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Bericht der

Minderheit der nationalräthlichen Kommission (Herren Nationalräthe Keel und Théraulaz) betreffend die Tessiner Angelegenheit.

(Vom 8. April 1889.)

Tit.

Die Minderheit der nationalräthlichen Kommission betreffend die Tessiner Angelegenheit beehrt sich, folgenden A n t r a g zu stellen : ,,1) Der vom Bundesrathe angeordneten Intervention im Kanton Tessin wird die Genehmigung n i c h t ertheilt.

,,Von der Aufhebung des Kommissariats und der bewaffneten Intervention wird Notiz genommen.

,,2) Der Bundesrath wird eingeladen, der Bundesversammlung in ihrer nächsten Session über die mit der Intervention zusammenhängenden Fragen der Stimmrechtsrekurse und der strafrichterlichen Untersuchungen Bericht zu erstatten. " Gestatten Sie uns hierüber folgende Erörterungen.

Im Gegensatze zu dem Antrage des Bundesrathes, s ä m m t l i e h e von ihm zur Verhütung von Ordnungsstörungen im Kanton Tessin getroffenen Maßnahmen, sowie im Gegensatze zur Kommissionsmehrheit, welche die Aufstellung eines eidgenössischen Kommissariats und die bewaffnete Intervention, sowie die Aufhebung der letztern ausdrücklich genehmigen will, beantragt Ihnen die

1095 M i n d e r h e i t d e r Kommission, d i e G e n e h m i g u n g d e r I n t e r v e n t i o n n i c h t zu ertheilen und von der Aufhebung des Kommissariats und dieser Intervention einfach Notiz zu nehmen.

In Uebereinstimmung mit der Mehrheit der Kommission beantragen wir Ihnen ferner, es sei der Bundesrath eingeladen, der Bundesversammlung in ihrer nächsten Session über die mit der Intervention zusammenhängenden Fragen der Stimmrechtsrekurse und der strafrichterlichen Untersuchungen Bericht zu erstatten.

E s fallen hienach heute a u ß e r d a s G e b i e t d e r B e schlußfassung: Die S t i m m r e c h t s r e k u r s e und was mit den S t i m m re c h t s v e r h ä l t u i s s e n z u s a m m e n h ä n g t. Einmal liegen zur Zeit keine Rekurse der Bundesversammlung vor, denn solche wurden, und zwar verfrüht, erst dem Bundesrathe unterbreitet, welcher dieselben vorerst seinen Delegirten, in erster Linie Herrn B o r e i , und sodann Herrn Prof. Dr. S c h n e i d e r , zur Instruktion überwies, selbst aber noch nicht erledigt hat. Ob solche Rekurse wirklich an die Bundesversammlung überhaupt gelangen werden, ist zur Zeit ungewiß, um so Ungewisser, als für einen und zwar den weitaus größten Theil derselben der K o m p e t e n z k o n f l i k t erhoben und dieser vom schweizerischen Bundesgerichte zu entscheiden ist. Dagegen werden wir uns nicht verwehren können, der Verfügungen des Bundesrathes in seinem Schreiben an die Tessiner Regierung vom 26. Februar laufenden Jahres von einem ändern Standpunkte aus nochmals Erwähnung zu thun.

Sodann fallen außer Beschlussesfassung die mit den s t r a f r i c h t e r l i c h e n U n t e r s u c h u n g e n zusammenhängenden Fragen.

Wir erinnern diesfalls an den Fall B elloni und an die V e r f ü g u n g des B u n d e s rat h e s v o m 16. M ä r z abhin, wonach letzterer es für unzuläßig erklärte, daß bezüglich der Vorkommnisse, welche den Gegenstand der Anträge der Großrathskommission betreffend die Renitenz verschiedener Gemeinderäthe gegen die ausdrücklichen Weisungen der Regierung beziehungsweise gegen den Vollzug der Tessiner Wahlgesetze bilden, Untersuchung und Strafverfolgung seitens der kantonalen zuständigen Behörden stattfinde. Auch gegen diese Einmischung in die kantonalen Befugnisse hat der Staatsrath von Tessin Beschwerde beim h. B u n d
e s g e r i c h t e erhoben.

Endlich soll der Staatsrath von Tessin den R e k u r s an d a s B u n d e s g e r i c h t ergriffen haben über Verfügungen des Bundesrathes vom 25. März betreuend Wahlbestechungen, Beeinflussung von Wahlen u. s. w. Von der nähern Erörterung dieser Frage müssen wir nicht bloß Umgang nehmen des erhobenen Kompetenz-

1096 konfliktes wegen, sondern auch deshalb, weil die Käthe hierüber zur Zeit keine offizielle Kenntniß haben. Dieselbe ist daher der künf tigen Berichterstattung des Bundesrathes und der spateren Erörterung und Beurtheilung seitens der Bundesversammlung vorbehalten.

