BBl 2021 www.bundesrecht.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

21.082 Botschaft zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbandsklage und kollektiver Vergleich) vom 10. Dezember 2021

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf einer Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Kollektiver Rechtsschutz).

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2014

M 13.3931

Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung (N 13.12.13, Birrer Heimo; S 12.06.2014)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

10. Dezember 2021

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Guy Parmelin Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2021-4118

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Übersicht Die bestehenden Instrumente des Schweizer Zivilprozessrechts ermöglichen keine echte kollektive Rechtsdurchsetzung bei sogenannten Massen- und Streuschadensfällen. Daher soll die bestehende Verbandsklage ausgebaut und eine neue Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen geschaffen sowie die neue Möglichkeit von gerichtlich für verbindlich erklärten Vergleichen vorgesehen werden. Damit soll die Motion 13.3931 Birrer-Heimo umgesetzt und der kollektive Rechtsschutz in der Schweiz gestärkt werden.

Ausgangslage Die seit dem 1. Januar 2011 geltende Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) sowie verschiedene Spezialgesetze sehen zwar eine Verbandsklage vor. Aufgrund ihrer sachlichen und funktionalen Begrenztheit steht diese heute zur Durchsetzung von Ersatzansprüchen namentlich bei Massen- und Streuschäden jedoch nicht zur Verfügung. Für diese Fälle sind auch andere Instrumente des geltenden Rechts unpraktisch beziehungsweise teilweise untauglich. Zu diesem Befund ist der Bundesrat bereits 2013 gelangt. Das Parlament hat den Bundesrat 2014 mit einer Motion beauftragt, die notwendigen Gesetzesänderungen auszuarbeiten. Entsprechende Vorschläge schickte der Bundesrat 2018 im Rahmen der Vorlage zur Anpassung der ZPO in die Vernehmlassung. Weil die Vorschläge stark umstritten waren, wurden sie 2020 abgespalten und sollen im Rahmen dieser Vorlage separat behandelt werden.

Inhalt der Vorlage Unter Berücksichtigung der Kritik in der Vernehmlassung schlägt der Bundesrat zur Stärkung der kollektiven Rechtsdurchsetzung folgende Neuregelung der Verbandsklage vor: 1.

Die bestehende Verbandsklage soll in verschiedenen Punkten angepasst werden, damit dieses Instrument der kollektiven Rechtsdurchsetzung in Zukunft effektiv genutzt werden kann. So soll sie zukünftig nicht mehr auf Persönlichkeitsverletzungen beschränkt sein, sondern für sämtliche Rechtsverletzungen zulässig sein. Gleichzeitig sollen neu Verbände und andere Organisationen nur unter vier klar festgelegten und gegenüber heute eingeschränkten Voraussetzungen (keine Gewinnorientierung, mindestens zwölfmonatiges Bestehen, statutarische oder satzungsmässige Befugnis zur Interessenwahrung, Unabhängigkeit von der beklagten Partei) zur Verbandsklage legitimiert sein. Wie bisher soll die Verbandsklage grundsätzlich auf die Unterlassung oder Beseitigung einer Rechtsverletzung oder die Feststellung der Widerrechtlichkeit einer Verletzung gerichtet sein. Angepasst werden soll auch der Vorbehalt spezialgesetzlicher Verbandsklagen.

2.

Parallel dazu soll neu eine Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen zur kollektiven Durchsetzung von Massenschäden und von Streuschäden geschaffen werden. Dabei kann ein zur Verbandsklage legitimierter Verband oder eine solche Organisation im Wege einer sogenannten Prozessstandschaft in eigenem Namen und damit auf eigenes Risiko Klage zur

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Geltendmachung von Ersatzansprüchen der betroffenen Personen erheben, die entweder vorgängig ihre Ermächtigung dazu gegeben haben oder sich der Klage ausdrücklich angeschlossen haben (Opt-in-Konzept). Voraussetzung dafür ist, dass die geltend gemachten Ansprüche auf gleichartigen Tatsachen oder Rechtsgründen beruhen und somit ein Massen- oder Streuschaden vorliegt und mindestens zehn betroffene Personen den Verband oder die Organisation vor Klageeinleitung zur Prozessführung ermächtigt haben. Auf eine weitere sachliche Beschränkung möchte der Bundesrat bewusst verzichten.

Auf das Verbandsklageverfahren finden im Anschluss an ein besonderes Zulassungsverfahren grundsätzlich die allgemeinen Regeln des Prozessrechts Anwendung, insbesondere was das Beweisrecht betrifft. Im Gegensatz zu ausländischen Regelungen sind dafür bewusst keine besonderen Regelungen vorgesehen. Das gleiche gilt mit Bezug auf die Prozesskosten.

3.

Das neue Verbandsklageverfahren soll durch besondere Regelungen für kollektive Vergleiche ergänzt werden. Wird ein kollektiver Vergleich vom Gericht geprüft, genehmigt und für verbindlich erklärt, so ist er für sämtliche betroffenen Personen, die sich der Verbandsklage angeschlossen haben, verbindlich (Opt-in-Konzept). Unter besonderen einschränkenden Bedingungen ist in Streuschadensfällen ausnahmsweise auch ein Opt-out-Vergleich möglich, der für sämtliche betroffenen Personen wirksam ist, die nicht ausgetreten sind.

Weil es in der Praxis durchaus Fälle gibt, in denen es auch ohne verbandsklageweise Geltendmachung zu einem Vergleichsabschluss zwischen repräsentativen Organisationen einerseits und einer oder mehreren einer Rechtsverletzung beschuldigter Personen andererseits kommt, sollen diese Regelungen auch auf kollektive Vergleiche ausserhalb einer Verbandsklage Anwendung finden können.

Umgekehrt soll im Unterschied zur Vernehmlassungsvorlage auf die Schaffung eines separaten Gruppenvergleichsverfahrens verzichtet werden. Weiterhin nicht in Betracht gezogen werden sollte nach Ansicht des Bundesrates eine Gruppenklage mit individuellen Gruppenklägern nach dem Vorbild der amerikanischen Sammelklage.

Die Vorschläge für den Ausbau und die Ergänzung der bestehenden Verbandsklage stehen im Einklang mit den neusten Entwicklungen in der EU, wo Ende 2020 eine EU-Verbandsklagerichtlinie in Kraft getreten ist. Sie gehen aber in verschiedener Hinsicht ganz bewusst deutlich weniger weit, z. B. bezüglich Beweiserleichterungen, der staatlichen Registrierung und teilweise auch der Möglichkeit der Finanzierung bestimmter Verbände und Organisationen beziehungsweise von deren Klagen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

2

1

Ausgangslage 1.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.1.1 Keine kollektiven Verfahren im geltenden Recht 1.1.2 Bericht des Bundesrates zum kollektiven Rechtsschutz von 2013 1.1.3 Motion Birrer-Heimo 13.3931 «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung» 1.2 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösungen 1.2.1 Prüfung sämtlicher Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung 1.2.2 Sektorübergreifende Umsetzung 1.2.3 Ausbau und Ergänzung der bestehenden Verbandsklage 1.2.4 Verzicht auf Gruppen- oder Sammelklagen 1.3 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzierung sowie zu den Strategien des Bundesrates 1.4 Erledigung parlamentarischer Vorstösse

6 6 6

Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren 2.1 Vernehmlassungsvorlage 2.2 Zusammenfassung und Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2.3 Weitere Arbeiten

9 9 10 11

3

Rechtsvergleich, insbesondere mit dem europäischen Recht 3.1 Europäische Union 3.2 Regelungen in europäischen Ausland 3.2.1 Deutschland 3.2.2 Österreich 3.2.3 Italien 3.2.4 Frankreich 3.2.5 Niederlande

12 12 13 13 14 14 15 15

4

Grundzüge der Vorlage 4.1 Die beantragte Neuregelung 4.1.1 Ausbau der bestehenden Verbandsklage 4.1.2 Neue Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen 4.1.3 Regelung kollektiver Vergleiche 4.2 Verzicht auf Gruppenvergleich und Sammelklage 4.3 Umsetzungsfragen

16 16 16

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

19

2

5

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6 7 7 7 7 8 8 8 9

16 18 18 19

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5.1 5.2

6

7

Zivilprozessordnung Änderung anderer Erlasse 5.2.1 Obligationenrecht (OR) 5.2.2 Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG)

19 32 32 33

Auswirkungen 6.1 Auswirkungen auf den Bund 6.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete 6.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft 6.4 Auswirkungen auf die Gesellschaft 6.5 Auswirkungen auf die Umwelt

34 34

Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungsmässigkeit 7.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 7.3 Erlassform 7.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 7.5 Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz 7.6 Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes 7.7 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 7.8 Datenschutz

36 36 36 36 37

Schweizerische Zivilprozessordnung (Zivilprozessordnung, ZPO) (Verbandsklage und kollektiver Vergleich) (Entwurf)

34 35 35 36

37 37 37 37

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Handlungsbedarf und Ziele

1.1.1

Keine kollektiven Verfahren im geltenden Recht

Die Zivilprozessordnung (ZPO)1 ist am 1. Januar 2011 in Kraft getreten. Bei der Schaffung der ZPO wurde bewusst auf die Einführung neuer Verfahren zur echten kollektiven Rechtsdurchsetzung verzichtet, was bereits damals teilweise kritisiert wurde.2 Nach dem damaligen Willen des Gesetzesgebers sollte dem Gedanken der kollektiven Rechtsdurchsetzung vorab mit den bekannten Instrumenten der Klagenhäufung und der auf bestimmte Rechtsbereiche beschränkten Verbandsklage entsprochen werden.3

1.1.2

Bericht des Bundesrates zum kollektiven Rechtsschutz von 2013

In seinem Bericht «Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz ­ Bestandesaufnahme und Handlungsmoglichkeiten» vom 3. Juli 2013 hat der Bundesrat eine breit angelegte Untersuchung der Möglichkeiten der kollektiven Rechtsdurchsetzung insbesondere von sogenannten Massen- und Streuschäden, wo es um die (gerichtliche) Durchsetzung von (Schadenersatz-)Ansprüchen einer Vielzahl von gleich oder gleichartig geschädigten Personen geht, vorgelegt. Er hat darin aufgezeigt, dass die bestehenden Instrumente des geltenden Rechts zur effizienten und effektiven Durchsetzung von Massen- und Streuschäden praktisch ungenügend beziehungsweise teilweise untauglich sind. Das gilt insbesondere für die Verbandsklage in ihrer geltenden Form: Sie ist sowohl bezüglich ihres Anwendungsbereichs als auch bezüglich ihrer Rechtsschutzziele zu eng gefasst. Der Bericht zeigt auf, dass daher der Zugang zur Gerichtsbarkeit faktisch nicht immer gewährleistet.

1 2

3

SR 272 Vgl. nur Bericht «Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz ­ Bestandesaufnahme und Handlungsmöglichkeiten» des Bundesrates vom Juli 2013, S. 14 m.w.N., VPB 2013.7a, S. 59­112 (abrufbar unter www.ejpd.admin.ch > Publikationen und Service > Berichte, Gutachten und Verfügungen > Berichte und Gutachten).

Vgl. nur Botschaft ZPO 2006, BBl 2006 7224 und 7290.

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1.1.3

Motion Birrer-Heimo 13.3931 «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung»

Unter Hinweis auf diesen Bundesratsbericht verlangt die Motion 13.3931 von Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo «die Ausarbeitung der notwendigen Gesetzesänderungen, die es einer grossen Anzahl gleichartig Geschädigter erleichtern, ihre Ansprüche gemeinsam vor Gericht geltend zu machen. Es sollen einerseits die bereits bestehenden Instrumente ausgebaut und andererseits auch neue Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes geschaffen werden. Deren Ausgestaltung trägt den spezifischen schweizerischen Gegebenheiten sowie der Verhinderung von Missbräuchen Rechnung und orientiert sich an den Erfahrungen, die in anderen europäischen Ländern mit solchen Modellen gesammelt wurden». Die Motion wurde von beiden Räten oppositionslos angenommen (NR 13.12.20134; SR 12.06.20145), nachdem der Bundesrat am 29. November 2013 die Annahme empfohlen hatte.

1.2

Geprüfte Alternativen und gewählte Lösungen

1.2.1

Prüfung sämtlicher Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung

In seinem Bericht von 2013 hat der Bundesrat verschiedene Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes umfassend untersucht, insbesondere auch rechtsvergleichend (vgl. Ziff. 1.1.2). Dabei ist er zum Ergebnis gelangt, dass zur Verbesserung des kollektiven Rechtsschutzes namentlich bei Massen- und Streuschäden insbesondere die Erweiterung der bestehenden Verbandsklage in Betracht zu ziehen ist. Damit wird an ein bereits bekanntes Instrument des Schweizerischen Rechts angeknüpft. Denkbar wäre auch die Schaffung einer gesetzlichen Regelung für ein Muster- oder Testverfahren. Umgekehrt erscheinen andere Instrumente, insbesondere Klageverfahren mit einer reinen sog. Opt-out-Konzeption nicht wünschbar.

1.2.2

Sektorübergreifende Umsetzung

Im Rahmen des neuen Finanzdienstleistungsgesetzes (FIDLEG) hat der Bundesrat Vorschläge zum Ausbau des kollektiven Rechtsschutzes für den Finanz- und Versicherungssektor gemacht. Diese Vorschläge wurden insbesondere wegen ihres sektoriellen Ansatzes abgelehnt und der Bundesrat hat sich in der Folge ebenfalls dagegen und umgekehrt für eine sektorübergreifende Regelung des kollektiven Rechtsschutzes ausgesprochen.6 Das wird auch in der Motion Birrer-Heimo 13.3931 gefordert und entspricht dem Konzept der Vernehmlassungsvorlage (vgl. Ziff. 2.1).

