49

# S T #

Bericht des

Bundesrathes an den Nationalrath betreffend Petitionen von Grütlivereinen um Revision der Bundesverfassung.

(Vorn 22. Mai 1889.)

Tit.

Die Petition der Grütlivereine, welche dem Bundesrath zur Berichterstattung überwiesen worden ist, bezweckt, die Bundesversammlung zu veranlassen, von sich aus eine Revision bestimmter Artikel der Bundesverfassung vorzunehmen.

Die Frage, über welche sich der Bundesralh auszusprechen hat, ist die, ob auf die Petition eingetreten, d. h. eine Revision der Bundesverfassung in den von ersterer genannten Artikeln in Berathung gezogen werden solle oder nicht.

Es stehen der Petition keine konstitutionellen Hindernisse entgegen. Die petitionirenden Bürger sind berechtigt, ein solches Ansuchen an die Bundesversammlung zu richten, und diese ihrerseits ist befugt, partielle Revisionen der Bundesverfassung vorzunehmen.

Solche Partialrevisionen können sich auf mehrere, mit einander in Connex stehende Artikel erstrecken, wie die Revision der Art. 31 und 32 im Jahre 1885; oder auf mehrere, mit einander in keinem sachlichen Zusammenhange stehende, wie die Revision von 7 Artikeln im Jahre 1866; oder auch nur je einen einzelnen Artikel beschlagen, wie die Revision des Art. 65 im Jahre 1879 und diejenige des Art. 64 im Jahre 1881.

Es findet in solchen Fällen keine vorausgehende Einigung der beiden Räthe über die Frage Bundesblatt. 41. Jahrg. Bd. III.

4

1

r

50

·

statt, ob eine Revision vorzunehmen sei oder nicht, und auf welche Artikel eventuell die Revision sich erstrecken solle, sondern eswird von einem der Räthe direkt die Abänderung oder Neuaufstellung eines oder mehrerer Artikel vorgenommen, der bezügliche Beschluß von dem ändern Rathe behandelt und, wenn eine Einigung erzielt worden ist, das Resultat der Abstimmung des Volkes und der Kantone unterstellt. Kommt bei diesem Verfahren eine Einigung nicht zu Stande, so hat dies nicht zur Folge, daß nach Art. 120 das Volk in Anfrage gesetzt werden muß, ob eine Revision dea oder der betreffenden Artikel stattfinden soll, sondern es fallt die Angelegenheit nach dem gewöhnlichen Geschäftsverfahren als dahingestellt aus Abschied und Traktanden. Alsdann kann die Revisionsfrage nur auf dem Wege weiter geführt werden, daß der eine Rath die Revision der Bundesverfassung überhaupt beschließt oder daß, 50,000 stimmfähige Schweizerbürger eine solche verlangen, in i O O o j welchem Falle die Volksabstimmung darüber erfolgen muß und, wenn diese die Revision bejaht, Neuwahl der beiden Räthe eintritt.

Da, wie gesagt, der Inbetrachtziehung der Petition konstitutionelle Hindernisse nicht entgegenstehen, so kann es sich nur fragen, oU andere Gründe vorlegen, welche ein Eintreten auf dieselbe al* unzweckmäßig erscheinen lassen könnten.

Hierüber ist nun Folgendes zu bemerken : Die Frage einer Revision der Bundesverfassung ist bei do.K Bundesbehörden bereits anhängig. Sie wurde eingeführt durch die Motion der Herren Nationalräthe Zemp, Keel und Pedrazzini vom 6. Juni 1884, welcae Revision der Art. 73, 27, 31, 32, 89 und 120 verlangten. Die Berathung der Motion im Nationalräthe hatte die Stellung einer Reihe weiterer Revisionspostulate zur Folge, durch welche neben den bereits genannten Artikeln auch die Art. 34.

38, 39, 64, 70, 75 und 80 in Frage gestellt wurden.