Wir können nicht umhin, unser Bedauern darüber auszusprechen, daß die dermale Aktenvorlage es , nicht gestattet, die Oganze O O ,,Tessinerfrage" einheitlich zu prüfen, zu erwägen und zu beurtheilen; denn es kann ja keinem Zweifel unterliegen, daß dadurch eine allseitig richtige und allseits beruhigende Beurtheilung der Verhältnisse außerordentlich erschwert, v i e l l e i c h t geradezu veru n m ö g l i c h t wird.

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;

Das Studium der Angelegenheit wurde auch dadurch in erheblichem Maße erschwert, daß der Kommission und den Räthen das bezügliche Aktenmaterial, vorerst nur in Drucksachen bestehend, nur spät und successive zur Verfügung stand und -- um dies, zu konstatiren -- auch heute Jener und Diesen nicht im g a n z e n Umfange bekannt ist.

Außer den Drucksachen, die Ihnen behändigt sind, besteht noch ein Dossier von einer gewissen Reichhaltigkeit, zum größten Theil Akten betreffend die Stimmrechtsverhältnisse und Stimmrechtsrekurse enthaltend, daneben ungedruckte Akten, wohl meist administrativer Natur. Wie Ihnen bekannt, ist aber der Bundesrath infolge der von dem Post- und Eisenbahndepartement unterm 4. März 1. J. ertheilten Vollmacht an den eidgenössischen Kommissär, den t e l e g r a p h i s c h e n Verkehr in den Bureaux des Kantons Tessin zu überwachen und, wenn er es zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung nöthig erachten sollte, die Uebermittlung von Telegrammen zu verbieten, auch im Besitze von Depeschen, welche er -- unter Berufung auf das Depeschengeheimniß -- der Kommission und den Räthen vorenthalten zu sollen oder zu dürfen glaubt.

Damit ist uns selbstverständlich die Möglichkeit genommen, zu bemessen, ob nicht die Einsicht in dieses Material manch' neues Streiflicht in der Hauptsache bieten würde.

Das Bundesgesetz über den telegraphischen Verkehr im Innern der Schweiz vom 22. Juni 1877 bestimmt: Art. 2. Die eidg. Verwaltung übernimmt keinerlei Verantwortlichkeit für die telegraphische Korrespondenz. Dagegen wird sie alle zur Sicherung und Beförderung des Dienstes und zur W a h r u n g d e s D e p e s c h e n g e h e i m n i s s e s nöthigen Maßregeln ergreifen.

1097 Art. 3. Abschriften von Originaldepeschen dürfen von den Bureaux nur an den Absender oder den Empfänger des Télégrammes oder deren Bevollmächtigte abgegeben werden. J e d e M i t t h e i l u n g an d r i t t e P e r s o n e n ist v e r b o t e n .

Von Seite einer B e h ö r d e kann die Edition von Originaldepeschen oder Abschriften in folgenden Fällen verlangt werden: a. wenn gegen eine b e s t i m m t e Person ein S t r a f v e r f a h r e n e i n g e l e i t e t ist, durch den mit der Untersuchung beauftragten Beamten; b. in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten durch Verfügung des G e r i c h t s , bei welchem die Rechtsfrage anhängig ist.

(Amtl. Samml. n. F. III, 161.)

Daß d i e s e Bedingungen auf den k o n k r e t e n Fall nicht zutreffen, ist ohne Weiteres klar, und es würde sich daher vorerst die Frage aufwerfen, ob nicht das betreffende Departement, bezw. der Bundesrath sich diesfalls einer Kompetenzüberschreitung bezw. einer Gesetzesübertretung schuldig gemacht habe.

Ob der Bundesrath sich wirklich solcher bezichtigen lassen muß, wollen wir für einmal dahingestellt lassen und dessen Rechtfertigung entgegensehen. Sollte sich derselbe aber bloß auf die Nothwendigkeit eines solchen Verfahrens mit Rücksicht auf a l l f ä l l i g e , m ö g l i c h e r w e i s e eintretende Unruhen berufen wollen, so scheint uns die Rechtsgültigkeit eines solchen Vorwandes anfechtbar.

