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Schweizerisches Bundesblatt.

4l. Jahrgang. IV.

Nr. 50.

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30. November 1889.

Bericht der

Mehrheit der nationalräthlichen Kommission zur Vorberathung der Vorlage des Bundesrathes betreffend die Revision des Gesetzes über die Wahlen in den Nationalrath (Wahlkreise etc.).

(Vom 12. November 1889.)

Tit.

I.

Die eingangs genannte Kommission wurde durch Ihr Bureau im Laufe der hinter uns liegenden ordentlichen Junisession 1889 ernannt. Sofort nach ihrer Konstituirung hielt sie eine Sitzung ah, in welcher die Art des Vorgehens über die in Frage stehende Vorlage zur Besprechung gelangte. In Anbetracht des weitschichtigen Aktenmaterials, welches ein eingehendes Studium erforderte, beantragte die Kommission bei Ihnen, von der Behandlung des Gegenstandes in der Junisession Umgang zu nehmen. Sie haben Ihrerseits diesem Antrag beigepflichtet, gleichzeitig aber beschlossen, im Interesse einer rechtzeitigen Erledigung der Vorlage den Beginn der ordentlichen Wintersession in Abweichung von bisheriger Uebung auf den 25. November festzusetzen, um dadurch die Verhandlungen über den Gesetzesentwurf wenn immer thunlich in beiden Käthen irn Laufe der Wintersession zu ermöglichen.

Ihre Kommission hat, dieser Anordnung Rechnung tragend, nach vollendeter Zirkulation der Akten sich am 28. Oktober in Bern versammelt und ihre Berathungen am 30. Oktober zu Ende geführt, Zu unserm Bedauern sah sich Herr Bezzola veranlaßt, als Präsident der Kommission zurückzutreten, und war verhindert, unBundesblatt. 41. Jahrg. Bd. IV.

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sera Berathungen beizuwohnen ; in Ersetzung desselben wurde von Ihrem Bureau der unterzeichnete Berichterstatter gewählt.

Außer den zahlreichen bereits in der Botschaft des Bundesrathes erwähnten Kundgebungen, welche sich auf die zu revidirende Wahlkreiseintheilung beziehen, lag der Kommission noch 'eine Eingabe der Gemeinderäthe des Bezirkes Affollerà (Kanton Zürich) vor, in welcher das Gesuch gestellt wurde, den jetzigen ersten Wahlkreis nicht zu trennen, eventuell auf dem Wege der Gesetzgebung eine Minoritätenvertretung einzuführen, und wenn dies nicht beliebe, dem von der Regierung des Kantons Zürich gemachten Vorschlag vor demjenigen des Bundesrathes bezüglich der Theilung des ersten Wahlkreises den Vorzug zu geben.

II.

Was die Berathung der Vorlage selbst betrifft, so wurden in der Kommission zunächst zwei Fragen erörtert, welche grundsätzlicher Natur waren und von deren Entscheid die Gestaltung der zu besprechenden Vorlage wesentlich abhing, und sodann wurde die Bildung der einzelnen Wahlkreise festgestellt. Die zunächst zu erledigenden prinzipiellen Fragen waren diese, ob das proportionale Wahlsystem als Grundlage für das Gesetz betreffend die Wahlen in den Nationalrath einzuführen sei, und ob, wenn dies abgelehnt werde, grundsätzlich für einen Wahlkreis eine Maximalzahl von Vertretern, eventuell welche, aufzustellen sei.

Die Kommission konnte sich weder über diese Fragen allgemeiner Natur, noch im Einzelnen bei der Festsetzung der Wahlkreise verständigen und hat nach Beendigung ihrer Berathung beschlossen, Ihnen Bericht und Anträge der Mehrheit und Minderheit der Kommission vorzulegen.

Wir beehren uns, Ihnen demgemäß in nachstehenden Auseinandersetzungen diejenigen Erwägungen im Wesentlichen mitzutheilen, welche die Mehrheit der Kommission veranlaßt haben, Ihnen die beigegebenen Anträge zu stellen.

III.

