördliche Route über Russland und Finnland, sind oft zu beschwerlich und wurden bisher von zu wenigen Migrantinnen und Migranten genutzt, als dass sie sich als Hauptrouten hätten etablieren können. Gänzlich ausschliessen lässt sich die Entstehung neuer Routen jedoch nicht, namentlich dann, wenn weitere Staaten Migration als Druckmittel gegen Europa einsetzen wollen. Migration auf dem Luftweg, wie z. B. aus Südamerika, bleibt für die Schweiz zumindest kurz bis mittelfristig eher vernachlässigbar.

Offen ist, ob neben der Türkei auch andere europäische Staaten Migration als Druckmittel einsetzen werden. Derweil kann davon ausgegangen werden, dass das Dubliner Abkommen Bestand haben wird ­ dieses hat sich in der Perspektive namentlich mehrerer wichtiger EU-Staaten als wirksames Mittel für den Umgang mit Migration nach Europa bewährt. Scheitern die Bestrebungen für nachhaltige Lösungen an den Schengen-Aussengrenzen sowie eine Reform des Dublin-Systems, so dürfte dies die Fähigkeit Europas zur Bewältigung von Migrationsbewegungen schwächen und Europa gegenüber einer machtpolitischen Ausnutzung solcher Bewegungen verwundbarer machen.

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Wesentliche Veränderungen bei sicherheitspolitischen Aspekten der Migration Migration ist nicht in erster Linie eine sicherheitspolitische Herausforderung; sie kann aber, im Zusammenhang mit Menschenhandel, Kriminalität, gewalttätigem Extremismus und Terrorismus, sicherheitsrelevante Auswirkungen haben.

Entlang der Migrationsrouten wurden an den Aussengrenzen des SchengenRaums die Massnahmen zur Kontrolle der Migration verstärkt. Die Ursachen vor Ort, die zu Migration führen, bleiben aber bestehen. Die Konsequenzen des Klimawandels werden Migrationsbewegungen voraussichtlich verstärken.

3

Sicherheitspolitische Interessen und Ziele

3.1

Prinzipien für die Sicherheitspolitik der Schweiz

Die Schweizer Sicherheitspolitik basiert auf Prinzipien, die für Kontinuität und Berechenbarkeit sorgen. Sie gehören zum sicherheitspolitischen Selbstverständnis der Schweiz und bilden einen stabilen Rahmen, in dem sich die Sicherheitspolitik bewegt.

Es sind dies: ­

Neutralität und Kooperation: Der Kerninhalt der Neutralität ­ keine Unterstützung einer Partei in einem internationalen bewaffneten Konflikt ­ dient dazu, sich aus bewaffneten Konflikten herauszuhalten und die Unparteilichkeit zu wahren. Die Schweiz kooperiert jedoch sicherheitspolitisch insbesondere mit europäischen Staaten, ist international stark vernetzt und will grundsätzlich mit allen Staaten gute Beziehungen pflegen. Die Neutralität hindert die Schweiz nicht daran, dort, wo es für beide Seiten gewinnbringend ist, mit anderen Staaten und Organisationen militärisch zu kooperieren; die Schweiz darf aber keine Abhängigkeiten eingehen, die ihr im Konfliktfall die Unparteilichkeit verunmöglichen würden.

­

Demokratie, Respektierung des Völkerrechts und Rechtsstaatlichkeit: Die Schweiz engagiert sich für eine auf Recht und Regeln basierende internationale Ordnung. Sie setzt sich für die Einhaltung des internationalen Rechts ein, zu dem auch das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte gehören.

­

Föderalismus und Subsidiarität: Sicherheitspolitik ist in der Schweiz eine Verbundaufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden. Alle drei Ebenen sind für die Sicherheit von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft wichtig; dabei ist das Prinzip der Subsidiarität zentral. Dezentrale Staatsstrukturen verlangen nach viel Koordination und Informationsaustausch, machen aber das sicherheitspolitische Gesamtsystem der Schweiz anpassungsfähig, robust und resilient.

­

Miliz und Dienstpflicht: Gemäss dem Schweizer Milizprinzip können Staatsangehörige neben- oder ehrenamtliche Funktionen und Aufgaben übernehmen. Das Dienstpflichtsystem baut auf dem Milizprinzip auf. Dienstpflichtige können auch Kaderfunktionen übernehmen, und die Dienstpflicht wird grundsätzlich auf eine Grundausbildung und weitere, über mehrere Jahre verteilte

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Ausbildungen oder Einsätze verteilt. Die Armee, der Zivilschutz, der Zivildienst und der weitaus grösste Teil der Feuerwehr basieren darauf. Das Dienstpflichtsystem muss dafür sorgen, dass die Instrumente über das nötige Personal verfügen.

Diese Prinzipien geben weiterhin den Rahmen für die Gestaltung der Schweizer Sicherheitspolitik vor. Ihre Auslegung ist aber im Lichte politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen immer wieder zu überprüfen. Das gilt etwa für die Zuständigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit oder die Weiterentwicklung des Dienstpflichtsystems.

3.2

Sicherheitspolitische Interessen

Für die Gestaltung der Sicherheitspolitik der Schweiz sind, neben den Prinzipien, folgende langfristigen und übergeordneten Interessen massgebend: 1.

Gewaltverzicht und regelbasierte internationale Ordnung: Streitigkeiten zwischen und innerhalb von Staaten müssen mit friedlichen Mitteln beigelegt werden; die Anwendung von Gewalt ist nur zur Selbstverteidigung oder auf der Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des UNO-Sicherheitsrats legitim. Um Frieden zu erhalten und Stabilität im Umfeld zu stärken, braucht es eine internationale Ordnung, die auf Regeln basiert.

2.

Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit: Staaten müssen selbst über ihre eigenen Angelegenheiten bestimmen können, sowohl bei inneren Angelegenheiten als auch in ihren internationalen Beziehungen. Dazu gehört auch unverfälschte Information, unbeeinflusste Meinungsbildung und freie Entscheidfassung ohne Druck von aussen.

3.

Sicherheit der Bevölkerung und kritischer Infrastrukturen: Diese müssen vor Androhung und Anwendung von Gewalt und Sabotage wie auch vor Naturgefahren und technischen Störungen geschützt sein, damit Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig funktionieren können; dafür braucht es auch Resilienz in Krisenlagen.

3.3

Sicherheitspolitische Ziele

Das allgemeine Ziel der Schweizer Sicherheitspolitik ist es, die Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Integrität der Schweiz und ihrer Bevölkerung sowie ihre Lebensgrundlagen gegen Bedrohungen und Gefahren zu schützen und einen Beitrag zu Stabilität und Frieden jenseits der Grenzen zu leisten. Sicherheit wird umfassend verstanden. Neben militärischen Bedrohungen und hybriden Formen der Konfliktaustragung sowie den Bedrohungen durch Terrorismus, gewalttätigen Extremismus und Kriminalität werden auch die sicherheitspolitischen Auswirkungen globaler Herausforderungen bei Klima, Gesundheit und Migration berücksichtigt. Die Sicherheitspolitik beachtet auch gegenseitige Abhängigkeiten der Bedrohungen und Gefahren.

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Aus der Lage, den Prinzipien und den Interessen ergeben sich folgende spezifischen Ziele als Schwerpunkte der Sicherheitspolitik in den kommenden Jahren: Ziel 1: Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen Das Tempo der Veränderungen der internationalen Lage ist in den letzten Jahren noch höher, die Lage noch unübersichtlicher geworden. Weit entfernte Krisen und Konflikte können rasch direkte Auswirkungen auf die Schweiz und ihre Interessen haben.

Deshalb wird das frühzeitige Erkennen von sicherheitsrelevanten Entwicklungen und Krisenpotenzial noch wichtiger als bisher. Die Schweiz stärkt deshalb weiter ihre Mittel und Fähigkeiten zur Früherkennung und eigenständigen Beurteilung von Bedrohungen und Gefahren. Dabei werden auch die zunehmenden Abhängigkeiten zwischen einzelnen sicherheitsrelevanten Entwicklungen berücksichtigt.

Ziel 2: Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, Sicherheit und Stabilität Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass sicherheitsrelevante internationale Organisationen handlungsfähig sind und sich weiterentwickeln können; das dient der Sicherheit und dem Frieden. Sie engagiert sich für eine regelbasierte internationale Ordnung sowie die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit, insbesondere mit den Nachbarstaaten und sicherheitspolitisch relevanten Organisationen. Sie trägt zur Förderung und Stärkung von Frieden und Stabilität mit zivilen und militärischen Mitteln bei und beteiligt sich an internationaler polizeilicher Kooperation. Sie unterstützt Bemühungen für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Massnahmen gegen die Verbreitung leistungsfähiger Waffen und Trägersysteme und beteiligt sich an der Entwicklung und Konkretisierung zeitgemässer völkerrechtlicher Normen und Instrumente zur Kontrolle neuer Technologien und Waffensysteme.