Vorderhand gestatten wir uns die weitere Meinungsäußerung, daß wir annehmen müssen, daß seitens des eidgenössischen Kommissariates keine Depeschen sequestrirt worden seien, sie wären denn von Relevanz. In diesem Falle ist die Kenntniß derselben auch für die Kommission und das Parlament zu einer richtigen Beurtheilung der Situation von Nöthen ; oder aber, es sind dieselben von keiner Bedeutung -- und dann erscheint uns deren Konfiskation als ein nicht berechtigter Schritt des Kommissariates bezw.

dessen Auftraggebers.

Unter allen Umständen müssen wir auf die ö f f e n t l i c h e G e f a h r aufmerksam machen, welche dadurch entstehen müßte, wenn auf die bloße S u p p o s i t i o n hin, als k ö n n t e n Unruhen eingebildeter oder mehr oder weniger bedeutender Art entstehen, das Depeschengeheimniß durch die bloße Verfügung eines Departementes oder des Bundesrathes, durch das Mittel eines Kommissärs, zur reinsten Illusion gemacht würde. Es darf ja nicht übersehen werden, daß, wenigstens in concreto, den Telegraphenbeamten,

1098 beziehungsweise dem eidgenössischen Kommissär keinerlei Instruktionen gegeben worden zu sein scheinen, innert welcher Begrenzung das Depesehengeheimniß zu wahren sei ; dio Ermächtigung lautet vielmehr völlig allgemein und unbegrenzt.

Bei dieser Sachlage betonen wir wiederholt, daß uns die Mittel, die w i r k l i c h e Situation der kritischen Tage zu erkennen, nicht zu Gebote stehen; und daß wir jeden Versuch, das durch Bundesgesetz garantirle Depesehengeheimniß in einer vom Gesetz nicht gestatteten Weise zu suspendiren, als unstatthaft erachten.

Wir kommen zur Frage der e i d g e n ö s s i s c h e n I n t e r v e n t i o n und zitiren zur Grundlage unserer Erörterungen die einschlägigen, maßgebenden Bestimmungen der Bundesverfassung: Art. 16. Bei g e s t ö r t e r O r d n u n g im I n n e r n , oder wenn von einem ändern Kanton Gefahr droht, hat d i e R e g i e r u n g des bedrohten Kantons dem ßuadesrathe sogleich Kenntniß zu geben, damit dieser innert den Schranken seiner Kompetenz (Art. 102, Ziff. 3, 10 und 11) die erforderlichen Maßregeln treffen oder die Bundesversammlung einberufen kann. In dringenden Fällen ist die betrettende Regierung befugt, unter sofortiger Anzeige an den Bundesrath, andere Kantone zur Hülfe zu mahnen, und die gemahnten Stände sind zur Hülfeleistung verpflichtet.

Wenn die Kantonsregierung a u ß e r S t a u d e ist, Hülfe anzusprechen, so k a n n , und wenn die S i c h e r h e i t d e r S c h w e i z gefährdet wird, so s o l l die kompetente Bundesbehörde von sieh aus einschreiten.

In Fällen eidgenössischer Intervention sorgen die Bundesbehörden für Beobachtung der Vorschriften von Art. 5.

Die Kosten trägt der mahnende oder die eidgenössische Intervention veranlaßende Kanton, wenn nicht die Bundesversammlung wegen besonderer Umstände etwas Anderes beschließt.

Art. 85. Die Gegenstände, welche in den Geschäftskrei.s b e i d e r R ä t h e fallen, sind insbesondere folgende: .

7) Garantie der Verfassungen und des Gebietes der Kantone; I n t e r v e n t i o n infolge der Garantie etc.

Art. 102. Der R u n d e s r a t h hat innert den Schranken der gegenwärtigen Verfassung vorzüglich folgende Befugnisse und Obliegenheiten : 3) Er wacht für die Garantie der Kantonalverfassungen.

10) Er sorgt für die innere Sicherheit der Eidgenossenschaft, für Handhabung von Ruhe und Ordnung.

1099 11) In F ä l l e n von D r i n g l i c h k e i t ist der Bundesrath befugt, s o f e r n d i e R ä t h e n i c h t v e r s a m m e l t s i n d , die erforderliche Truppenzahl aufzubieten und über solche zu verfügen, u n t e r V o r b e h a l t u n v e r z ü g l i c h e r Einb e r u f u n g d e r B u n d e s v e r s a m m l u n g , sofern d i e aufgebotenen Truppen zweitausend Mann übersteigen, o d e r das Aufgebot länger als drei Wochen dauert.

An diese Verfassungsbestimmungen knüpfen wir folgende, auf den konkreten Fall anzuwendende Bemerkungen.

