BBl 2022 www.bundesrecht.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

zu 20.437 und 20.438 Parlamentarische Initiativen Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern / Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisensituationen Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 27. Januar 2022 Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Februar 2022

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 27. Januar 20221 betreffend die parlamentarischen Initiativen 20.437 «Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» und 20.438 «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisensituationen» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

16. Februar 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

1.1

Auslöser der parlamentarischen Initiativen

In der Covid-19-Pandemie, die im Frühjahr 2020 begann, war das Parlament mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. So wurde die Frühjahrssession 2020 nach zwei Sessionswochen durch die Büros der beiden Räte abgebrochen. In der Folge stellten sich eine Reihe von organisatorischen und rechtlichen Herausforderungen, beispielsweise bei der Durchführung von Kommissionssitzungen. Auf Anordnung der Büros konnte die Kommissionsarbeit, insbesondere wegen der einzuhaltenden sanitarischen Massnahmen, zunächst nur in reduziertem Masse stattfinden. Erst nachdem die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen waren, konnten alle parlamentarischen Kommissionen ihre Arbeit wieder aufnehmen. Umstritten war dabei, ob die Büros überhaupt über die Kompetenz verfügten, zu entscheiden, dass die dritte Sessionswoche der Frühlingssession 2020 nicht mehr durchgeführt wurde. Ebenso war umstritten, ob die Büros und die Verwaltungsdelegation den Kommissionen Sitzungen untersagen und Vorgaben zur Durchführung (beispielsweise als digitale Sitzungen) machen können.

Gleichzeitig verfügt das Parlament über ein vielfältiges rechtliches Instrumentarium, um auch in Krisensituationen auf politische Entscheidungsprozesse und namentlich auf Entscheide des Bundesrates einwirken zu können. Diese Kompetenzen kann das Parlament in Krisensituationen jedoch nur ausüben, wenn die organisatorischen Voraussetzungen dafür vorhanden und die Abläufe entsprechend ausgestaltet sind. Insbesondere stellte sich die Frage, ob die Einberufung der ausserordentlichen Session von Anfang Mai 2020 fristgerecht erfolgte. Der Bundesrat hatte diese am 23. März 2020 und 31 Mitglieder des Ständerates am 25. März 2020 gestützt auf Artikel 2 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20022 (ParlG) beantragt, unter anderem um die Botschaft vom 20. März 20203 über den Nachtrag I zum Voranschlag 2020 zu behandeln. Die in den Artikeln 28 und 34 des Finanzhaushaltgesetzes vom 7. Oktober 20054 vorgesehene Frist von drei Wochen für die Einberufung der Session wurde somit nicht eingehalten. Festgestellt wurde schliesslich, dass die notwendigen Rechtsgrundlagen auf Verfassungs- und Gesetzesstufe für die Durchführung von Ratssitzungen per Videokonferenz nicht bestehen.

In Bezug auf die Nutzung der parlamentarischen Instrumente wie die Motion wurde festgestellt,
dass die gesetzlichen Fristen teilweise ein zeitnahes Einwirken auf die Entscheide des Bundesrates erschweren. Dass die eingereichten Motionen dennoch zügig behandelt und die angenommenen Motionen rasch umgesetzt wurden, ist auf das Entgegenkommen des Bundesrates zurückzuführen, die ihm parlamentsrechtlich zustehenden Fristen nicht auszunutzen (Erklärung des Bundesrates vom

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SR 171.10 BBl 2020 2845 SR 611.0

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4. Mai 20205). Auch das Instrument der parlamentarischen Initiative hat sich als schwerfällig erwiesen, wenn keine klaren Mehrheiten in beiden Räten bestehen. Insbesondere ist damit auch der auf Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c der Bundesverfassung6 (BV) gestützte Erlass von Notrecht durch das Parlament erschwert.

1.2

Ausarbeitung eines Erlassentwurfes

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) hat am 29. Mai 2020 die parlamentarische Initiative (pa. Iv.) «20.437 Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern» einstimmig und die pa. Iv. 20.438 «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» mit 24 zu 1 Stimmen beschlossen. Die pa. Iv. 20.437 sieht vor, die rechtlichen Grundlagen so anzupassen, dass die Handlungsfähigkeit der Bundesversammlung in ausserordentlichen Situationen und Krisen sichergestellt wird. Die pa. Iv. 20.438 hat zum Ziel, wenn nötig die rechtlichen Grundlagen dahingehend anzupassen, dass das Parlament in Krisensituationen seine Notrechtskompetenzen adäquat nutzen und das Notrecht des Bundesrates wirkungsvoll überprüfen kann.

Die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S) gab der pa. Iv. 20.437 einstimmig und der pa. Iv. 20.438 mit 9 zu 0 Stimmen bei zwei Enthaltungen Folge.

Die SPK-N setzte daraufhin eine Subkommission mit 12 Mitgliedern und Nationalrat Gregor Rutz als Präsident ein. Die Subkommission erhielt den Auftrag, Vorschläge zur Umsetzung der beiden pa. Iv. auszuarbeiten.

Noch vor der Aufnahme der Arbeiten durch die Subkommission führten die SPK-N und die SPK-S am 22. Oktober 2020 gemeinsame Anhörungen von verschiedenen Experten aus dem Bereich des Verfassungs- und Parlamentsrechts durch. Ebenfalls angehört wurde eine Vertretung des Zürcher Kantonsrates. Die Vorschläge und Analysen der Experten sind in die Arbeiten der Subkommission eingeflossen.