Ausdehnung der Rechte des Volkes bezüglich seiner Mitwirkung in Fragen der Bundesverfassung und der Bundesgesetzgebuug ~ Beseitigung des Ständerathes ; Minoritätenvertretung durch propor. tionales Wahlsystem oder Verkleinerung der Nationalrathswahlkreise; Bildung gleicher Wahlkreise ohne Rücksicht auf die Kantonsgrenzen; Beseitigung des Ausschlusses der Geistlichen; Garantirung der Unterrichtsfreiheit; Ausführung der Vorschriften des Art. 27 über den Volksunterricht
durch ein Bundesgesetz; Ausdehnung , des elterlichen Rechtes betr. religiöse Erziehung der Kinder; Ermöglichung vollständiger Rechtseinheit; finanzielle Betheiligung des Bundes an den Bestrebungen zur Förderung des Unterrichtsweseus, der Land- und Alpxvirthschaft, des Gewerbewesens, der Künste und

51 wissenschaftlichen Unternehmungen; Erfindungsschutz; Ausdehnung der Haftpflicht; allgemeine obligatorische Arbeiter-Unfallversicherung; Gründung eines einheitlichen staatlichen Versicherungsinstitutes für Brandschaden; Erweiterung der Autonomie der Kantone betreffend Ordnung des Whihschaftswesens ; Monopolisirung der Erstellung und Ausgabe von Banknoten in der Hand des Bundes; Aenderung der Bestimmungen betreffend das Ohmgeld ; direkte legislatorische und materielle Betheiligung des Bundes beim Auswanderungs- und Colonialwesen -- das ist in Kürze der Inhalt der im Juni 1884 im Schooße das Nationalraths eröffneten Revisionspostulate.

Die Ansichten über die Frage, ob diesen Motionen weitere Folge gegeben werden solle oder nicht, gingen auseinander. Der Rath hatte sich zu entscheiden über Erheblichkeits- oder Nichterheblichkeitserklärung.

Der Bundesrath stellte sich dabei auf folgenden Standpunkt: Die Erheblichkeitserklärung bedeute keineswegs, daß die Anträge der Herren Zemp und Genossen angenommen seien ; es bleibe absolut unentschieden, ob eine Revision überhaupt, und wenn ja, ifi welcher Richtung und Ausdehnung sie vorgenommen werden solle.

Es frage sich dabei nur, ob die gemachte Anregung als wichtig genug zu betrachten sei, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden. Der Bundesrath bejahe diese Frage. Die Folge sei einfach eine spätere Berathung, in welcher man sowohl bezüglich der grundsätzlichen Frage, wie bezüglich des Umfangs der Revision vollständig freie Hand habe, in welcher das Recht der Antragstellung jedem Mitglied der Räthe nach allen Richtungen gewahrt bleibe. Dagegen implicire die Erklärung, die Motion werde nicht in Berathung gezogen, bereits einen materiellen Entscheid, den Entscheid nämlich, daß man die Revision überhaupt nicht wolle und am Bestehenden festhalte. Die Ablehnung präjudizire, die Erheblichkeitserklärung nicht.

Der Nationalrath, mit großer Mehrheit (98 gegen 40 Stimmen) den Ansichten und dem formulirten Antrag des Bundesrathes beipflichtend, beschloß : in Betracht, daß die gestellten Motionen auf eine theilweise Revision der Bundesverfassung abzielen, daß aber in Bezug auf die einzelnen zu revidirenden Punkte zwischen denselben keine Uebereinstimmung besteht; in Betracht, daß es geboten erscheint, vor der Entscheidung der Hauptfrage die gestellten Anträge einer reiflichen Prüfung zu unterstellen : Die Motionen werden erheblich erklärt.

52

Der Bundesrath \vird eingeladen, darüber Bericht und eventuell Anträge zu hinterbringen, ob eine Revision der Bundesverfassung zu beschließen sei, und bejahenden Falls, auf welche Artikel derselben sie sich auszudehnen habe.

Die uns zur Berichterstattung übervriesene Petition der Grutlivereine postulirt Revision : 1) von Art. 120 der Bundesverfassung in dem Sinne, daß 50.000 Schweizerbürgern das Recht eingeräumt werde, nicht nur eine totale, sondern auch eine partielle Verfassungsrevision anbegehren zu können; 2) von Art. 89 in der Weise, daß das fakultative Referenduni durch das obligatorische ersetzt und die Gesetzesinitiative als Volksrecht aufgenommen werde; 3) der Art. 85, Ziff. 4, und Art. 96 in dem Sinne, daß die Wahl des Schweiz. Bundesrathes in die Machtbefugniß des Schweizervolkes gelegt werde.

Auch hier kann es sich zunächst nur um Erheblich- oder Nichterheblicherklävung handeln.