1. Die Anordnung einer ,, e i d g e n ö s s i s c h e n I n t e r v e n t i o n " steht einzig und allein der B u n d e s v e r s a m m l u n g , nicht aber dem Bundesrathe zu. Eidgenössische Intervention heißt: gebieterische Einmischung der schweizerischen Bundesgewalt in die innern Angelegenheiten eines Kantons, in welchen sonst nach den Regeln des eidgenössischen Verfassungsrechtes der Kanton ,,souverän11 ist. (Dr. G. Vogt, S. 35.)

Die Schweiz ist kein Einheitsstaat, sondern sie ist die Gesammtheit der vereinigten Völkerschaften der zweiundzwanzig s o u v e r ä n e n Kantone (Art. l, Bundesverfassung). Die Kantone sind s o u v e r ä n , soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist, und üben als solche alle Rechte aus, welche nicht der Bundesgewalt übertragen sind. Eidgenössische Intervention hebt, so lange sie dauert, für den Kanton, welchen sie trifft, das normale bundesstaatsrechtliche Verhältniß auf: er ist in seiner Souveränität eingestellt, eidgenössische Obervormundschaft wird über ihn verhängt. Der Grundsatz von Art. 3, Bundesverfassung, daß die Kantone als solche alle Rechte ausüben, welche nicht der Bundesgewalt übertragen sind, wird umgekehrt: Der Kanton übt nur noch die Rechte aus, welche die intervenirende Bundesgewalt seinen Behörden und Beamten übrig läßt. (Dr. G. Vogt, S. 36.)

Dadurch wird begreiflich, daß die Verfügung einer Intervention nicht dem Bundesrathe, sondern der o b e r s t e n Bundesgewalt, d. h. der Bundesversammlung (bestehend, in National- und Ständerath), vorbehalten ist, und ergibt sich sodann auch als selbstverständlich, daß der Bundesrath nur vorläufige Anordnungen zu treffen hat, alles Endgültige aber bei der Bundesversammlung steht.

Der Bundesrath kann provisorisch und zur
Aufrechterhaltung der Ordnung unter den verfassungsmäßigen Voraussetzungen Truppen aufstellen und verwenden, allein eine bewaffnete I n t e r v e n t i o n , eine g e b i e t e r i s c h e E i n m i s c h u n g der Bundesgewalt in die innere Angelegenheit eines Kantons darf dies nicht sein, und eine Aufhebung der normalen bundesstaatsrechtlichen Verhältnisse

1100 .kann eine Maßregel des Buudesrathes allein nicht bewirken. I)i& Bundesversammlung allein hat zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen einer bewaffneten Intervention vorhanden seien (Dr. König, Memorial, S. 12 und 13).

Der Bundesrath hat sich nicht einmal damit begnügt, ein Kommissariat aufzustellen b e h u f s A u f r e c h t e r h a l t u n g d e r O r d n u n g und ihm zu diesem Zwecke für den Fall der Noth materielle Unterstützung beizugeben; er hat dieses Kommissariat vielmehr mit Befugnissen ausgestattet, mit d i s k r e t i o n ä r e r G e w a l t in die i n n e r e Verwaltung des Kantons und in a d m i n i s t r a t i v e und richterliche F u n k t i o n e n einzugreifen, so daß in der That, nicht mehr eine v o r b e r e i t e n d e , p r o v i s o r i s c h e Aktion der Centralgewalt, sondern eine selbstherrliche, souveräne Einmischung des Bundesrathes in die innern Angelegenheiten eines Kautons vor uns liegt.

Aus der Tragweite jener Verfassungsbestimmungen und aus der Art und Weise, wie der Bundesrath seinerseits dieselben zu interpretiren und zu vollziehen sich erlaubte, läßt sich leicht auch ermessen, wie intensiv solche außerordentlichen Maßregeln anderseits auf Jene wirken müssen, g e g e n welche dieselben gerichtet sind und welche zunächst deren Folgen zu tragen und zu verantworten haben -- eine ernste Mahnung an die Zentralgewalt, zu solchen außerordentlichen Schritten nur dann Zuflucht zu nehmen, wenn Verfassung und Gesetz sie fordern, und sie mit jener Schonung patriotischer Gefühle und Ueberzeugungen zu üben, wie sie durch den innersten Gedanken der Bundesverfassung den verbündeten Kantonen gegenüber geboten ist.