Die Subkommission hat erstmals am 25. November 2020 getagt. An insgesamt sieben Sitzungen beriet sie über verschiedene Vorschläge zur Änderung der geltenden rechtlichen Bestimmungen, insbesondere im Bereich des ParlG. Am 1. September 2021 hat die Subkommission den Bericht zu einem Erlassentwurf zuhanden der SPK-N verabschiedet. Die SPK-N ist am 15. Oktober ihrer Subkommission im Wesentlichen gefolgt. Sie hat dabei beschlossen, das Büro und die Verwaltungsdelegation sowie das Bundesgericht zu konsultieren. Am 27. Januar 2022 verabschiedete die SPK-N den Bericht und den Erlassentwurf zuhanden des Nationalrates. Gleichzeitig lud sie den Bundesrat ein, bis am 23. Februar 2022 Stellung zu nehmen.

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AB 2020 N 377; AB 2020 S 176 SR 101

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1.3

Vorgeschlagene Neuerungen

Bei der Ausarbeitung der Revision des ParlG und weiterer Gesetze orientierte sich die SPK-N an folgenden Grundsätzen: Das Parlament als «oberste Gewalt im Bund» (Art. 148 BV) muss auch in Krisenzeiten jederzeit handlungsfähig sein, die Räte sollen jederzeit tagen können, die parlamentarischen Kommissionen müssen ihr Selbstbefassungsrecht wahrnehmen können, das parlamentarische Instrumentarium muss in Krisenzeiten effizient genutzt werden können und dem Parlament und seinen Organen müssen genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, damit die parlamentarischen Rechte auch in Krisenzeiten effizient wahrgenommen werden können.

Der Erlassentwurf lässt sich in fünf Themenbereiche einteilen.

In einem ersten Teil werden die Bestimmungen zum Zusammentreten der Kommissionen ergänzt. Neu sollen die Voraussetzungen und die Zuständigkeiten für die Einberufung der Kommissionssitzungen auf Gesetzesstufe verankert werden (Art. 45a E-ParlG). Insbesondere soll die Möglichkeit der dringenden Einberufung vorgesehen werden. Zudem soll in bestimmten Fällen die Durchführung von virtuellen Sitzungen zulässig sein (Art. 45b E-ParlG).

Weiter soll die Verwaltungsdelegation, die bisher als Delegation der Ratsbüros konzipiert war, durch eine Verwaltungskommission (VK) abgelöst werden. Der neuen VK sollen je vier für vier Jahre gewählte Mitglieder des National- und des Ständerates angehören, welche nicht gleichzeitig Mitglied des Ratsbüros sind. Zudem sollen der VK auch die Präsidentinnen oder Präsidenten der Räte angehören. Der VK sollen die gleichen Aufgaben zukommen wie bisher der Verwaltungsdelegation.

Die Regelung zur Einberufung von ausserordentlichen Sessionen in Artikel 2 ParlG wird ergänzt. Artikel 2 Absatz 3bis E-ParlG sieht vor, dass eine ausserordentliche Session von einem Viertel der Mitglieder eines Rates auch zwischen ordentlichen Sessionen unverzüglich einberufen werden kann, wenn der Bundesrat eine Notverordnung erlassen hat, wenn das Parlament selber dringlich Recht setzen will oder wenn die Verschiebung oder die vorzeitige Beendigung der Session beschlossen wurde und ein Beratungsgegenstand nach Artikel 2 Absatz 3 ParlG vorliegt. Ferner soll es in genau festgelegten Ausnahmefällen möglich sein, dass die Koordinationskonferenz einen anderen Tagungsort als Bern beschliesst (Art. 32 Abs. 3 E-ParlG), dass das
Büro die virtuelle Durchführung von Ratssitzungen beschliesst (Art. 32a E-ParlG), und dass ein Ratsmitglied virtuell an Ratssitzungen teilnehmen kann (Art. 10a E-ParlG).

Im Bereich der Nutzung der parlamentarischen Instrumente soll vor allem die Kommissionsmotion gestärkt werden. Sie wird von der SPK-N als geeignet erachtet, um auf die Verordnungsgebung des Bundesrates einwirken zu können. Kommissionsmotionen, die vom Bundesrat den Erlass oder die Änderung einer Notverordnung verlangen, die sich auf Artikel 184 Absatz 3, Artikel 185 Absatz 3 oder auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise stützt, sollen in der nächsten oder der laufenden ordentlichen oder ausserordentlichen Session traktandiert werden. Sieht der Motionstext eine Frist für die Berichterstattung vor, so muss der Bundesrat spätestens nach Ablauf dieser Frist über die Umsetzung Bericht erstatten (Art. 122 Abs. 1bis Bst. b E-ParlG). Unabhängig von einer Krisensituation soll der Bundesrat im Übrigen seinen Antrag zu gleichlautenden Kommissionsmotionen, die spätestens eine Woche vor Beginn einer ordentlichen oder ausserordentlichen Session vorliegen, bis zur 4 / 14

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Beratung der Motion in dieser Session stellen. Sodann soll mit der Vorlage die pa. Iv. 20.402 «Kommissionsmotionen zur Änderung von Verordnungen und Verordnungsentwürfen» umgesetzt werden. Nach Artikel 122 Absatz 1bis Buchstabe a E-ParlG hat der Bundesrat bereits innerhalb von sechs Monaten Bericht zu erstatten, wenn er Kommissionsmotionen noch nicht erfüllt hat, die auf Verordnungen oder Verordnungsentwürfe des Bundesrates einwirken wollen.