Ziel 3: Verstärkte Ausrichtung auf hybride Konfliktführung Die Schweiz trägt dem Wandel in der Konfliktaustragung Rechnung und richtet ihre sicherheitspolitischen Instrumente darauf aus, das ganze Spektrum der damit verbundenen Phänomene erkennen, verhindern und bekämpfen zu können. Sie verstärkt den Schutz des Staates und seiner Institutionen, der Wirtschaft und der Bevölkerung gegenüber Cyberbedrohungen, Beeinflussungsaktivitäten, Spionage, Druckausübung sowie Androhung und Anwendung von Gewalt. Insbesondere die Armee muss
im ganzen Spektrum hybrider Bedrohungen und auch bei anhaltenden Spannungen im Umfeld in der Lage sein, das Land, die Bevölkerung und die Infrastrukturen wirksam zu schützen, einschliesslich Bedrohungen aus dem Luftraum.

Ziel 4: Freie Meinungsbildung und unverfälschte Information Die Information und Meinungsbildung muss frei und transparent, gestützt auf Fakten, und ohne Desinformation, Beeinflussungsversuche und Propaganda durch staatliche oder im Auftrag von Staaten handelnde Stellen erfolgen können. In Anbetracht der zunehmenden Aktivitäten zur Beeinflussung und Desinformation von Gesellschaften und Staaten muss diesem Aspekt mehr Beachtung geschenkt werden. Die Schweiz muss deshalb ihre Mittel für die Früherkennung und Lageverfolgung auch einsetzen, um Beeinflussungsaktivitäten zu identifizieren, und bei Bedarf muss sie Schutzmassnahmen ergreifen, inklusive aktiver Kommunikation. Dazu braucht es eine engere Zusammenarbeit unter den betroffenen Bundesstellen und den Kantonen. Die Resilienz 30 / 50

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der Schweiz und ihrer Bevölkerung gegenüber Beeinflussungsaktivitäten soll dadurch gestärkt werden.

Ziel 5: Verstärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen gegenüber Cyberbedrohungen geschützt sein. Um den mit der fortschreitenden Digitalisierung zunehmenden Verwundbarkeiten zu begegnen, stärkt die Schweiz ihre Fähigkeiten, sicherheitspolitisch relevante Cybervorfälle rasch zu erkennen und zu bewältigen, auch wenn diese längere Zeit andauern und mehrere Bereiche gleichzeitig betreffen. Sie will sicherheitspolitisch relevante Entwicklungen im Cyberbereich besser antizipieren, auch mit Blick auf die zunehmende Verwendung künstlicher Intelligenz. Unter Beibehaltung des Grundsatzes der Eigenverantwortung unterstützt der Bund bei Bedarf Dritte, wirkt regulativ und setzt Anreize, um die Cyber-Resilienz in der Schweiz zu erhöhen. Er nutzt dabei auch die Chancen der Digitalisierung.

Ziel 6: Verhinderung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus, organisierter und übriger transnationaler Kriminalität Terrorismus, organisierte und transnationale Kriminalität sowie von der gesellschaftlichen Polarisierung geförderter gewalttätiger Extremismus sind anhaltende Bedrohungen. Die Schweiz misst ihrer Bekämpfung weiterhin hohe Priorität bei. Sie setzt alles daran, zu verhindern, dass sich auf ihrem Territorium terroristische, gewalttätigextremistische oder schwerstkriminelle Gruppierungen etablieren können. Dazu setzt sie Mittel der Prävention, Kooperation und Repression ein. Sie verhindert den Export und die Unterstützung von Terrorismus. Sie bekämpft irregulären Waren- und Personenverkehr an ihren Grenzen ebenso wie negative Begleiterscheinungen von Migration.

Ziel 7: Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit Die Schweiz stärkt ihre Handlungsfähigkeit, Widerstands-, Anpassungs- und Regenerationsfähigkeit gegenüber Auswirkungen von Krisen und Spannungen. Dies kann von gesellschaftlich bedingten Risiken wie Pandemien bis hin zu bewaffneten Konflikten reichen, welche die Schweiz indirekt auch dann betreffen können, wenn sie selbst nicht Opfer eines Angriffs ist. Die Schweiz soll auf länger anhaltende Versorgungsstörungen als Folge von internationalen Krisenlagen vorbereitet sein. Sie will die Versorgungsicherheit bei kritischen, lebenswichtigen und sicherheitsrelevanten
Gütern und Dienstleistungen stärken und Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten in Bereichen reduzieren, die für die Funktionsfähigkeit und Sicherheit der Schweiz und ihrer Bevölkerung relevant sind. Dazu gehören beispielsweise die Bereiche Ernährung, Energieversorgung, Gesundheitswesen, aber auch sicherheitsrelevante industrielle und technologische Kompetenzen und Kapazitäten im eigenen Land.

Ziel 8: Verbesserung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen und der Regenerationsfähigkeit Angesichts der steigenden Risiken durch den Klimawandel für Natur und Gesellschaft sowie der zunehmenden Siedlungsdichte, Mobilität und Konzentration von Infrastrukturen will die Schweiz ihre Fähigkeiten und Mittel verbessern, die der Vorbeugung und dem Schutz vor natur-, technik- und gesellschaftsbedingten Gefahren sowie der 31 / 50

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Bewältigung solcher Katastrophen und Notlagen dienen. Dazu sollen ihre Mittel zur Prävention, Vorsorge und Bewältigung im Inland und die internationale Zusammenarbeit verstärkt werden.

Ziel 9: Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Behörden und des Krisenmanagements Angesichts der Volatilität der sicherheitspolitischen Lage und der Verkettung von Bedrohungen und Gefahren muss die Zusammenarbeit zwischen den sicherheitspolitisch relevanten Politikbereichen und Instrumenten in der Schweiz weiter verbessert werden. Dies gilt für die normale Lage ebenso wie für Krisen. Die Behörden und Mittel von Bund, Kantonen und Gemeinden im Sicherheitsbereich sollen reibungslos und effizient zusammenarbeiten und koordiniert sein. Zudem sollen die Fähigkeiten für ein wirksames und effizientes Krisenmanagement auf nationaler Ebene verbessert werden. Dazu sollen Erkenntnisse aus realen Krisenlagen und aus Übungen zur Optimierung der Abläufe, Schnittstellen und Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden genutzt werden.

4

Umsetzung: Politikbereiche und Instrumente der Sicherheitspolitik

4.1

Politikbereiche und Instrumente

Um die sicherheitspolitischen Ziele zu verfolgen, verfügt die Schweiz über verschiedene Politikbereiche und Instrumente, die koordiniert eingesetzt werden. Folgende Politikbereiche leisten Beiträge für die Sicherheitspolitik und zur Erreichung ihrer Ziele: Die Aussenpolitik dient der Vertretung der Interessen der Schweiz nach aussen und der Beziehungspflege. Die Schweiz unterstützt Bemühungen zum besseren gegenseitigen Verständnis auf internationaler Ebene und setzt sich für handlungsfähige internationale Organisationen ein. Sie trägt zur Stärkung internationaler Sicherheit und Stabilität bei, indem sie gute Dienste anbietet, Beiträge zur Friedensförderung leistet, sich für Völkerrecht, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzt, die Ursachen von Instabilität und Konflikten mit der Entwicklungszusammenarbeit bekämpft und mit humanitärer Hilfe zur Linderung der Not der Zivilbevölkerung beiträgt. Die Schweiz fördert eine nachhaltige Entwicklung und unterstützt Staaten in der Bekämpfung des Klimawandels und in der Anpassung an dessen Folgen. Sie setzt sich zudem für Rüstungskontrolle und Abrüstung und einen freien und sicheren Cyberraum ein.

Das Aussennetz der Schweiz dient der Interessenwahrung und auch dem Krisenmanagement.

Die Wirtschaftspolitik schafft günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und damit den Wohlstand sowie für eine stabile, krisenfeste Versorgung des Landes mit diversifizierten Lieferketten. Sie setzt sich für offene Märkte und internationale Zusammenarbeit ein und fördert den gegenseitigen Handel mit Gütern und Dienstleistungen sowie Investitionen. Dabei trägt sie der Integration der Wirtschaft in globale Wertschöpfungsketten Rechnung und berücksichtigt sicherheitspolitische Risiken.

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Durch günstige Rahmenbedingungen trägt sie zur Aufrechterhaltung und Förderung sicherheitsrelevanter Technologien und Industrien in der Schweiz bei. Sie ist zuständig für die Ausfuhrkontrolle von Rüstungs- und Dual-Use-Gütern sowie für die Umsetzung internationaler Sanktionen. Die Landesversorgungspolitik macht Vorgaben für die Vorratshaltung bei kritischen Gütern (z. B. Heilmittel, Ernährung, Energie).

Information und Kommunikation sind Querschnittsaufgaben, die zunehmend auch für die Sicherheitspolitik relevant sind. Faktentreue und glaubwürdige Information und Kommunikation der Behörden stärken die Robustheit und Resilienz gegenüber Beeinflussungsversuchen. Bund, Kantone und Gemeinden sind dazu verpflichtet, zur Qualität der Meinungsbildung beizutragen. Der Bundesrat sorgt für eine aktive, einheitliche, frühzeitige, sachliche, umfassende und kontinuierliche Information über seine Lagebeurteilungen, Planungen und Entscheide. Das ist in Krisensituationen besonders wichtig, fördert aber auch in normalen Zeiten das Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden.

