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Analyse der Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 16.3908 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates SGK-N vom 14. Oktober 2016 vom 22. Juni 2022

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Übersicht Regelmässig wird von verschiedener Seite gefordert, Verbesserungsmöglichkeiten für die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden zu prüfen. Auch ein Versicherungsobligatorium in der beruflichen Vorsorge wird in diesem Rahmen zur Diskussion gestellt. Die Vorsorgesituation gewisser Gruppen von Selbstständigerwerbenden in der beruflichen Vorsorge ist tatsächlich problematisch. Da Selbstständigerwerbende nicht verpflichtet sind, zusätzlich zur 1. Säule eine 2. oder 3. Säule aufzubauen, besteht das Risiko, dass sie im Falle einer Lücke in der Selbstvorsorge nach der Pensionierung übermässig von Ergänzungsleistungen (EL) abhängig sind.

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates das Postulat 16.3908 eingereicht, das der Nationalrat am 8. Dezember 2016 angenommen hat. Der Bundesrat wird darin beauftragt, in einem Bericht die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden zu analysieren. Der Bericht soll insbesondere mögliche Vorsorgelücken von Selbstständigerwerbenden sowie die Vorsorgesituation von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Teilzeitarbeit nachgehen, untersuchen. Ausserdem sollen mögliche Versicherungsmodelle und deren Auswirkungen auf die Ergänzungsleistungen geprüft werden.

Der Bericht in Erfüllung des Postulats ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil des Berichts wird aus historischer Sicht untersucht, wie sich der Kontext einer freiwillig oder obligatorisch ausgestalteten beruflichen Vorsorge für Selbstständige über die Jahre entwickelt hat.

Im zweiten Teil des Berichts werden die Ergebnisse zweier Studien vorgestellt. Die Studien wurden in Auftrag gegeben, um das wissenschaftliche Material zusammenzutragen, mit dem ermittelt werden kann, wie gut Selbstständigerwerbende und Personen, die sowohl selbstständig als auch unselbstständig tätig sind, in der beruflichen Vorsorge und der Altersvorsorge abgedeckt sind.

Der dritte Teil des Berichts gibt einen Überblick über die verschiedenen Ansätze, um die obligatorische soziale Absicherung von bestimmten gefährdeten Gruppen von Selbstständigerwerbenden zu verbessern. Hierbei geht es um Personen, die den Studien zufolge nicht immer in der Lage sind, eine ausreichende Selbstvorsorge aufzubauen. Jeder Ansatz ­ einige beinhalten
verschiedene Varianten ­ stellt eine mögliche Lösung für die spezifischen Probleme der einzelnen Selbstständigenkategorien dar.

Aktuelle Rechtslage, historische Entwicklung und institutionelles Umfeld Selbstständigerwerbende sind nicht der obligatorischen beruflichen Vorsorge unterstellt, da die Bundesverfassung nur für Unselbstständigerwerbende eine Versicherungspflicht vorsieht Für Selbstständigerwerbende hingegen besteht lediglich die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung. Allerdings ist der Bund gemäss Bundesverfassung befugt, die berufliche Vorsorge für bestimmte Gruppen von Selbstständigerwerbenden allgemein oder für einzelne Risiken obligatorisch zu erklären. So können Berufsverbände gestützt auf die Gesetzgebung zur beruflichen Vorsorge beantragen, Selbstständigerwerbende einer Versicherungspflicht zu unterstellen, wie 2 / 46

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es in der Bundesverfassung vorgesehen ist. Danach unterstellt der Bundesrat alle Selbstständigerwerbenden des jeweiligen Berufsverbandes dem Versicherungsobligatorium, das alle Risiken (Invalidität, Tod, Altersrücktritt) oder nur einzelne Risiken umfassen kann. Von dieser gesetzgeberischen Möglichkeit wurde bisher nie Gebrauch gemacht.

Institutionell gesehen können sich Selbstständigerwerbende für die berufliche Vorsorge drei Anbieterkategorien anschliessen: Die erste Kategorie kommt für Selbstständigerwerbende in Frage, die ihre Tätigkeit allein oder mit Mitarbeitenden ausüben. Es handelt sich um Gemeinschaftseinrichtungen, die in irgendeiner Form mit Berufsverbänden verbunden sind. Diese spielen bisweilen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, eine angemessene Lösung in der beruflichen Vorsorge zu vermitteln. Als Beispielbereiche können die Kultur oder die Landwirtschaft aufgeführt werden. Die zweite Anbieterkategorie für Selbstständigerwerbende bilden die privaten Versicherer, die ihre Vorsorgelösungen über Sammeleinrichtungen anbieten.

Grob gesagt sind Sammeleinrichtungen Vorsorgeeinrichtungen, denen sich Arbeitgeber und Selbstständigerwerbende zur Durchführung der obligatorischen, überobligatorischen und freiwilligen beruflichen Vorsorge anschliessen können. Die dritte Anbieterkategorie von Vorsorgeeinrichtungen für Selbstständigerwerbende ist per se die Stiftung Auffangeinrichtung BVG. Sie muss als einzige Vorsorgeeinrichtung in der Schweiz ausnahmslos jeden anschlusswilligen Arbeitgeber und jede anschlusswillige Einzelperson aufnehmen, sofern diese die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen.

