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zu 18.043 Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht Vorlage 3: Bundesgesetz über eine Revision des Sexualstrafrechts Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 17. Februar 2022 Stellungnahme des Bundesrates vom 13. April 2022

Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 17. Februar 20221 betreffend das Bundesgesetz über eine Revision des Sexualstrafrechts nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

13. April 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Die Vorlage zur Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht wurde vom Bundesrat am 25. April 20182 zuhanden der Räte verabschiedet. Die zwei Gesetzesentwürfe umfassende Vorlage wurde von den Büros der Räte resp. von deren Präsidenten den Kommissionen für Rechtsfragen (RK) mit dem Ständerat als Erstrat zur Vorberatung zugewiesen. Auf Antrag der RK-S und der Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) entschied der Ständerat am 9. Juni 2020, die Vorlage zu teilen und die Bestimmungen des Sexualstrafrechts in einem gesonderten Entwurf zu beraten. Der Antrag erfolgte, weil aus Sicht des EJPD das heutige Sexualstrafrecht mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht Schritt gehalten hat. Dazu gehört insbesondere die Tatsache, dass eine Vergewaltigung gemäss Wortlaut des Gesetzes heute zwingend eine Nötigung des Opfers voraussetzt. Die Abspaltung sollte eine breite und vertiefte Diskussion über den Handlungsbedarf ermöglichen. Die RK-S beauftragte das Bundesamt für Justiz daraufhin, ihr einen Vorentwurf samt erläuterndem Bericht zu einer Revision des Sexualstrafrechts zwecks Durchführung einer Vernehmlassung zu unterbreiten.

Die beiden anderen Gesetzesentwürfe wurden im Dezember 2021 vom Parlament verabschiedet.3 Die Vernehmlassung zu einer Revision des Sexualstrafrechts dauerte vom 1. Februar bis zum 10. Mai 2021. Der Vorentwurf enthielt zu einigen Bestimmungen zwei Varianten. Die Kommission verzichtete darauf, sich bereits politisch und inhaltlich zu den Vorschlägen zu positionieren, damit das Vernehmlassungsverfahren möglichst ergebnisoffen durchgeführt werden konnte. Am 9. August 2021 nahm die RK-S von den Ergebnissen des Vernehmlassungsverfahrens Kenntnis.

Nachdem am 2. Juni 2021 auch der Nationalrat der Teilung der Vorlage zugestimmt hatte, führte die RK-S ihre Arbeiten an der Ausarbeitung eines Erlassentwurfs weiter.

An ihrer Sitzung vom 17. Februar 2022 nahm sie den nun vorliegenden Entwurf mit 13 zu 0 Stimmen in der Gesamtabstimmung an.

Kern der Vorlage bildet die Neugestaltung von Artikel 189 (Sexueller Übergriff und sexuelle Nötigung) und Artikel 190 (Vergewaltigung) E-StGB. Von den beiden Tatbeständen erfasst werden neu namentlich sexuelle Handlungen, die der Täter oder die Täterin am Opfer vornimmt oder von ihm
vornehmen lässt, wobei er oder sie sich dabei vorsätzlich über den entgegenstehenden, verbal oder nonverbal geäusserten Willen des Opfers hinwegsetzt, ohne dieses zu nötigen (Ablehnungs- / «Nein-heisstNein»-Lösung). Neu soll daher auch wegen Vergewaltigung bestraft werden, wer gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, an dieser vornimmt oder von dieser vornehmen lässt. Damit wird die Definition der «Vergewaltigung» ausgedehnt,

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BBl 2018 2827, 2959 und 3009; Curia Vista Geschäftsnummer 18.043.

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indem im Grundtatbestand auf das Nötigungselement verzichtet wird, die Tathandlungen ausgeweitet und auch Opfer männlichen Geschlechts von diesem Tatbestand erfasst werden. Eine Kommissionsminderheit hält diese Neuerungen nicht für ausreichend. Sie beantragt, die fraglichen Tatbestände auf der Grundlage der fehlenden Einwilligung (Zustimmungs- / «Nur-Ja-heisst-Ja»-Lösung) zu konzipieren. Eine weitere Minderheit beantragt ausserdem, bei der Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 2 E-StGB) die Mindeststrafe von einem Jahr auf mehr als zwei Jahre Freiheitsstrafe zu erhöhen.

Weitere wichtige Neuerungen betreffen die folgenden Punkte:

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Bei den sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1bis E-StGB) wird vorgeschlagen, für bestimmte Tathandlungen eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe einzuführen, falls das Opfer das 12. Altersjahr noch nicht vollendet hat. Eine Kommissionsminderheit beantragt, auf die Einführung einer Mindeststrafe zu verzichten.