Weiter verfügt die Schweiz über Instrumente, die sicherheitspolitischen Aufgaben dienen und zur Erreichung der Ziele der Sicherheitspolitik beitragen: Die Armee ist das primäre Instrument zur Bewältigung von Bedrohungen, die in ihrer Intensität und Ausdehnung die territoriale Integrität und die Sicherheit der gesamten Bevölkerung oder die Ausübung der Staatsgewalt gefährden. Sie muss mehrere Bedrohungen gleichzeitig abwehren und bewältigen können, auch wenn diese unterschiedliche Formen und Intensität haben und länger andauern. Die Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff ist die Kernkompetenz der Armee. Sie wird auf das sich wandelnde Konfliktbild und die verschiedenen Formen der hybriden Konfliktführung ausgerichtet und verstärkt dazu auch ihre Fähigkeiten im Cyberbereich. Die Armee unterstützt die zivilen Behörden im Inland, beispielsweise die Kantone, bei der Bewältigung von Krisenlagen aller Art und beteiligt sich an der internationalen Friedensförderung sowie an der Katastrophenhilfe im Ausland.

Der Bevölkerungsschutz ist ein Verbundsystem, bestehend aus den Partnerorganisationen Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, technische Betriebe und Zivilschutz. Er ist zuständig für den Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen bei
Katastrophen und Notlagen. Unter Leitung der kantonalen Führungsorganisationen arbeiten die fünf Partnerorganisationen sowie Dritte (z. B. Armee) in der Vorsorge und Ereignisbewältigung zusammen. Die Führung und die Mittel liegen grösstenteils in der Verantwortung der Kantone. Der Bund hat eine Koordinationsfunktion und ist für Grundlagenarbeiten zuständig, z. B. für die nationale Risikoanalyse. Er übernimmt die Führung und Koordination bei Katastrophen und Notlagen, für deren Bewältigung er zuständig ist, z. B. bei erhöhter Radioaktivität. Das Koordinationsorgan des Bundes für den Bevölkerungsschutz ist der Bundesstab Bevölkerungsschutz. Dieser stellt die Kommunikation zwischen Bund, Kantonen, Betreibern kritischer Infrastrukturen und Behörden im Ausland sicher. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz ist zuständig für die Systeme zur Warnung, Alarmierung und Information der Behörden und der Bevölkerung bei drohenden Gefahren und im Ereignisfall. Es betreibt die Nationale Alarmzentrale und das Labor Spiez, sorgt für die Koordination im Zivilschutz und im Kulturgüterschutz, stellt die Ausbildung der kantonalen Führungsorgane, der Zivil-

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schutzkader sowie der Spezialistinnen und Spezialisten sicher und ist in Zusammenarbeit mit den Kantonen für die Konzeption und Steuerung der Schutzanlagen verantwortlich.

Der Nachrichtendienst des Bundes ist zuständig für die Früherkennung und Verhinderung von Bedrohungen der inneren und äusseren Sicherheit durch Terrorismus, gewalttätigen Extremismus, verbotenen Nachrichtendienst, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen. Er beschafft und beurteilt zudem sicherheitspolitisch bedeutsame Informationen über das Ausland. Er unterstützt mit seinen Produkten die sicherheitspolitische Führung und leitet relevante Informationen und Erkenntnisse den Strafverfolgungsbehörden weiter.

Er unterstützt zudem die Kantone bei der Wahrung der inneren Sicherheit, führt den nationalen Nachrichtenverbund von Sicherheitsbehörden aus Bund und Kantonen und stellt die Zusammenarbeit mit ausländischen Partnerdiensten sicher.

Die Polizei ist das Hauptinstrument zur Bekämpfung von Kriminalität, zur Gefahrenabwehr und zur Durchsetzung von Massnahmen mittels unmittelbarem Zwang. Die Polizeihoheit liegt primär bei den Kantonen. Die kantonalen Polizeikorps sorgen zusammen mit den kommunalen Polizeien für die öffentliche Sicherheit auf ihrem Territorium und sind für die Wahrnehmung sicherheits- und kriminalpolizeilicher Aufgaben zuständig. In die Kompetenz des Bundes fällt die Bekämpfung der Schwerstkriminalität, insbesondere von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus und organisierter sowie übriger transnationaler Kriminalität. Das Bundesamt für Polizei (fedpol) führt im Auftrag der Bundesanwaltschaft Strafverfolgungen durch und koordiniert die nationale und internationale Polizeizusammenarbeit. Weiter schützt es Personen und Gebäude in der Verantwortung des Bundes und entwickelt und betreibt nationale Informationssysteme und Kompetenzzentren.

Die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) wirkt im Rahmen ihrer Aufgaben an der Grenze an der Bekämpfung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus und grenzüberschreitender Kriminalität mit. Sie trägt an den Binnen- und Aussengrenzen des Schengen-Raums zur Bekämpfung der illegalen Migration bei, zum Beispiel durch Aufdeckung von Schleppernetzwerken oder durch die Beteiligung an operativen Einsätzen der europäischen Agentur für die
Grenz- und Küstenwache (Frontex). Die EZV kontrolliert den grenzüberschreitenden Personen- und Warenverkehr und fahndet im Grenzraum nach Personen und Sachen. Sie ist im sicherheitspolizeilichen Bereich feststellende Behörde und übergibt die Angelegenheit der zuständigen Behörde. Sie geht auch im Rahmen ihrer Kompetenzen gegen Schmugglerinnen und Schmuggler strafrechtlich vor. Die EZV arbeitet mit ihren nationalen und internationalen Partnern eng zusammen, indem sie sich beispielsweise an gemeinsamen Einsätzen beteiligt und einen intensiven Informationsaustausch pflegt.

Militärdienstpflichtige, die den Militärdienst mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, leisten auf Gesuch hin einen länger dauernden zivilen Ersatzdienst (Zivildienst). Zivildienstleistende werden gemäss dem Zivildienstgesetz vom 6. Oktober 19954 auch für Einsätze bei Katastrophen und Notlagen eingesetzt, insbesondere in den Bereichen Umwelt sowie Pflege und Betreuung im Gesundheits- und Sozialwesen. Der Einsatz Zivildienstleistender erfolgt komplementär zu den Einsätzen von 4

SR 824.0

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Zivilschutz und Armee und kann die Durchhaltefähigkeit im Bevölkerungsschutz stärken. Der Zivildienst ist nicht als Ersteinsatzorganisation konzipiert und nicht in Formationen gegliedert. Offene Fragen zum Beitrag des Zivildiensts bei Katastrophen und Notlagen werden innerhalb der laufenden Arbeiten zur Alimentierung von Armee und Zivilschutz sowie zur langfristigen Weiterentwicklung des Dienstpflichtsystems geprüft.

4.2

Umsetzung der sicherheitspolitischen Ziele

Nachfolgend wird beschrieben, wie die Schweiz ihre sicherheitspolitischen Ziele verfolgen und umsetzen will.

4.2.1

Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen

Die internationale Lage ist volatiler und schwieriger voraussehbar geworden. Die Vorwarnzeiten von sicherheitspolitischen Entwicklungen haben sich verkürzt. Es muss mit überraschenden Entwicklungen und Verkettungen von Ereignissen gerechnet werden. Die veränderte Art der Konfliktführung macht es schwieriger, Cyberbedrohungen gegen kritische Infrastrukturen oder gegen die Schweiz gerichtete ausländische Beeinflussungsaktivitäten zu erkennen. Umso wichtiger ist eine wirksame Früherkennung und Beurteilung von Bedrohungen und ihrer Zusammenhänge, damit relevante Entwicklungen rechtzeitig antizipiert und geeignete Massnahmen ergriffen werden können.

Dazu dient in erster Linie die nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung und -beurteilung. Es geht darum, zivile und militärische Potenziale und Absichten zur Ausübung von Machtpolitik im Ausland aufzuklären und zu beurteilen, ebenso wie Entwicklungen in den Bereichen Terrorismus, gewalttätiger Extremismus, verbotener Nachrichtendienst, Cyberbedrohung, ausländische Beeinflussungsaktivitäten und Proliferation.

Zur Verbesserung der Antizipationsfähigkeit der politischen Führung dient auch die Krisenfrüherkennung der Bundeskanzlei, die Risiken und Chancen in Bereichen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik für die politische Führung identifiziert. Weiter leisten die Schweizer Vertretungen im Ausland Beiträge für das frühzeitige Erkennen von Krisen.

Als Teil des integralen Risikomanagements dient eine umfassende Risikoanalyse zur frühzeitigen Erkennung und Bewertung neuer und veränderter natur-, technik- und gesellschaftsbedingter Gefährdungen als Grundlage für die Vorbereitung auf und die Bewältigung von Katastrophen und Notlagen. Mit aktuellen Klimaszenarien können die Auswirkungen des Klimawandels quantifiziert werden, was Voraussagen über Extremereignisse ermöglicht (z. B. Starkniederschläge, Trockenheit, Hitzewellen).

Zur Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen dienen insbesondere folgende Massnahmen: 35 / 50

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­

Verbesserung der Aufklärungsfähigkeiten zur Identifizierung und eigenständigen Beurteilung von sicherheitsrelevanten Entwicklungen und Bedrohungen, beispielsweise durch die Beteiligung an Satellitenaufklärungssystemen (wie dem satellitengestützten Aufklärungssystem Frankreichs «Composante Spatiale Optique»), sowie Verbesserung der Kapazitäten zur Auswertung grosser Datenmengen.

­

Stärkung der Vertretungen der Schweiz, unter anderem durch eine Umlagerung von knapp drei Dutzend Stellen aus der Zentrale, als Beitrag für das frühzeitige Erkennen und die Analyse von sicherheitspolitisch relevanten Entwicklungen vor Ort.