4 5 6

AB NR 2013 2204 AB SR 2014 539 Vgl. nur Bericht Kollektiver Rechtsschutz (FN 2), S. 14 m.w.N.

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1.2.3

Ausbau und Ergänzung der bestehenden Verbandsklage

Mit der Verbandsklage besteht im Schweizer Recht bereits ein Instrument des kollektiven Rechtsschutzes. Dieses hat jedoch derzeit sowohl sachlich als insbesondere auch funktional, d. h. bezüglich seiner Rechtsschutzmöglichkeiten und -ziele, nur einen beschränkten Anwendungsbereich. Zur Stärkung der kollektiven Rechtsdurchsetzung bei Massen- und Streuschäden liegt es daher nahe, die bestehende Verbandsklage so auszubauen und zu ergänzen, dass sie in Zukunft über ihren bisherigen beschränkten Anwendungsbereich hinaus in mehr Fällen zur Anwendung kommen kann.

1.2.4

Verzicht auf Gruppen- oder Sammelklagen

Auch wenn das Schweizer Recht durchaus gruppenklageähnliche Instrumente kennt (z. B. die Klagen nach Art. 105 des Fusionsgesetzes vom 3. Oktober 20037 sowie im Bereich der Kollektivanlagen oder Anleihensobligationen),8 gelten Gruppen- oder Sammelklagen, wie z. B. die US-amerikanische Sammelklage, als dem Schweizerischen Recht fremd. Bei solchen repräsentativen Klagen kommt es zu einer Bündelung von Individualansprüchen, indem ein Gruppenkläger eine Klage für weitere Personen führt, die selbst formell nicht am Verfahren beteiligt sind, aber dennoch am Ergebnis teilhaben (sowohl in positivem wie auch im negativem Sinn), da über ihre Ansprüche ebenfalls mit Rechtskraft entschieden wird. Ungeachtet ihrer zunehmenden Verbreitung und teilweisen Einführung auch in Europa (nicht aber im EU-Recht, vgl.

Ziff. 3.1) hält es der Bundesrat weiterhin nicht für angezeigt, in der Schweiz eine eigentliche Gruppen- oder Sammelklage im Sinne einer class action einzuführen.

1.3

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzierung sowie zu den Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 29. Januar 20209 zur Legislaturplanung 2019­2023 noch im Bundesbeschluss vom 21. September 202010 über die Legislaturplanung 2019­2023 angekündigt. Mit der Vorlage erfüllt der Bundesrat jedoch einen parlamentarischen Vorstoss (vgl. Ziff. 1.4). Die Vorlage hat keine direkten Schnittstellen mit den Strategien des Bundesrates für die Legislatur.

7 8 9 10

SR 221.301 Vgl. dazu Bericht Kollektiver Rechtsschutz (FN 2), S. 32 ff.

BBl 2020 1777 BBl 2020 8385

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1.4

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Mit der beantragten Neuregelung werden die Aufträge des eingangs zur Abschreibung beantragten parlamentarischen Vorstosses erfüllt: 2014

M 13.3931

Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung (N 13.12.13, Birrer Heimo; S 12.06.2014)

2

Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren

2.1

Vernehmlassungsvorlage

Die Motion Birrer-Heimo 13.3931 sollte nach dem Vorschlag des Bundesrates angesichts der Überschneidung in zentralen Anliegen im Rahmen der Anpassung der ZPO umgesetzt werden. Der Bundesrat hat deshalb im Vorentwurf vom 2. März 2018 für eine Änderung der ZPO zur Stärkung der kollektiven Rechtsdurchsetzung folgende zwei Massnahmen vorgeschlagen:11 ­

Neuregelung und Erweiterung der Verbandsklage (Art. 89 f. VE-ZPO): Die Verbandsklage sollte nicht mehr auf Persönlichkeitsverletzungen beschränkt sein. Gleichzeitig sollte eine reparatorische Verbandsklage auf Schadenersatz oder Gewinnherausgabe geschaffen werden und zwar auf dem Weg der sogenannten Prozessstandschaft. Dazu sollte stets die ausdrückliche Ermächtigung der betroffenen Personen notwendig sein (Opt in). Angesichts dieser substanziellen Erweiterung sollten aber auch die Voraussetzungen der Klagelegitimation für Verbände verstärkt werden. Gleichzeitig sollten die bisherigen spezialgesetzlichen Verbandsklagen vereinheitlicht werden.

­

Schaffung eines Gruppenvergleichsverfahrens (Art. 352a ff. VE-ZPO): In Umsetzung früherer Beschlüsse sollte ein Gruppenvergleichsverfahren geschaffen werden (vgl. Art. 352a ff. VE-ZPO). Bei einem solchen wird zwischen einer Person, der eine Rechtsverletzung vorgeworfen wird, und einem Verband, der im gemeinsamen Interesse sämtlicher der geschädigten Personen handelt, einen Gruppenvergleich abgeschlossen. Dieser wird vom Gericht geprüft und genehmigt und damit für alle betroffenen Personen für verbindlich erklärt, wenn bestimmte gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sind, es sei denn, eine betroffene Person erklärt innert einer bestimmten Frist ihren Austritt (Opt out).

Die Vernehmlassung dauerte vom 2. März 2018 bis am 11. Juni 2018. Im Rahmen der Vernehmlassung sind 107 Stellungnahmen eingegangen, darunter von allen Kantonen, sechs politischen Parteien sowie 75 Organisationen und weiteren Teilnehmen-

11

Vgl. dazu ausführlich Erläuternder Bericht VE, S. 17 ff. (abrufbar unter www.fedlex.

admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene > 2018 > EJPD).

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den. Spezifisch zu den Vorschlägen zum kollektiven Rechtsschutz haben sich insgesamt 60 Vernehmlassungsteilnehmende geäussert, darunter 9 Kantone, 6 politische Parteien sowie 46 Organisationen und weitere Teilnehmende.12

2.2

Zusammenfassung und Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Die Vorschläge des Bundesrates in der Vernehmlassungsvorlage waren stark umstritten. Die Auffassungen gingen bereits in der Grundsatzfrage über die Erweiterung der Instrumente zur kollektiven Rechtsdurchsetzung weit auseinander und waren insgesamt gegensätzlich: ­

Eine relative Mehrheit von acht Kantonen, vier politischen Parteien und 23 Organisationen sprach sich für die vorgeschlagene Erweiterung des kollektiven Rechtsschutzes aus, weil der diesbezügliche Handlungsbedarf ausdrücklich anerkannt wurde. Zu den Teilnehmenden, die eine allgemeine Stellungnahme abgegeben haben, kam eine Organisation hinzu, die den entsprechenden Bestimmungen zustimmte.

­

Zwei Kantone hatten eine differenzierte Meinung: Der eine befürwortete die Vorschläge zur Verbandsklage und lehnte das Gruppenvergleichsverfahren ab, während der andere die Vorschläge zur Verbandsklage ablehnte und dem Gruppenvergleich zustimmte. Ein Kanton war gegen die Vorschläge zur Verbandsklage, ohne sich zum Gruppenvergleich zu äussern, während drei Kantone den Gruppenvergleich ablehnten, ohne zur Verbandsklage Stellung zu nehmen.

­

Ein Kanton sprach sich gegen sämtliche Vorschläge aus. Zwei politische Parteien waren generell gegen die Änderungen im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes. 24 Organisationen brachten ebenfalls ihre generelle Ablehnung zum Ausdruck und zwei weitere Organisationen waren teilweise dagegen. Diese Ablehnung kam primär aus der Wirtschaft oder wirtschaftsnahen Kreisen und wurde sowohl prinzipiell als auch inhaltlich begründet.

Angesichts dieses Vernehmlassungsergebnisses entschied sich der Bundesrat, die Vorschläge zum kollektiven Rechtsschutz und damit den parlamentarischen Auftrag gemäss Motion Birrer-Heimo 13.3931 nicht im Rahmen der Vorlage 20.026, sondern separat zu behandeln. Damit wurde der vielfältigen Kritik in der Vernehmlassung Rechnung getragen.13 Aus Sicht des Bundesrates ist das Vernehmlassungsergebnis wie folgt zu würdigen: ­

12 13

Zwar unterstützt eine knappe Mehrheit die Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes, wie ihn die Motion 13.3931 Birrer-Heimo verlangt. Weil sich gleichzeitig eine starke Minderheit generell gegen jegliche Form der kollektiven Rechtsdurchsetzung ausgesprochen hat, ist bei der Umsetzung des Vgl. dazu auch Bericht über das Ergebnis der Vernehmlassungen, S. 11 f., 22 ff. (abrufbar unter www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene > 2018 > EJPD).

Vgl. Botschaft vom 26. Februar 2020 zur Änderung der ZPO, BBl 2020 2697, 2721 f.

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Anliegens aber Zurückhaltung angezeigt, indem möglichst mehrheitsfähige Lösungen gesucht werden.

­

Die Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes ist vorab durch den Ausbau des bestehenden Instruments der Verbandsklage anzustreben und nicht durch die Schaffung neuer Instrumente. Daher ist auch auf die Schaffung eines separaten Gruppenvergleichsverfahrens zu verzichten (vgl. Ziff. 4.2).

­

Soweit es um die Beteiligung der direkt betroffenen Personen an einem kollektiven Verfahren geht, ist der auf einer aktiven Beteiligung der betroffenen Personen beruhenden Opt-in-Konzeption zu folgen. Gruppen- oder Sammelklagen mit einer reinen Opt-out-Konzeption sind dagegen weiterhin nicht mehrheitsfähig.

­

Eine Mehrheit unterstützt eine sektorübergreifende Umsetzung beim kollektiven Rechtsschutz.

2.3

Weitere Arbeiten

Im Lichte der Ergebnisse der Vernehmlassung und ihrer Würdigung (vgl. Ziff. 2.2) und in Anbetracht der zwischenzeitlichen Entwicklungen im In- und Ausland (vgl.

dazu auch Ziff. 3) wurde die Vernehmlassungsvorlage überarbeitet (zu den Anpassungen gegenüber dem Vorentwurf vgl. Ziff. 4.1 und 4.2). Dabei wurde die Verwaltung wiederum durch eine Expertengruppe aus Spezialistinnen und Spezialisten aus Wissenschaft, Justiz und Anwaltschaft unterstützt und beraten.14

14

Der Expertengruppe gehörten (in alphabetischer Reihenfolge) folgende Personen an: Prof. Dr. Samuel Baumgartner, ordentlicher Professor für Zivilprozessrecht, vergleichendes Zivilprozessrecht, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Privatrecht und Mediation an der Universität Zürich; Dr. Martin Bernet, Rechtsanwalt in Zürich; Prof. Dr. Alexander Brunner, emeritierter Professor an der Universität St. Gallen und ehemaliger Oberrichter am Handelsgericht Zürich; Prof. Dr. Isabelle Chabloz, ordentliche Professorin für Wirtschaftsrecht an der Universität Fribourg; Prof. Dr. Tanja Domej, ordentliche Professorin für Zivilverfahrensrecht, Privatrecht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich; Prof. Dr. Nicolas Jeandin, ordentlicher Professor an der Universität Genf und Rechtsanwalt in Genf; Prof. Dr. Karin Müller, ordentliche Professorin für Privatrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Zivilverfahrensrecht an der Universität Luzern; Dr. Meinrad Vetter, Oberrichter und Vizepräsident des Handelsgerichts Aargau.

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3

Rechtsvergleich, insbesondere mit dem europäischen Recht

3.1

Europäische Union

Im Anschluss an ihre Empfehlung an die EU-Mitgliedstaaten zur Einführung kollektiver Rechtsschutzverfahren für allgemeine kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren am 11. Juni 201315 führte die Europäische Kommission eine Auswertung der praktischen Implementierung ihrer Empfehlung durch. Am 25. Januar 2018 hat die Kommission ihren Bericht vorgelegt.16 Am 11. April 2018 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie vor.17 Nach einem aufwändigen Gesetzgebungs- und Einigungsprozess wurde am 25. November 2020 die Richtlinie 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG verabschiedet,18 die sich durch folgende Kernpunkte auszeichnet:

15

16

17

18

­

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, (mindestens) ein System für Verbandsklagen einzuführen, mit dem die Kollektivinteressen der Konsumentinnen und Konsumenten vor der Verletzung von bestimmten EU-Regelungen (und von nationalen Umsetzungsnormen) geschützt werden. Die Richtlinie enthält einen Katalog des massgebenden EU-Rechts. Dazu gehört insbesondere das EU-Recht in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Reisen und Tourismus, Energie, Gesundheit, Telekommunikation und Datenschutz (vgl. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Anhang I).

­

Klagen können qualifizierte Einrichtungen (insb. Konsumentenorganisationen zum Schutz von Kollektivinteressen von Konsumentinnen und Konsumenten) und zwar sowohl auf Unterlassung als auch auf Abhilfemassnahmen wie Schadenersatz/Entschädigung. Damit kommen diese den Konsumentinnen und Konsumenten ohne separate Individualklage zugute. Bei solchen reparatorischen Klagen können die Mitgliedstaaten ein sog. Opt-in- oder ein Opt-out-System vorsehen; im Verhältnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten ist ein Opt-in-Mechanismus zwingend.