Was den ersten und zweiten Punkt der Petition betrifft, Revision der Art. 89 und 120 der Bundesverfassung im Sinne einer Erweiterung der Volksrechte, so sind diese Postulate, welche schon in den Revisionsmotionen vom Juni 1884 enthalten sind, durch den Beschluß des Nationalrathes bereits erheblich erklärt.

Neu ist der dritte Punkt, Revision der Art. 85 und 96 behufs Einführung der Wahl des Bundesrathes durch das Volk. Es liegt nach unserer Ansicht kein Grund vor, dieses Revisionspostulat anders zu behandeln als die übrigen, theilweise ebenso tief in die Organisation des Bundes eingreifenden Postulate, und beantragen deßhalb auch bezüglich dieses Punktes Erheblichkeitserklärung.

Seit dem Jahre 1884 ist mehr als die Hälfte der Materien, welche Gegenstand der erheblich erklärten Motionen bildeten, zur Behandlung und theilweise zur abschließlichen Erledigung gekommen. Wo zur Erreichung des Zweckes Verfassungsrevision unausweichlich war, da, wurde eine solche veranlaßt, wo aber vorgesteckte Ziele auf dem Wege der Gesetzgebung erreichbar waren, da wurde'dieser Weg beschritten.

Die O h m g e l d f r a g e wurde durch Aufnahme eines neuen Artikels in die Bundeiäverfassung -- Art. 32bis -- und die unmittelbar darauf folgende Alkoholgesetzgebung erledigt.

53 Dem Postulate betreffend Erweiterung der Autonomie der Kantone im W i r t h s c h a ft s wes e n wurde durch Abänderung des Art. 31 der Bundesverfassung entsprochen.

lieber die Frage der A u s d e h n u n g der H a f t p f l i c h t (Revisionsmotion Vögelin und später -- 25. März 1885 -- Motion Klein) erstattete der Bundesrath Bericht mit Botschaft vom 7. Juni 1886. Nachdem er gefunden, daß der Bund ohne Verfassungsrevision zur gesetzlichen Ausdehnung der Haftpflicht auf andere Gewerbe als Fabriken auf Grund der Art. 64 und 34 der Verfassung kompetent sei, machte er eine entsprechende Gesetzesvorlage, welche durch Erlaß des Bundesgesetzes betreffend Ausdehnung der Haftpflicht vom 26. April 1887 ihre Erledigung fand.

Die Frage der F ö r d e r u n g der Landwirthschaft d u r c h den B u n d (Motion Vögelin) hatte ihre faktische Beantwortung schon durch die Botschaft vom 4. Dezember 1883 und den Bundesbeschluß vom 4. Dezember 1883 gefunden.

Auch die ebenfalls als Revisionspostulat angeregte und erheblich erklärte Frage der F ö r d e r u n g des G e w e r b e w e s e n s d u r c h d e n B u n d konnte, wie diejenige betreffend die Landwirthschaft, ohne Revision der Bundesverfassung an die Hand genommen und dem vorhandenen Bedürfniß entsprechend gelöst werden. Es geschah dies durch den Bundesbeschluß betreffend Beteiligung des Bundes an der gewerblichen und industriellen Berufsbildung vom 27. Juni 1884.

In gleicherweise fand auch die postulirte F ö r d e r u n g der K u n s t d u r c h den B u n d ihre Behandlung, indem der Bundesrath mit Botschaft d. d. 3. Juni 1887 (Bundesbl. Bd. III, S. 515) der Bundesversammlung direkt eine entsprechende Vorlage unterbreitete, welche zum B u n d e s b e s c h l u ß betreffend B e t h e i l i g u n g des Bundes an den Bestrebungen zur Förderung der schweizerischen Kunst führte.

Die Lösung der Frage des E r f i n d u n g s s c h u t z e s --· eine unter dem 10. Dezember 1883 erheblich erklärte Motion -- hinwieder erheischte eine Revision der Bundesverfassung. Diese wurde eingeleitet durch die Botschaft des Bundesrathes d. d. 1. Juni 1886 (Bundesbl. Bd. II, S. 517) und schloß ab mit der definitiven Aufnahme eines Zusatzes zu dem Art. 64 der Verfassung, durch welchen dem Bunde die Gesetzgebung zuerkannt wurde ,,über den Schutz neuer Muster und Modelle, sowie solcher Erfindungen, welche durch Modelle dargestellt und gewerblich verwerthbar sind".