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Ein separater Tatbestand (Art. 193a E-StGB) wird geschaffen für sexuelle Handlungen, die der Täter oder die Täterin bei der Ausübung einer Tätigkeit im Gesundheitsbereich an einer Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt, wenn er oder sie das Opfer dabei über den sexuellen Charakter der Handlung täuscht oder einen Irrtum des Opfers über den Charakter der Handlung ausnützt.

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Beim Exhibitionismus (Art. 194 E-StGB) soll es möglich werden, lediglich eine Busse statt eine Geldstrafe auszusprechen.

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Pornografische Gegenstände oder Vorführungen, die sexuelle Handlungen mit Gewalttätigkeiten unter Erwachsenen zum Inhalt haben, sollen nicht mehr als harte Pornografie gelten (Art. 197 Abs. 4 und 5 E-StGB).

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Bei der Pornografie (Art. 197 Abs. 8 und 8bis E-StGB) soll die Straflosigkeit unter anderem bei der Herstellung und beim Zugänglichmachen von Minderjährigenpornografie unter gewissen Voraussetzungen erweitert werden.

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Es wird ein neuer Tatbestand betreffend das Weiterleiten eines nicht öffentlichen sexuellen Inhalts ohne Zustimmung der darin erkennbaren Person geschaffen, wobei eine Qualifikation greift, wenn dieser Inhalt, beispielsweise im Internet, veröffentlicht wird (Art. 197a E-StGB). Eine Kommissionsminderheit beantragt, auf die Einführung dieser Bestimmung zu verzichten.

Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat stimmt dem Bericht und dem Erlassentwurf der Kommissionsmehrheit zu, mit Ausnahme des Artikels 197a E-StGB. Er begrüsst insbesondere die Ausdehnung des Tatbestands der Vergewaltigung sowie die Einführung des Tatbestands des «sexuellen Übergriffs». Im Kern der Revision steht der Verzicht auf das Nötigungselement in den Grundtatbeständen von Artikel 189 und 190 E-StGB.

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Artikel 197a E-StGB Unbefugtes Weiterleiten von nicht öffentlichen sexuellen Inhalten In der Vernehmlassung vertraten einzelne Teilnehmende die Auffassung, dass die geltenden (Straf-)Bestimmungen dem neuen Phänomen der «Rachepornografie» bzw.

des «Revenge Porn» nicht ausreichend Rechnung zu tragen vermögen.4 Mit dem vorgeschlagenen Tatbestand nimmt die RK-S diese Kritik auf. Strafbar soll sein, wer einen nicht öffentlichen sexuellen Inhalt ohne Zustimmung der darin erkennbaren Person einer Drittperson weiterleitet (Abs. 1). Der Strafrahmen soll höher sein, wenn der Täter oder die Täterin einen solchen Inhalt öffentlich macht (Abs. 2).

Eine Kommissionsminderheit beantragt, auf die Einführung von Artikel 197a E-StGB zu verzichten. Sie vertritt die Ansicht, dass der Tatbestand nicht unter die strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität eingereiht werden sollte, sondern bei jenen gegen die Ehre und den Geheim- oder Privatbereich. Zudem sollte der Tatbestand eine breitere Palette von Verhaltensweisen umfassen wie beispielsweise die Veröffentlichung von Fotos ohne sexuellen Inhalt, die kompromittierend sind.

Der Bundesrat unterstützt den Antrag der Kommissionsminderheit. Er anerkennt, dass solche Blossstellungen und Diffamierungen ein problematisches Phänomen darstellen, das besonders Jugendliche treffen kann, aber auch in der Öffentlichkeit stehende Personen. Er ist jedoch der Ansicht, dass der vorgeschlagene Tatbestand nicht geeignet ist, dieses Problem zu lösen.

So teilt der Bundesrat die Auffassung der Kommissionsminderheit, dass ein Tatbestand, der sich auf sexuelle Inhalte beschränkt, nur einen Teil des Problems erfassen würde. Der Begriff der Rachepornografie wurde ursprünglich eng verstanden und bezog sich auf pornografisches Material, das nach einer Trennung anderen aus Rache zugänglich gemacht wird.5 Mit zunehmender Bedeutung des Internets in unserem Alltag sinkt die Hemmschwelle für eine unbefugte Verbreitung kompromittierender Aufnahmen. Heute ist es jedermann jederzeit möglich, mit dem Handy Aufnahmen zu machen und diese über die sozialen Medien oder Messengerdienste weiterzuleiten oder gar anonym zu publizieren. In der öffentlichen Diskussion wird der Kreis der problematischen Handlungen immer grösser und ist nicht mehr an den ursprünglichen Begriff der Rachepornografie gebunden. Im
Kern geht es darum, dass Aufnahmen, die nicht für die Augen anderer gedacht waren oder ohne Wissen der betroffenen Person gemacht wurden, weiterverbreitet werden, um diese blosszustellen, zu beleidigen oder zu diffamieren. Es handelt sich hierbei um Erscheinungsformen des sogenannten «Cybermobbings», der systematischen Blossstellung einer Person unter Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel. Die parlamentarische Initiative 20.445 Suter «Neuer Straftatbestand Cybermobbing» vom 11. Juni 2020 verlangt eine entsprechende Ergänzung des Strafgesetzbuchs. Bei der Beratung des Vorstosses am 25. Juni 2021 hat die RK-N beschlossen, zunächst über das Postulat 21.3969 «Ergänzungen betreffend Cybermobbing im Strafgesetzbuch» den genauen Handlungsbedarf abklären zu lassen. Nachdem der Bundesrat die Annahme des Postulats beantragt hatte, wurde es vom Nationalrat am 8. September 2021 überwiesen. Der Bundesrat wird im 4 5

