BBl 2022 www.bundesrecht.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

ad 16.414 Parlamentarische Initiative Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle Antrag der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates vom 3. Februar 2022 Stellungnahme des Bundesrates vom 6. April 2022

Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Antrag der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates vom 3. Februar 2022 betreffend die parlamentarische Initiative «Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

6. April 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2022-1099

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 14. Februar 2019 verabschiedete die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates (WAK-S) ihren Entwurf zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative 16.414 «Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle» von Ständerat Konrad Graber.1 Die Initiative fordert die Einführung eines Jahresarbeitszeitmodells auf Gesetzesstufe und die Flexibilisierung der Bestimmungen zur Arbeits- und Ruhezeit im Arbeitsgesetz vom 13. März 19642 (ArG). Die Kommission überwies den Entwurf samt dem zugehörigen Bericht ihrem Rat und lud gleichzeitig den Bundesrat ein, seine Stellungnahme zum vorgeschlagenen Gesetzesentwurf abzugeben. Der Bundesrat verzichtete in seiner Stellungnahme vom 17. April 20193 darauf, sich inhaltlich zur Vorlage zu äussern. Er empfahl dem Parlament, das Geschäft gleichzeitig mit der parlamentarischen Initiative 16.423 «Ausnahme von der Arbeitszeiterfassung für leitende Angestellte und Fachspezialisten» von Ständerätin Keller-Sutter zu behandeln und dazu die Resultate einer vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) in Auftrag gegebenen Studie abzuwarten. Die Studie untersucht die Umsetzung der mit der Revision vom 4. November 20154 eingeführten neuen Bestimmungen zur Arbeitszeiterfassung (Art. 73a und 73b) der Verordnung 1 vom 10. Mai 20005 zum Arbeitsgesetz. Der Bundesrat wies darauf hin, dass zu gegebenem Zeitpunkt auch die Meinung der Sozialpartner einzuholen wäre.

Die WAK-S hat in ihrer Sitzung vom 2. Mai 2019 eine zweite Lesung der Vorlage durchgeführt und entschieden, den geänderten Entwurf dem Bundesrat erneut zur Stellungnahme zukommen zu lassen. Gleichzeitig sistierte sie das Geschäft bis zum Herbst 2019, um für die abschliessende Beratung nach Möglichkeit über eine materielle Stellungnahme des Bundesrates zu verfügen, die Ergebnisse der SECO-Studie zu kennen und im Vorfeld die Sozialpartner anhören zu können. Der Bundesrat beantragte dem Rat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. September 20196, auf die Vorlage nicht einzutreten, da sie mangels Unterstützung der Sozialpartner zu geringe Erfolgschancen habe. Er empfahl auch, gewisse Punkte in der Vorlage aufgrund inzwischen gewonnener Erkenntnisse zu überdenken und allenfalls anzupassen.

Die Kommission entschied daraufhin, die weitere Behandlung des Geschäfts vorerst zu sistieren,
um der Bundesverwaltung die Möglichkeit zu geben, für die Einführung eines Jahresarbeitszeitmodells für bestimmte Branchen in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern eine Lösung auf Verordnungsebene zu finden. Nachdem der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) die Unterstützung des SECO zur Suche einer Lösung auf Verordnungsebene zugesichert hatte, erarbeiteten die Verbände, die hinter der parlamentarischen Initiative Graber 1 2 3 4 5 6

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BBl 2019 3937 SR 822.11 BBl 2019 3965 AS 2015 4809 SR 822.111 BBl 2019 6553

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standen («Allianz Denkplatz Schweiz»7 und «die plattform»8), einen ersten Verordnungsentwurf und präsentierten diesen an der Sitzung der Eidgenössischen Arbeitskommission vom 3. September 2020. Dort wurde gefordert, einen runden Tisch zur vertieften Diskussion der Vorlage durchzuführen. Die Diskussion fand am 15. Januar 2021 in einer erweiterten Runde unter Beteiligung aller betroffenen Sozialpartner statt.

Im Anschluss daran erarbeitete das SECO basierend auf der Diskussion und dem ursprünglichen Anliegen der parlamentarischen Initiative Graber einen Entwurf. Die Vernehmlassung zur Revision der Verordnung 2 vom 10. Mai 20009 zum Arbeitsgesetz (ArGV 2) ­ Jahresarbeitszeitmodell für Dienstleistungsbetriebe in den Bereichen Beratung, Wirtschaftsprüfung und Treuhand (Art. 34a) ­ fand vom 25. Mai bis zum 15. September 2021 statt.10 Die Vernehmlassung zeigte, dass die Revisionsvorlage stark umstritten ist. Den meisten Arbeitnehmerorganisationen ging sie deutlich zu weit, während sie für die Arbeitgeberorganisationen zu restriktiv war. Viele der Vernehmlassungsteilnehmer führten mehrere Bedingungen auf, welche ihrer Ansicht nach für eine Befürwortung zwingend erfüllt sein müssen. Der Vorsteher des WBF lud daraufhin am 1. Dezember 2021 die Präsidenten der Dachverbände der Sozialpartner zu einer Aussprache ein. Diese versicherten ihm, nach wie vor an einer Verordnungslösung interessiert zu sein und erklärten, gemeinsam einen Kompromissvorschlag erarbeiten zu wollen.