O

O

O

54

Ein erheblich erklärter Revisionspunkt betraf die B e t h e i l i g u n g d e s B u n d e s b e i m Auswanderungs- u n d K o l o n i a l w e s e n . Diese Frage wurde einer erneuten Prüfung unterstellt, welche indeß nicht dazu führte, im Sinne der Motion Vögelin, eine direkte legislatorische und materielle Betheiligung des Bundes und damit eine Revision des Art. 34 dei- Bundesverfassung in Aussicht zu nehmen, sondern es vielmehr als zweckmäßig erscheinen ließ, auf dem Boden der bestehenden Verfassungsbestimmung zu verbleiben. Immerhin wurde der Anregung die Folge gegeben, daß das Bundesgesetz über den Geschäftsbetrieb von Auswanderungsagenturen vorn 24. Dezember 1880 einer Revision unterzogen wurde, aus welchen Berathungen das neue Bundesgesetz vom 22. März 1888 hervorging.

Das mit allen ändern Revisionspostulaten zusammen erheblich erklärte P o s t u l a t b e t r e f f e n d d a s B a n k n o t e n w es e n k a m am 2. und 3. Juni 1885 isolirt zur Behandlung und zwar infolge einer speziellen von Herrn Nationalrath Kramer-Frey gestellten Motion, dahin lautend, der Bundesrath wird eingeladen, die Frage zu prüfen und bald möglichst darüber Bericht zu erstatten, ob nicht Art. 39 der Bundesverfassung in nachstehendem Sinne zu revidiren sei : ,,Die Gesetzgebung über das Banknotenwesen ist Bundessache, der Bund ist befugt, einer seiner Aufsicht und Leitung zu unterstellenden Bank das ausschließliche Recht zur Ausgabe von Banknoten zu verleihen."

Nach einläßlicher Erörterung der Angelegenheit während zwei Sitzungen, im Laufe deren einerseits der Antrag gestellt wurde, die Motion auch in der vom Vertreter des Bundesrathes etwas modifizirten und vom Motionssteiler angenommenen Form (2. AI. : ,,Der Bundesrath ist befugt, einer auf dem Wege der Gesetzgebung zu organisirenden und seiner Aufsicht und Leitung zu unterstellenden Bank das ausschließliche Recht zur Ausgabe von Banknoten zu verleihen") einfach nicht erheblich zu erklären, andererseits vorgeschlagen wurde, für den Fall der Unerheblichkeitserklärung zu motiviren, wie folgt : ,,In Betracht, daß die vom Motionssteller angeregte Frage bereits durch die am 24. Juni 1884 erheblich erklärte, auf Revision der Art. 38 und 39 der Bundesverfassung abzielende Motion Vögelin anhängig gemacht sei", wurde bei der Abstimmung eventuell der einfachen Tagesordnung
gegenüber der motivirten Tagesordnung der Vorzug gegeben und definitiv unter Namensaufruf mit 71 gegen 43 Stimmen die e i n fa c h e T a g e s o r d n u n g, resp. die A b l e h n u n g der M o t i o n beschlossen. Mit diesem Beschluß, welcher die Erheblicherklärung einer Revision des Art. 39 vom 24. Juni 1884 aufhob, war für den Bundesrath dieser Punkt bis auf Weiteres erledigt.

55

Die allgemeine obligatorische A r b e i t e r u n f a l l v e r s i c h e r u n g , welche durch Erheblicherklärung der Motioii Klein im März 1885 in die Reihe der Revisionspostulate getreten, ist seither wiederholt Gegenstand der Berichterstattung an die Bundesversammlung geworden ; zuerst in der Botschaft vom 7. Juni 1886, sodann in derjenigen vom 5. April 1887 und zuletzt in der Botschaft vom 5. Dezember 1887. Behufs Beschaffung der nothwendigen Grundlage für die Beurtheilung und eventuelle legislatorische Behandlung der Frage ist unterm 23. Dezember 1887 «der Bundesbeschluß betreffend die Aufnahme und statistische Verwerthung der = in der Schweiz vorkommenden Unfälle erlassen ·worden und es ist die bezügliche, auf 3 Jahre berechnete Enquête seit dem 1. April 1888 im Gange. Da dem Bunde nach der bestehenden Bundesverfassung die Kompetenz zu gesetzgeberischem Vorgehen in dieser Materie mangelt, so ist eine Ergänzung derselben auf dem Wege einer partiellen Verfassungsrevision in Aussicht genommen und hofft der Bundesrath in der Lage zu sein, noch im Laufe dieses Jahres der Bundesversammlung eine bezügliche Vorlage zu unterbreiten.