Im Rahmen der Ausübung der Notrechtskompetenzen soll in Artikel 151 Absatz 2bis E-ParlG sodann die Pflicht des Bundesrates verankert werden, die zuständigen Kommissionen des Parlaments zu den Entwürfen für Verordnungen und Verordnungsänderungen zu konsultieren, die er gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV oder eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise erlässt.

Neben weiteren kleineren Änderungen sieht die Vorlage auch eine Änderung des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 20057 (VlG) vor, wonach bei Entwürfen zu dringlichen Bundesgesetzen sowie zu Verordnungen nach Artikel 184 Absatz 3 und Artikel 185 Absatz 3 BV auf eine Vernehmlassung verzichtet werden kann. Stattdessen hat die zuständige Behörde wenn möglich die Kantonsregierungen und vom Vorhaben in erheblichem Mass betroffene Kreise zu konsultieren.

Die SPK-N verzichtet demgegenüber nach erfolgter Prüfung auf die Einführung einer abstrakten Normenkontrolle von Notverordnungen. Es wird angeführt, dass die Kontrolle der bundesrätlichen Notverordnungen weiterhin durch das Parlament und nicht durch die Gerichte vorgenommen werden soll. Die Geltungsdauer des bundesrätlichen Notverordnungsrechts ist durch Artikel 7d des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 19978 (RVOG) auf sechs Monate beschränkt. Zudem benötigt die gerichtliche Überprüfung Zeit, weshalb sie kaum Wirkung entfalten dürfte. Eine Minderheit verlangt hingegen die Einführung einer Beschwerdemöglichkeit gegen Verordnungen des Bundesrates und der Bundesversammlung nach den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 bzw. 173 Absatz 1 Buchstabe c BV. Eine weitere Minderheit möchte die Beschwerdemöglichkeit auf Erlasse des Bundesrates beschränken.

Ferner verzichtet die SPK-N auf die Schaffung weiterer parlamentarischer Organe wie beispielsweise einer Rechtsdelegation. Aus der Sicht der Kommission besteht dafür kein
Bedarf; die bestehenden Kommissionen reichen aus.

Auch auf die Schaffung neuer Bestimmungen zur Bewältigung von Krisen und auf eine entsprechende Anpassung und Ergänzung geltender Bestimmungen in Spezialgesetzen wird verzichtet. Gegen die Einführung weiterer Bestimmungen zur Krisenbewältigung spricht für die Kommission insbesondere auch, dass bei Verordnungen nach Artikel 185 Absatz 3 BV mit Artikel 7d RVOG ein Überführungsmechanismus besteht, der den Einbezug des Parlaments gewährleistet.

Zwar hat der Bundesrat nach Ansicht der SPK-N in noch nie dagewesenem Umfang verfassungsunmittelbare Notverordnungen erlassen. Dies sei jedoch in erster Linie Ausdruck der zu bewältigenden ausserordentlichen Herausforderungen und nicht die Folge einer Praxisänderung. Die Kommission verzichtet daher darauf, eine engere 7 8

SR 172.061 SR 172.010

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Definition von Artikel 185 Absatz 3 BV vorzuschlagen. Ebenso verzichtet die SPKN auf eine Änderung von Artikel 7d RVOG, da sich der in dieser Bestimmung vorgesehene Mechanismus zur Überführung von Notverordnungen in das ordentliche Recht bewährt habe.

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Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Allgemeines

Der Bundesrat möchte zunächst daran erinnern, dass er am 4. Mai 2020 anlässlich der Eröffnung der ausserordentlichen Session erklärt hat, dass er im Sinne einer möglichst raschen und effizienten Bewältigung der Krise darauf verzichtet, auf der Einhaltung von einigen Vorgaben des ParlG zu beharren (20.208 «Erklärung des Bundesrates zur Corona-Pandemie»9). So zeigte er sich bereit, zu Kommissionsmotionen, die sich auf notrechtliche Verordnungen beziehen und spätestens zwei Wochen vor einer Session eingereicht werden, so Stellung zu nehmen, dass diese Vorstösse in der unmittelbar folgenden Session behandelt werden können. Von den Räten angenommene Kommissionsmotionen sollten schnellstmöglich umgesetzt werden. Zu neuen, wichtigen notrechtlichen Bestimmungen sollten zumindest die Präsidentinnen und Präsidenten der zuständigen Kommissionen konsultiert werden. Wo dies nicht rechtzeitig möglich ist, sollte der Bundesrat sie zumindest informieren. Ferner hat sich der Bundesrat bereit erklärt, dem Parlament jeweils in oder vor den Sessionen über die Ausübung der Notrechtskompetenzen Bericht zu erstatten.