4.2.2

Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, Sicherheit und Stabilität

Die auf Regeln gegründete internationale Ordnung hat zu Sicherheit und Wohlstand in der Schweiz beigetragen. Die Schweiz wird sich auch künftig für Demokratie und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Völkerrecht einsetzen, ebenso wie für handlungsfähige internationale Organisationen und multilaterale Vereinbarungen.

Die angestrebte Einsitznahme im UNO-Sicherheitsrat 2023­2024 wird der Schweiz ein zusätzliches Instrument geben, um sich für ihre Interessen, Überzeugungen und Werte einzusetzen.

Auf regionaler Ebene setzt sich die Schweiz für eine Stärkung der OSZE ein. Mit sicherheitspolitischen Organisationen, denen sie nicht angehört, steht die Schweiz in Kontakt und kooperiert, soweit es in ihrem Interesse liegt und ohne sich in Abhängigkeiten zu begeben. In Europa stehen die Partnerschaft für den Frieden (mit der Nato) und die Kooperation mit der EU im Vordergrund. Die bilaterale Kooperation konzentriert sich auf die Nachbarstaaten. Die Schweiz ist zudem bestrebt, mit Staaten wie den USA, Russland und China einen Austausch zur Sicherheitspolitik zu pflegen.

Mit guten Diensten und ziviler sowie militärischer Friedensförderung leistet die Schweiz Beiträge zur Prävention und Lösung von Konflikten. Sie profitiert von ihrem Ruf als eigenständige, zuverlässige und diskrete Vermittlerin und ist durch die Beteiligung an Missionen der UNO, der OSZE und der EU, aber auch bilateral in mehr als ein Dutzend Friedensprozesse involviert. Zudem bietet sie sich als Gaststaat von Friedensgesprächen unter Ägide der UNO an. Die zivile und militärische Friedensförderung, die Entwicklungszusammenarbeit und die humanitäre Hilfe werden eng aufeinander abgestimmt.

Rüstungskontrolle und Abrüstung tragen zur Stabilität und Berechenbarkeit des sicherheitspolitischen Umfelds bei. Die Schweiz unterstützt eine Abrüstung bei den Nuklearwaffen und Massnahmen gegen ihre Weiterverbreitung. Sie setzt sich für das Verbot von Chemie- und Biowaffen und die Universalisierung und Umsetzung der Verbote von Personenminen und Streumunition ein. Die Exportkontrolle und die Umsetzung internationaler Sanktionen trägt dazu bei, die Weiterverbreitung sensitiver Rüstungsgüter und -technologien zu verhindern. Dazu stimmt sich die Schweiz mit anderen Industriestaaten ab und setzt sich für universelle Regeln ein. Um eine Benachteiligung der schweizerischen Industrie zu verhindern, basiert die Schweiz ihre 36 / 50

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Exportkontroll- und Sanktionspolitik auf international harmonisierten Grundsätzen und Vorgaben.

In der internationalen Polizeizusammenarbeit nutzt die Schweiz als assoziiertes Schengen-Mitglied die Instrumente dieser Kooperation und trägt zu deren Weiterentwicklung bei: vereinfachter polizeilicher Informationsaustausch, grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit und Schengener-Informationssystem. Weiter verstärkt sie die Polizeizusammenarbeit mit dem Kooperationsabkommen mit Europol.

In der globalen polizeilichen Zusammenarbeit beteiligt sich die Schweiz an Aktivitäten von Interpol.

Zur Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, Sicherheit und Stabilität dienen insbesondere folgende Massnahmen: ­

Kandidatur als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats, um sich gemäss unseren Interessen und Werten für internationale Sicherheit und Stabilität, eine Stärkung der regelbasierten Ordnung und multilaterale Lösungen einzusetzen.

­

Ausarbeitung und Verabschiedung von aussenpolitischen regionalen und thematischen Folgestrategien zur aktuellen aussenpolitischen Strategie.

­

Nutzung von Chancen, die sich durch die Weiterentwicklung der Sicherheitsund Verteidigungspolitik der EU ergeben, für mehr Zusammenarbeit, einschliesslich militärischer Kooperation im Rahmen der permanenten strukturierten Zusammenarbeit.

­

Einsatz für die Erhaltung der Relevanz der Partnerschaft für den Frieden, für den sicherheitspolitischen Informations- und Meinungsaustausch und gegenseitig nützliche praktische Zusammenarbeit in diesem Rahmen.

­

Weiterentwicklung der militärischen Friedensförderung mit Ausrichtung auf besonders gefragte und hochwertige Beiträge wie Lufttransport und Luftaufklärung, Spezialfunktionen in Ausbildung, Logistik oder Kampfmittelbeseitigung.

­

Einsatz für die Weiterentwicklung der Rüstungskontrolle und Abrüstung im Lichte neuer technologischer Entwicklungen und von deren Auswirkungen auf Waffensysteme (z. B. Big Data, künstliche Intelligenz, Autonomie, neue Netzwerktechnologien) und Erarbeitung einer neuen Strategie für Rüstungskontrolle und Abrüstung.

4.2.3

Verstärkte Ausrichtung auf hybride Konfliktführung

Hybride Konfliktführung umfasst eine breite Palette von Instrumenten, vom Einsatz von wirtschaftlichem Druck, Cybermitteln, Beeinflussungsaktivitäten oder Spionage bis hin zum Angriff mit militärischen Mitteln. Sie muss in ihrer ganzen Breite erfasst werden, um Bedrohungen zu identifizieren und abzuwehren, Gegenmassnahmen zu entwickeln und die Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft zu stärken.

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Im Hinblick auf diese Art von Konfliktführung muss die Armee ein breites Fähigkeitsspektrum abdecken und bereits in der Grauzone zwischen Frieden und bewaffnetem Konflikt die zivilen Behörden unterstützen können. (Die Umsetzung durch weitere Politikbereiche und Instrumente der Sicherheitspolitik wird unter den Ziffern behandelt.) Sie muss bei Lageveränderungen rasch reagieren und gleichzeitig verschiedene Aufgaben übernehmen können. Auch bei einem gewandelten Konfliktbild bleibt die Abwehr eines bewaffneten Angriffs eine Kernaufgabe, zumal hybride Konfliktführung in einen offenen militärischen Angriff münden kann. Die Armee muss deshalb in der Lage sein, gleichzeitig subsidiäre Schutz- und Sicherungsaufgaben zu übernehmen, Hilfe bei Katastrophen oder Notlagen zu leisten sowie Land, Bevölkerung und Infrastrukturen zu verteidigen und rasch zwischen diesen Aufgaben zu wechseln. Das umfasst beispielsweise den Schutz von Räumen, Einrichtungen, Verkehrsachsen und Luftraum sowie die Abwehr von Übergriffen auf die Bevölkerung und kritische Infrastrukturen. Die Armee muss sich deshalb auf solche Einsätze ausrichten und dabei die Mittel koordiniert und bei subsidiären Einsätzen gemäss den Bedürfnissen der zivilen Partner einsetzen. Die Armee muss zudem in der Lage sein, mit Streitkräften ihres geografischen Umfelds zusammenzuarbeiten. Diese Fähigkeit wird unter anderem an internationalen Übungen trainiert. Falls die Schweiz Ziel eines bewaffneten Angriffs und die Neutralität hinfällig wird, soll sie damit beide Optionen haben: autonome Verteidigung oder Zusammenarbeit mit anderen Staaten, insbesondere den Nachbarstaaten.

Mit der Weiterentwicklung der Armee wurden bereits Schritte in diese Richtung gemacht. Mit der abgestuften Bereitschaft und der Wiedereinführung der Mobilmachung wurde die Erlangung der Einsatzbereitschaft der Truppen beschleunigt. Ausgehend von den benötigten militärischen Fähigkeiten wird die Ausrüstung in Schlüsselbereichen laufend erneuert und ergänzt. Einen Schwerpunkt bildet die Weiterentwicklung und Verstärkung der militärischen Fähigkeiten und Mittel im Cyberbereich.

Die Armee wird ständig weiterentwickelt, um sie den wandelnden Bedrohungen anzupassen. Für mehr Flexibilität und um rascher auf Veränderungen der Bedrohungslage reagieren zu können, erfolgt die Weiterentwicklung künftig
kontinuierlich und in kleineren Schritten statt in grossen und zeitintensiven Reformen.

Zur verstärkten Ausrichtung auf hybride Konfliktführung dienen insbesondere folgende Massnahmen: ­

Um zum Beispiel bei anhaltenden internationalen Spannungen den Luftraum über den alltäglichen Luftpolizeidienst hinaus weiterhin über längere Zeit intensiv überwachen und im Fall eines Angriffs verteidigen zu können, werden neue Kampfflugzeuge und ein System zur bodengestützten Luftverteidigung beschafft.

­

Die Bodentruppen werden stärker auf die Unterstützung ziviler Behörden im Graubereich zwischen Frieden und bewaffnetem Konflikt ausgerichtet und ihre Mittel werden modernisiert, wobei die hohe Bevölkerungsdichte und Überbauung berücksichtigt werden; als Folge werden sie in der Ausrüstung mobiler und besser geschützt und die Einsatzverbände werden flexibler und modular zusammengestellt.