2. Eine eidgenössische Intervention ist nur zuläßig, wenn ,, d i e O r d n u n g im I n n e r n g e s t ö r t " ist. Das war im Kanton Tessili zur Zeit der Anordnung der eidgenössischen Intervention nicht der Fall. Die Regierung war im ungestörten Besitz ihrer verfassungsmäßigen Gewalt; keine Bezirks- und keine Gemeindebehörde der letztern entäußert; kein offener Gewaltakt von öffentlicher Bedeutung vollzogen.

Der eidgenössische Kommissär, Herr Borei, telegraphirt am 4. M ä r z aus Bellinzona: ,,Es herrscht vollständige Ruhe. Man sagt mir, daß gestern (d. h. am Tage der Großrathswahlen) nirgends Unordnungen vorgekommen. tt Am gleichen Tage schreibt
er : ,,Alles in Allem genommen, bin ich glücklich, Ihnen mittheilen zu können, daß die hier herrschende Aufregung in unglaublicher Weise übertrieben worden ist, und es scheint mir diese Uebertreibung, die sich auf jeden Zwischenfall erstreckt, geradezu der h e r v o r s t e c h e n d e

1101 C h a r a k t e r z u g der dermaligen Krise zu sein." (Beilage I zur Botschaft, S. 71, 72.) Diese Bemerkung beleuchtet er mit einigen Beispielen, denen er beifügt: ,,Nach den Nachrichten, welche mir von allen Seiten zugehen, ist n i c h t zu b e f ü r c h t e n , daß die Ruhe im Kanton gestört werde." Er sehließt mit den Worten: ,,Ich w ü r d e die eidgenössische Intervention nicht vorges c h l a g e n h a b e n , weil sie mir nicht nothwendig erschien, doch bin ich glücklich, konstatiren zu können, daß dieselbe von Jedermann gut aufgenommen wird, und daß sie dazu beiträgt, die erregten Gemüther schneller zu beruhigen." Daß Letzteres die verfassungsmäßigen Voraussetzungen einer eidgenössischen bewaffneten Intervention zu ersetzen nicht vermag, ist selbstverständlich. Auch der Erfolg der ganzen Bewegung rechtfertigt jene objektive Auffassung der Situation.

In seinem Schlußberichte vom 27. März bemerkt der eidgenössische Kommissär, daß, w e n n ein Angriff gegen die Gewalt geplant gewesen sein s o l l t e , das V o r h a b e n schon vor Beginn der Ausführung wieder fallen gelassen worden, und er will nicht zu entscheiden wagen, ob dieses Resultat der Klugheit der Führer oder der Thatsache, daß die Mehrheit der (radikalen) Partei einem solchen Vorgehen nicht günstig gewesen, zuzuschreiben sei oder ob die bewaffneten Schaaren auf dem Monte Ceneri oder endlich die eidgenössische Intervention dasselbe herbeigeführt haben (Beilage III, S. 9). Nirgends seien aufrührerische Handlungen vorgekommen, sofern man nicht Klubversammlungen, Aufrufen, Reden und bloßen Zusammenrottungen diesen Charakter beimessen wolle (Beilage III, S. 10). Weder wurde die Absetzung der Regierung proklamirt, noch hat man deren Organen sich widersetzt; man hat sich auch nicht der öffentlichen Gebäude, der Waffen oder der Zeughäuser bemächtigt; keine Marschkolonne hat sich gebildet, um eine bewaffnete Demonstration vorzunehmen oder irgend einen Punkt anzugreifen (S. 10). Selbst dem Vorfall in Lugano will man einen friedlichen Charakter beimessen, und wenn in der Volksmenge bewaffnete Leute sich befunden, seien es deren zu wenige gewesen, um ihr diesen Charakter zu nehmen (eod.). Ja die bloße Anzeige der eidgenössischen Intervention -- d. h. wohl von der bloßen Ankunft des Herrn Borei -- sei in beiden Lagern als Signal der Rückkehr
zur Ruhe und Ordnung aufgefaßt worden (eod.).

Wenn man übrigens irgend einen Zweifel darüber haben sollte, ob die Intervention in Wirklichkeit eine N o t h w e n d i g k e i t gewesen, so bedarf es wohl nur des Hinweises darauf, daß der Bundesrath selbst in seiner Botschaft an die eidgenössischen Räthe unterm 25. März -- in flagrantem Widerspruch mit seinem thatsäch-

1102 lichen Vorgehen -- zu erklären im Falle war: ,,Auch in Hinsicht -auf die Frage, ob es n o t h w e n d i g w a r , einen K o m m i s s ä r und T r u p p e n in den Kanton Tessin zu senden" -- und das hätte denn doch wohl die V o r a u s s e t z u n g und B e d i n g u n g dieser außerordentlichen Maßregel sein sollen -- ,,kann die gegenwärtige Botschaft nicht als eine definitive Antwort betrachtet werden"1 ; es bedürfe der Bundesrath hierüber nämlich noch eines Berichtes.