Der Bericht der SPK-N zur Änderung des ParlG geht zu einem grossen Teil auf die Erfahrungen zurück, die in der Covid-19-Pandemie gemacht wurden: Die Vorschläge knüpfen teilweise an die während der Krise praktizierten Abläufe und Verfahren an.

In einigen Punkten geht der Erlassentwurf jedoch weiter.

Im Folgenden geht der Bundesrat zunächst auf die Ausführungen der SPK-N zur Ausübung der Notrechtskompetenzen durch den Bundesrat während der Covid-19Pandemie ein. Im Weiteren äussert sich der Bundesrat zu jenen Vorschlägen der SPKN und der Minderheiten in der Kommission, die den Bundesrat und die Bundesverwaltung sowie die richterlichen Behörden des Bundes betreffen. Im Übrigen ist es Sache des Parlaments, wie es seine Organisation und seine Verfahren regeln und seine Handlungsfähigkeit in Krisensituationen verbessern will. Soweit die Anpassungsvorschläge parlamentsinterne Regelungen betreffen und die Stellung des Bundesrates, der Bundesverwaltung und der richterlichen Behörden des Bundes nicht berühren, verzichtet der Bundesrat auf eine Stellungnahme.

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AB 2020 N 377; AB 2020 S 176

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2.2

Ausübung der Notrechtskompetenzen durch den Bundesrat während der Covid-19-Pandemie

Nach dem Auftreten der ersten Covid-19-Fälle im Februar 2020 stützte sich der Bundesrat auf Artikel 6 des Epidemiengesetzes vom 28. September 2012 (EpG)10, um Massnahmen für die sogenannte «besondere Lage» zu verordnen. Ab dem 17. März 2020, nachdem er am 16. März die «ausserordentliche Lage» gemäss Artikel 7 EpG ausgerufen hatte, stützte der Bundesrat seine Regelungen über sogenannte «Primärmassnahmen», die er im Rahmen der Covid-19-Verordnung 211 zur Verminderung der Verbreitung des Coronavirus bzw. zur medizinischen Bekämpfung der Epidemie erliess, ausschliesslich auf Artikel 7 EpG. «Sekundärmassnahmen» zur Bewältigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Epidemie stützte er auf gesetzliche Delegationsnormen. Waren solche nicht oder nicht im genügenden Umfang vorhanden, stützte sich der Bundesrat für zeitlich und sachlich dringliche Massnahmen auf seine Kompetenz zum Erlass von Notverordnungen nach Artikel 185 Absatz 3 BV. Diese verfassungsunmittelbaren Notverordnungen wurden, wie es die Überführungsnorm in Artikel 7d Absatz 2 RVOG verlangt, jeweils auf längstens sechs Monate befristet. Am 27. Mai 2020 fällte der Bundesrat den Grundsatzentscheid zur Rückkehr von der ausserordentlichen Lage nach Artikel 7 EpG zur besonderen Lage nach Artikel 6 EpG. Die Covid-19-Verordnung 212 und weitere Verordnungsbestimmungen wurden zum einen abgelöst durch die auf Artikel 6 EpG abgestützte Covid-19Verordnung besondere Lage vom 19. Juni 202013 und zum anderen durch die Covid19-Verordnung 3 vom 19. Juni 2020.14 Letztere enthielt Massnahmen, die keine Grundlage im EpG oder in anderen Bundesgesetzen hatten, aber aus der Sicht des Bundesrates weiterhin erforderlich waren. Sie stützte sich vorerst auf Artikel 185 Absatz 3 BV. Schon am 29. April 2020 beauftragte der Bundesrat die Bundeskanzlei und das EJPD, eine Vernehmlassungsvorlage für ein dringliches und befristetes Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Gesetz) auszuarbeiten. Am 12. August 2020 verabschiedetet der Bundesrat die Botschaft zum Covid-19-Gesetz15; am 26. September 2020 trat das Gesetz in Kraft.16 Im Rahmen der Bekämpfung und Bewältigung der Covid-19-Krise erliess der Bundesrat in noch nie dagewesenem Umfang verfassungsunmittelbare Notverordnungen.
Diese starke Inanspruchnahme von Artikel 185 Absatz 3 BV war aber keineswegs die Folge einer bewussten Praxisänderung oder gar einer Machtanmassung der Regierung, sondern Ausdruck der zu bewältigenden ausserordentlichen Herausforderungen.

In der Lehre wurde teilweise kritisiert, der Bundesrat sei mit seinen Notverordnungen über den von Artikel 185 Absatz 3 BV gesetzten Rahmen hinausgegangen, da sich die Kompetenz, «eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen» zu be-

10 11 12 13 14 15 16

SR 818.101 Vgl. v.a. AS 2020 773 und 783.

Die Covid-19-Verordnung 2 wurde am 22. Juni 2020 aufgehoben.

AS 2020 2213 AS 2020 2195; SR 818.101.24 BBl 2020 6563 AS 2020 3835

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gegnen, auf den Schutz klassischer Polizeigüter wie Leib, Leben, Gesundheit und öffentliche Sittlichkeit beschränke.17 Diese Sicht ist zu eng. Schon unter Artikel 102 Ziffer 10 aBV, der Vorgängernorm von Artikel 185 Absatz 3 BV, und danach auch bei der Totalrevision der Bundesverfassung, ging man von einem weiten Begriff der inneren Sicherheit aus, der auch die Bewahrung der Gesellschaft und Einzelner vor elementaren Gefährdungen und sozialer Not umfasst.18 Auch das Bundesgericht präzisierte seine Praxis im Bereich der polizeilichen Generalklausel, die weniger weit geht als Artikel 185 Absatz 3 BV, dahingehend, dass «ein Untätigsein des Gesetzgebers den Staat in einer Notsituation nicht zur Hingabe fundamentaler Rechts- bzw.