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­

Die Fähigkeiten der Armee im Cyberbereich werden als wesentlicher Teil der verstärkten Ausrichtung auf das hybride Umfeld weiterentwickelt und verstärkt; die Mittel der Armee können auch zur subsidiären Unterstützung eingesetzt werden.

­

Die Rüstungsbeschaffung für die Armee wird gestützt auf eine fähigkeitsbasierte Planung darauf ausgerichtet, schnellere Beschaffungszyklen zu ermöglichen und rascher auf technologische Entwicklungen reagieren zu können; dies ist insbesondere relevant für Rüstungsgüter mit hohem IT-Anteil.

Bewaffneter Angriff und Verteidigung bei gewandelter Art der Konfliktführung Ein bewaffneter Angriff auf die Schweiz muss in Anbetracht des veränderten Konfliktbildes nicht mehr zwingend ein Angriff militärisch organisierter Streitkräfte sein. Ein Gegner könnte seine strategischen Ziele auch ohne den offenen Einsatz militärischer Mittel verfolgen: durch die Beeinträchtigung kritischer Infrastrukturen, der staatlichen Führung, der Wirtschaft oder des gesellschaftlichen Lebens. Dafür könnte er beispielsweise Cyberangriffe, intensive Beeinflussungsaktivitäten, wirtschaftliche Massnahmen, Sabotage, Sonderoperationskräfte oder andere Akteure bis hin zu Fernwaffen einsetzen. Das Ziel wäre, das Funktionieren des Landes und der Institutionen zu beinträchtigen ­ bis hin zur Unterminierung der staatlichen Souveränität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts ­ und nicht die physische Verletzung der Integrität des Staatsgebiets. Auch ein Cyberangriff kann demzufolge als bewaffneter Angriff qualifiziert werden, sofern die dafür erforderliche Intensität und Wirkung gegeben ist, d. h. erhebliche Schäden an Personen oder Objekten verursacht werden.

Die Antwort auf die Frage, ob die Armee originär zur Verteidigung oder aber subsidiär zur Unterstützung der zivilen Behörden eingesetzt wird, hängt folglich weniger davon ab, woher ein Angriff kommt und mit welchen Mitteln er durchgeführt wird, sondern vom Ausmass der Bedrohung: Wenn Intensität und Ausdehnung einer Bedrohung in dem Umfang vorliegen, dass die territoriale Integrität, die gesamte Bevölkerung oder die Ausübung der Staatsgewalt bedroht sind, könnte die Armee originär zur Verteidigung eingesetzt werden. Der Entscheid, ob die Armee in einem konkreten Fall zur Verteidigung eingesetzt wird ­ und damit die Schwelle zu einem bewaffneten Angriff überschritten ist ­ oder der Einsatz subsidiär erfolgt, obliegt in jedem Fall Bundesrat und Parlament.

4.2.4

Freie Meinungsbildung und unverfälschte Information

Das Risiko steigt, dass die Schweiz Ziel von Beeinflussungsversuchen und Desinformation wird. Bemühungen zur Störung oder Manipulation politischer Entscheidprozesse könnte es insbesondere im Umfeld von Wahlen und Abstimmungen, aber auch in Krisensituationen geben. Allerdings spricht auch einiges dafür, dass die Schweiz

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und ihre Bevölkerung gegenüber solchen Beeinflussungs- und Desinformationsversuchen relativ robust sind. Zur guten Schulbildung, die ein wichtiger Faktor ist und die Medien- und Politikkompetenz fördert, kommt hinzu, dass Schweizerinnen und Schweizer gewohnt sind, sich mehrmals pro Jahr bei Abstimmungen mit politischen Fragen zu befassen. Auch die dezentrale Organisation und Durchführung der Urnengänge sowie die vielfältige Medienlandschaft tragen zur Widerstandsfähigkeit gegen Beeinflussungsversuche von aussen bei.

Der Bundesrat informiert aktiv, sachlich und kontinuierlich über die politischen Tätigkeiten der Schweiz und kann falsche oder irreführende Information richtigstellen. Er macht davon grundsätzlich zurückhaltend Gebrauch. Zum einen geniessen private Akteure in politischen Auseinandersetzungen grosse Freiheiten; sie sind nicht zu Vollständigkeit, Sachlichkeit, Transparenz und Verhältnismässigkeit verpflichtet.

Zum anderen erhalten Desinformationskampagnen mehr Aufmerksamkeit, wenn der Bundesrat sie aufgreift. Er fasst diese Möglichkeit darum erst ins Auge, wenn eine Kampagne sich so stark verbreitet hat, dass sie den freien Meinungsbildungsprozess gefährdet.

Zur freien Meinungsbildung und unverfälschten Information dienen insbesondere folgende Massnahmen: ­

Die Gremien der sicherheitspolitischen Führung auf Stufe Bund (Sicherheitsausschuss des Bundesrats, Kerngruppe Sicherheit) befassen sich regelmässig mit dem Thema und unterbreiten bei Bedarf den Departementen oder dem Bundesrat Massnahmen gegen Beeinflussungsaktivitäten; die Kerngruppe Sicherheit beschafft dazu zusammen mit der Bundeskanzlei regelmässig Informationen, um Einschätzungen zur möglichen Betroffenheit der Bundesverwaltung durch Beeinflussungsaktivitäten zu machen.

­

Der Austausch mit den Kantonen zur Bedrohung durch Beeinflussungsaktivitäten wird weitergeführt.

4.2.5

Verstärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen

Cyber-Bedrohungen werden sich mit dem Fortschritt der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz rasant weiterentwickeln. Wegen der anhaltenden Bedrohung und der technologischen Entwicklungen muss den Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten im Cyberbereich und der Sicherheit von Lieferketten besondere Beachtung geschenkt werden.

Der Bund hat in der Nationalen Strategie vom April 20185 zum Schutz der Schweiz vor Cyberrisiken (NCS) 2018­2022 festgelegt, welche strategischen Ziele verfolgt werden und über welche Massnahmen er den Cyberbedrohungen entgegenwirken wird. Mit der Verabschiedung der Strategie wurden auch die Zuständigkeiten innerhalb des Bundes geklärt und neue Strukturen geschaffen. Diese teilen sich auf in Cybersicherheit (Federführung beim Eidgenössischen Finanzdepartement [EFD]), Cyberdefence (Federführung beim Eidgenössischen Departement für Verteidigung, 5

Abrufbar unter www.ncsc.admin.ch > NCS Strategie > Strategie NCS 2018­2022.

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Bevölkerungsschutz und Sport [VBS]) und Cyberstrafverfolgung (Federführung beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement [EJPD] und den Kantonen). Zur Verbesserung der interdepartementalen Zusammenarbeit und Stärkung der Führung wurde ein Cyberausschuss des Bundesrates geschaffen, bestehend aus den Departementsvorsteherinnen des VBS und des EJPD und dem Departementsvorsteher des EFD sowie einer dem Ausschuss zudienenden Kerngruppe Cyber. Die Kantone sind in diesen Gremien vertreten. Es wurde ein Delegierter des Bundes für Cybersicherheit eingesetzt und mit dem Nationalen Zentrum für Cybersicherheit (NCSC) ein diesem unterstelltes Kompetenzzentrum geschaffen.

Die Zusammenarbeit mit Kantonen, Wirtschaft und Wissenschaft wurde ausgebaut und institutionalisiert, unter anderem durch einen regelmässigen Austausch mit dem Delegierten für Cybersicherheit und dem NCSC. Mit dem Cyberdefence-Campus wurde gemeinsam mit der Wissenschaft eine Plattform zur Früherkennung von Cybertrends, Entwicklung von Technologien zur Abwehr von Cyberbedrohungen und Ausbildung von Cyber-Fachkräften geschaffen. Zur Bekämpfung der digitalen Kriminalität wurden gemeinsame Gremien zur Zusammenarbeit von Bund und Kantonen geschaffen.6 Es sind gemeinsame Ausbildungen vorgesehen, Expertenwissen wird gebündelt und der Informations- und Erfahrungsaustausch intensiviert.

In seiner aktuellen aussenpolitischen Strategie bezeichnet der Bundesrat die Digitalisierung als Schwerpunkt. Die Schweiz setzt sich international für einen freien, sicheren und offenen Cyberraum ein, der für friedliche Zwecke genutzt wird, auf gegenseitigem Vertrauen basiert und in welchem bestehendes Völkerrecht, inklusive des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, anwendbar ist und eingehalten wird. Die Schweiz hat ein Interesse an der Klärung der konkreten Anwendung völkerrechtlicher Regeln bei Cyberoperationen, insbesondere in Bezug auf die Grundprinzipien der UNO-Charta, die Regeln der Staatenverantwortlichkeit, das humanitäre Völkerrecht, die Menschenrechte und das Neutralitätsrecht. Fragen zum Neutralitätsrecht können sich stellen, weil Cyberangriffe von Konfliktparteien wegen der weltweiten digitalen Vernetzung auch Infrastrukturen eines neutralen Staates betreffen können. Die Schweiz will verhindern, dass ihre digitalen Infrastrukturen für Cyberangriffe auf andere Staaten genutzt werden.

Zur weiteren Verstärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen dienen insbesondere folgende Massnahmen:

6

­

Einführung einer Meldepflicht von Cyberangriffen für kritische Infrastrukturen, um die Früherkennung und systematische Erfassung solcher Angriffe zu verbessern; Erstellung und Führung einer gemeinsamen Cyberlage durch den Nachrichtendienst, die auch der Wirtschaft dient.