Verschiedene Motionen verlangen vollständige V e r e i n h e i t l i c h u n g d e s b ü r g e r l i c h e n u n d des S t r a f r e c h t e s i n d e r S c h w e i z . Die Aufgabe der Bundesbehörden bestand selbstverständlich zunächst darin, die Kompetenzen zu erschöpfen, welche die bestehende Verfassung auf diesem Gebiete dem Bunde -ertheilt hat. Nachdem am 1. Januar 1882 das Bundesgesetz über ·die persönliche Handlungsfähigkeit, am 1. Januar 1883 dasjenige über das Obligationenrecht in Kraft getreten war, wurde das Bundesesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vorbereitet und am 11. April 1889 zum Abschluß gebracht. Die weitere Vereinheitlichung des Rechts bildet den Gegenstand von Untersuchungen und Studien, welche unter Mitwirkung des schweizerischen Juristen Vereins für ·das Civilrecht dem Herrn Prof. Huber und für das Strafrecht dem Herrn Prof. Stooß anvertraut sind. Der Bundesrath ist der Ansicht, -daß man erst dann mit Hoffnung auf Erfolg daran denken kann, auf dem Wege der Bundesrevision neue Kompetenzen für den Bund auf diesem Gebiete zu verlangen, wenn es zuvor gelungen sein wird, für bestimmte konkrete Projekte die allgemeine Zustimmung zu erhalten.
Die Motion Zernp und Genossen verlangte in ihrem ersten Artikel eine besondere neue Verfassungsbestimmung betreffend die W a h l e n in den N a t i o n a l r a t h und zwar in dem Sinne, daß für die Bildung der Wahlkreise eine gewisse Maximalgröße festgesetzt, eventuell daß für diese Wahlen der Grundsatz der proportionalen Vertretung aufgestellt werde.

56 Da die von den Wahlen in den Nationalrath handelnden Art. 72 und 73 der Bundesverfassung keine Bestimmung enthalten, welche das eine oder andere dieserà Postulate ausschlösse, so stand nichts im Wege, dieselben gesetzgeberisch in Behandlung zu nehmen. Es geschah dies zunächst bezüglich der Frage der proportionellen Vertretung, über welche sich der Bundesrath anläßlich des von ihm vorgelegten Gesetzesentwurfes über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen auszusprecheu Gelegenheit hatte. Er that dies motivili in verneinendem Sinne, und zu demselben Brgebniß führte die einläßliche Berathung des Nationalrathes in der Sommergessi«! des Jahres 1885. Infolge dessen wurde der Bundesrath eingeladen, das Bundesgesetz betreffend die Wahlen in den Nationalrath vom 8. Mai 1881 einer Revision zu unterwerfen und eine Vorlage zu einer neuen Wahlkreiseintheilung auszuarbeiten. Mit Botschaft vom 5. April 1887 erstattete der Eìundesrath über die Frage einläßlichen Bericht, wobei er zu dem Ergebniß gelangte, daß einer neuen Wahlkreiseintheilung am Ende des Dezenniums eine neue Volkszählung vorausgehen müsse und daß es gerechtfertigt erscheine, diese Volkszählung statt erst im Jahre 1890 schon im Jahre 1888 vorzunehmen, um es zu ermöglichen, die nächsten Integralerneuerungswahlen in den Nationalrath auf Grund eines inzwischen revidirten Repräsentationsgesetzes vorzunehmen. Nachdem auf entsprechenden Beschluß, der Räthe im Dezember des abgelaufenen Jahres eine neue Bevölkerungsaufnahme stattgefunden, liegt mit diesem Bericht auch ein die Wahlkreiseintheilung neu normirender Gesetzesentwurf der Bundesversammlung vor, welche nun Gelegenheit haben wird, auch die erste Alternative der Motion Zemp sachlich zu beantworten.

So hat sich innerhalb der letzten vier Jahre die durch den Beschluß des Nationalrathes vom 27. Juni 1884, betreffend die Revisionsmotionen, dem Bundesrathe aufgetragene Berichterstattung und eventuelle Antragstellung bezüglich der Mehrzahl der Postulate successiv vollzogen.