Polizeigüter zwingen [kann], wenn diese Gegenstand staatlicher Schutzpflichten bilden.»19 Diese Haltung bestätigte es im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der auf die polizeiliche Generalklausel gestützten Herausgabe von Bankdaten der UBS durch die FINMA an die USA: «In Ausnahmesituationen (...) können auch die ökonomische Stabilität und der Schutz des Finanzmarkts ein entsprechend schützenswertes polizeiliches Gut darstellen.»20 Ein enger Schutzgüterbegriff hätte in der Covid-Krise dazu geführt, dass der Bund gestützt auf das Epidemiengesetz zwar einschneidende Schutzmassnahmen hätte anordnen können, die Folgen für die von seinen epidemiologisch begründeten Anordnungen wirtschaftlich und sozial hart getroffenen Personen bis zum Erlass von dringlichem Gesetzesrecht durch das Parlament aber nicht hätte auffangen können.

Teile der Lehre kritisierten auch, der Bundesrat habe zur Bewältigung der Folgen der Covid-Epidemie gesetzesderogierende Verordnungen erlassen, was Artikel 185 Absatz 3 BV nicht zulasse.21 Gesetzesergänzende Bestimmungen (praeter legem) seien erlaubt, vom Gesetz abweichende Bestimmungen (contra legem) dagegen nicht. In der Botschaft vom 26. November 1996 zur Totalrevision der Bundesverfassung hielt der Bundesrat fest, dass von ihm erlassene, verfassungsunmittelbare Notverordnungen gesetzesvertretenden oder gesetzesergänzenden Charakter haben, nicht aber «im Widerspruch zu Erlassen der Bundesversammlung stehen» dürfen. Selbst wenn eine Verordnung textlich von einem geltenden Gesetz abweicht, heisst das aber noch nicht, dass sie in einem materiellen Widerspruch zu diesem Erlass steht. So erlaubte z. B.

17 18

19 20 21

Vgl. Ziff. 2.4.3.1 des Berichts der SPK-N zum von den Staatspolitischen Kommissionen durchgeführten Hearing am 22.10.2020.

So die Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997 I 399; dazu auch Daniel Moeckli, Sicherheitsverfassung, in Oliver Diggelmann/Maya Hertig Randall/Benjamin Schindler (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2020, VIII.8, Rz. 4. Zu Art. 102a BV: Kurt Eichenberger/Dietrich Schindler, Art. 102, in Jean-François Aubert/Kurt Eichenberger/Jörg Paul Müller/René A. Rhinow/ Dietrich Schindler (Hrsg.), Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Basel 1988, Rz. 154; siehe auch Alexander Ruch, Äussere und innere Sicherheit, in Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, § 56, Rz. 8; David Rechsteiner, Polizeiliche Generalklausel und Notverordnungsrecht des Bundesrates, Sicherheit & Recht 2016, S. 148 f. Einen Überblick über diese Diskussionen gibt auch Susanne Kuster, Navigieren auf Sicht.

Grundsatzentscheide hinter den Kulissen zu den Notverordnungen des Bundesrates in der Covid-19-Krise, in: Jusletter vom 15. Februar 2021, N 19.

BGE 137 II 431 ff., 445, E. 3.3.2, mit Hinweisen auf das Urteil 2C_166/2009.

vom 30. November 2009, in: ZBl 111/2010 S. 469 ff., dort E. 2.3.2.1.

BGE 137 II 431 ff., 445 f., E. 4.1.

Vgl. Ziff. 2.4.3.1 des Berichts der SPK-N zu von den Staatspolitischen Kommissionen durchgeführten Hearings am 22.10.2020.

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Artikel 6a der Covid-19-Verordnung 2 in der Fassung vom 16. März 202022 die Durchführung von Aktionärsversammlungen in virtueller oder schriftlicher Form und wich somit vom damals geltenden Aktienrecht ab. Stellte sich der Bundesrat dazu «in Widerspruch» oder handelte es sich um eine der besonderen Situation angepasste, sinnvolle Ergänzung des Aktienrechts für Pandemiezeiten? Der Gesetzgeber regelt den Normalzustand. Da der Gesetzgeber ausserordentliche Entwicklungen nicht vorhersehen konnte, war er auch nicht in der Lage, die entsprechenden Sachverhalte zu regeln.23 Der Bundesrat übte seine Kompetenz zum Erlass von verfassungsunmittelbaren Notverordnungen mit Respekt vor dem Gesetzgeber aus. In seiner an die eidgenössischen Räte gerichteten Erklärung vom 4. Mai 2020 zur Corona-Pandemie24 versprach der Bundesrat schnellstmögliche Stellungnahmen und Umsetzungen bei Kommissionsmotionen zu notrechtlichen Verordnungen. Auch sicherte er eine Konsultation der Kommissionspräsidien und bei höchster zeitlicher Dringlichkeit ihre vorgängige Information vor dem Erlass notrechtlicher Bestimmungen zu. Danach handelte er auch.