Die Frage, ob das proportionale Wahlsystem als Grundlage eines Gesetzes für die Wahlen in den Nationalrath eingeführt werden soll, wurde von der Mehrheit der Kommission (mit 6 gegen 3 Stimmen) verneint. Ein gegentheiliger Entscheid hätte die Rückweisung der Vorlage des Bundesrathes zur Folge gehabt, mit dem Auftrag, eine solche mit Berücksichtigung des proportionalen Wahlsystems vorzulegen. Ein solches Vorgehen läßt sich schon deshalb

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nicht rechtfertigen, weil die Aenderung des bisher geltenden Wahlsystems richtiger Weise zur Erörterung gelangen muß, wenn es si<-h um eine Revision des Bundesgesetzes betreffend eidgenössische Wahlen und Abstimmungen handelt, was zur Zeit nicht der Fall ist. Es ist denn auch die Frage nach dem anzunehmenden Wahlsystem in der Sommersessiou des Jahres 1885 im Nationalrath bei Anlaß dei' Berathungen über ein revidirtes Gesetz betreffend die Wahlen und Abstimmungen einläßlich erörtert worden; der Rath hat aber damals die Annahme des Grundsatzes der Proportionalität mit 62 gegen 29 Stimmen verworfen.

Wir pflichten der Ansicht des Bundesrathes bei, daß dieser Entscheid des Nationalraths über die Frage der Wahlmethode bei der Aufstellung eines Gesetzes über die Wahlen in den Nationalrath als Richtschnur zu gelten habe; eine Anschauung, welcher übrigens der Bundesrath schon in seiner. Botschaft vom 5. April 1887 Ausdruck gegeben hat, ohne daß dagegen Einspruch in der Bundesversammlung erhoben worden wäre.

Abgesehen von diesen formellen Bedenken erscheint aber auch aus andern Gründen eine Aenderung der Wahlmethode nicht rathsam. Das proportionale Wahlsystem kann, vorausgesetzt, daß dasselbe richtig, wünschbar und durchführbar sei, doch nur dann zur Einführung empfohlen werden, wenn die Schranken beseitigt werden, welche die Bundesverfassung für die Bildung der Wahlkreise für die Wahlen in den Nationalrath aufstellt. So lange nicht die Wahlkreise aus Theilen verschiedener Kantone gebildet werden können und demgemäß Einer- und Zweierkreise als zuläßig erklärt werden müssen, ist eine gerechte Proportionalität nicht zu erreichen. Es bedarf also, bevor an die Einführung des porportionalen Wahlsystems für die Wahlen in den Nationalrath gedacht werden kann, einer Aenderung der Bundesverfassung, während die Zeit zum Erlaß eines Gesetzes über die Wahlkreiseintheilung drängt.

Die Frage, ob unter den geltend gemachten Voraussetzungen es wünschbar sei, das Recht der Minoritätenvertretung gesetzgeberisch zu regeln, ist in unserer Mitte nicht entschieden worden.

Es hat nicht an Ansichten gefehlt, welche eine solche Regelung als wün?chbar erachteten, während von anderer Seite ebenso bestimmt das proportionale Wahlsystem als prinzipiell verwerflich bezeichnet worden ist. Dagegen herrschte im Schooße der Kommissionsmehrheit
darüber keine Meinungsverschiedenheit, daß die Frage zum Entscheid nicht reif sei ; daß nicht im Bund, sondern in den Kantonen und Gemeinden zunächst diesbezügliche Erfahrungen gesammelt werden sollten, und daß insbesondere, so lange der Ständerath auf den jetzigen Grundlagen beruhe, die Klagen der Minoritäten über unzulängliche Vertretung grundlose seien.

756 Auch wurde betont, daß, wenn selbst nur die Vertretung des Nationalrathes in's Auge gefaßt werde, nach den Ergebnissen der Statistik, obschon dieselben an sich als Maßstab von fraglichem Werthe zu bezeichnen seien, im Großen und Ganzen die Stärke der Vertretung derjenigen der Parteien im Volke entspreche.