Europäische Kommission, Empfehlung «Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten» vom 11. Juni 2013, ABl. 2013 L 201/60 sowie Mitteilung «Auf dem Weg zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz» vom 11. Juni 2013, Dokument COM(2013) 401, final.

Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Umsetzung der Empfehlung der Kommission vom 11. Juni 2013 über gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten (2013/396/EU), COM(2018) 40 final.

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, COM/2018/184 final ­ 2018/0089 (COD).

Richtlinie (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. 2020 L 409 S.1.

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­

Zum Schutz vor Missbrauch haben die qualifizierten Einrichtungen bestimmte Qualitäts- und Unabhängigkeitskriterien sowie Transparenzanforderungen zu erfüllen und müssen staatlich «benannt» werden. Zudem muss das sog. Unterliegensprinzip gelten, d. h. der Grundsatz der Tragung der Prozesskosten durch die unterlegene Partei. Umgekehrt ist sicherzustellen, dass diese Einrichtungen nicht durch die entstehenden Kosten von Klagen abgehalten werden.

­

Vergleiche über reparatorische Verbandsklagen bedürfen einer Überprüfung durch ein Gericht (oder eine Verwaltungsbehörde) und sind damit auch für Konsumentinnen und Konsumenten verbindlich, sofern diese entweder ihren Beitritt oder umgekehrt nicht ihren Austritt erklärt haben.

­

Die Verbandsklagen müssen die Verjährung hemmen oder unterbrechen. Zudem ist eine Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln vorzusehen.

­

Weitergehende Regelungen im nationalen Recht sind zulässig.

Die Richtlinie ist am 24. Dezember 2020 in Kraft getreten. Die Mitgliedstaaten haben bis zum 25. Dezember 2022 Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, und die neuen Bestimmungen werden ab dem 25. Juni 2023 angewendet. Derzeit laufen in den EU-Mitgliedstaaten die Arbeiten zur Umsetzung der Richtlinie.19 Im Rahmen eines 2020 abgeschlossenen gemeinsamen Projekts haben das Institut international pour l'unification du droit privé (UNIDROIT) und das European Law Institute (ELI) die Model European Rules of Civil Procedure entwickelt, welche als Modellgesetz für die weitere Entwicklung des Zivilprozessrechts in der Europäischen Union und Europa insgesamt dienen können.20 Die Vorschläge betreffen auch den kollektiven Rechtsschutz: Vorgeschlagen wird eine Gruppenklage von qualifizierten Klägern im Interesse einer Gruppe von Geschädigten.

3.2

Regelungen in europäischen Ausland

3.2.1

Deutschland

In Deutschland existiert seit dem 1. November 2005 ein Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG), das für Rechtsstreitigkeiten aufgrund öffentlicher Kapitalmarktinformationen ein Musterverfahren zur kollektiven Rechtsdurchsetzung vorsieht. Dieses wurde 2012 neugefasst und gilt bis 31. Dezember 2023.21

19

20 21

Vgl. dazu z.B für die Niederlande weitere Informationen unter www.internetconsultatie.nl/implementatie_rl_collectieve_actie oder für Irland unter www.gov.ie/en/consultation/14987-public-consultation-on-the-transposition-ofdirective-eu-20201828-on-representative-actions-for-the-protection-of-the-collectiveinterests-of-consumers/.

Vgl. dazu www.europeanlawinstitute.eu > Projects&Publications > Completed Projects > Model European Rules of Civil Procedure (with UNIDROIT).

Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz vom 19. Oktober 2012 (BGBl. 2012- I 2182), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 16. Oktober 2020 (BGBl. 2020-I 2186) geändert worden ist.

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Am 1. November 2018 wurde die zivilprozessuale Musterfeststellungsklage eingeführt.22 Dabei können besonders qualifizierte Verbraucherorganisationen eine Musterfeststellungsklage erheben, wenn sie für mindestens zehn betroffene Verbraucherinnen oder Verbraucher Ansprüche erheben. Wird die Klage zugelassen, können sich betroffene Personen zur Musterfeststellungsklage anmelden (Opt in), indem sie sich in ein Klageregister eintragen, wodurch die Verjährung unterbrochen wird. Das Verfahren wird durchgeführt, wenn sich mindestens 50 Personen anmelden. Das Urteil im Musterfeststellungsklageverfahren wirkt zugunsten oder zulasten aller betroffener Personen, die sich angemeldet haben. Die Geltendmachung des jeweiligen Ersatzanspruchs der betroffenen Personen erfolgt anschliessend ­ soweit noch notwendig ­ in einem separaten Einzelverfahren. Bisher wurden 15 Musterfeststellungsklagen in das Klageregister eingetragen.

3.2.2

Österreich

In Österreich haben Praxis und Rechtsprechung seit Beginn der 2000er-Jahre die sogenannte Sammelklage österreichischer Prägung entwickelt. Dabei handelt es sich um eine inkassoweise Geltendmachung einer Vielzahl von Ansprüchen im Wege einer Klagenhäufung durch einen (Verbands-)Kläger, vornehmlich durch Konsumentenschutzorganisationen.23 Daneben bestehen Verbandsklagen auf Unterlassung der Verwendung und Empfehlung unzulässiger AGB und auf Unterlassung unzulässiger Geschäftspraktiken sowie auf Unterlassung und Beseitigung von Lauterkeitsverletzungen.24

3.2.3

Italien

Italien hat 2010 eine Gruppenklage in der Verbrauchergesetzgebung eingeführt, die bereits mehrfach angepasst wurde. Dabei reicht eine Organisation oder eine einzelne betroffene Person eine Gruppenklage ein, der sich weitere Konsumentinnen und Konsumenten anschliessen können (Opt in) und die in einem zweiphasigen Verfahren (Zulassung der Gruppenklage und materielle Entscheidung darüber) behandelt wird.25 Per 19. November 2020 wurden die Regelungen zur Gruppenklage weiter revidiert und ausgebaut, so insbesondere durch die Einführung einer besonderen Registrierung von Gruppenklagen, die Beschleunigung des Zulassungsverfahrens und die Erweiterung des sachlichen (insb. auf Produkthaftung, Wettbewerbsrecht, Finanzdienstleistungen) und persönlichen (auch Nicht-Konsumenten) Anwendungsbereichs.

22 23

24 25

Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage vom 12. Juli 2018, BGBl. 2018-I 1151.

Vgl. dazu auch Bericht Kollektiver Rechtsschutz (FN 2),, S. 17 ff. sowie ALEXANDER KLAUSER/PETER HADLER, Kollektiver Rechtsschutz in der österreichischen Praxis, ZZPInt 18 (2013), S. 103 ff. m.w.H.

Vgl. dazu PETRA LEUPOLD, Kollektiver Rechtsschutz: Österreich und Deutschland im Vergleich, ecolex 2019, 564 m.w.H.

Vgl. ALESSIO VICINZINO, L'action de groupe en Italie: état de la situation, Revue Européenne de Droit de la Consommation 2014, S. 549 ff.

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3.2.4

Frankreich

Frankreich kennt seit 2014 im Verbraucherrecht eine echte zweiphasige Gruppenbzw. Verbandsklage (action de groupe) für bestimmte Verbraucherverbände zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen.26 Um an der zweiten Phase des Entschädigungsverfahrens teilzunehmen, ist eine Beitrittserklärung (Opt in) der betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher notwendig, die aber erst nach dem Entscheid (oder alternativ nach dem Abschluss eines Vergleichs) erfolgt.27 Mit dem Justizmodernisierungsgesetz 2016 wurde diese Gruppenklage auf alle Diskriminierungen, den Umweltschutz, den Gesundheitsschutz und den Datenschutz ausgedehnt und einheitlich geregelt.

3.2.5

Niederlande

Das niederländische Recht kennt seit Juli 2005 mit dem Gesetz betreffend die kollektive Abwicklung von Massenschäden (WCAM) eine spezielle Regelung für Gruppenvergleiche zur kollektiven Rechtsdurchsetzung, welche 2012/2013 revidiert wurde.

Dieses besondere Gruppenvergleichsverfahren zwischen einem oder mehreren (mutmasslich) haftenden Schädigern und einem Verein oder einer Stiftung, der oder die im gemeinsamen Interesse sämtlicher Geschädigten handelt, soll zu einem gerichtlich genehmigten und für sämtliche betroffenen Geschädigten, die nicht innert einer bestimmten Frist ihren Austritt (Opt out) erklären, verbindlichen Vergleich führen. Bisher wurden sieben Massenschadensfälle in einem solchen Gruppenvergleichsverfahren abgewickelt.28 Am 1. Januar 2020 wurde mit dem Gesetz betreffend Abwicklung von Massenschäden in Kollektivklagen (WAMCA) die bisherige Verbandsklage ausgeweitet und als eigentliche Kollektiv- oder Gruppenklage zur kollektiven Geltendmachung von Massenschäden nach der Opt-out-Konzeption neu gefasst mit dem Ziel, damit stärkere Anreize für das Gruppenvergleichsverfahren zu setzen.29

26 27

28

29

Vgl. Art. 1 des Gesetzes Nr. 2014-344 vom 17. März 2014 betreffend Verbraucherangelegenheiten, JORF Nr. 0065 vom 18. März 2014.

Vgl. dazu STEPHANIE ROHLFING-DIJOUX, Reform des Verbraucherschutzes in Frankreich durch die Einführung einer Gruppenklage in das französische Recht, EuZW 2014, S. 771 ff. m.w.H.

Vgl. dazu auch MATTHIS PETER, Zivilprozessuale Gruppenvergleichsverfahren ­ Einvernehmliche Streitbeilegung im kollektiven Rechtsschutz, Diss. Zürich 2017, S. 65 ff. sowie THIJS BOSTERS, Collective Redress and Private International Law in the EU, Den Haag 2017, S. 47 ff.

Vgl. IANIKA TZANKOVA/XANDRA E. KRAMER, From Injunction and Settlement to Action: Collective Redress and Funding in the Netherlands in: UZELAC/VOET, Class Actions in Europe: Holy Grail or a Wrong Trail?, Springer 2021, S. 97 ff. m.w.H.

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4

Grundzüge der Vorlage

4.1

Die beantragte Neuregelung

4.1.1

Ausbau der bestehenden Verbandsklage

Die bestehende Verbandsklage gemäss Artikel 89 ZPO soll in verschiedenen Punkten angepasst werden, damit dieses Instrument der kollektiven Rechtsdurchsetzung in Zukunft effektiv genutzt werden kann. Konkret soll Artikel 89 neu gefasst und wie folgt angepasst werden: ­

Wie bereits im Vorentwurf vorgeschlagen, soll die Verbandsklage neu nicht mehr nur auf Persönlichkeitsverletzungen beschränkt sein, sondern es sollen grundsätzlich sämtliche (Privat-)Rechtsverletzungen Gegenstand einer Verbandsklage sein können, wie das für Individualklagen auch gilt.

­

Die Voraussetzungen der Klagelegitimation soll gegenüber heute klarer geregelt werden: Neu sollen Verbände und andere Organisationen gemäss Artikel 89 Absatz 1 E-ZPO unter vier klar festgelegten Voraussetzungen zur Verbandsklage (keine Gewinnorientierung, mindestens zwölfmonatiges Bestehen, statutarische oder satzungsmässige Befugnis zur Interessenwahrung, Unabhängigkeit von der beklagten Partei) legitimiert sein. Damit werden gegenüber heute neu zusätzliche Anforderungen gestellt; das liegt sowohl im Interesse der beklagten Partei als auch der von der Verbandsklage betroffenen Angehörigen einer bestimmten Personengruppe und letztlich auch eines funktionierenden Rechtsstaats. Dabei darf aber nicht aus den Augen verloren werden, dass die Verbandsklage nach Artikel 89 ZPO derzeit praktisch nicht genutzt wird; es kann also gerade nicht darum gehen kann, die Verbandsklage weiter einzuschränken.

­

Wie bisher soll die Verbandsklage auf die Unterlassung oder Beseitigung einer Rechtsverletzung oder die Feststellung der Widerrechtlichkeit einer Verletzung gerichtet sein, wobei der Feststellungsanspruch von keinem zusätzlichen besonderen Feststellungsinteresse abhängig ist. Zusätzlich soll auch die gerichtliche Anordnung einer Berichtigung oder einer Mitteilung oder Publikation des Entscheids möglich sein.

Flankiert wird diese Neuregelung durch weitere Anpassungen und Ergänzungen des nationalen Prozessrechts (ZPO) sowie des internationalen Verfahrensrechts (Bundesgesetz vom 18. Dezember 1987 über das Internationale Privatrecht [IPRG, SR 291]), namentlich in Bezug auf die sachliche und örtliche Zuständigkeit für Verbandsklagen sowie in Bezug auf die Prozesskosten.