Schliesslich wurde mit dem Covid-19-Gesetz25 innert der von Artikel 7d Absatz 2 RVOG vorgegebenen Frist für die auf Artikel 185 Absatz 3 BV gestützten Verordnungen eine gesetzliche Grundlage geschaffen.

2.3

Vorschläge der SPK-N: Grundsätzliches zu den Fristen

Die Vorschläge der SPK-N sehen in einigen Fällen kürzere Fristen für Stellungnahmen des Bundesrates vor. Der Bundesrat kann die vorgesehene Verkürzung von einzelnen Fristen in dringlichen Fällen grundsätzlich nachvollziehen. Gleichzeitig legt er aber grossen Wert darauf, fundierte, umfassende und konsolidierte Stellungnahmen abgeben zu können. Dass der Standpunkt des Bundesrates und der sachlich zuständigen Stellen in der Bundesverwaltung eingebracht werden kann, ist aus der Sicht des Bundesrates wichtig für eine gute Gesetzgebung. Es ist ihm daher ein grosses Anliegen, die Fristen so festzulegen, dass fundierte Stellungnahmen möglich bleiben. Der Bundesrat äussert sich nachfolgend zu den einzelnen Verkürzungen der Fristen.

2.4

Einberufung ausserordentliche Session (Art. 2 Abs. 3bis E-ParlG)

Der Bundesrat ist einverstanden damit, dass die unverzügliche Einberufung einer ausserordentlichen Session im Falle einer Notverordnung des Bundesrates gestützt auf 22 23

24 25

AS 2020 783 Susanne Kuster, Navigieren auf Sicht. Grundsatzentscheide hinter den Kulissen zu den Notverordnungen des Bundesrates in der Covid-19-Krise, in: Jusletter vom 15. Februar 2021, N 35; David Rechsteiner, Recht in besonderen und ausserordentlichen Lagen. Unter besonderer Berücksichtigung des Rechts bei Katastrophen, Zürich 2016, Rz. 473.

Geschäft Nr. 20.208, AB 2020 377.

SR 818.102

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Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 BV, der Anhängigmachung einer Notverordnung des Parlaments nach Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c BV oder eines dringlichen Bundesgesetzes nach Artikel 165 BV sowie der Verschiebung oder der vorzeitigen Beendigung der Session ausdrücklich geregelt wird. Damit können Unklarheiten beim Vorgehen in Krisensituationen besser vermieden werden. Kritisch sieht der Bundesrat hingegen die unverzügliche Einberufung einer ausserordentlichen Session im Falle des Erlasses oder der Änderung einer Verordnung, die sich auf eine gesetzliche Krisenbewältigungsbestimmung stützt. Nach Ansicht des Bundesrates sollten solche gesetzlichen Krisenbewältigungsbestimmungen so verfasst sein, dass ein Eingreifen des Parlaments in einer Krisensituation eben gerade nicht notwendig ist.

Unabhängig davon, ob das Parlament an der Verankerung der gesetzlichen Krisenbestimmungen in Artikel 2 Absatz 3bis E-ParlG festhält, begrüsst der Bundesrat die Schaffung eines Anhangs über die gesetzlichen Ermächtigungen zur Bewältigung einer Krise. Mit diesem Anhang, auf den auch an anderer Stelle verwiesen wird (Artikel 121 Absatz 1bis und Artikel 122 Absatz 1bis zu den Motionen sowie Artikel 151 Absatz 2bis E-ParlG zu den Konsultationsrechten der Kommissionen), wird zweifelsfrei geklärt, welche Bestimmungen als gesetzliche Krisenbewältigungsbestimmungen im Sinne des ParlG gelten.

2.5

Frist zu Stellungnahme des Bundesrates bei parlamentarischen Initiativen (Art. 112 Abs. 3bis E-ParlG)

Die heutige Praxis, wonach dem Bundesrat mindestens sechs Wochen für seine Stellungnahme zugestanden werden, führt insbesondere bei komplexen Vorlagen teilweise dazu, dass die Zeit für eine eingehende Prüfung des Vorhabens des Parlaments äusserst knapp ist und der Bundesrat kaum in der Lage ist, eine Stellungnahme abzugeben, die der Sache gerecht wird.

Der Bundesrat kann aber nachvollziehen, dass dem Bundesrat bei Entwürfen zu Notverordnungen des Parlaments nach Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c BV oder zu dringlichen Bundesgesetzen nach Artikel 165 BV, wie in Artikel 112 Absatz 3bis E-ParlG vorgesehen, noch kürzere Fristen als die sechs Wochen gemäss Praxis eingeräumt werden sollen. Er erwartet jedoch, dass die parlamentarischen Kommissionen die Fristen so bemessen, dass angesichts der Dringlichkeit dennoch eine den Umständen angemessen fundierte Stellungnahme des Bundesrates möglich bleibt.