Nun, diesen Bericht hat der Kommissär mit Datum vom 27. März erstattet und wir haben gesehen, daß er selbst die Nothwendigkeit der Intervention, wie auch deren Nützlichkeit, erstere thatsächlich verneint und letztere selbst in Zweifel zieht.

Von einer S t ö r u n g des F r i e d e n s im S i n n e der V e r f a s s u n g kann hienach keine Rede sein.

3. In erster Linie ist es S a c h e d e r K a n t o n e , die staatliche Ordnung in ihrem Idnern aufrecht zu erhalten und gegebenen Falles wieder herzustellen. Es sollte dies schon mit Rücksicht auf den föderativen Charakter der Schweiz klar sein, so selbstverständlich, daß es weiterer Erörterungen kaum bedürfen sollte. Es ist nach Art. 16 der Bundesverfassung Pflicht einer Kantonsregierung, von au s g e b r o c h e n e n Unruhen dem Bundesrathe Kenntniß zu geben.

,,Gleichwohl scheint uns," bemerkt Dr. J. J. Blumer (Handbuch des schweizerischen Bundesstaatsrechts, zweite Ausgabe, ed.

J. Morel, Seite 235; vergi. Dr. König, Memorial, Seite 15), ,,daß nach den klaren Worten des zweiten Lemmas von Art. 16 eine Intervention des Bundesrathes von A m t e s w e g e n , welche ohne vorhergegangene Anrufung von Seite der betheiligten Kantonsregierung erfolgen würde, nur dann gerechtfertigt wäre, wenn entweder die Regierung sich nicht mehr in der Lage befände, sieh an den Bundesrath zu wenden, oder aber ,,die Sicherheit der Schweiz gefährdet" wäre. Dieser letztere Ausdruck ist freilich so elastisch, daß er bei den engen Verbindungen zwischen den Kantonen und ·den nahen Beziehungen der Grenzorte zum Auslande, welche die neuen Verkehrsmittel geschaffen haben, wohl auf die meisten Fälle von Aufruhr, welche die betroffene K a n t o n s regierung nicht sofort zu u n t e r d r ü c k e n vermag, sich wird anwenden lassen."

R u t t i m a n n , der die Intervention von Amtes wegen nicht auf
die im zweiten Lemma genannten Fälle beschränken will, sagt doch selbst : ,,Immerhin wird der Bund, so lange er keine Anzeige erhält, von der Präsumtion ausgehen müssen, daß keine Gefahr vorhanden oder daß der betreffende Kanton stark genug sei, sich selbst zu helfen. E i n A u f r u h r , d e m d i e k a n t o n a l e S t a a t s g e w a l t v o l l k o m m e n g e w a c h s e n ist, b i e t e t k e i n e n S t o f f z u m

1103 Einschreiten d e r B u n d e s b e h ö r d e n . N u r w e n n d i e s e sich ü b e r z e u g e n , d a ß d i e O r g a n e d e s K a n t o n s n i c h t im Stande sind, die Ordnung zu h a n d h a b e n , und daß s i e d e s s e n u n g e a c h t e t a u s S c h w ä c h e o d e r F u r c h t oder aus irgend einem ändern G r u n d e es u n t e r l a s s e n , die H ü l f e d e s B u n d e s n a c h z u s u c h e n , i s t eine I n t e r v e n t i o n von Amtes wegen geboten.... So lange hingegen die B e h ö r d e n des b e t r e f f e n d e n Kantons die Zügel führen, wird der B u n d die Aufgabe, sie zu u n t e r s t ü t z e n , unter keinem V e r w ä n d e von sich a b l e h n e n dürfen." Und D u b s (Oeffentliches Recht der Eidgenossenschaft, II, 174) sagt: ,,Eidgenössische Intervention bei gestörter Ordnung in einem K a n t o n f i n d e t erst statt, wenn die Behörden dieses K a n t o n s sie a n r u f e n , was ja mittelst des Teleg r a p h e n j e t z t leicht m ö g l i c h ist; es wäre d e n n , daß diese B e h ö r d e n physisch d a r a n v e r h i n d e r t w ä r e n , o d e r daß von den Behörden selbst ein Akt ungerechtf e r t i g t e r G e w a l t gegen das Volk v e r ü b t w e r d e n wollte, u n d d a ß e n d l i c h d a b e i d i e äußere Sicherheit g e f ä h r d e t wäre." (Dr. König, Seite 15.)