­

Weiterentwicklung und Umsetzung der NCS, unter Einbezug der relevanten Fachstellen aller Departemente, sowie Weiterführung des Auf- und Ausbaus des NCSC und der neu geschaffenen Cybergremien auf Stufe Bund.

Cyberboard: Gremium für alle in der Bekämpfung der digitalen Kriminalität aktiven kantonalen und nationalen Strafverfolgungsbehörden sowie Vertreterinnen und Vertreter der Prävention; Netzwerk Ermittlungsunterstützung digitaler Kriminalität: von Kantonspolizeien und fedpol gemeinsam betriebene Plattform.

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­

Umsetzung der neuen Strategie Cyber des VBS zur Schliessung von Lücken im Abwehrdispositiv und weiteren Stärkung der Mittel im Bereich Cyberdefence.

­

Weiterentwicklung der Zusammenarbeit mit Betreibern kritischer Infrastrukturen, um deren Schutz und Resilienz gegenüber Cyberrisiken zu stärken.

­

Bei Cyberangriffen Beratung und Einsatz von Mitteln des NCSC und des Nachrichtendiensts des Bundes; wenn diese Mittel nicht ausreichen, können Leistungen der Armee subsidiär zum Einsatz kommen.

­

Weiterführung und Nutzung der neuen Gremien Cyberboard und Netzwerk Ermittlungsunterstützung digitale Kriminalität für eine intensive Kooperation von Bund und Kantonen im Bereich der digitalen Kriminalität.

­

Einsatz in internationalen Gremien zur Anwendung völkerrechtlicher Normen im Cyberraum und Klärung von offenen Fragen, auch neutralitätsrechtlicher Art.

­

Aufbau einer Abteilung Digitalisierung im EDA und Einsetzung eines Sonderbeauftragten für Science Diplomacy in Genf, um die internationale Gestaltungsfähigkeit der Schweiz im Bereich Digitalisierung zu stärken.

4.2.6

Verhinderung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus, organisierter und übriger transnationaler Kriminalität

Die Bekämpfung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus und organisierter sowie übriger transnationaler Kriminalität bleibt eine Priorität. Die Schweiz bekämpft diese Bedrohungen mit Mitteln der Prävention und Repression in enger Zusammenarbeit der zuständigen Stellen von Bund und Kantonen und mit ausländischen Partnerbehörden. Gestützt auf eine Beurteilung der Bedrohungslage wird jeweils eine Strategie zur Kriminalitätsbekämpfung7 festgelegt. Zudem besteht eine nationale Strategie zur Terrorismusbekämpfung8, die regelmässig aktualisiert wird.

Massgeblich zur Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus und Terrorismus ist das frühzeitige Erkennen solcher Bedrohungen und die Identifikation von Gefährderinnen und Gefährdern und Risikopersonen. Der Fokus liegt neben den bekannten Gruppierungen auf radikalisierten und autonom agierenden Täterinnen und Tätern.

Der Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Terrorismus und gewalttätigem Extre-

7

8

Die aktuelle Strategie Kriminalitätsbekämpfung des EJPD deckt die Jahre 2020­2023 ab und bestimmt die drei Schwerpunktthemen organisierte Kriminalität, Terrorismus und übrige transnationale Kriminalität. Die Strategie stützt sich auf die drei Säulen Prävention, Kooperation und Repression und folgt folgenden drei Leitsätzen: analysebasierte Steuerung der Polizeikräfte; Einbezug polizeiferner Behörden oder privater Partner; Erkennen kriminell erworbener Geldflüsse. Strategie Kriminalitätsbekämpfung 2020­2023, abrufbar unter www.fedpol.admin.ch > Suche.

Strategie der Schweiz zur Terrorismusbekämpfung vom 18. September 2015, BBl 2015 7487.

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mismus ­ der Übergang ist in der Realität teilweise fliessend ­ wird Rechnung getragen. Zur Verhinderung von Radikalisierung dient auch der 20179 von Bund und Kantonen verabschiedete Nationale Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus mit Präventionsmassnahmen im sozial- und bildungspolitischen Bereich. Die für die Bekämpfung von Terrorismus und gewalttätigem Extremismus zuständigen Stellen von Bund und Kantonen entwickeln ihre Kooperation laufend weiter, um der interdisziplinären Natur der Bedrohungen Rechnung zu tragen. Eine wichtige Rolle kommt der Taskforce Terrorist Tracking (Tetra) zu, in der unter der Leitung des fedpol Behörden des Bundes und der Kantone eng zusammenarbeiten.

Eine enge Zusammenarbeit und Koordination zwischen Bund und Kantonen ist auch zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität essenziell. Mit der Plattform Countering Organised Crime wurde der Austausch von Informationen und Erfahrungen zwischen verschiedenen Behörden verstärkt. Dazu gehören Kantonspolizeien, fedpol, Nachrichtendienst des Bundes, Bundesanwaltschaft, Eidgenössische Zollverwaltung, Migrations- und Sozialbehörden sowie Finanz-, Marktaufsichts-, Steuer-, Registerund Wettbewerbsbehörden.

Terrorismus und Schwerstkriminalität sind agil, vernetzt und grenzüberschreitend.

Die Schweiz ist auf eine effiziente internationale Polizeizusammenarbeit angewiesen.

Die wichtigsten Instrumente für die Zusammenarbeit sind die Schengen-Assoziierung und das Schengen-Informationssystem. Andere EU-Informationssysteme10 betreffend Sicherheit und Migration werden weiterentwickelt; die Informationen der verschiedenen Informationssysteme werden miteinander vernetzt werden und auch den Schweizer Grenzkontroll-, Migrations- und Polizeibehörden rascher zur Verfügung stehen.

Europol und Interpol sind für die Schweiz sehr nützlich, indem sie Analysen und operative Plattformen zur Bekämpfung von transnationaler Kriminalität bieten. Die Schweiz nutzt auch die Zusammenarbeit mit der UNO, der OSZE und dem Europarat zur Stärkung und Weiterentwicklung der Kriminalitätsbekämpfung. Ergänzt wird diese multilaterale Zusammenarbeit durch bilaterale Polizeiverträge11, das Netz der Polizeiattachés und Verbindungspersonen der EZV sowie die beiden Zentren für Polizei- und Zollzusammenarbeit mit
Italien und Frankreich.

Zur effizienten Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, insbesondere des Schmuggels von Drogen, Waffen, Medikamenten, Fälschungen, Kulturgütern und verbotenen Substanzen, führt die EZV täglich Waren- und Personenkontrollen sowie eine gezielte Strafverfolgung an den Grenzen und im Landesinnern durch. Mit dem Transformationsprogramm DaziT werden die Prozesse der EZV digitalisiert und vereinfacht. Damit werden die administrativen Tätigkeiten der Mitarbeitenden reduziert,

9 10

11

Abrufbar unter www.svs.admin.ch > Themen > Prävention von Radikalisierung und Extremismus > Nationaler Aktionsplan.

Visa Information System; European Travel Information and Authorization System; EntryExit-System; Advance Passenger Information System; False and Authentic Documents Online.

Diese Abkommen ermöglichen grenzüberschreitende Zusammenarbeitsformen wie gemeinsame Observationen, kontrollierte Lieferungen, Nacheile, verdeckte Ermittlungen oder gemischte Patrouillen.

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die im Gegenzug dank einer organisationalen Weiterentwicklung, insbesondere eines agileren Berufsprofils12, für mehr Kontrollaufgaben eingesetzt werden können.

Zur Bekämpfung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus, organisierter und übriger transnationaler Kriminalität dienen insbesondere folgende Massnahmen: ­

Verbesserung des internationalen polizeilichen Informationstauschs durch die Übernahme von Schengen-Weiterentwicklungen und den Abschluss bilateraler Polizei-Abkommen;

­

Schaffung zusätzlicher präventiver Mittel für den Umgang mit Gefährderinnen und Gefährdern und Risikopersonen mit dem Bundesgesetz vom 25. September 202013 über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und einer Revision des Bundesgesetzes über den Nachrichtendienst;

­

Ergänzung der Instrumente zur Prävention und Bekämpfung von Terrorismus und Schwerstkriminalität mit der Schaffung eines Bundesgesetzes über die Erhebung und Nutzung von Flugpassagierdaten (Passenger Name Record);

­

Assoziierung an die Prümer-Beschlüsse für den automatischen Abgleich von Fingerabdrücken, DNA-Profilen und Fahrzeughalterdaten mit dem Ausland zur Steigerung der Effizienz der Fahndung;

­

Beteiligung an der Weiterentwicklung von Frontex, um zum Schutz der Aussengrenzen und zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität beizutragen;

­

Überführung der EZV in das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit, das auf digitalen Grenzprozessen und einem flexibel einsetzbaren Personalkörper beruht, um im Sinne einer umfassenden Kontrolle die drei für die EZV wesentlichen Bereiche Personen, Waren und Transportmittel abzudecken.