2.6

Behandlung in den Räten: Gleichlautende Kommissionsmotionen (Art. 121 Abs. 1bis E-ParlG)

Der Bundesrat ist nicht einverstanden damit, dass der Bundesrat unabhängig von einer Krisensituation zu spätestens eine Woche vor Sessionsbeginn eingereichten gleichlautenden Kommissionsmotionen bis zur Beratung in dieser Session Antrag stellen muss. Eingereichte Motionen bedürfen in vielen Fällen umfangreicher Abklärungen 10 / 14

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durch die zuständigen Stellen in der Bundesverwaltung. Zudem nehmen auch die verwaltungsinterne Ämterkonsultation sowie das Mitberichtsverfahren vor dem Entscheid des Bundesrates eine gewisse Zeit in Anspruch. Die Vornahme der Abklärungen und die Durchführung der internen Verfahren sind wichtig, damit das Parlament gestützt auf eine fundierte Stellungnahme des Bundesrates über die Annahme oder Ablehnung einer Motion entscheiden kann. Ausserhalb von Krisensituationen ist für den Bundesrat bei der Behandlung von gleichlautenden Kommissionsmotionen im abgekürzten Verfahren kein Mehrwert für die politische Entscheidfindung zu erkennen. Es ist vielmehr zu befürchten, dass das Parlament gestützt auf unvollständige Grundlagen entscheiden muss. Aus Sicht des Bundesrates hat sich die bestehende Regelung in Artikel 121 Absatz 1 ParlG bewährt, wonach der Bundesrat seinen Antrag zu einer Kommissionsmotion, welche weniger als einen Monat vor Beginn der nächsten ordentlichen Session eingereicht wird, spätestens bis zum Beginn der übernächsten Session stellt. Es entstehen kaum Nachteile für den politischen Entscheidungsprozess und die Umsetzung von politischen Anliegen dadurch, dass gleichlautende Kommissionsmotionen, die weniger als ein Monat vor Sessionsbeginn eingereicht werden, wie die übrigen Kommissionsmotionen erst in der darauffolgenden Session behandelt werden. Im Weiteren ist zu betonen, dass bereits die geltende Frist sehr kurz ist.

2.7

Behandlung in den Räten: Kommissionsmotionen zu Notverordnungen des Bundesrates (Art. 121 Abs. 1ter E-ParlG)

Es ist aus Sicht des Bundesrates grundsätzlich nachvollziehbar, dass Kommissionsmotionen zu Verordnungen gestützt auf Artikel 184 Absatz 3, 185 Absatz 3 BV oder auf eine im neuen Anhang des ParlG aufgeführten gesetzlichen Krisenbewältigungsbestimmung, immer bereits in der nachfolgenden oder laufenden ordentlichen oder ausserordentlichen Session traktandiert werden sollen. Werden sie erst an der nächstfolgenden Session behandelt, so besteht die Gefahr, dass die Motionen bereits obsolet sind.

Allerdings benötigt der Bundesrat ausreichend Zeit für die Prüfung und die Vorbereitung der Stellungnahme zur Motion. Er beantragt, dass analog zu den dringlichen Interpellationen im Nationalrat (Art. 30 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Nationalrates vom 3. Oktober 200326) nur Kommissionsmotionen in der laufenden ordentlichen dreiwöchigen Session behandelt werden, die spätestens zu Beginn der dritten Sitzung der Session vorliegen. Im Falle einer ausserordentlichen Session, die in der Regel höchsten einige wenige Tage dauert, schlägt er vor, dass die Kommissionsmotionen spätestens zu Beginn der ersten Sitzung vorliegen müssen, um noch in der laufenden ausserordentlichen Session behandelt werden zu können.

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SR 171.13

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2.8

Behandlung angenommener Motionen: Berichterstattung zu Kommissionsmotionen über Verordnungen des Bundesrates (Art. 122 Abs. 1bis Bst. a)

Die Vorlage der SPK-N sieht in Artikel 122 Absatz 1bis Buchstabe a E-ParlG vor, dass der Bundesrat bereits sechs Monate nach Überweisung einer Kommissionsmotion, die die Änderung einer längstens seit einem Jahr geltenden Verordnung oder den Entwurf einer neuen Verordnung verlangt, über deren Umsetzung Bericht erstatten muss. Damit soll das Parlament bzw. die zuständigen Kommissionen über ein Instrument verfügen, um insbesondere auf ausführende Verordnungen einzuwirken. Es wurde ursprünglich von der SPK-S als Alternative zum Verordnungsveto27 konzipiert. Der Bundesrat kann die Gründe der SPK-N für die Einführung dieser verkürzten Berichterstattungspflicht bei Kommissionsmotionen zu Verordnungen nachvollziehen.

2.9

Behandlung angenommener Motionen: Berichterstattung zu Kommissionsmotionen über Notverordnungen des Bundesrates (Art. 122 Abs. 1bis Bst. b)

Der Bundesrat hat keine grundsätzlichen Einwände gegen die Regelung, wonach die Kommissionen bei Motionen, die die Änderung und Entwürfe von Verordnungen gestützt auf Artikel 184 Absatz 4 BV, Artikel 185 Absatz BV oder auf eine gesetzliche Krisenbewältigungsbestimmungen verlangen, eine Frist zur Umsetzung setzen können. Er erwartet aber von den Kommissionen, dass sie in ihren Motionen Fristen für die Umsetzung vorsehen, die mit Blick auf die Umstände im Ereignisfall angemessen sind.