4.1.2

Neue Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen

Parallel zum Ausbau der bestehenden Verbandsklage soll die ZPO um eine Regelung für eine Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen ergänzt werden (vgl. Art. 307b E-ZPO). Damit soll die kollektive Durchsetzung von Massenschäden

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und teilweise auch von Streuschäden effektiv möglich werden.30 Die bereits nach geltendem Recht und auch in Zukunft zulässige Form der kollektiven Geltendmachung von Ansprüchen im Weg einer (Inkasso-)Abtretung und gebündelter Geltendmachung mittels Klagenhäufung wird auf diese Weise sinnvoll ergänzt.31 Dabei kann ein Verband oder eine andere Organisation, die entweder nach Artikel 89 ZPO oder nach einer besonderen gesetzlichen Regelung in einem Spezialgesetz zu einer Verbandsklage legitimiert ist, im Wege einer sogenannten Prozessstandschaft in eigenem Namen und damit auf eigenes Risiko Klage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen der betroffenen Personen erheben, die entweder vorgängig ihre Ermächtigung dazu gegeben haben oder sich der Klage ausdrücklich angeschlossen haben (Opt in). Voraussetzung dafür ist, dass die geltend gemachten Ansprüche auf gleichartigen Tatsachen oder Rechtsgründen beruhen und somit ein Massen- oder Streuschaden vorliegt und dass mindestens zehn betroffene Personen den Verband oder die Organisation vor Klageeinleitung zur Prozessführung ermächtigt haben. Auf eine sachliche Beschränkung auf bestimmte Rechtsverletzungen oder Rechtsgebiete möchte der Bundesrat jedoch bewusst verzichten, auch wenn das natürlich entsprechend dem Beispiel der neuen EU-Verbandsklagenrichtlinie denkbar wäre. Angesichts der gegenüber dem Vorentwurf restriktiveren Voraussetzungen für eine Verbandsklage kann auf weitere Anforderungen an die Verwendung eines allfälligen Prozessgewinns oder an die Eignung des klagenden Verbandes verzichtet werden.

Im Gegensatz zum Vorentwurf erfolgt die Klageeinleitung durch einen Antrag auf Zulassung, über den das Gericht nach Anhörung der Gegenpartei in einem ersten Schritt entscheidet. Nur wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, wird die Verbandsklage zugelassen und kommt es überhaupt zum eigentlichen Verbandsklageverfahren.

Dann wird die Verbandsklage in einem öffentlich zugänglichen elektronischen Verzeichnis eingetragen, das jeder Kanton führen wird und das die wesentlichen Informationen zu sämtlichen kollektiven Verfahren enthält; diese Informationen werden also publiziert. Gestützt darauf können sich betroffene Personen innert einer bestimmten Frist von mindestens drei Monaten der Verbandsklage anschliessen. Zu diesem Zeitpunkt besteht für die beklagte Partei
Klarheit über die erfassten betroffenen Personen und die geltend gemachten Ansprüche. Im anschliessenden Verfahren entscheidet das Gericht über die Klage und damit über die einzelnen vom klagenden Verband oder von der klagenden Organisation als Prozessstandschafter geltend gemachten Ersatzansprüche, es sei denn, dass es in der Folge und vor einem Entscheid zum Abschluss eines Vergleichs kommt (vgl. Art. 307h ff. E-ZPO sowie Ziff. 4.1.3). Dafür finden grundsätzlich die allgemeinen Regeln des Prozessrechts Anwendung, insbesondere was das Beweisrecht betrifft. Im Gegensatz zu ausländischen Regelungen sind dafür bewusst keine besonderen Regelungen vorgesehen. Das gleiche gilt mit

30

31

Bei einem Massenschaden wird eine Vielzahl von Personen in gleicher oder gleichartiger Weise betroffen und jede einzelne in einer für sie erheblichen Weise geschädigt. Streuschäden sind demgegenüber Schäden, bei welchen eine Vielzahl von Personen lediglich einen wertmässig kleinen Schaden erleidet; vgl. dazu ausführlich Bericht Kollektiver Rechtsschutz (FN 2), S. 10 ff.

Vgl. dazu LORENZ LAUER, Kollektiver Rechtsschutz im Schweizerischen Privatrecht, BJM 2017, S. 173 ff., 186 und TANJA DOMEJ, Einheitlicher kollektiver Rechtsschutz in Europa?, ZZP 2012, S. 421 ff. m.w.N.

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Bezug auf die Prozesskosten und damit namentlich auch die allfällige Pflicht des klagenden Verbands zur Leistung eines Vorschusses für die Gerichtskosten sowie zur Leistung einer Sicherheit für die Parteientschädigung zum Schutz der beklagten Partei.

4.1.3

Regelung kollektiver Vergleiche

Das neue Verbandsklageverfahren soll mit Regelungen zu kollektiven Vergleichen ergänzt werden (Art. 307h ff. E-ZPO). Damit soll den spezifischen Bedürfnissen und Risiken von Vergleichen zur Regulierung von Massen- oder Streuschäden Rechnung getragen werden. Das ist im Interesse beider Seiten, insbesondere auch der beklagten Partei.

Voraussetzung der Wirksamkeit eines Vergleichs ist die Genehmigung durch das Gericht; im Unterschied zu Individualverfahren ist bei kollektiven Vergleichen im Interesse der betroffenen Personen, welche nicht direkt Partei sind, eine gerichtliche Prüfung und Genehmigung Voraussetzung der Verbindlichkeit des Vergleichs sowohl für die Parteien des Vergleichs als auch die davon gebundenen betroffenen Personen.

Grundsätzlich sind das die betroffenen Personen, die sich der Verbandsklage angeschlossen haben (Opt-in-Vergleich). Konkret hat das Gericht zu prüfen, ob die getroffene Vereinbarung angemessen ist, der Vergleich nicht gegen zwingendes Recht verstösst, die Kostenfolgen angemessen geregelt sind und die Interessen der vom Vergleich betroffenen Personen insgesamt angemessen gewahrt erscheinen (Art. 307j E-ZPO).

Daneben soll für bestimmte Fälle ausnahmsweise auch ein sogenannter Opt-out-Vergleich möglich sein, der für sämtliche von der Rechtsverletzung betroffenen Personen gilt, welche nicht innert einer bestimmten Frist den Austritt vom Vergleich erklären.

Weil diese nicht selbst Partei des Verfahrens sind und somit auch keine Parteirechte geniessen, ist diese Vorgehensweise an die zusätzliche Voraussetzung zu knüpfen, dass der Ersatzanspruch der einzelnen betroffenen Personen so gering ist, dass sich eine individuelle Klage nicht lohnt (vgl. Art. 307h Abs. 2 Bst. a E-ZPO); in diesen Fällen kann auch nicht von einer Beeinträchtigung der Verfahrensrechte gesprochen werden, weil es ohne kollektives Verfahren faktisch zu keinem Verfahren und damit keiner Rechtsdurchsetzung käme.

Weil es in der Praxis durchaus Fälle gibt, in denen es auch ohne verbandsklageweise Geltendmachung zu einem Vergleichsabschluss zwischen repräsentativen Organisationen einerseits und einer oder mehreren einer Rechtsverletzung beschuldigten Personen andererseits kommt, sollen diese Regelungen auch auf kollektive Vergleiche ausserhalb einer Verbandsklage Anwendung finden können (vgl. Art. 307k und 307l E-ZPO).

4.2

Verzicht auf Gruppenvergleich und Sammelklage

Im Unterschied zum Vorentwurf soll auf die Schaffung eines separaten Gruppenvergleichsverfahrens verzichtet werden, nachdem dieses in der Vernehmlassung auch als 18 / 38

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kompliziert kritisiert wurde.32 Die Regelungen zu kollektiven Vergleichen lassen sich problemlos in das Verbandsklageverfahren integrieren.

Weiterhin möchte der Bundesrat von der Schaffung einer eigentlichen Gruppen- oder Sammelklage im Schweizer Recht absehen, auch wenn diese mit der Motion 13.3931 Birrer-Heimo teilweise verlangt wird: Weder besteht dafür heute in der Schweiz ein spezifisches Bedürfnis, noch erscheint eine solche Gruppenklage mit individuellen Gruppenklägern erforderlich, um die kollektive Rechtsdurchsetzung zu verbessern.

Das auch in der Schweiz bereits bekannte Konzept der Verbandsklage ist nach Ansicht des Bundesrates klar vorzuziehen und stimmt auch mit den jüngsten Entwicklungen im übrigen Europa überein.

4.3

Umsetzungsfragen

Grundsätzlich bedürfen die vorgeschlagenen Anpassungen bestehender Bundesgesetze keiner weiteren Umsetzung auf Verordnungsstufe. Dies gilt auch für die in Artikel 400 Absatz 2bis E-ZPO neu vorgesehene Pflicht des Bundesrates, der Öffentlichkeit Informationen zu den kantonalen Verzeichnissen über kollektive Verfahren gemäss Artikel 307g E-ZPO sowie ein entsprechendes Verzeichnis zur Verfügung zu stellen.

Die vorgeschlagenen Anpassungen der Zivilprozessordnung können allenfalls auch zu Anpassungen im kantonalen Recht, namentlich in den kantonalen Gerichtsverfahrens- und -organisationsgesetzen, führen (vgl. Ziff. 6.2). Zudem werden die Kantone das neu vorgesehene elektronische Verzeichnis kollektiver Verfahren führen (vgl.

dazu die Erläuterungen zu Art. 307g E-ZPO); somit bestimmt sich der allfällige Anpassungsbedarf nach dem jeweiligen kantonalen Recht.

Übergangsrechtlich kommen die allgemeinen Regelungen der ZPO gemäss Artikel 404 ff. ZPO sowie die allgemeinen übergangsrechtlichen Grundsätze für das Verfahrensrecht zur Anwendung. Unter Vorbehalt von Artikel 404 Absatz 1 ZPO gilt neues Verfahrensrecht für Verfahrenshandlungen nach Inkrafttreten des neuen Rechts. Die neuen Regeln gelten somit für Verbandsklagen, die nach Inkrafttreten der Änderung eingeleitet werden. Besondere Bestimmungen für diese Änderung der ZPO sind daher nicht notwendig.

5

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

5.1

Zivilprozessordnung

Art. 5 Abs. 1 Bst. j Sowohl angesichts der Komplexität der Verfahren als auch im Sinne einer Konzentration und damit verbundenen Spezialisierung soll für die Verbandsklagen und die Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche eine einzige kantonale Instanz sachlich

32

Vgl. Bericht Auswertung Vernehmlassung (FN 11), S. 51 ff.

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zuständig sein. Dass es sich bei dieser einzigen kantonalen Instanz um ein oberes kantonales Gericht handeln muss, ergibt sich aus Artikel 75 Absatz 2 Buchstabe a Bundesgerichtsgesetz (BGG).33 Dass damit in Durchbrechung des Grundsatzes der sog.

double instance kein innerkantonales Rechtsmittel gegen entsprechende Entscheide zur Verfügung steht, ist ­ entgegen teilweiser Kritik in der Vernehmlassung34 ­ gerechtfertigt: Neben der Fachkompetenz des Gerichts und der gewünschten Beschleunigung solcher Verfahren rechtfertigt auch die besondere kollektive Rechtsschutzform diese abweichende Regelung.

Art. 16a

Verbandsklagen und kollektive Verfahren

Wie bereits im Vorentwurf vorgeschlagen, soll die örtliche Zuständigkeit für Verbandsklagen sowie die Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche in Zukunft gesondert geregelt werden. Im Unterschied zum Vorentwurf soll dafür neben dem Beklagtengerichtsstand alternativ überall dort geklagt werden können, wo auch auf dem Weg der Individualklage mindestens eine der betroffenen Personen klagen kann (Abs. 1), und damit namentlich am Handlungs- oder Erfolgsort, wie das teilweise in der Vernehmlassung verlangt wurde.35 Im Falle einer Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach Artikel 307b ff. E-ZPO sind als betroffene Personen diejenigen zu betrachten, die den klagenden Verband zur Prozessführung ermächtigt haben (vgl. Art. 307b Bst. b E-ZPO). Für die Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche sind auch die Gerichte am Sitz des Verbandes zuständig (Abs. 2). Stets handelt es sich dabei um nicht zwingende Gerichtsstände, so dass insbesondere eine abweichende Gerichtsstandsvereinbarung denkbar und für die Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche wahrscheinlich ist.

Art. 89

Verbandsklage

Die Regelung der Verbandsklage soll ausgebaut und insgesamt neu gefasst werden, so dass sie in Zukunft nicht toter Buchstabe ist und effektiv zur kollektiven Rechtsdurchsetzung taugt. Konkret soll die bisherige Beschränkung der Verbandsklage auf Persönlichkeitsverletzungen aufgehoben und die Verbandsklage damit für das gesamte Privatrecht geöffnet werden. Während der sachliche und auch der funktionelle Anwendungsbereich ausgebaut werden soll, sollen gleichzeitig die Voraussetzungen an die Legitimation der Verbände und anderer Organisationen strenger und damit einschränkender sein.

Voraussetzungen der Verbandsklage (Abs. 1) Nach geltendem Recht können Vereine und andere Organisationen von gesamtschweizerischer oder regionaler Bedeutung, die nach ihren Statuten zur Wahrung der Interessen bestimmter Personengruppen befugt sind, in eigenem Namen auf Verletzung der Persönlichkeit der Angehörigen dieser Personengruppen klagen (Art. 89 Abs. 1 ZPO). Nach dem Vorschlag des Bundesrates soll die Verbandsklage neu für 33 34 35

Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG); SR 173.110.

Vgl. Bericht Auswertung Vernehmlassung (FN 11), Ziff. 5.2.

Vgl. Bericht Auswertung Vernehmlassung (FN 11), Ziff. 5.4.