4.2.7

Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit

Um auf direkte und indirekte Auswirkungen von Spannungen und Krisen vorbereitet zu sein, muss die Schweiz die eigene Widerstandskraft, Anpassungs- und Regenerationsfähigkeit weiter stärken. Im Vordergrund steht die Stärkung der Versorgungssicherheit. In der Schweiz sind in erster Linie Private für die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen verantwortlich, weshalb eine enge Zusammenarbeit mit Unternehmen und Betreibern kritischer Infrastrukturen wesentlich ist. Damit die Versorgung auch in Krisenzeiten funktioniert, sind stabile und diversifizierte Lieferketten in den systemrelevanten Bereichen nötig (z. B. Ernährung, Energieversorgung und Gesundheitswesen). Die Covid-19-Krise hat vor allem strukturelle Versorgungsprobleme in Mangellagen, vor allem bei Arzneimitteln und Medizinprodukten, exemplarisch aufgezeigt. Um die Auswirkungen von Lieferverzögerungen zu reduzieren, spielen die Flexibilität der Unternehmen und die internationale Zusammenarbeit eine wichtige Rolle.

12 13

Das neue Berufsbild Fachspezialist/in Zoll und Grenzsicherheit ersetzt die zwei bisherigen Berufskategorien Zollfachfrau/-mann und Grenzwächter/in.

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Angestrebt wird auch eine Reduktion der Abhängigkeit für Ausrüstung und Bewaffnung der Armee. Die Schweiz muss diesen Aspekt mehr als andere Länder berücksichtigen, weil sie als neutrales Land keine militärische Unterstützung durch andere Staaten beanspruchen kann. Wehrtechnische Autarkie ist für die Schweiz nicht möglich. Im Interesse einer möglichst hohen Autonomie auch in Krisenlagen ist die Schweiz jedoch bestrebt, ihre wehrtechnische Abhängigkeit vom Ausland zumindest in einzelnen Bereichen zu reduzieren oder durch eine gegenseitige Abhängigkeit zu ersetzen sowie eine sicherheitspolitisch relevante industrielle Basis im eigenen Land aufrechtzuerhalten. Dazu unterstützt der Bund die Technologieentwicklung in erster Linie bei zivilen Forschungseinrichtungen und privaten Unternehmen mit Kompetenzen in relevanten Fähigkeitsbereichen, z. B. die Entwicklung von Kommunikationstechnologien oder Sensorik.

Weltraumbasierte Dienste wie Satellitennavigation oder -kommunikation sind bereits heute weit verbreitet und werden künftig für Staaten, Wirtschaft und Gesellschaft noch wichtiger. Je breiter diese Dienste genutzt werden, desto wichtiger ist es, Abhängigkeiten zu reduzieren und die Resilienz im Hinblick auf Ausfälle oder Störungen zu erhöhen.

In den vergangenen Jahren weckten ausländische Direktinvestitionen Befürchtungen, dass Arbeitsplätze und Knowhow verloren gingen und die nationalen Sicherheit gefährdet werde. Grundsätzlich fördert die offene Politik der Schweiz gegenüber Investitionen aus dem Ausland den Wirtschaftsstandort Schweiz durch einen Zufluss von Kapital und Wissen und trägt damit zur Wertschöpfung, Technologieführerschaft sowie zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei. Im März 2020 beauftragte das Parlament den Bundesrat jedoch, gesetzliche Grundlagen für eine Kontrolle von ausländischen Investitionen zu schaffen.

Zur Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit bei internationalen Krisen dienen insbesondere folgende Massnahmen: ­

Prüfung und Reduktion von Abhängigkeiten bei der Versorgung mit kritischen, lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen zur Verbesserung der Resilienz, gestützt auf die Erkenntnisse aus der Covid-19-Pandemie;

­

Überprüfung und Weiterentwicklung der nationalen Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen und Prüfung sektorenübergreifender Rechtsgrundlagen (z. B. Personensicherheitsprüfung);

­

Unterstützung der sicherheitsrelevanten Technologie- und Industriebasis durch Beschaffungen im Inland, Offset-Geschäfte, internationale Kooperation, anwendungsorientierte Forschung, Innovationsförderung, Informationsaustausch mit der Industrie und ein Exportkontrollregime, das auch sicherheitspolitische Interessen berücksichtigt;

­

Verstärkung des Zugangs zu weltraumbasierten Dienstleistungen zur Kommunikation, Navigation und Erdbeobachtung sowie des internationalen Engagements zur Stärkung der langfristigen und friedlichen Nutzung des Weltraums;

­

Erarbeitung einer Gesetzesgrundlage für die Kontrolle von ausländischen Investitionen.

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4.2.8

Stärkung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen und der Regenerationsfähigkeit

Das Verbundsystem Bevölkerungsschutz ist das primäre Instrument zur Bewältigung von natur-, technik- und gesellschaftsbedingten Gefahren. Mit dem neuen Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetz vom 20. Dezember 201914 wird er noch konsequenter auf die Bewältigung von Katastrophen und Notlagen ausgerichtet.

Die bestehenden sanitätsdienstlichen Schutzanlagen genügen nur teilweise heutigen Ansprüchen, Bedürfnissen und Standards. Die künftige Nutzung der Schutzanlagen muss deshalb geklärt werden. Zudem müssen die Schutzanlagen genügend Kapazität haben, um in einer Katastrophe oder Notlage die zu betreuenden Patientinnen und Patienten aufnehmen zu können.

Die erfolgreiche Bewältigung von Ereignissen setzt eine sichere, hochverfügbare Kommunikation und Datenübertragung voraus, insbesondere zwischen den Partnerorganisationen des Bevölkerungsschutzes. In den letzten Jahren wurden verschiedene Projekte zur Modernisierung der Telematik-Infrastruktur und der entsprechenden Systeme lanciert. Dazu gehören das Sicherheitsnetzfunk Polycom und das sichere Datenverbundsystem. Zudem läuft ein Pilotprojekt zur möglichen Einführung eines breitbandigen mobilen Sicherheitskommunikationssystems.

Als Teil des integralen Risikomanagements erstellt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz eine systematische Risikoanalyse natur-, technik- und gesellschaftsbedingter Gefahren. Daraus werden Massnahmen für Prävention, Vorsorge und Einsatzvorbereitung abgeleitet, welche die Verletzlichkeiten und das potenzielle Schadensausmass verringern. Die Massnahmen umfassen beispielsweise raumplanerische und baulichtechnische Massnahmen wie Gefahrenkarten und Hochwasserschutzbauten sowie vorbeugende Massnahmen zur Verbesserung der Erdbebensicherheit.

Das Bundesamt für Umwelt unterstützt die Kantone bei der Planung und Realisierung von Schutzmassnahmen gegen Wasser- und Sturzprozesse, Rutschungen und Lawinen sowie bei der Erstellung von Gefahrengrundlagen. Der frühzeitigen Erkennung neuer und veränderter Naturgefahren dient ein umfassendes Monitoring als Teil des integralen Risikomanagements. Mit aktuellen Klimaszenarien können die Auswirkungen des Klimawandels quantifiziert werden, was Voraussagen über Extremereignisse ermöglicht.

Zur Stärkung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen und der Regenerationsfähigkeit dienen insbesondere folgende Massnahmen:

14

­

Klärung des Bedarfs an Schutzanlagen (Kommandoposten für Führungsorgane, Bereitstellungsanlagen für den Zivilschutz, Schutzanlagen für das Gesundheitswesen) und Definition von Standards für Einrichtung, Unterhalt, Betrieb und Personal;

­

Aktualisierung der Schutzkonzepte der Bevölkerung, beispielsweise beim ABC-Schutz (Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Gefahren), wo die Zuständigkeiten, Leistungen und Defizite definiert werden müssen; SR 520.1

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­

Umsetzung und Weiterentwicklung des Erdbebenrisikomanagements mit der institutionalisierten Zusammenarbeit Bund-Kantone, der Vorsorgeplanung, der Einführung des Erdbebenrisikomodells und der Gebäudebeurteilung sowie dem Aufbau der Schadenorganisation Erdbeben;

­

Weiterführung der auf den aktuellen Klimaszenarien aufbauenden Arbeiten zur Beurteilung der Auswirkungen auf Hochwasser, Rutschungen, Sturzprozesse und Lawinen sowie auf den Schutzwald;

­

Betreiben eines umfassenden Monitorings der Naturgefahrenprozesse, unter anderem mit satellitengestützten Radaranalysen bezüglich Massenbewegungen im Gebirge, sowie Weiterentwicklungen, Betreiben und Konsolidieren der Warnungen des Bundes vor Naturgefahren durch die im Lenkungsausschuss Intervention Naturgefahren (Lainat) zusammengeschlossenen Bundesfachstellen.

4.2.9

Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Behörden und des Krisenmanagements

Angesichts der Verkettung und gegenseitigen Verstärkung von Bedrohungen und Gefahren wird die Zusammenarbeit zwischen den sicherheitspolitisch relevanten Politikbereichen und Instrumenten immer wichtiger. Wegen den föderal organisierten Strukturen der Schweiz und ihrer departementalen Regierungsorganisation ist eine reibungslose Koordination der Behörden und Mittel von Bund, Kantonen und Gemeinden besonders relevant. Gerade die Anwendung des Grundsatzes der Subsidiarität bei grösseren sicherheitsrelevanten Ereignissen erfordert den Einsatz mehrerer Instrumente im Verbund.