Die WAK-S nahm die Resultate der Vernehmlassung und den Stand der Diskussionen zwischen den Sozialpartnern zur Kenntnis. Sie entschied am 3. Februar 2022 mit 8 zu 4 Stimmen, die Idee der Verankerung eines Jahresarbeitszeitmodells im ArG fallen zu lassen und stattdessen dem Antrag Noser stattzugeben und bestimmte Arbeitnehmende vom Geltungsbereich des ArG auszunehmen. Mit Schreiben vom 9. Februar 2022 lud sie den Bundesrat ein, sich zu diesem Antrag zu äussern.

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Stellungnahme des Bundesrates

Bezüglich der im Rahmen einer Revision des ArG zu berücksichtigenden Prämissen wird auf die Ausführungen in der Stellungnahme des Bundesrates vom 17. April 2019 verwiesen. Diese gelten unverändert.

Der Bundesrat hat zur Kenntnis genommen, dass die WAK-S die bisherige Revisionsvorlage zur Einführung eines Jahresarbeitszeitmodells fallen gelassen hat. Stattdessen sollen neu bestimmte Arbeitnehmende aus ausgewählten Branchen vom Geltungsbereich der Arbeits- und Ruhezeitvorschriften des ArG ausgenommen werden.

Gemäss Artikel 3 Buchstabe dbis des Entwurfs des ArG (E-ArG) sollen die folgenden Arbeitnehmenden vom Geltungsbereich des ArG in Bezug auf die Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen ausgenommen werden: 7 8 9 10

www.allianz-denkplatz-schweiz.ch www.die-plattform.ch SR 822.112 www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > WBF

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Arbeitnehmende mit Vorgesetztenfunktion und Fachspezialisten, die: ­

über ein Bruttojahreseinkommen, einschliesslich Boni, von mehr als 120 000 Franken oder einen höheren Bildungsabschluss verfügen;

­

bei ihrer Arbeit über eine grosse Autonomie verfügen;

­

ihre Arbeitszeit mehrheitlich selber festsetzen können;

­

der Nichtanwendbarkeit dieses Gesetzes schriftlich zugestimmt haben; und

­

in einem Betrieb tätig sind, der hauptsächlich Dienstleistungen in den Bereichen Informationstechnologie, Beratung (Rechts-, Steuer-, Unternehmens-, Management- und Kommunikationsberatung), Wirtschaftsprüfung oder Treuhand erbringt.

Die Vorschriften über den Gesundheitsschutz sollen gemäss Artikel 3a Absatz d E-ArG auf diese Arbeitnehmenden weiterhin anwendbar sein, wobei in der Verordnung ihren psychosozialen Gesundheitsrisiken Rechnung zu tragen ist (Art. 6 Abs. 4 E-ArG).

Der Bundesrat stellt fest, dass es sich in etwa um die gleiche Arbeitnehmergruppe handelt, für welche die Möglichkeit eines besonderen Jahresarbeitszeitmodells geschaffen werden soll. Wichtigster Unterschied im Vergleich zur Fassung von Artikel 34a ArGV 2, die 2021 in die Vernehmlassung geschickt wurde, ist, dass auch der Bereich der Informationstechnologie mitumfasst ist.

Der Entwurf widerspricht der bisherigen Systematik des ArG: In Artikel 2 ArG werden bestimmte Betriebe vom Anwendungsbereich des ArG ausgenommen. Artikel 3 ArG schliesst bestimmte Arbeitnehmergruppen aufgrund ihrer besonderen Situation vom Anwendungsbereich des Arbeitsgesetzes aus. Vorliegend werden die zwei Kategorien vermischt: Es sind gewisse Arbeitnehmende in bestimmten Betrieben, welche die Möglichkeit haben sollen, auf den Schutz durch das Gesetz zu verzichten.

Die betroffenen Arbeitnehmenden geniessen keinen anderweitigen gesetzlichen Schutz in Bezug auf die Arbeits- und Ruhezeiten ­ dies im Gegensatz zu den Betrieben gemäss Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a und b ArG (Verwaltungen des Bundes, der Kantone und Gemeinden und Betriebe des öffentlichen Verkehrs) und zu den Arbeitnehmenden gemäss Artikel 3 Buchstaben c und f ArG (Besatzung schweizerischer Flugunternehmen, Heimarbeitnehmer), auf die andere Gesetze anwendbar sind, die Regeln zu den Arbeits- und Ruhezeiten vorsehen, welche den Gesundheitsschutz gewährleisten. Dieser anderweitig gewährleistete Gesundheitsschutz war der Grund, weshalb der Gesetzgeber die genannten Betriebe und Arbeitnehmenden vom Geltungsbereich des ArG ausgenommen hatte.