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Verletzungen der (Privat-)Rechte der Angehörigen einer bestimmten Personengruppe zulässig sein (Abs. 1 Einleitungssatz) und allgemein Verbänden und anderen Organisationen unter folgenden vier kumulativen Voraussetzungen offenstehen: ­

Zur Verhinderung von Missbräuchen und der Zweckentfremdung der Verbandsklage soll künftig vorausgesetzt werden, dass klagelegitimierte Verbände und andere Organisationen keine Gewinnorientierung haben, d. h. mit ihrer statuten- oder satzungsmässigen Tätigkeit nicht die Erzielung eines Gewinns anstreben (Bst. a). Als Verbandsklägerinnen ausgeschlossen sind damit vorab nach kaufmännischer Art geführte Gesellschaften und Unternehmen, nicht aber etwa Organisationen zum Schutz oder zur Interessenwahrung auch solcher Unternehmen und Personen. Eigentlich kommerzielle Organisationen sollen keine Verbandsklagen führen können, weil dies nicht nur der Natur der schweizerischen Verbandsklage widersprechen würde, sondern durchaus auch Interessenkonflikte aufwerfen kann. Primär in Betracht kommen somit weiterhin vor allem Vereine im Sinne von Artikel 60 ff. ZGB36 sowie Stiftungen gemäss Artikel 80 ff. ZGB.

­

Im Unterschied zum Vorentwurf soll neu explizit vorausgesetzt werden, dass ein Verband oder eine andere Organisation im Zeitpunkt der Klageerhebung seit mindestens zwölf Monaten bestehen muss (Bst. b). Damit soll immer wieder geäusserten Bedenken gegenüber Klagen von reinen sogenannten Ad-hocOrganisationen begegnet werden.37 Es entspricht auch den Regelungen im europäischen Ausland, die Legitimation von einer gewissen Mindestdauer des Bestehens abhängig zu machen (vgl. Art. 4 Abs. 3 Bst. a EU-RL 2020/1828).

­

Wie nach geltendem Recht setzt die Klagelegitimation eines Verbands oder einer anderen Organisation voraus, dass diese nach ihren Statuten zur Wahrung der Interessen einer bestimmten Personengruppe befugt ist, deren bedrohte oder verletzte Rechte gerade Gegenstand der Verbandsklage bilden (Bst. c). Neu soll auch die Satzung als Grundlage für die Interessenwahrungspflicht ausdrücklich erwähnt werden, weil neben Vereinen insbesondere auch Stiftungen als Verbandsklägerinnen in Betracht kommen.

­

Als weitere Voraussetzung soll neu die Unabhängigkeit des klagenden Verbandes oder der klagenden Organisation von der oder den beklagten Parteien vorausgesetzt werden (Bst. d). Damit wird im Interesse der betroffenen Personen verhindert, dass eine Verbandsklage nicht oder nicht ausschliesslich in deren Interesse eingeleitet oder geführt wird. Auch diese Voraussetzung entspricht ausländischen Regelungen (vgl. Art. 4 Abs. 3 Bst. e EU-RL 2020/ 1828).

Im Unterschied zum geltenden Recht soll demgegenüber auf die Voraussetzung der «gesamtschweizerischen oder regionalen Bedeutung» verzichtet werden. Dieses Erfordernis ist für die Praxis kaum klar, so zum Beispiel in Bezug auf internationale

36 37

Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907; SR 210.

Vgl. dazu bspw. Botschaft ZPO 2006, BBl 2006 7289.

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oder umgekehrt lokale Organisationen.38 Damit sind unter den übrigen Voraussetzungen auch ausländische Organisationen klageberechtigt. Angesichts des Vernehmlassungsergebnisses39 soll auch auf zusätzliche Voraussetzungen bezüglich Eignung oder Qualifikation der legitimierten Verbände und Organisationen verzichtet werden.

Klagemöglichkeiten (Abs. 2 und Abs. 3) Wie bisher kann mit der Verbandsklage grundsätzlich auf Unterlassung oder Beseitigung geklagt werden. Zudem kann mit der Verbandsklage auf Feststellung der Widerrechtlichkeit einer Rechtsverletzung geklagt werden, wobei dafür zukünftig die allgemeinen Voraussetzungen bezüglich Feststellungsinteresse zur Anwendung kommen sollen. Nicht mehr erforderlich ist somit, dass sich die Verletzung weiterhin störend auswirkt, was in der Vergangenheit gemäss Rechtsprechung bereits zur Unzulässigkeit von Verbandsklagen geführt hat.40 Insbesondere stellt auch das Interesse an der zukünftigen Geltendmachung von Individualansprüchen ein genügendes Feststellungsinteresse dar.

Ergänzend sollen in einem neuen Absatz 3 explizit die weiteren Möglichkeiten vorgesehen werden, dass auch eine Mitteilung an Dritte oder eine Veröffentlichung eines Gerichtsentscheids verlangt werden kann. Das entspricht insbesondere der Regelung von Artikel 9 Absatz 2 UWG41 und der Lehre zum geltenden Recht.42 Vorbehalt spezialgesetzlicher Verbandsklagen (Abs. 4) Der bisherige Vorbehalt spezialgesetzlicher Verbandsklagen gemäss Artikel 89 Absatz 3 ZPO soll beibehalten, jedoch präzisiert werden: Im Interesse der Einheitlichkeit und Kohärenz ist der Vorbehalt dahingehend anzupassen, dass spezialgesetzliche Verbandsklagen vorbehalten sind, soweit sie solche Klagen in einem weiteren Umfang als die ZPO zulassen. Das kann sowohl die Voraussetzungen für die Legitimation als auch die Klagemöglichkeiten betreffen. Entsprechend kann im Rahmen dieser Vorlage auf die Anpassung der spezialgesetzlichen Regelungen der Verbandsklage in den jeweiligen Gesetzen, wie sie im Vorentwurf noch vorgesehen war, verzichtet werden.

Art. 107 Abs. 1 Bst. dbis und dter Um den spezifischen Schwierigkeiten und Prozesskostenrisiken bei Verbandsklagen Rechnung tragen zu können, sind diese nach Ansicht des Bundesrates in die Liste der Ausnahmen von Artikel 107 Abs. 1 ZPO aufzunehmen, in denen das Gericht von den
Verteilungsgrundsätzen gemäss Artikel 106 ZPO abweichen kann. Damit kann das Gericht bei der Verteilung der Prozesskosten auf die Besonderheiten solcher Verfahren Rücksicht nehmen und die Kosten nach Ermessen verteilen. So lassen sich insbesondere im Einzelfall auch die Kostenfolgen zulasten klagender Verbände reduzieren

38 39 40 41 42

Vgl. z.B. ALEXANDER BRUNNER, Art. 89 N 10, in: BRUNNER/GASSER/SCHWANDER (Hrsg.), Kommentar ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016.

Vgl. Bericht Auswertung Vernehmlassung (FN 11), Ziff. 5.1.

Vgl. BGer 4A_483/2018 vom 8. Februar 2019, E. 3.

Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 19. Dezember 1986 (UWG); SR 241.

Vgl. SAMUEL KLAUS, Art. 89 N 64 f., in: SPÜHLER/TENCHIO/INFANGER (Hrsg.), BSK ZPO, 3. Aufl., Basel 2017.

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und damit indirekt auch die Kostenrisiken verringern. Zur Reduktion der Kostenrisiken ist der besondere Fall, dass eine Partei ihre individuelle Klage zurückzieht, um sich einer Verbandsklage anzuschliessen (vgl. Art. 307d Abs. 3), ebenfalls in den Ausnahmekatalog aufzunehmen, ansonsten ein solcher Klagerückzug zumeist aus Kostengründen unterbleiben würde. Entgegen dem Vorentwurf erscheint eine solche Regelung bei kollektiven Vergleichen entbehrlich, weil dort die Kostenfolgen einvernehmlich geregelt und vom Gericht ohnehin überprüft werden (vgl. Art. 307j Abs. 1 Bst. d E-ZPO).

Gliederungstitel nach Art. 307a Die Regelungen zur neuen Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen (1. Kapitel) sowie der kollektiven Vergleiche (2. Kapitel) sind in einem neuen 8a. Titel «Kollektive Verfahren» einzufügen.

Art. 307b Die Bestimmung regelt in einem separaten Abschnitt die Voraussetzungen für die neue Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen. Dabei geht es primär um Schadenersatz, möglich ist aber auch die Gewinnherausgabe sowie ­ im Unterschied zum Vorentwurf ­ die Geltendmachung von Genugtuungsansprüchen. Diese neu zu schaffende Ausprägung der Verbandsklage ist unter den folgenden Voraussetzungen zulässig: ­

Nach Buchstabe a ist stets vorausgesetzt, dass ein Verband oder eine andere Organisation zu Erhebung einer Verbandsklage in eigenem Namen berechtigt ist. Das entspricht auch dem Vorentwurf. Dabei kann es sich entweder um eine Verbandsklage nach Artikel 89 ZPO handeln, so dass die Legitimationsvoraussetzungen von Artikel 89 Absatz 1 E-ZPO erfolgt sein müssen (vgl. die Erläuterungen zu dieser Bestimmung), oder um eine nach Artikel 89 Absatz 4 E-ZPO vorbehaltene spezialgesetzliche Verbandsklage, weshalb die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sein müssen.

­

Weil eine reparatorische Verbandsklage nur bei einer Betroffenheit einer Vielzahl von Personen zielführend erscheint, ist vorauszusetzen, dass der klagende Verband oder die klagende Organisation von mindestens zehn betroffenen Personen schriftlich oder in einer anderen Form, die den Nachweis durch Text ermöglicht, zur Prozessführung ermächtigt wurden (Bst. b). Diese Ermächtigungen müssen im Zeitpunkt der Klageeinleitung vorliegen und sind von den späteren Anschlusserklärungen weiterer betroffener Personen nach Zulassung der Verbandsklage zu unterscheiden (vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 307d E-ZPO).

­

Die verbandsklageweise und damit gebündelte Geltendmachung von Ersatzansprüchen erscheint nur dann effizient und somit auch prozessökonomisch, wenn zwischen den einzelnen Ansprüchen eine Konnexität besteht. Wie bei der Streitgenossenschaft (Art. 71 Abs. 1 ZPO) ist daher vorauszusetzen, dass die geltend gemachten Ersatzansprüche auf gleichartigen Tatsachen oder Rechtsgründen beruhen (Bst. c). Mit diesem gegenüber dem Vorentwurf neuen, nicht allzu engen Konnexitätserfordernis werden jedenfalls Massen23 / 38

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und Streuschadensfälle erfasst und umgekehrt andere Fälle ohne genügenden Sachzusammenhang ausgeschlossen.

Mit diesen Voraussetzungen sowie angesichts des vorgeschlagenen Zulassungsverfahrens (vgl. Art. 307c E-ZPO) und der Opt-in-Konzeption (vgl. Art. 307d E-ZPO) kann auf die weiteren im Vorentwurf vorgeschlagenen und kritisierten Voraussetzungen verzichtet werden, namentlich bezüglich der Verwendung des Prozessgewinns oder der Eignung des klagenden Verbands oder der klagenden Organisation. Wie bereits erwähnt (vgl. Ziff. 1.2.2) ist nach Ansicht des Bundesrates bewusst auf eine sachliche Beschränkung dieser Verbandsklage auf bestimmte Rechtsverletzungen beziehungsweise Rechtsgebiete zu verzichten; ein solches Vorgehen wäre letztlich willkürlich, da ein entsprechender Katalog neue unerwünschte Rechtsschutzlücken schaffen könnte.

Art. 307c

Zulassung

Angesichts ihrer besonderen Bedeutung und Wirkung soll die Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch einen besonderen Antrag auf Zulassung eingeleitet werden. Über diesen wird vorab in einem besonderen Zulassungsverfahren entschieden. Mit dieser Änderung gegenüber dem Vorentwurf wird das eigentliche Verbandsklageverfahren erleichtert und nur dann durchgeführt, wenn die zahlreichen Voraussetzungen der Klage überhaupt erfüllt sind.

Absatz 1 regelt die Voraussetzungen für einen Antrag auf Zulassung einer Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen. Dabei kann auf die eigentlichen Tatsachenbehauptungen und Nennung der Beweismittel verzichtet werden; demgegenüber sind dem Gericht neben der Angabe des in dieser besonderen Situation stets nur einstweiligen Streitwerts (Bst. c) Angaben zur behaupteten Rechtsverletzung und der betroffenen Personengruppe (Bst. d) sowie zu den besonderen Voraussetzungen der Verbandsklage (Bst. e) zu machen.

Nachdem das Gericht der Gegenpartei Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat, entscheidet es über die Zulassung der Verbandsklage (Abs. 2). Im Falle der Zulassung startet gemäss Absatz 3 das eigentliche Verbandsklageverfahren. Gleichzeitig wird die Verbandsklage in elektronischen Verzeichnis des jeweiligen Kantons veröffentlicht und ist somit entsprechend bekannt (Abs. 4; vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 307g E-ZPO), womit weitere Wirkungen und Schritte gemäss Artikel 307d E-ZPO verbunden sind. Gleichzeitig tritt damit neben den Wirkungen gemäss Artikel 64 ZPO hinaus eine besondere Rechtshängigkeits- und Sperrwirkung zugunsten der beklagten Partei ein: Die Zulassung weiterer Verbandsklagen zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen sie wegen der gleichen vorgeworfenen Rechtsverletzung ist bis zum Ende der Frist zum Anschluss gemäss Artikel 307d Absatz 2 E-ZPO ausgeschlossen.