Der Sicherheitsverbund Schweiz dient seit Jahren als Plattform für den Dialog und die Koordination zwischen den verschiedenen Ebenen und Behörden in Sicherheitsfragen. Seine Gremien sind aber nicht als Krisenbewältigungsorgane konzipiert. Dasselbe gilt für die Organe der sicherheitspolitischen Führung des Bundes; diese bestehen aus dem Sicherheitsausschuss des Bundesrats und der Kerngruppe Sicherheit.15 Sie dienen zur laufenden Beurteilung der sicherheitsrelevanten Lage sowie zur Koordination departementsübergreifender sicherheitspolitscher Geschäfte und zur Vorberatung solcher Geschäfte für Entscheide des Bundesrats. Diese Gremien können in der Krisenbewältigung eine unterstützende Rolle spielen, wenn eines der vertretenen Departemente wegen des fachlichen Bezugs die Federführung hat. Sollte die Schweiz zum Beispiel Opfer eines grösseren Cyberangriffs gegen kritische Infrastrukturen werden, könnte auch die Kerngruppe Cyber für die Koordination zugunsten des federführenden Departements eingesetzt werden. Auf Stufe Kantone sind die kantonalen Führungsorganisationen das zentrale Gremium für das Krisenmanagement.

15

Vgl. Weisungen vom 2. Dezember 2016 über die Organisation der sicherheitspolitischen Führung des Bundesrates (BBl 2016 8775). Der Sicherheitsausschuss des Bundesrats besteht aus den Vorsteherinnen und Vorstehern des VBS (Vorsitz), des EDA und des EJPD. Die Kerngruppe Sicherheit besteht aus der Staatssekretärin oder dem Staatssekretär des EDA, der Direktorin oder dem Direktor des Nachrichtendiensts des Bundes und der Direktorin oder dem Direktor des fedpol.

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In einer Krisenlage müssen Entscheide rasch gefällt und die Abläufe gestrafft werden, deshalb ist der kürzest mögliche Weg zum politischen Entscheidungsgremium ­ dem Bundesrat ­ zentral. Das Krisenmanagement auf Stufe Bund muss der departementalen Struktur der Regierung Rechnung tragen. Beim Krisenmanagement verfolgt der Bund deshalb den Grundsatz, dass jenes Departement, das fachlich am meisten betroffen ist und auch die Mittel, Entscheidkompetenzen und Fachkenntnisse für die Bewältigung einer spezifischen Krisenlage hat, die Federführung übernimmt und Entscheide des Bundesrats vorbereitet. Es wird ein massgeschneiderter, den Erfordernissen der Lage angepasster Stab auf Stufe Departement eingesetzt, der durch einen Stab auf operativer Ebene ergänzt werden kann, z. B. je nach Ereignis durch den Bundesstab Bevölkerungsschutz oder durch die Einsatzorganisation des fedpol. Ein ständiger übergeordneter Stab, der inhaltlich für alle Ereignisse zuständig wäre, eignet sich nicht, da die Fachkenntnisse fehlen würden und er zu weit weg von der Departementsführung und ausserhalb der eingespielten Entscheidungsabläufe wäre. Zudem müssen die Kantone sowie wissenschaftliche Expertise einbezogen werden. Die Krisenkommunikation auf Stufe Landesregierung übernehmen die Vorsteherin oder der Vorsteher des federführenden Departements oder die Bundepräsidentin oder der Bundespräsident sowie der Bundesratssprecher.

Es ist wichtig, aus realen Krisen Lehren zu ziehen. Der Bundesrat wertete dazu die Krisenbewältigung des Bundes in der ersten Welle (Februar bis August 2020) der Covid-19-Pandemie aus. Es hat sich gezeigt, dass die Rollen der Stäbe und ihr Verhältnis zueinander klarer geregelt werden müssen. Auch die Auswertung der anschliessenden Phasen der Pandemie-Bewältigung ist vom Bundesrat beauftragt worden und fliesst in die Überprüfung des Krisenmanagements ein.

Angesichts der Volatilität der sicherheitspolitischen Lage und der Unvorhersehbarkeit von Ereignissen sind die Vorbereitung und die Bewältigung von Krisen in den letzten Jahren wichtiger geworden. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden im Management von Krisen aller Art soll deshalb weiterhin in regelmässigen Übungen geübt und verbessert werden. Dazu dienten die strategischen Führungsübungen (2013, 2017) und die
Sicherheitsverbundübungen (2014, 2019).

Das Krisenmanagement und die Zusammenarbeit von Bund, Kantonen und Gemeinden im Hinblick auf einen Terroranschlag oder eine Pandemie sind aufgrund von Übungen, Vorbereitungen und realen Ereignissen besser eingespielt als früher. Krisen können jedoch, insbesondere angesichts der gewandelten Art der Konfliktführung, verschiedene Formen annehmen, und es ist wichtig, die Lehren zur Bewältigung verschiedener Ereignisse anzuwenden. Deshalb sollen die Mitglieder von departementalen und interdepartementalen Krisenstäben nicht nur in Übungen geschult, sondern auch weitergebildet werden, um in Krisen nach denselben ­ und zielführenden ­ Prozessen und Methoden arbeiten zu können.

Schliesslich verlangt eine erfolgreiche Krisenbewältigung, dass alle sicherheitspolitischen Instrumente einsatzfähig sind, auch jene die ganz oder teilweise auf dem Dienstpflichtsystem basieren: Armee, ziviler Ersatzdienst, Zivilschutz und Feuerwehr. Damit diese Mittel wirksam eingesetzt werden können, müssen die Bestände von Armee und Zivilschutz personell ausreichend alimentiert sein. Seit Jahren gehen die Rekrutierungszahlen im Zivilschutz markant zurück, und auch die Bestände der Armee sind 48 / 50

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angesichts der zahlreichen frühzeitigen Abgänge mittelfristig nicht gesichert. Gleichzeitig muss sich das Dienstpflichtsystem an gesellschaftliche Entwicklungen und Bedürfnisse anpassen, wobei die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Dienstpflicht im Vordergrund steht.

Zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Behörden und des Krisenmanagements dienen insbesondere folgende Massnahmen:

5

­

Überprüfung der Grundlagen des Krisenmanagements im Hinblick auf langanhaltende Ereignisse, insbesondere die Rolle und Zusammensetzung des Bundesstabs Bevölkerungsschutz sowie von interdepartementalen und departementsinternen Krisenstäben;

­

Klärung und Abgrenzung der Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten von Bund und Kantonen bezüglich Prozessen und Kontaktstellen aufgrund der Erkenntnisse aus der Covid-19-Krise, unter Einbezug der Kantone;

­

bessere Integration bundesexterner Expertise in das Krisenmanagement des Bundes, z. B. aus der Wissenschaft und Privatwirtschaft, und Überprüfung der Versorgung mit medizinischen Gütern und Produkten während einer Pandemie, gestützt auf Erfahrungen mit Covid-19;

­

Priorisierung und Förderung der Digitalisierung, beispielsweise durch Beschleunigung der Arbeiten zur vereinfachten Informationsübermittlung und -aufbereitung sowie besseren Kompatibilität der Systeme;

­

Sicherstellung der notwendigen Bestände von Zivilschutz und Armee, z. B.

durch Annäherung zwischen Zivildienst und Zivilschutz, und bessere Vereinbarkeit von Militärdienst und Berufs-/Zivilleben; Initiierung einer Diskussion zur Weiterentwicklung des Dienstpflichtsystems.

Fazit

Die Schweiz ist ein sicheres Land. Damit sie das bleibt, sind weitere und verstärkte Anstrengungen nötig. Das Umfeld ist weniger stabil, als es vor zehn oder gar zwanzig Jahren war. Ereignisse in fernen Regionen können verzugslos Probleme in der Schweiz auslösen. Zusätzliche Bedrohungen und Gefahren sind aufgetaucht, ohne dass die früheren verschwunden wären. So sind Cyberangriffe und Desinformation Phänomene, die innert weniger Jahre zu vitalen Bedrohungen für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft geworden sind. In dieser Lage ist eine permanente, sorgfältige und für neue Erkenntnisse offene Lageverfolgung essenziell, als Basis für eine eigenständige Beurteilung, die ihrerseits Grundlage für Massnahmen ist.

Die sicherheitspolitischen Prinzipien und Interessen der Schweiz zeichnen sich durch Beständigkeit aus. Das fördert die Berechenbarkeit der Schweiz in einer weniger berechenbar gewordenen Welt. Trotzdem ist es angezeigt, die Sicherheitspolitik in ihrer Gesamtheit periodisch zu überprüfen. Die Ausgestaltung unserer Sicherheitspolitik muss sich an den wandelnden sicherheitspolitischen Herausforderungen ausrichten und dabei laufend auch Priorisierungen bei den Ressourcen vornehmen. Die Zweck-

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mässigkeit der Sicherheitspolitik und ihrer Instrumente bemisst sich daran, wie wirksam und effizient den Bedrohungen und Gefahren entgegengewirkt werden kann und wie die Chancen wahrgenommen werden können. Das erfordert immer wieder Überprüfungen und auch Anpassungen. Solche müssen, vor allem, wenn sie Milizorganisationen betreffen, umsichtig angegangen werden, und sie müssen von Bund, Kantonen und Gemeinden getragen werden.

Der Bundesrat ist überzeugt, dass die in diesem Bericht dargelegte Sicherheitspolitik, von den Prinzipien, Interessen und Zielen bis zu den konkreten Massnahmen, dazu geeignet ist, der Schweiz und ihrer Bevölkerung in einer unsicheren Welt Sicherheit zu geben.

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