Dr. V o g t faßt das Gesagte in folgendem Satze zusammen: ,, R e g e l ist nach der Bundesverfassung die a n g e r u f e n e , auf B e g e h r e n der R e g i e r u n g eines K a n t o n s angeordnete I n t e r v e n t i o n . Nur a u s n a h m s w e i s e , unter den zwei im zweiten Abschnitt des Art. 16 genannten Voraussetzungen d a r f o d e r soll die I n t e r v e n t i o n eine u n g e r u f e n e sein, d. h.

von d e r B u n d e s b e h ö r d e a u s e i g e n e m E n t s c h l ü s s e a n g e o r d n e t w e r d e n . (Dr. G. Vogt, Seite 41.)

Hiefür sprechen auch die jüngsten Interventionen in Z ü r i c h und Genf. Die bewaffnete Intervention wurde im erstem Fall angeordnet auf das ausdrückliche Gesuch der Regierung. Was aber G e n f betrifft, so hatte die Regierung zwar den Ausbruch der Revolution als wahrscheinlich bevorstehend signalisirt; die Intervention wurde aber erst angeordnet, nachdem Privatdepeschen nicht nur den wirklichen Ausbruch und erfolgtes Blutvergießen,
sondern auch die Cernirung der Regierung seitens ihrer Gegner und damit wohl auch die Unmöglichkeit für die letztere, selbst Hülfe anzusprechen, konstatirt hatten.

Von den oben zitirten verfassungsmäßigen Voraussetzungen war in unserem Falle keine gegeben. Wohl machte der Staatsrath von Tessin dem Bundesrathe unterm 4. März die Mittheilung, daß Unruhen auszubrechen drohen und daß er deshalb eine Kompagnie

1104 regulärer Truppen aufgeboten habe; er war aber nicht außer Stande, Hülfe anzurufen, vielmehr wollte er letzterer nicht thun, da er der eigenen Kraft vertraute und sich einem allfälligen Aufstande gewachsen wußte. Die Regierung hatte, g e s t ü t z t auf v e r f a s s u n g s m ä ß i g e s R e c h t , ihre Gendarmerie verstärkt und war -- in defensiver Stellung und in pflichtiger Ausübung ihrer Pflicht, die verfassungsmäßigen Organe der Staatsgewalt zu schützen -- auf dem Monte Ceneri bereit, einen allfälligen A n g r i f f aus dem Süden wirksam zurückzuschlagen. Sie lehnte daher Hülfe von auswärts ab und protestirte gegen die aufgezwungene Intervention.

Die allerdings massenhaft eingelaufenen, offenbar central geleiteten Drohungen radikaler Vereine vermögen hieran nichts zu ändern ; ebenso wenig die Thatsache, daß beide Parteien, die e i n e v o r d e m A n g r i f f d e r ä n d e r n s i c h f ü r c h t e n d u n d beide sich mißtrauend, gerüstet standen.

4. Klar ist, daß die Intervention sofort einzutreten hat, wenn d i e S i c h e r h e i t d e r S c h w e i z g e f ä h r d e t ist. D i e bloße Annäherung einiger kleiner italienischer Truppenkörper gegen die Schweizergrenze vermag eine wirkliche Gefährdung unseres Landes nicht zu begründen; denn bei den eheuso tendenziösen als übertriebenen Zeitungsberichten aus Mailand läßt sich die Aufstellung einiger Observationstruppen seitens der italienischen Regierung leicht erklären, ohne daß weitere Befürchtungen sich rechtfertigen ließen. Auch berichtet der schweizerische Kommissär unterm 6. März selbst, daß er an keine unmittelbare und sehr ernste Gefahr für unsere Grenze noch für die innere Ruhe glaube.

Aus all' diesen Gründen erachten wir die verfassungsmäßigen Voraussetzungen einer eidgenössischen Intervention nicht als rechtlich begründet und können wir dieselbe daher auch nicht zur Genehmigung empfehlen.

Wir fühlen gar wohl, daß wir mit diesen Anschauungen der Einrede begegnen, daß es besser sei, zu rechter Zeit in präventiver Weise einzuschreiten, daß der Bund nicht wohl daran thue, erst den wirklichen Ausbruch von Unruhen in einem Kantone abzuwarten, um einzuschreiten. Es ist dies aber nicht die Frage, die heute zu erörtern ist, sondern der obersten ßundesbehörde ist die Frage unterstellt, was zur Zeit s c h w e i z e r i s c h e s V
e r f a s s u n g s r e c h t sei. Sollte dieses heutigen Anschauungen nicht mehr voll und ganz genügen, so wäre die Vereinbarung des formellen Rechtes mit erstem auf dem Wege einer V e r f a s s u n g s r e v i s i o n zu suchen.