IT.

In sehr eingehender Weise ist sodann die Frage besprochen worden, ob unter Beibehaltung des jetzigen Wahlsystems bei der Bildung- der einzelnen Wahlkreise eine Maximalzahl von Vertretern, eventuell welche, aufzustellen sei.

Während die Minderheit der Kommission kleine Wahlkreise befürwortete, und zwar Dreierkreise als Regel und ausnahmsweise Einer- und Zweierkreise als zuläßig erklären wollte, konnte sich die Mehrheit weder mit solchen kleineren Kreisen noch überhaupt mit der Festsetzung einer bestimmten Maximalzahl befreunden.

Ein Blick auT die historisch gewordenen Verhältnisse unseres Landes genügt, um sich von der Unmöglichkeit zu überzeugen, die schweizerische Wahlkreiseintheilung nach einheitlicher Schablone zu gestalten. Weder dem Bundesrath noch der Minderheit der Kommission ist es gelungen, eine Wahlkreiseintheilung mit Wahlkreisen von gleichmäßiger Stärke und Größe in Vorschlag zu bringen, die Anspruch auf die Durchführung eines bestimmten Prinzips erheben könnte. Es ist dies auch in der That nicht möglich.

Nicht nur stehen der Durchführung einer gleichmäßigen Eintheilung der Wahlkreise die Kantonsgrenzen hindernd im Wege, sondern auch in den einzelnen Kaatonen verlangen bei der Festsetzung der Wahlkreise geographische, politische, administrative und volkswii-thschaftliche Gesichtspunkte, sowie die bestehenden Verkehrsverhältnisse Berücksichtigung. Eine Wahlkreiseintheilung, welche diesen Faktoren keine Rechnung trägt, wird nicht befriedigen; der beste Beweis hiefür liegt in den verschiedenen erfolglosen Versuchen, welche in dieser Richtung schon gemacht worden sind.

So anerkennenswerth auch das Bestreben des Btindesrathes ist, in Erledigung des ihm seiner Zeit ertheilten Auftrags eine allgeO O O O meine und grundsätzliche Revision der die Wahlen zum Nationalrath regelnden Bundesgesetzgebung anzubahnen, so wenig haben wir uns zu überzeugen vermocht, daß die vorgeschlagene Lösung uns derselben näher bringt. Die Erwartungen der Minderheiten sind nicht erfüllt, die Wünsche der kantonalen Regierungen sind vielfach bei Seite gesetzt worden, und die widersprechendsten Klagen aus der Mitte der bei den vorgeschlagenen Aenderungen betheiligten Landesgegenden liegen vor.

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Unter solchen Umständen halten wir es für vathsam, von der Aufstellung einer Maximalzahl Umgang zu nehmen, die jetzige Wahlkreiseintheilung zu belasset), jedoch neben den Veränderungen, welche durch die Volkszählung von 1888 nothwendig werden, einzelne Verbesserungen, .da wo begründete Aussetzungen zu machen sind, vorzuschlagen.

Diesem Vorschlag ist allerdings entgegengehalten worden, daß er große Minderheiten des Volks von einer Vertretung ausschließe.

Wir bestreiten diese Behauptung. Die Schranken, welche die Bundesverfassung zieht, gewährleisten den Minderheiten in der Schweiz thatsächlich eine ihrer Stärke durchaus entsprechende Repräsentanz in den eidgenossischen Käthen. Da wo in einzelnen Kantonen Härten sich zeigen, kann Abhülfe geschaffen werden, ohne daß Wahlkreise mit einer durchaus willkürlichen Maximalzahl geschaffen werden, welche nur durch zahlreiche Zerreißungen politisch-historisch-administrativer Verbände durchgeführt werden können. Die Bildung kleinerer Wahlkreise (Dreier- und Viererkreise) gibt zudem keine Garantie für die Berücksichtigung der Minderheiten, wohl aber sind sie der Entwicklung hinderlich und drängen die Lokalinteressen in ungebührlicher Weise in den Vordergrund.