2.10

Konsultation beim Erlass von Verordnungen (Art. 151 Abs. 2bis E-ParlG)

Nach dem Vorbild von Artikel 1 Absatz 4 des Covid-19-Gesetzes vom 25. September 202028 soll der Bundesrat in Artikel 151 Absatz 2bis E-ParlG verpflichtet werden, die zuständigen Kommissionen zu den Entwürfen für Verordnungen und Verordnungsänderungen, die er gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV oder gestützt auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise erlassen will, zu konsultieren. Der Bundesrat ist mit der gesetzlichen Verankerung dieser Konsultationspflicht einverstanden.

27 28

Vgl. 14.422 pa. Iv. Aeschi vom 16. Juni 2014 (14.422 «Einführung des Verordnungsvetos»).

SR 818.102

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2.11

Verzicht auf ein Vernehmlassungsverfahren / Konsultationen in dringlichen Fällen (Art. 3a Abs. 1 Bst. c und Art. 10 E-VlG)

Der Bundesrat begrüsst es, dass Entwürfe zum Erlass oder zur Änderung eines dringlichen Bundesgesetzes nach Artikel 165 BV oder einer Verordnung nach Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe c, Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 BV in Artikel 3a Absatz 1 Buchstabe c VlG von der Pflicht zur Durchführung einer Vernehmlassung ausgenommen werden sollen. Ebenso ist der Bundesrat damit einverstanden, dass in Artikel 10 VlG für den Fall eines Verzichts auf eine Vernehmlassung nach Artikel 3a Absatz 1 Buchstabe c VlG eine Pflicht zur Konsultation der Kantone und der interessierten Kreise statuiert werden soll. Aufgrund der während der Covid-19Epidemie gemachten Erfahrungen ist diese neue, differenzierte Regelung des Einbezugs der Kantone und der interessierten Kreise in Krisensituationen aus Sicht des Bundesrates sachgerecht. Es wird zu prüfen sein, ob bestimmte Eckpunkte des Verfahrens (Veröffentlichung von Stellungnahmen, Auswertung der Stellungnahmen, Zulässigkeit von Spontanteilnahmen) in der Vernehmlassungsverordnung vom 17. August 200529 zu regeln sind.

2.12

Abstrakte Normenkontrolle zu Notverordnungen, (Art. 72 Bst. a, Art. 73 Bst. c und Art. 79 E-VwVG, Art. 46, Abs. 2 Bst. f und Art. 83 Bst. a E-BGG; Art. 32 Abs. 1 Bst. a, Art. 34 und Art. 43a E-VGG): Minderheitsanträge

Die Mehrheit der SPK-N will keine neue Beschwerde schaffen, mit der Verordnungen des Bundesrates und der Bundesversammlung, die sich unmittelbar auf die Bundesverfassung stützen, innert 30 Tagen nach der Publikation vor Gericht angefochten werden könnten (abstrakte Normenkontrolle). Sie hält eine solche Erweiterung des Systems der Bundesrechtspflege für wenig gewinnbringend. Der Bundesrat teilt diese Auffassung. Er empfiehlt daher, die Anträge der beiden Minderheiten zur Einführung der abstrakten Normenkontrolle abzulehnen.

Nach geltendem Recht können Verordnungen des Bundesrates und der Bundesversammlung Gegenstand einer vorfrageweisen Überprüfung in einem Anwendungsfall sein (konkrete Normenkontrolle). Soweit nicht das in Artikel 190 BV vorgeschriebene Anwendungsgebot der Bundesgesetze entgegensteht, sind alle rechtsanwendenden Behörden grundsätzlich gehalten, Bestimmungen von Erlassen, die höherrangigem Recht widersprechen, von Amtes wegen nicht anzuwenden. Diese Pflicht ist eine Konsequenz des in Artikel 5 Absatz 1 BV verankerten Legalitätsprinzips. Verstösst ein Entscheid gegen die Bundesverfassung oder gegen Völkerrecht, so kann dies in den Rechtsmittelverfahren des eidgenössischen und kantonalen Rechts gerügt werden.

29

SR 172.061.1

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Ein solcher Verstoss kann sich auch daraus ergeben, dass ein verfassungs- oder völkerrechtswidriger Erlass angewendet worden ist.30 Das System der konkreten Normenkontrolle hat sich für bundesrechtliche Verordnungen bewährt, auch in Bezug auf Notverordnungen.31

3

Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat stellt folgende Änderungsanträge: Art. 121 Abs. 1bis1quater E-ParlG 1bis

Streichen

Kommissionsmotionen, die vom Bundesrat den Erlass oder die Änderung einer Verordnung verlangen, die sich auf Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung32 oder auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise nach Anhang 1 stützt, werden in der nächsten ordentlichen oder ausserordentlichen Session behandelt. Sie werden in der laufenden Session behandelt, wenn sie spätestens eingereicht werden: 1ter

a.

zu Beginn der dritten Sitzung einer ordentlichen dreiwöchigen Session;

b.

zu Beginn der ersten Sitzung einer ausserordentlichen Session.

Der Bundesrat stellt seinen Antrag zu Kommissionsmotionen nach Absatz 1ter schriftlich oder mündlich.

1quater

30 31 32

Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vom 12. August 2011, Ziff. 1.3.1 mit Hinweisen (BBl 2011 7271).

BGE 147 I 333 E. 1.5.

SR 101

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