Art. 307d

Anschluss an die Klage und Verhältnis zu Individualverfahren

Wie bereits im Vorentwurf vorgeschlagen, folgt die Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen uneingeschränkt der Opt-in-Konzeption: Nur wenn und soweit betroffene Personen einem Verband oder einer Organisation ausdrücklich ihre Ermächtigung zur Prozessführung erteilen, hat die Verbandsklage Wirkungen für und 24 / 38

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gegen sie (vgl. Art. 307f Abs. 1 E-ZPO). Damit entspricht der Entwurf auch mit den Regelungen im europäischen Ausland überein (vgl. dazu Ziff. 3). Insbesondere ist damit auch sichergestellt, dass keine Partei ohne entsprechende Willenserklärung oder ohne ihr Zutun von einem Prozess betroffen ist und gleichzeitig stets klar ist, für und gegen wen eine Verbandsklage Wirkung entfaltet und welche Ersatzansprüche damit im Streit stehen.

Mit der Publikation im elektronischen Verzeichnis erhalten die betroffenen Personen Kenntnis von der Zulassung der Verbandsklage. Sie sind somit in der Lage zu entscheiden, ob sie sich der Verbandsklage anschliessen wollen oder nicht. Dafür setzt ihnen das Gericht eine Frist von mindestens drei Monaten an. Innert dieser Frist können die betroffenen Personen den klagenden Verband oder die klagende Organisation zur Prozessführung ermächtigen. Dies muss entweder schriftlich oder in einer anderen Form, die den Nachweis durch Text ermöglicht, geschehen (Abs. 1). Gemäss Absatz 2 hat entweder die klagende Organisation selbst oder eine vom Gericht bezeichnete Stelle ein Verzeichnis der betroffenen Personen zu führen, die sich der Verbandsklage angeschlossen haben. Das Verzeichnis ist Teil der Verfahrensakten und damit insbesondere auch für die beklagte Partei zugänglich. Die entsprechenden Angaben sind aber nicht öffentlich zugänglich.

Soweit betroffene Personen bereits vor der Zulassung der Verbandsklage individuell Klage zur Durchsetzung ihrer Ersatzansprüche gegen die beklagte Partei erhoben haben, soll eine solche Klage nicht verunmöglichen, dass sich diese betroffenen Personen der Verbandsklage anschliessen können, zumal dies zumeist auch effizienter sein dürfte. Absatz 3 regelt daher diese besondere Rückzugsmöglichkeit: In diesen Fällen kann die Individualklage mit gleichzeitigem Anschluss an die Verbandsklage zurückgezogen werden. In Abweichung von Artikel 65 ZPO hat somit der Klagerückzug in diesen Fällen keine Rechtskraftwirkung.

Art. 307e

Weiterer Verlauf des Verfahrens

Nach Zulassung der Verbandsklage (vgl. Art. 307b E-ZPO) und Anschluss der betroffenen Personen (vgl. Art. 307c E-ZPO) wird das eigentliche Verbandsklageverfahren durchgeführt. Dabei handelt es sich grundsätzlich um ein ordentliches Verfahren und damit sind grundsätzlich die Regelungen von Artikel 219 ff. ZPO anwendbar.

Artikel 307e E-ZPO sieht davon in drei Punkten Abweichungen beziehungsweise Ergänzungen vor: ­

Nach Absatz 1 lädt das Gericht die Parteien zu einer Einigungsverhandlung vor. Auch wenn für die Einleitung einer Verbandsklage kein Schlichtungsverfahren vorgesehen ist (vgl. Art. 198 Bst. f ZPO), so erscheint es nur schon aus prozessökonomischen Überlegungen sinnvoll, dass versucht wird, zwischen den Parteien eine Einigung zu finden und dass daher in diesen Fällen eine Einigungsverhandlung stattfindet. Sinnvollerweise dürfte diese entweder nach Einreichung der einlässlichen Klageschrift oder dem ersten Schriftenwechsel erfolgen. Kommt es im Rahmen einer solchen Einigungs- oder Instruktionsverhandlung zu einem kollektiven Vergleich, so finden die Regeln des 4. Abschnitts über die Genehmigung und Verbindlicherklärung Anwendung. Im Übrigen gelten die Regeln des ordentlichen Verfahrens, namentlich zur 25 / 38

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Durchführung von Instruktionsverhandlungen (vgl. Art. 226 ZPO) sowie zu einem zweiten Schriftenwechsel (vgl. Art. 225 ZPO). Mit Blick auf das Novenrecht und die Möglichkeit, sich grundsätzlich zweimal unbeschränkt äussern zu können, sind die Ausführungen anlässlich der Einigungsverhandlung nicht relevant.

­

Absatz 2 sieht weitere spezifische Befugnisse des Gerichts für solche Verbandsklagen vor, welche die allgemeinen Befugnisse zur Prozessleitung (Art. 124 ZPO) ergänzen. Demnach kann das Gericht die betroffenen Personen in verschiedene Personengruppen unterteilen (Bst. a). Es kann das Verzeichnis der betroffenen Personen anpassen (Bst. b).

­

Gemäss Absatz 3 kann das Gericht über die allgemeinen Möglichkeiten im Beweisverfahren hinaus auch sachverständige Dritte für das Verfahren beiziehen. Dabei handelt es sich um besonders qualifizierte Personen, die das Gericht entweder bei der Sachverhaltsermittlung oder bei der rechtlichen Würdigung im Sinne eines amicus curiae unterstützen.

Art. 307f

Entscheid

Die Bestimmung regelt die Besonderheiten des Entscheids über eine Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen. Grundsätzlich finden auf diesen Entscheid die allgemeinen Regelungen gemäss Artikel 236 ff. ZPO Anwendung. Das gilt auch mit Bezug auf die Rechtskraft und ihre Wirkungen. Präzisierend wird dazu in Absatz 1 ausdrücklich festgehalten, dass der Entscheid nicht nur die Parteien bindet, sondern darüber hinaus auch die betroffenen Personen, die sich der Verbandsklage angeschlossen haben. Weil dieser Anschluss auf einer entsprechenden Erklärung und Ermächtigung zur Prozessführung beruht (vgl. Art. 307d E-ZPO), ist dies auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Verfahrensgrundsätze ohne Weiteres gerechtfertigt. Nach Absatz 2 hat der Entscheid weitere Informationen zu enthalten, wenn darin die Leistung einer Entschädigung bestimmt wird. Absatz 3 regelt schliesslich eine Besonderheit der Vollstreckung: Obwohl grundsätzlich nur die Parteien die Erfüllung verlangen können, ist zum Schutz der betroffenen Personen vorgesehen, dass diese ebenfalls die Erfüllung für sich selbst verlangen können, wenn die klagende und zumindest teilweise obsiegende Organisation nicht innert zwölf Monaten nach Eintritt der Rechtskraft die Erfüllung des Entscheids verlangt.

Art. 307g Weil einer Verbandsklage auf Geltendmachung von Ersatzansprüchen stets ein Massen- oder Streuschaden zugrunde liegt, ist davon stets auch eine Vielzahl von Personen betroffen, oft sogar eine Personengruppe, bei der nicht alle betroffenen Personen bekannt oder identifizierbar sind. Entsprechend ist es zentral, dass die interessierte Öffentlichkeit über solche kollektiven Verfahren informiert ist, denn nur so können die betroffenen Personen ihre Rechte auch wahrnehmen und durchsetzen. Daher hat das Gericht die Veröffentlichung sämtlicher wesentlicher Verfahrensschritte sicherzustellen (Abs. 1). Der Vorentwurf hatte zur Gewährleistung der Information der

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Öffentlichkeit noch weitgehende und auch kostenintensive Informationspflichten zulasten der Parteien vorgeschlagen (vgl. z. B. Art. 352d Abs. 2 und Art. 352f Abs. 3 VE-ZPO), woran nur schon aus Kostengründen nicht festgehalten werden soll.

Im Unterschied zu andern europäischen Ländern sowie teilweise auch zur EURichtlinie soll jedoch nur schon aus Ressourcenüberlegungen auf die Schaffung eines schweizweiten Registers für Verbandsklagen und kollektive Verfahren derzeit verzichtet werden. Möglicherweise ergibt sich dafür im Rahmen der laufenden Digitalisierung der Schweizer Justiz im Projekt Justitia 4.0 eine Möglichkeit einer technisch einfachen Lösung.

Vielmehr sollen die Kantone je ein elektronisches Verzeichnis der kollektiven Verfahren in ihrem Kanton führen und dieses elektronisch zugänglich machen (Abs. 2).

Dabei handelt es sich um eine in anderen Bereichen bekannte Vorgehensweise zur Sicherstellung von Öffentlichkeit und Publizität. Naheliegend dürfte sein, dass innerhalb des Kantons das obere kantonale Gericht dieses Verzeichnis führt. Absatz 3 bestimmt den Inhalt des elektronischen Verzeichnisses näher. Kennzeichnend ist, dass dem Verzeichnis die wesentlichen Informationen und damit insbesondere die gerichtlichen Entscheide in den kollektiven Verfahren entnommen werden können. Dabei geht es darum, dass betroffene Personen aufgrund der Informationen im Verzeichnis beurteilen können, ob und in welcher Form sie von einem kollektiven Verfahren betroffen sind und über ihre allfällige Betroffenheit oder Beteiligung an einem Verfahren entscheiden können, indem sie ihren Beitritt zu einer Verbandsklage erklären, aus einem allfälligen kollektiven Vergleich austreten (vgl. Art. 307i Abs. 1 E-ZPO) oder auch eine hängige Individualklage zurückziehen und sich einer Verbandsklage anschliessen können (vgl. Art. 307d Abs. 3 E-ZPO).

Ergänzend sollen der Öffentlichkeit von Seiten des Bundes her auch Informationen und insbesondere eine Liste der verschiedenen elektronischen Verzeichnisse zur Verfügung gestellt werden (vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 400 Abs. 2bis E-ZPO).

Art. 307h

Antrag

Die praktische Erfahrung im Umgang mit Massen- und Streuschadensfällen im Inund Ausland zeigt, dass diese in der Mehrheit der Fälle unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes durch einen Vergleich erledigt werden. Das liegt im Interesse sämtlicher davon betroffener Personen, namentlich auch der beklagten Parteien. In einem dritten Abschnitt sind daher besondere Bestimmungen für solche Vergleiche vorzusehen, damit diese in Zukunft unter bestimmten Voraussetzungen auch effektiv kollektive Wirkungen mit Bezug auf sämtliche davon betroffenen Personen entfalten können. Im Unterschied zum Vorentwurf sind dafür einerseits Regelungen für Vergleiche, die im Rahmen einer Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen geschlossen werden, zu schaffen. Andererseits sind auch Bestimmungen zu schaffen, welche kollektive Vergleiche ausserhalb einer solchen Verbandsklage regeln (vgl. Art. 307k und 307l E-ZPO). Demgegenüber soll im Unterschied zum Vorentwurf angesichts der Kritik in der Vernehmlassung auf die Schaffung eines besonderen Gruppenvergleichsverfahrens verzichtet werden (vgl. Ziff. 4.2).

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Angesichts seiner besonderen Rechtsnatur und Wirkungen ist ein kollektiver Vergleich nur dann wirksam und für sämtliche von der Rechtsverletzung betroffenen Personen wirksam und verbindlich, wenn er vom Gericht geprüft, genehmigt und für verbindlich erklärt wird (vgl. Art. 307j E-ZPO). Dafür ist ein besonderes Verfahren vorzusehen. Nachdem die Parteien der Verbandsklage, d. h. der klagende Verband oder die klagende Organisation und die beklagte Partei, einen Vergleich abgeschlossen haben ­ die betroffenen Personen sind daran grundsätzlich nicht beteiligt ­, wird dieses Verfahren mit einem gemeinsamen Antrag der Parteien eingeleitet (Abs. 1) und findet seinen Abschluss mit der gerichtlichen Genehmigung und Verbindlicherklärung, ohne die ein kollektiver Vergleich nie wirksam wird. Absatz 3 regelt die Anforderungen an den Inhalt eines solchen Antrags auf Verbindlicherklärung eines kollektiven Vergleichs. Dabei geht es darum, dass die Parteien dem Gericht die notwendigen Angaben machen, damit dieses gestützt darauf den kollektiven Vergleich prüfen, genehmigen und für verbindlich erklären kann.

Absatz 2 sieht die Möglichkeit vor, dass ein kollektiver Vergleich ausnahmsweise nicht nur für die betroffenen Personen, die sich der Verbandsklage angeschlossen haben (vgl. Art. 307d E-ZPO), wirkt, sondern darüber hinaus auch für sämtliche von der Rechtsverletzung betroffenen Personen, die an der Verbandsklage nicht beteiligt sind und die nicht innert einer vom Gericht bestimmten Frist von mindestens drei Monaten ihren Austritt erklären. Zur Vermeidung spezifischer Probleme mit der Gewährleistung des Gehörsanspruchs, der Zustellung sowie der Bindungswirkung im internationalen Verhältnis soll dies jedoch nur für betroffene Personen mit Sitz oder Wohnsitz in der Schweiz gelten. Der kollektive Vergleich folgt damit ausnahmsweise nicht vollständig der Opt-in-Konzeption, sondern wird zu einem sog. Opt-out-Vergleich. Angesichts der damit verbundenen Wirkungen für betroffene Personen, die sich der Verbandsklage gerade nicht angeschlossen haben, ist die Zulässigkeit beziehungsweise Genehmigungsfähigkeit eines solchen kollektiven Vergleichs von zusätzlichen kumulativen Voraussetzungen abhängig zu machen: ­

Nach Buchstabe a kommt ein solcher Opt-out-Vergleich nur in Betracht, wenn der Ersatzanspruch der einzelnen betroffenen Personen so gering ist, dass sich eine individuelle Klage nicht lohnt. Nur in diesen Fällen ist es rechtsstaatlich zu rechtfertigen, dass eine betroffene Person durch einen Vergleich gebunden wird, obschon sie weder der Prozessführung durch den Verband oder die Organisation noch dem kollektiven Vergleich zugestimmt hat, ja vielleicht nicht einmal Kenntnis von ihrem Ersatzanspruch hat. Bei einem geringen Ersatzanspruch übersteigt das Interesse an einer solchen zumeist nur teilweisen vergleichsweisen Durchsetzung des Ersatzanspruchs das Interesse an der vollständigen Gewährung der Parteirechte und Verfahrensgarantien, zumal es dann gerade zu keiner Rechtsdurchsetzung käme. In welchen Fällen von einem solchen geringen Ersatzanspruch auszugehen ist, ist auch unter Berücksichtigung der in Frage stehenden Rechtsverletzung im konkreten Einzelfall zu beurteilen; nach Ansicht des Bundesrates dürfte dies heute aber bis zu einem Betrag von mehreren hundert Franken ohne Weiteres der Fall sein.