Den einzelnen Akten voraus ging eine Darlegung unserer Absichten in Bezug auf die Art und Weise des Vorgehens überhaupt.

In der Einleitung zu der Botschaft vom 20. November, betreffend die zur Lösung der Ohmgeld-, bez. Alkoholfrage in's Werk zu setzende Bundesrevision, spricht sich der Bundesrath unter Bezugnahme auf die ihm zur
Berichterstattung und Antragstellung überwiesenen Revisionsmotionen folgendermaßen aus : .,,Jede dieser Fragen ist so schwierig und so wichtig, daß sie die genaueste Vorbereitung fordert und die Aufmerksamkeit der Behörden und des

57 Volkes in vollem Maße in Anspruch nimmt, wenn deren Erledigung eine ernste, sachgemäße und durch keine Nebenrücksichten bedingte sein soll. Solche Nebenrücksichten machen sich aber naturgemäß sofort geltend, wenn verschiedenartige Aufgaben n e b e n e i n a n d e r behandelt werden, und es ist dies ganz besonders der Fall, wenn überdies die Erörterung und der Kampf um politische Rechte und Einrichtungen hinzutritt."

,,Daß eine Vorlage des Bundesrathes über die verschiedenen Motionen nicht in nächster Zeit zu erwarten ist, liegt in der Natur der Sache. Wir haben im Interesse der Förderung der Sache den einzelnen Departementen die einschlägigen Materien zur vorläufigen Untersuchung und Vorbereitung zugewiesen und sie eingeladen, uns ihre Berichte und Anträge so bald als möglich und spätestens bis zürn 1. Mai nächsten Jahres vorzulegen; wir wünschen, die Arbeit mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu fördern, und w e r d e n der B u n d e s v e r s a m m l u n g unsere A n t r ä g e u n t e r b r e i t e n , s o b a l d dieses in B e z u g a u f e i n e n o d e r m e h r e r e d e r a n g e r e g t e n P u n k t e m ö g l i c h s e i n wird."

Das so inaugurirte Vorgehen, resp. die successive Behandlung der einzelnen Materien, hat sich als zweckmäßig und erfolgreich erwiesen. Sie brachte es mit sieh, daß jeder einzelnen Frage die volle ihr gebührende Aufmerksamkeit und sachgemäße Vorbereitung gewidmet werden konnte, und hatte namentlich den Vortheil, daß nicht, wie dies bei umfassenden Verfassungsrevisionen geschieht, nur neue Aufgaben gestellt und Grundsätze proklamirt wurden, sondern daß jede in Behandlung genommene Materie auch sofort zur vollen gesetzgeberischen Ausgestaltung kam.

Ein Theil der Revisionsmotionen, und zwar nicht der mindest bedeutsame Theil derselben, blieb bis jetzt ruhen.

Es sind dies diejenigen Revisionspostulate, welche die p o l i t i s c h e O r g a n i s a t i o n der E i d g e n osse n sch a f t berühren : Beseitigung des Ständerathes; Aufhebung des Ausschlusses der Geistlichen aus dem Nationalrathe ; Bildung gleicher Wahlkreise ohne Rücksicht auf die Kantonsgrenzen ; andere Gestaltung des Referendums, eventuell Ersetzung des fakultativen durch das obligatorische Referendum ; Eröffnung partieller Verfassungsrevisionen auf dem Wege von Volksbegehren; Volksinitiative in Gesetzessachen, -- in welche Klasse von Postulaten nunmehr noch einzureihen wäre die Wahl des Bundesrathes durch das Volk.

58 Ebenso blieben bis jetzt unbehandelt die auf die V o l k s s c h u l e , Art.'27 der Bundesverfassung, und die r e l i g i ö s e E r z i e h u n g der K i n d e r , Art. 49 der Bundesverfassung, sich beziehenden Revisionsanträge.

Es bedarf wohl keiner besondern Rechtfertigung, daß der Bundesrath seine Arbeit zunächst den dringenden Aufgaben wirthschaftlicher, kultureller und sozialer Natur zuwandte und vor der Hand die Behandlung der politischen und konfessionellen Fragen, deren Lösung nicht so dringlich erschien, bei Seite ließ. Der Bundesrath fand, indem er so vorging, die Zustimmung wie der Bundesversammlung, so auch der verschiedenen politischen Parteien und der öffentlichen Meinung der Schweiz, und er hält dafür, daß diesem Verfahren die verhältnißmäßig rasche und befriedigende Erledigung jener Aufgaben wesentlich mit zu verdanken ist.