Andrerseits weisen die Thatsachen darauf hin, daß in größeren Wahlkreisen die Wählerschaft für eine billige Vertretung der Parteien sorgt. Schließlich kann auch nicht darauf abgestellt werden, daß eine Wahlkreiseintheilung immer nur einer und derselben Partei zu gute komme. Die Erfahrung lehrt, daß die politischen Strömungen wechseln und sehr oft weniger die politische Stellung als die Persönlichkeit des Einzelnen bei dem Entscheide der Wählerschaft den Ausschlag gibt.

Wir glauben Ihnen daher aus diesen Gründen unsere Vorschläge empfehlen zu können, welche nicht nur das Recht der Gewohnheit für sich in Anspruch nehmen dürfen, sondern auch am ehesten den faktischen, so ungleichartigen Verhältnissen der einzelnen Landesgegenden angepaßt sind.

V.

Bezüglich der einzelnen Wahlkreise sehen wir uns zu wenigen Bemerkungen veranlaßt : Die bisherigen Wahlkreise l, 25, 32 haben infolge der Zunahme ihrer Bevölkerung je einen Vertreter mehr zu wählen; der bisherige 41. Wahlkreis weist umgekehrt eine Abnahme der Bevölkerung a u f , welche die Zahl seiner Vertreter vou 5 auf 4 reduzirt. Die Gesammtzahl der Vertreter im Nationalrath wird sich demnach um 2 Mitglieder vermehren.

758 Veränderungen der Wahlkreise sind durch diese Verschiebungen in der Vertretung nicht bedingt. Der Umstand, daß der erste Wahlkreis (Bezirke Zürich und Affoltern) ausnahmsweise die bisher übliche Maximalzahl von 5 in einem Kreise zu wählenden Vertretern übersteigt, hat unseres Eraehtens keine Uebelstände im Gefolge, weil es sich um einen dichtbevölkerten, räumlich nicht ausgedehnten Kreis handelt, dessen Interessen sämmtlich nach der Stadt Zürich gravitiren. Es würde auch gewiß ein Zerreißen der im Entstehen begriffenen einheitlichen politischen Gemeinde Zürich in verschiedene Wahlkreise mit der beabsichtigten Verschmelzung der kommunalen Verwaltung im grellsten "Widerspruche stehen.

Immerhin wollen wir nicht verhehlen, daß sowohl bezüglich des ersten Wahlkreises (Bezirke Zürich und Affoltern), wie auch der Wahlkreiseintheilung des Kantons St. Gallen und des Berner Jura, im Schooße der Kommissionsmehrheit Bedenken gegen die Beibehaltung der jetzigen Wahlkreiseintheilung laut geworden sind.

Wir unterlassen es, im Einzelnen die Gründe anzuführen, weßhalb wir trotzdem auf weitere, vom Bundesrath vorgeschlagene Veränderungen nicht eintreten. Dieselben sind in den vorausgegangenen Erörterungen allgemeiner Natur berührt worden ; das Weitere bleibt der mündlichen Berichterstattung überlassen.

Die einzigen Veränderungen, welche wir demnach in der Zusammensetzung der Wahlkreise vorschlagen, betreffen die bessere Arrondirung der bisherigen Wahlkreise 6 und 9, um die Abtrennung einzelner Gemeinden vom Gesammtbezirke Bern zu vermeiden, sowie die Annahme der vom Bundesrath befürworteten und von keiner Seite beanstandeten neuen Eintheilung des Kantons Luzern, welche den Vorzug der Vereinfachung für sich hat.

B e r n , den 12. November 1889.

Der Berichterstatter der Mehrheit der nationalräthliehen Kommission:

Dr. E. Brenner.

Mitglieder HH.

,, ,, ,,

der Mehrheit der Kommission: Brenner, HH. Paschoud, Comtesse, ,, Stößel, Kurz, ,, Sturzenegger.

Müller (Ed.),

Beilage. Entwurf der Mehrheit und Entwurf der Minderheit der Kommission. Gegenwärtiger Nr. 50 des Bnndesblattes beigelegt.

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30.11.1889

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