­

Gemäss Buchstabe b ist zudem erforderlich, dass sich eine erhebliche Zahl der betroffenen Personen der Verbandsklage nicht angeschlossen hat. Nur in diesen Fällen ist es im Interesse der beklagten Partei sowie einer kollektiven

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Streiterledigung zu rechtfertigen, dass sich die Wirkungen eines zwischen den Parteien der Verbandsklage geschlossenen kollektiven Vergleichs auch auf nicht beteiligte betroffene Personen erstrecken und so erst eine weitgehend kollektive Streiterledigung erreicht wird. Wiederum ist diese erhebliche Zahl in jedem konkreten Einzelfall zu ermitteln und zwar nach Ablauf der Frist zum Austritt. Nach Ansicht des Bundesrates sollte dies immer dann der Fall sein, wenn sich mindestens ein Drittel der betroffenen Personen nicht angeschlossen hat.

Art. 307i

Verfahren

Wird ein Antrag gemäss Artikel 307h E-ZPO eingereicht, so macht das Gericht den Antrag im elektronischen Verzeichnis bekannt (Abs. 1). Handelt es sich um einen kollektiven Vergleich mit Wirkung für die betroffenen Personen, die sich der Verbandsklage angeschlossen haben (vgl. Art. 307h Abs. 1 E-ZPO), so setzt das Gericht den betroffenen Personen gleichzeitig eine Frist zur Stellungnahme. Handelt es sich ausnahmsweise um einen Vergleich, der auch für sämtliche von der Rechtsverletzung betroffenen Personen, die an der Verbandsklage nicht beteiligt sind, Wirkung entfallen soll (vgl. Art. 307h Abs. 2 E-ZPO), so setzt das Gericht eine Frist zur Erklärung des Austritts. Bei einem solchen Vergleich mit Austrittsmöglichkeit hat eine von der klagenden Partei oder ein vom Gericht bezeichneter Dritter ein Verzeichnis der betroffenen Personen zu führen, die ihren Austritt vom Vergleich erklärt haben (Abs. 2); nur gestützt auf dieses Verzeichnis lässt sich die subjektive Reichweite der Rechtskraftwirkung eines genehmigten und verbindlich erklärten kollektiven Vergleichs bestimmen.

Bei einem ausnahmsweisen Opt-out-Vergleich gilt gemäss Absatz 3, dass betroffene Personen, die individuell Klage zur Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche erhoben haben, stets als zu den Personen, die ihren Austritt vom Vergleich erklärt haben, zu zählen sind, es sei denn, sie hätten ihre Klage unter Anschluss an die Verbandsklage zurückgezogen (vgl. Art. 307c Abs. 3 E-ZPO).

Nach Absatz 4 kann das Gericht zur Klärung der Angemessenheit des Vergleichs zusätzliche Abklärungen und Sachverhaltsfeststellungen machen. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Beweiserhebung von Amtes wegen im Sinne von Artikel 153 ZPO. Wiederum kann das Gericht dazu auch sachverständige Dritte beiziehen (vgl. auch Art. 307e Abs. 3 E-ZPO).

Beabsichtigt das Gericht, den Vergleich nicht zu genehmigen, so gibt es den Parteien bei verbesserlichen Mängeln vor seinem Entscheid Gelegenheit zur Anpassung des Vergleichs (Abs. 5). Das rechtfertigt sich nur schon aus Gründen der Prozesseffizienz.

Art. 307j

Genehmigung

Die Bestimmung regelt die Voraussetzungen, nach denen das Gericht einen kollektiven Vergleich prüft und bei deren Vorliegen für die Parteien und sämtliche dadurch gebundenen betroffenen Personen für verbindlich erklärt. Im Unterschied zur vergleichsweisen Erledigung in einem normalen Verfahren handelt es sich hier um

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eine materielle Inhalts- und Angemessenheitsprüfung nach den folgenden Kriterien (Abs. 1): ­

Angemessenheit der Entschädigung (Bst. a): Die vereinbarte Entschädigung, zu welcher die beklagte Partei sich wegen der vorgeworfenen Rechtsverletzung an die davon betroffenen Personen zu leisten verpflichtet, muss der Rechtsverletzung, der Art und Schwere des geltend gemachten Schadens unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit des Prozessausgangs angemessen sein und zwar insgesamt sowie für die einzelne betroffene Person.

­

Erreichen einer allfälligen Mindestanzahl oder -quote (Bst. b): Bei Vereinbarung einer Mindestanzahl oder -quote in einem kollektiven Vergleich für dessen Wirksamkeit hat das Gericht von Amtes wegen zu prüfen, ob diese erreicht ist oder nicht, bevor es den Vergleich für verbindlich erklärt.

­

Kein Verstoss gegen zwingendes Recht (Bst. c): Das Gericht hat den Vergleich darauf zu prüfen, dass er nicht gegen zwingendes Recht verstösst. Dabei geht es insbesondere darum, dass bei kollektiven Vergleichen eine effektive inhaltliche Prüfung stattfindet, dass diese nicht gegen zwingende privat-, öffentlich- oder strafrechtliche Normen verstossen und allenfalls in internationalen Fällen auch nicht gegen zwingendes ausländisches Recht, soweit solches ausnahmsweise zur Anwendung gelangt.

­

Angemessenheit der Kostentragung (Bst. d): Wie in einem Vergleich üblich, regeln die Parteien des kollektiven Vergleichs darin auch die Tragung der Prozesskosten sowie der weiteren Kosten der gesamten Auseinandersetzung. Im Rahmen seiner Prüfung hat das Gericht insbesondere auch die Angemessenheit und Billigung dieser Regelungen zu prüfen. Dies rechtfertigt sich zum Schutz der betroffenen Personen und dient auch dem Schutz vor Missbräuchen oder überrissenen Kosten- und Entschädigungsforderungen involvierter Rechtsvertreter zu Lasten der beklagten Partei oder der Allgemeinheit.

­

Angemessene Wahrung der Interessen der durch den Vergleich gebundenen betroffenen Personen (Bst. e): Im Sinne einer Gesamtbeurteilung hat das Gericht schliesslich und hauptsächlich zu prüfen, ob die Interessen der durch den Vergleich gebundenen betroffenen Personen insgesamt angemessen gewahrt und damit gewährleistet werden. Die Genehmigung setzt voraus, dass die Regelung gemäss dem kollektiven Vergleich nach Überzeugung des Gerichts im Vergleich zur Erledigung des Verfahrens durch gerichtlichen Entscheid, aber auch im Vergleich zur individuellen Rechtsverfolgung für die betroffenen Personen angemessen erscheint.

Absatz 2 enthält eine besondere präzisierende Regelung mit Bezug auf die Anfechtung eines Genehmigungsentscheids: Soweit es sich ausnahmsweise um einen kollektiven Vergleich mit Möglichkeit zum Austritt handelt, der somit auch für sämtliche von der Rechtsverletzung betroffenen Personen, die an der Verbandsklage nicht beteiligt sind, Wirkung entfaltet, können die betroffenen Personen den Entscheid des Gerichts über die Genehmigung und Verbindlicherklärung des Vergleichs nicht anfechten. Dies rechtfertigt sich, weil die betroffenen Personen in diesen Fällen ganz einfach ihren Austritt aus dem Vergleich erklären können, wenn sie nicht einverstanden sind. Im Übrigen gelten für die Anfechtung die allgemeinen Regeln.

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Art. 307k

Voraussetzungen

In einem zweiten Kapitel des neuen 8a. Titels zu den kollektiven Verfahren soll die Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche ausserhalb einer Verbandsklage geregelt werden. Die Möglichkeit einer vergleichsweisen Erledigung soll zukünftig auch zur Verfügung stehen, ohne dass stets zuerst ein Verbandsklageverfahren eingeleitet werden müsste. Im Unterschied zum Vorentwurf soll dafür jedoch kein separates (Gruppenvergleichs-)Verfahren geschaffen werden; vielmehr bietet es sich an, dafür nur die Voraussetzungen festzulegen sowie das Verfahren, wofür jedoch überwiegend auf die Bestimmungen zur Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche im Rahmen eines Verbandsklageverfahrens verwiesen werden kann (vgl. Art. 307l E-ZPO).

Artikel 307k E-ZPO regelt die Voraussetzungen für die Verbindlicherklärung solcher kollektiven Vergleiche ausserhalb einer Verbandsklage. Diese stimmen grundsätzlich mit den Voraussetzungen für kollektive Vergleiche in Verbandsklageverfahren überein: ­

Gemäss Buchstabe a setzt die Verbindlicherklärung eines kollektiven Vergleichs stets voraus, dass dieser auf der einen Seite von einem Verband oder einer anderen Organisation abgeschlossen wird, die zur Verbandsklage nach Artikel 89 Absatz 1 oder nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen legitimiert sind. Dafür kann auf die Ausführungen zu Artikel 307b E-ZPO verwiesen werden.

­

Wie bei der Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen (vgl.

dazu Art. 307b Bst. c E-ZPO) ist es notwendig, dass die Ersatzansprüche der betroffenen Personen, die im Rahmen eines kollektiven Vergleichs geregelt werden sollen, auf gleichartigen Tatsachen oder Rechtsgründen beruhen (Bst. b); nur wenn eine solche Konnexität vorliegt, rechtfertigt sich ein kollektiver Vergleich.

­

Im Unterschied zur Verbandsklage kann ein kollektiver Vergleich ausserhalb einer Verbandsklage stets nur als Opt-out-Vergleich von einem Gericht genehmigt und verbindlich erklärt werden. Ein solches Vorgehen erscheint daher nur bei Streuschadensfällen angezeigt und auch gerechtfertigt. Daher ist wiederum wie bei Artikel 307h Absatz 2 E-ZPO vorauszusetzen, dass der Ersatzanspruch der einzelnen betroffenen Personen so gering ist, dass sich eine individuelle Klage nicht lohnt (Bst. c). Dazu kann auf die entsprechenden Ausführungen dazu verwiesen werden (vgl. die Erläuterungen zu Art. 307h E-ZPO).

Art. 307l

Verfahren

Die Bestimmung regelt das Verfahren der Genehmigung und Verbindlicherklärung eines kollektiven Vergleichs ausserhalb einer Verbandsklage. Dabei finden gemäss Absatz 1 für den Antrag, das Verfahren und die Genehmigung die Bestimmungen für kollektive Vergleiche innerhalb einer Verbandsklage sinngemäss Anwendung. Das bedeutet namentlich auch, dass betroffene Personen, die zur Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche individuell Klage erhoben haben, in analoger Anwendung von Artikel 307i Absatz 3 E-ZPO zu den Personen zu zählen, die ihren Austritt vom Vergleich erklärt haben. Das gilt nicht für Personen, die ihre Klage zurückziehen und sich 31 / 38

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stattdessen dem kollektiven Vergleich anschliessen, was gemäss Artikel 307d Absatz 3 E-ZPO innert der Frist gemäss Artikel 307i Absatz 1 E-ZPO ausnahmsweise möglich ist. Nach Absatz 2 ist eine besondere Information für sämtliche bekannten betroffenen Personen notwendig; damit wird über die Bekanntmachung im elektronischen Verzeichnis hinaus die genügende Information dieser Personen sichergestellt.

Die Regelungen von Absatz 3 und 4 betreffen die Wirkungen des kollektiven Vergleichs sowie den Ausschluss der Anfechtung eines Genehmigungsentscheids durch die betroffenen Personen.

Art. 400 Abs. 2bis Nach Artikel 400 Absatz 2 ZPO stellt der Bundesrat Formulare für Gerichtsurteilen und Parteieingaben zur Verfügung. Dies hat der Bundesrat auf der Website des Bundesamts für Justiz getan.43 Im Rahmen der laufenden Anpassung der ZPO soll dieser Informationsauftrag um Inforationen zu den Prozesskosten und den Möglichkeiten der unentgeltlichen Rechtspflege sowie der Prozessfinanzierung erweitert werden.44 Zukünftig sollen der Öffentlichkeit von Seiten des Bundes her neu auch Informationen und insbesondere eine Liste der verschiedenen elektronischen Verzeichnisse kollektiver Verfahren der Kantone gemäss Artikel 307f E-ZPO zur Verfügung gestellt werden (Abs. 2bis). Damit sollen die schweizweite Information sowie die einfache Auffindbarkeit der verschiedenen kantonalen Verzeichnisse gewährleistet und verbessert werden. Für die Zukunft ist davon auszugehen, dass hier auch auf die Informatikstruktur der mit dem Projekt Justitia 4.0 im Aufbau begriffenen schweizweit digital vernetzten Justiz zugriffen werden kann.