Das ArG ist öffentliches Arbeitsrecht und wird von der zuständigen Behörde (dem kantonalen Arbeitsinspektorat) vollzogen. Der Geltungsbereich der Bestimmungen ist im Gesetz festgelegt. Ob ein Betrieb oder ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin unter das ArG fällt oder nicht, wird somit von einer Behörde in Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen entschieden. Es ist nicht möglich, mittels einer privatrechtlichen Vereinbarung die Nichtanwendbarkeit des Gesetzes vorzusehen. Von daher 4/6

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müsste das Zustimmungserfordernis aus der Vorlage gestrichen werden, sodass die im Revisionsentwurf vorgesehene Arbeitnehmergruppe von Gesetzes wegen vom Anwendungsbereich des ArG ausgenommen wird. Einzelne Regelungen des ArG könnten trotzdem in Einzelarbeitsverträgen oder Gesamtarbeitsverträgen übernommen werden und so in den betreffenden Vertragsverhältnissen als privatrechtlich vereinbarte Regeln zur Anwendung gelangen.

Die Nichtanwendbarkeit der Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen bedeutet, dass beispielsweise auch das Verbot der Sonntags- und Nachtarbeit nicht mehr zur Anwendung gelangt. Es geht mit anderen Worten um weitaus mehr als um die Befreiung von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung.

Die Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen dienen dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden. Wird die Gruppe, auf welche diese Bestimmungen keine Anwendung finden, zu gross im Verhältnis zu denjenigen, für welche dieser Schutz gilt, so schadet das dem Ziel des ArG, das darin besteht, für den Gesundheitsschutz grundsätzlich aller Arbeitnehmenden zu sorgen. Denn das ArG ist unter Vorbehalt der Artikel 2­4 «anwendbar auf alle öffentlichen und privaten Betriebe» (Art. 1 Abs. 1). Der Wegfall der Anwendbarkeit von klaren zeitlichen Belastungsgrenzen lässt sich nicht durch allfällige spezifische Massnahmen zum Schutz vor psychosozialen Risiken aufwiegen, wie dies in Artikel 6 Absatz 4 E-ArG vorgesehen ist.

Gemäss dem Vernehmlassungsgesetz vom 18. März 200511 (VlG) muss eine Vernehmlassung unter anderem bei der Vorbereitung von Gesetzesvorlagen durchgeführt werden (Art. 3 Abs. 1 Bst. b). Das VlG gilt auch für Vernehmlassungen, die von einer parlamentarischen Kommission eröffnet werden (Art. 1 Abs. 2). Auf eine Vernehmlassung kann gemäss Artikel 3a VlG verzichtet werden, wenn «keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind, weil die Positionen der interessierten Kreise bekannt sind, insbesondere, weil über den Gegenstand des Vorhabens bereits eine Vernehmlassung durchgeführt worden ist». Der Verzicht auf ein Vernehmlassungsverfahren muss sachlich begründet werden. Zum Gesetzesentwurf gestützt auf die parlamentarische Initiative Graber wurde 2018 ein Vernehmlassungsverfahren durchgeführt. Der Entwurf sah für bestimmte Arbeitnehmergruppen die Möglichkeit vor, ein Jahresarbeitszeitmodell zu wählen. Auch der 2021 in die
Vernehmlassung geschickte Verordnungsentwurf sah die Einführung eines Jahresarbeitszeitmodells in bestimmten Branchen vor (Art. 34a E-ArGV 2). Auf diese beiden Vorlagen verzichtet die WAKS nun zugunsten einer neuen Idee, die bisher nicht zur Diskussion stand: die Ausnahme bestimmter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Anwendungsbereich des ArG gemäss Antrag Noser vom 27. Mai 2021. Diese Gesetzesänderung geht wesentlich weiter als die bisherigen Vorlagen, zu denen eine Vernehmlassung durchgeführt wurde.

Bei Revisionen des ArG empfiehlt der Bundesrat, die massgeblichen Sozialpartner frühzeitig einzubeziehen und eine Vernehmlassung durchzuführen. Ohne eine Anhörung der massgeblichen Kreise ­ der Sozialpartner und der für den Vollzug zuständigen Kantone ­ hat eine Revision nur geringe Chancen auf Erfolg. Und angesichts der

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Tatsache, dass die Revision viel weitergehende Folgen für die betroffenen Arbeitnehmenden hat, als dies bei der Einführung eines Jahresarbeitszeitmodells zu erwarten war, ist deutliche Kritik von verschiedener Seite bereits heute absehbar.

Der Bundesrat erachtet die Erfolgschancen dieser neuen Revisionsidee daher als äusserst gering. Deshalb beantragt er dem Parlament, auf die Gesetzesvorlage nicht einzutreten. Er ist der Ansicht, dass der Weg einer Verordnungsanpassung für die Einführung eines Jahresarbeitszeitmodells für die betroffenen Branchen gangbar und innert nützlicher Frist realisierbar wäre. Ein dahingehender Verordnungsentwurf wurde vor nicht allzu langer Zeit von den Dachverbänden der Sozialpartner beraten, und der Bundesrat erachtet die Chancen, dass ein Konsens erzielt werden kann, nach wie vor als intakt.

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Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt, auf die Gesetzesvorlage nicht einzutreten.

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