1105 Wir haben eingangs erwähnt, daß die Akten über die Stimmrechtsverhältnisse und die strafrechtlichen Untersuchungen zur Zeit nicht abgeschlossen seien und der Bundesrath eingeladen werde, den Räthen auf die nächste Junisession Bericht zu erstatten.

Gleichwohl müssen wir schon heute konstatiren, daß der Bundesrath nach unserer persönlichen Ueberzeugung in beiden Richtungen seine verfassungsmäßigen Kompetenzen überschritten habe. Ja, wir stehen nicht an, noch weiter zu gehen und den Bundesrath mit Rücksicht auf sein bekanntes S c h r e i b e n vom 26. F e b r u a r für die darauf folgende Aufregung geradezu m i tv e r a n t w o r t l i c h zu machen. Durch seine vorzeitige Einmischung in die kantona.len Wahlen, durch die Aufstellung von Grundsätzen über die eventuelle Entscheidung eingehender Rekurse gab er den radikalen Gemeinden, Vereinen und Bürgern das S i g n a l zur R e n i t e n z gegen die r e c h t m ä ß i g e , in v e r f a s s u n g s - u n d g e s e t z m ä ß i g e n S c h r a n k e n sich b e wegende Regierung.

Statt in beruhigendem und versöhnendem Sinne zu wirken, erweiterte er die Kluft zwischen Volk und Regierung und gab er -- wir nehmen gerne an, unbewußt und gegen seine Absicht -- der Auflehnung gegen kantonale Verfassung und kantonales Gesetz verhängnißvollen Vorschub.

Ebenso wenig zu rechtfertigen scheint uns der Eingriff des Bundesrathes in die kantonale Gerichtsbarkeit. Bezüglich der Beschlüsse des Großen Rathes über die Strafuntersuchung gegen die renitenten Gemeinderäthe, sowie in seinem Beschlüsse v o m 25. M ä r z betreffend weitere Untersuchungen über die Beeinflussung der Wahlen, überall begegnen wir diskretionärer Gewalt.

Und geradezu unerklärlich erscheint uns das Verhalten des Kommissariats im Fall B e l l o n i , wo ein eines g e m e i n e n Verbrechens angeschuldigter Bürger durch den Machtspruch der Administrative unter Anwendung von Gewaltmaßregeln seiner Haft entlassen wurde. Wir wollen an d i e s e r Stelle nicht einläßlicher eintreten auf .die einschlägigen Verfassungs- und Gesetzesvorschriften, die vom schweizerischen Bundesgericht im Falle von S t a b i o eine so klare und wegleitende Erläuterung erhalten haben; es genüge, auf diese hinzuweisen, um so mehr, als das Bundesgericht durch diese bedauernswerthen Auftritte nun neuerdings Veranlaßung haben wird, das w i r k l i c h e schweizerische Staatsrecht festzustellen.

1106 Eine letzte Bemerkung ist's, die wir nicht unterdrücken können.

Die Botschaft des ßundesrathes vom 25. März betont und anerkennt, daß mehr und mehr die politischen Sitten und Gebräuche im Kanton Tessin an ruhiger Ordnungsmäßigkeit gewinnen. Desta leichter hätte es ihm werden sollen, sich nicht dem Scheine auszusetzen, als gäbe es in unseren Schweizerlande zweierlei Recht, Er hätte sich erinnern düri'en, daß die Geschichte der letzten Dezennien über das Verhältniß des Bundes zu jenem Kantone Dinge berichtet, die an gottlob vergangene Zeiten erinnern, und daß dei1 über a l l e n b e r e c h t i g t e n Z w e i f e l e r h a b e n e P a t r i o t i s mus der Regierung von Tessin auch ein b e g r ü n d e t e s A n r e c h t a u f d a s Vertrauen d e s B u n d e s hat.

B e r n , den 8. April 1889.

Namens der Minderheit der Kommission des Nationalrathes : Keel.

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Bericht der Minderheit der nationalräthlichen Kommission (Herren Nationalräthe Keel und Théraulaz) betreffend die Tessiner Angelegenheit. (Vom 8. April 1889.)

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1889

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13.04.1889

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1094-1106

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