5.2

Änderung anderer Erlasse

5.2.1

Obligationenrecht (OR)

Art. 135 Ziff. 3 und 4 Weil nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung insbesondere eine Verbandsklage auf Feststellung der Widerrechtlichkeit die Verjährung von individuellen Forderungen, die als Folge dieses Zustands geltend gemacht werden, nicht unterbricht,45 und die Verbandsklage keine direkten Auswirkungen, insbesondere auch keine Rechtshängigkeits- oder Rechtskraftwirkungen auf die individuellen Ansprüche der betroffenen Personen hat,46 soll neu die Verbandsklage die Verjährung für Forderungen der betroffenen Personen, die aus der vorgeworfenen Rechtsverletzung resultieren, unterbrechen. Dies wird, in Form eines neuen Unterbrechungsgrundes, in einer neuen Ziffer 3 von Artikel 135 OR vorgesehen. Damit wird die Wirkung einer Verbandsklage massgeblich verbessert. Gleichzeitig kann die Regelung die Einleitung von 43 44 45 46

Vgl. www.bj.admin.ch > Publikationen&Service > Zivilprozessrecht.

Vgl. Botschaft ZPO, BBl 2020 2776 f.

BGE 138 II 1 E. 4.1.

Vgl. NICOLAS JEANDIN, Art. 89 N 15, in: BOHNET/HALDY/JEANDIN/TAPPY (Hrsg.), CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.

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rechtlichen Schritten reduzieren, die lediglich der Verjährungsunterbrechung dienen.

Eine entsprechende Regelung kennt das schweizerische Recht bereits in Artikel 15 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 200547 gegen die Schwarzarbeit. Die verjährungsunterbrechende Wirkung bleibt aber stets auf den Verfahrensgegenstand der Verbandsklage beschränkt, weshalb abhängig von der Verbandsklageart hinsichtlich der von der verjährungsunterbrechenden Wirkung der Verbandsklage betroffenen Ansprüche zu differenzieren ist.

Eine analoge Regelung ist für kollektive Vergleiche zu treffen, wobei hier auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs abzustellen ist (Ziff. 4). Diese Regelung betrifft kollektive Vergleiche ausserhalb einer Verbandsklage. Damit wird insbesondere verhindert, dass betroffene Personen im Falle eines später erklärten Austritts in Bezug auf die Verjährung Nachteile erleiden und damit in ihrer Dispositionsfreiheit beschränkt sein könnten. Wird der kollektive Vergleich vom Gericht genehmigt und für verbindlich erklärt, so beträgt die neue Verjährungsfrist gemäss Artikel 137 Absatz 2 OR stets zehn Jahre.

5.2.2

Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG)

Art. 8d Weil Streu- und Massenschäden in der Praxis oft einen internationalen Bezug haben, soll die internationale Zuständigkeit der Schweiz für Verbandsklagen sowie die Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche ausserhalb von Verbandsklagen in Zukunft ausdrücklich und eigenständig in einem neuen Artikel 8d E-IPRG geregelt werden.

Zu beachten ist, dass nach der allgemeinen Regelung von Artikel 1 Absatz 2 IPRG völkerrechtliche Verträge und damit insbesondere die Regelungen des Lugano-Übereinkommens vom 30. Oktober 200748 vorbehalten sind. Das Lugano-Übereinkommen, das keine Sonderregeln für Verbandsklagen kennt, kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn sich der Wohnsitz der beklagten Partei in einem -Mitgliedsstaat des Lugano-Übereinkommens befindet.

Angesichts der Kritik in der Vernehmlassung soll die schweizerische Zuständigkeit in internationalen Fällen neu analog zur binnenrechtlichen Regelung von Artikel 16a E-ZPO geregelt werden: Demnach kann für Verbandsklagen an jedem Ort in der Schweiz geklagt werden, an dem einer der kollektiv eingeklagten Ansprüche der betroffenen Personen geltend gemacht werden kann (Abs. 1). Im Falle einer Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach Artikel 307b ff. E-ZPO sind als betroffene Personen diejenigen zu betrachten, die den klagenden Verband zur Prozessführung ermächtigt haben (vgl. Art. 307b Bst. b E-ZPO). Befindet sich der Sitz oder Wohnsitz der beklagten Partei oder der Ort der involvierten Geschäftsniederlassung in der Schweiz, kann hier Klage erhoben werden. Ansprüche aus unerlaubter Handlung können darüber hinaus in der Schweiz geltend gemacht werden, wenn sich 47 48

SR 822.41 SR 0.275.12

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der Handlungs- oder Erfolgsort in der Schweiz befindet (Art. 129 Abs. 1 und 109 Abs. 2 IPRG). Vertragliche Ansprüche können auch an einem schweizerischen Erfüllungsort oder, wenn es sich um einen Konsumentenvertrag handelt, am allfälligen schweizerischen Wohnsitz des Konsumenten eingeklagt werden (Art. 113 und 114 Abs. 1 IPRG). Für die Verbindlicherklärung kollektiver Vergleiche sind gemäss Absatz 2 neben den oben genannten die schweizerischen Gerichte am Sitz des Verbands zuständig. Dabei schliessen aber weder Absatz 1 noch Absatz 2 eine auf Artikel 5 IPRG gestützte Gerichtsstandsvereinbarung aus.

Der Entwurf verzichtet demgegenüber auf eine Bestimmung zum anwendbaren Recht.

Bei einer Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen unterstehen diese weiterhin dem Recht, mit dem sie am engsten zusammenhängen. Für einen erheblichen Teil der Ansprüche, die Gegenstand einer Verbandsklage sein können, können sich aber die Parteien auf ein einheitliches Recht einigen (siehe Art. 110 Abs. 2, Art. 116 Abs. 1, Art. 118 Abs. 1, Art. 119 Abs. 2, Art. 121 Abs. 3, Art. 122 Abs. 2, Art. 128 Abs. 2 und Art. 132 IPRG). Bei Klagen aus Produkte- oder Prospekthaftung kann die Klägerseite einseitig ein einheitliches Recht wählen (Art. 135 Abs. 1 und Art. 156 IPRG).

6

Auswirkungen

6.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage hat keine unmittelbaren finanziellen oder personellen Auswirkungen auf den Bund.

Soweit der Bund mit der Pflicht zur Information der Öffentlichkeit zu den kantonalen Verzeichnissen über kollektive Verfahren sowie zur Veröffentlichung eines entsprechenden Verzeichnisses neue Aufgaben übernimmt (vgl. Art. 400 Abs. 2bis E-ZPO und die Erläuterungen dazu), können die daraus entstehenden mittelbaren zusätzlichen Ausgaben im Rahmen der verfügbaren Mittel von den zuständigen Stellen und Behörden finanziell und personell getragen werden.

6.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Vorlage hat Auswirkungen auf die Kantone, da sie für die Organisation der Gerichte zuständig sind, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (vgl. Art. 3 ZPO).

Bewusst wird mit den vorgeschlagenen Anpassungen nicht in die bewährte kantonale Behördenorganisation eingegriffen, so dass sich daraus höchstens mittelbar Anpassungsbedarf in den Kantonen ergeben könnte. Insbesondere sind keine neuen Instanzen oder Behörden vorgesehen: Für Verbandsklagen sollen neu stets die einzigen kantonalen Instanzen gemäss Artikel 5 ZPO zuständig sein (vgl. Art. 5 Bst. j E-ZPO), woraus allenfalls Anpassungsbedarf bei den kantonalen Gerichtsverfassungs- oder -organisationsgesetzen entstehen kann. Angesichts der kantonalen Zuständigkeit für

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die Gerichtsbehörden und -organisation kann die Vorlage auch insofern Auswirkungen auf die Kantone haben, wenn es in der Folge der Neuregelung tatsächlich zu entsprechenden Verbandsklagen kommen wird; dabei ist jedoch nicht von einer übermässigen Beanspruchung der Gerichtsbehörden auszugehen. Zudem haben die Kantone neu ein elektronisches Verzeichnis der kollektiven Verfahren in ihrem Kanton zu führen (vgl. Art. 307g E-ZPO und die Erläuterungen dazu). Wiederum handelt es sich dabei um einen besonderen Aspekt oder eine neue Ausprägung der Gerichtsorganisation, die jedoch ohne übermässigen Mehraufwand im Rahmen der bisherigen Mittel der zuständigen Stellen und Behörden zu erfüllen sein wird. Zudem ist mittelund längerfristig davon auszugehen, dass sich dieses elektronische Verzeichnis im Rahmen der neuen digitalen Justiz im Projekt Justitia 4.0 integrieren lässt. Zudem werden die Kantone im Rahmen ihrer Tarifhoheit auch dafür entsprechende Gebühren vorsehen können.

Die Vorlage hat keine spezifischen Auswirkungen auf Gemeinden, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete. Die entsprechenden Fragen wurden daher nicht vertieft untersucht.

6.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Anpassungen des Zivilprozessrechts lassen sich naturgemäss, wenn überhaupt, nur schwer erfassen. Wie der Bundesrat bereits bei der Schaffung der schweizerischen ZPO ausgeführt hat, trägt eine effiziente Rechtspflege zur wirtschaftlichen Prosperität und damit letztlich auch zu verbesserter Lebensqualität bei.49 Mit den vorgeschlagenen Anpassungen bei der Verbandsklage und der neuen Verbandsklage zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen sowie den Regelungen zu kollektiven Vergleichen soll die kollektive Rechtsdurchsetzung in der Schweiz wirksam und massvoll ausgebaut werden, ohne die in den USA beobachteten negativen Auswirkungen des amerikanischen Sammelklagesystems zu übernehmen. Das führt zu einer Beseitigung von sogenannten Externalitäten, indem zukünftig die Kosten von Rechtsverletzungen vermehrt von deren Urheber getragen und die Rechtsverletzungen bei den geschädigten Personen kompensiert werden können. Das liegt insbesondere auch im Interesse von sich rechtstreu verhaltenden Mitbewerberinnen und Mitbewerbern und eliminiert Anreize für Rechtsverletzungen.

6.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Mit dieser Vorlage soll der zivilrechtliche Rechtsschutz zugunsten der von einem Massen- oder Streuschaden betroffenen Personen effizient verbessert werden. Dies trägt zur gesellschaftlichen Stabilität bei und stärkt das Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Institutionen zur kollektiven und damit leichteren Durchsetzung des Rechts

49

Botschaft ZPO 2006, BBl 2006 7410.

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zugunsten der und des Einzelnen. Nur durchsetzbares und im Streitfall auch durchgesetztes und damit verwirklichtes Privatrecht erfüllt letztlich seine Aufgabe als gesellschaftliches Ordnungsinstrument.

6.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Es ist offensichtlich, dass im Bereich der Umwelt keine direkten Auswirkungen zu erwarten sind; die entsprechende Frage wurde daher nicht detailliert untersucht, zumal insbesondere im Bereich von Umweltfragen bereits entsprechende Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes (Verbandsbeschwerden) bestehen.50 Dennoch können möglicherweise indirekt positive Effekte erwartet werden, indem auch Ansprüche vermehrt durchgesetzt werden können, die auch Auswirkungen auf die Umwelt haben können.

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage sieht Anpassungen der geltenden ZPO vor, die sich auf Artikel 122 BV (Bundeskompetenz auf dem Gebiet des Zivilrechts und des Zivilprozessrechts) abstützt, sowie weiterer Bundesgesetze (OR, IPRG).

7.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Für die Schweiz bestehen im Bereich des Zivilprozessrechts diverse bilaterale und multinationale Vereinbarungen, insbesondere das Lugano-Übereinkommen sowie das Übereinkommen vom 15. November 196551 über die Zustellung gerichtlicher und aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen, das Übereinkommen vom 18. März 197052 über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen und das Übereinkommen vom 1. März 195453 betreffend den Zivilprozess. Die Vorlage ist mit diesen Übereinkommen vereinbar.

7.3

Erlassform

Die Vorlage enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen, die nach Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen sind. Der Erlass untersteht dem fakultativen Referendum.

50 51 52 53

Vgl. z. B. Art. 12 NHG oder Art. 55 USG.

SR 0.274.131 SR 0.274.132 SR 0.274.12

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7.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.

7.5

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die vorgeschlagenen Änderungen zielen auf eine Verbesserung des geltenden schweizweit vereinheitlichten Zivilprozessrechts ab. Die vorgeschlagenen Anpassungen sind durch die Notwendigkeit eines schweizweit einheitlich funktionierenden Zivilverfahrensrechts gerechtfertigt. Der Bund stützt sich dabei auf die Kompetenz, die ihm gemäss Artikel 122 BV für das gesamte Zivilprozessrecht zusteht und die grundsätzlich auch die Organisation der Gerichte und Schlichtungsbehörden beinhaltet (vgl.

auch Art. 3 ZPO).

7.6

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Die Vorlage sieht keinerlei Subventionen vor.

7.7

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Vorlage sieht keine Delegation von Rechtsetzungskompetenzen an den Bundesrat vor.

7.8

Datenschutz

Unter dem Gesichtspunkt der Bearbeitung von Personendaten hat die vorliegende Anpassung der ZPO sowie weiterer Bundesgesetze keine Auswirkungen. Soweit mit dem neuen elektronischen Verzeichnis für kollektive Verfahren Personendaten bearbeitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, besteht dafür eine genügende Grundlage und Rechtfertigung im Verfahrensrecht.

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