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Vernehmlassungsbericht, Ziff. 6.3.

Vgl. etwa Definition im eingereichten Text der Ip. 16.3162 Feri «Rachepornografie» vom 17. März 2016.

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Bericht dazu auch die Rachepornografie analysieren. Es ist geplant, dass der Bundesrat den Bericht diesen Sommer verabschiedet. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass die strafrechtliche Verfolgbarkeit von Internet-Delikten regelmässig nicht an fehlenden Straftatbeständen scheitert, sondern an den praktischen Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung. Diese kann grundsätzlich nur in Zusammenarbeit mit den zuständigen ausländischen Behörden erfolgen. Sofern die aktuellen Bemühungen um eine internationale Vereinbarung erfolgreich abgeschlossen, durch die Staatengemeinschaft breit umgesetzt und in ihre nationalen Gesetzgebungen aufgenommen werden können, ist hier mittelfristig sicher eine Vereinfachung zu erwarten.

Wie die Kommissionsminderheit ist auch der Bundesrat der Meinung, dass ein solcher Tatbestand jedenfalls weiter gefasst werden müsste und daher nicht bei den strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität einzuordnen wäre: Das Verhalten soll strafbar erklärt werden, weil die betroffene Person durch die Verbreitung der Aufnahmen in ihrer Intimsphäre verletzt wird. Es geht um die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, da ein dem höchstpersönlichen Bereich zuzuordnender Inhalt Dritten ohne Einwilligung der dargestellten Person zugänglich gemacht wird. Insofern ist dies eine Verletzung des Geheim- und Privatbereichs. Dort, wo die geltenden Straftatbestände nicht greifen und eine Strafwürdigkeit zu bejahen ist, sollte ein solcher neuer Tatbestand eingeordnet werden, d. h. unter dem Dritten Titel des Zweiten Buches des StGB (Strafbare Handlungen gegen die Ehre und den Geheim- oder Privatbereich).6 Schliesslich scheint dem Bundesrat die konkrete Formulierung von Artikel 197a E-StGB problematisch. Eine Bestimmung mit solch unklarem Inhalt würde in der Praxis zu erheblichen Anwendungsschwierigkeiten führen ­ was in der Regel den Effekt hat, dass die Bestimmung nur selten angewendet und die vom Parlament angepeilte strafrechtliche Verfolgung nicht durchgesetzt wird. So ist beispielsweise die Formulierung «sexueller Inhalt» wenig klar. Nacktbilder beispielsweise dürften wohl nur dann darunterfallen, wenn zusätzlich etwa über die Körperhaltung oder die Darstellung ein sexueller Bezug hergestellt wird. Unsicherheiten ergeben sich bei einem Bild, das eine Frau mit einem übergrossen, betonten
Ausschnitt zeigt. Ebenfalls unklar ist die Zuordnung von Bildern, auf denen die betroffene Person nicht erkennbar ist (weil nur gewisse Körperteile abgebildet sind oder sie entsprechend bearbeitet wurden), die Bilder aber mit ihrem Namen versehen sind. Auch ist unklar, was das Merkmal «nicht öffentlich» umfassen soll.

Der Bundesrat beantragt aus diesen Gründen, in Übereinstimmung mit der Kommissionsminderheit auf die Einführung von Artikel 197a E-StGB zu verzichten. Es erscheint momentan zielführend, dass sich der Zweitrat zunächst anhand des Postulatsberichts zum Cybermobbing ein Bild macht und darauf basierend nach einer Lösung sucht, die der Problematik angemessen Rechnung zu tragen vermag. Als Folge des Verzichts ist die Bestimmung nicht in die Deliktskataloge des Tätigkeitsverbots (Art. 67 Abs. 3 Bst. c und Abs. 4 Bst. a Einleitungssatz E-StGB) aufzunehmen.

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Hinzuweisen ist auch auf den zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz nach Art. 28 ff.

des Zivilgesetzbuchs (SR 210), der in den anvisierten Situationen greift.

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Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt Eintreten und Zustimmung zum Erlassentwurf der Kommissionsmehrheit mit folgender Ausnahme: Bei Artikel 197a E-StGB beantragt der Bundesrat, der Minderheit zu folgen.

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