Es sind nun aber dieselben zur Stunde noch nicht in ·dem vollen Umfang dessen gelöst, was durch die Revisionsmotionen der ersten Kategorie auf die Tagesordnung gestellt worden ist. Wir haben bereits oben berichtet, daß sich der. Bundesrath mit dem Antrag auf eine Verfassungsrevision beschäftigt, durch welche die A r b e i t e r u n f a l l v e r s i c h e r u n g in den Bereich der Bundesgesetzgebung gestellt werden soll, und daß er die Einbringung dieses Antrages auf die ordentliche Wintersession dieses Jahres in Aussicht nimmt. Die Wichtigkeit und Schwierigkeit dieser Frage läßt es sehr wünschenswerth erscheinen, daß sie, wie die vorausgegangenen, isolirt und unvermengt mit ändern Revisionspunkteu zur Behandlung in der Bundesversammlung und eventuell zur Abstimmung vor Volk und Kantone gelange.

Dies hindert nun aber nicht, nunmehr auch den obgenannten Revisionsmotionen politischer und konfessioneller Natur ernstlich näher zu treten. Es bedarf hiezu einer besondern Einladung an den Bundesrath zur Berichterstattung und Autragstellung nicht. Es ist eine solche Einladung bereits ausgesprochen, und der Bundesrath wird sich zur Pflicht macheu, derselben mit Bezug auf die bis jetzt noch nicht behandelten Motionen nachzukommen, sobald die in Vorbereitung begriffene partielle Verfassungsrevision betreffend die ArbeiterUnfallversicherung so weit vorgerückt sein wird, daß ihre separate Behandlung und Erledigung gesichert ist. Auf jene Motionen materiell irgendwie
weiter einzutreten, kann nicht Sache dieses Berichtes sein, und zwar schon deß\vegen nicht, weil der Bundesrath, wenn ·er auch im Besitze vorläufiger Departementalgutachten über dieselben sich befindet, die Angelegenheit noch nicht zum Gegenstande seiner ßerathung gemacht hat.

59 Dies wird nunmehr im Laufe dieses Jahres geschehen, so daß längstens auf die Frühlingssitzung des Jahres 1890 der Bundesversammlung Bericht und Antrag über die Frage der Revision der Artikel 73, 80, 89 und 120; 75, 85 und 96; 49 und 27 vorliegen wird.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 22. Mai 1889.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Hammer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

60

# S T #

Bericht des

Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die vom Nationalrathe in der Juni-Session 1888 erheblich erklärte Motion des Hrn. Nationalrath H o c h s t r a ß e r betreffend Abänderung des Art. 8 des Bundesgesetzes über gebrannte Wasser, vom 23. Dezember 1886.

(Vom 22. Mai 1889.)

Tit.

Der Nationalrath hat am 21. Juni verflossenen Jahres eine Motion seines Mitgliedes Hrn. H o c h s t r a ß e r in nachstehender Fassung angenommen und uns zur Berichterstattung überwiesen: ,,Der Bundesrath wird eingeladen, zu prüfen und Bericht zu erstatten, ob nicht das in Art. 8 des Bundesgesetzes vom 23. Dezember 1886 betreffend gebrannte Wasser festgestellte Minimum von 40 Litern, bei welcher Produktion ein Brenner in Quantitäten von 5 Litern verkaufen darf, zu erhöhen sei."

Die durch dieses Postulat vom Gesichtspunkte landwirtschaftlicher Interessen angeregte Abänderung des Gesetzes berührt einerseits die Finanzen der Kantone, insofern dadurch eine mehr oder minder große Zahl von taxirten Kleinverkaufsbewilligungen wegfallen würde, anderseits die den Kantonen nach Art. 9 des Gesetzes obliegende Kontrole über den Verkauf gebrannter Getränke, indem die Zahl der Verkaufsstellen, wo ohne Bewilligung Branntwein abgegeben werden könnte, sich vermehren würde, wodurch auch die Fräse des öffentlichen Wohls berührt wird. -- B. V. Art. 31 c neu.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrathes an den Nationalrath betreffend Petitionen von Grütlivereinen um Revision der Bundesverfassung. (Vom 22. Mai 1889.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1889

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

23

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

25.05.1889

Date Data Seite

49-60

Page Pagina Ref. No

10 014 394

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.