Sie bietet somit allen Selbstständigerwerbenden eine Lösung, die sich freiwillig in der 2. Säule versichern lassen wollen, vorausgesetzt, ihr Gesamtjahreslohn ist höher als die BVG-Eintrittsschwelle von 21 510 Franken.

Wirksame Deckung von Selbstständigerwerbenden in der beruflichen Vorsorge und der Altersvorsorge Bei den Altersrenten der AHV ist fast kein Unterschied zwischen ehemals Selbstständigerwerbenden, ehemals Unselbstständigerwerbenden und Personen, die sowohl einer unselbstständigen als auch einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, festzustellen. Hingegen beziehen Personen, die selbstständigerwerbend waren, nach der Pensionierung deutlich seltener Leistungen aus der
2. und/oder 3. Säule als ehemals Unselbstständigerwerbende. Die schlechtere Altersabsicherung der Selbstständigerwerbenden im Bereich der beruflichen Vorsorge wird jedoch durch andere Einkommensquellen abgefedert, wie beispielsweise Vermögens- und Erwerbseinkommen.

Bei ehemals Selbstständigerwerbenden besteht das Risiko einer Vorsorgelücke, wenn der Schritt in die Selbstständigkeit eher unfreiwillig und erst in einer späteren Phase des Erwerbslebens erfolgte. Auch bei Selbstständigerwerbenden, die keine Mitarbeitenden beschäftigen und kleine, gering bezahlte Aufträge ausführen, besteht das Risiko, im Rentenalter nicht über ausreichend Einkünfte zu verfügen.

Die beiden Studien, die im Rahmen des Postulats in Auftrag gegeben wurden, kommen zum Schluss, dass es für den Aufbau einer adäquaten Vorsorge nicht unbedingt entscheidend ist, ob der Zugang zur beruflichen Vorsorge obligatorisch oder freiwillig ist, sondern vielmehr, ob über das ganze Erwerbsleben hinweg ein genügendes Einkommen erzielt wird, um eine ausreichende berufliche oder individuelle Vorsorge zu 3 / 46

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finanzieren. Ist das Einkommen über eine längere Zeitspanne tief, steigt unabhängig von der Erwerbsbiografie auch das Risiko, dass es zu Lücken in der Alters- oder der Selbstvorsorge kommt.

Verbesserungsmöglichkeiten Angesichts möglicher Vorsorgelücken aufgrund der selbstständigen Erwerbstätigkeit und der damit einhergehenden finanziellen Belastung der öffentlichen Hand wurden verschiedene Ansätze geprüft, mit denen die obligatorische soziale Absicherung bestimmter gefährdeter Selbstständigenkategorien verbessert werden könnte.

Eine bessere Information über die Möglichkeiten der Versicherung in der beruflichen Vorsorge oder der Ausbau des Angebots der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende ohne Angestellte sind zwei Ansätze, die einem Grossteil der selbstständig Erwerbstätigen von Nutzen sein könnten. Weil sie nicht verbindlich sind, stehen die beiden Ansätze in einer historischen Kontinuität mit der individuellen Freiheit der Selbstständigerwerbenden, sich angemessen gegen das Risiko Alter abzusichern.

Für die spezifische Kategorie der Personen, die sich erst nach einigen Jahren unselbstständiger Erwerbstätigkeit selbstständig machen, würde es der Erhalt der Austrittsleistung in der beruflichen Vorsorge erlauben, den vor der Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit erworbenen Versicherungsschutz aufrechtzuerhalten. Zu diesem Ansatz wurden drei Varianten analysiert: Anwendung der Regeln für die Wohneigentumsförderung auf die Barauszahlung der Austrittsleistung, «Einfrieren» der Austrittsleistung im System der beruflichen Vorsorge und Lockerung der Barauszahlung. Jede der Varianten hat Vor- und Nachteile und schränkt die Wirtschaftsfreiheit mehr oder weniger ein.

Zur obligatorischen beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende wurden drei Varianten geprüft. Ein Obligatorium für die berufliche Vorsorge würde die Schaffung einer entsprechenden Verfassungsgrundlage voraussetzen. Ein solche obligatorische Versicherung wäre schwierig umzusetzen. Weil dieser Ansatz eine starke Beschneidung der Wirtschaftsfreiheit darstellt, wurden zwei weniger einschränkende Ansätze geprüft.

Der besonderen Situation von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, trägt ein Ansatz Rechnung, der die Versicherungsdeckung dieser Zielgruppe,
die sich unter Umständen in einer weniger vorteilhaften Situation befindet als wenn sie nur angestellt oder nur selbstständig wäre, verbessern soll. Dabei würde unter Berücksichtigung der in die berufliche Vorsorge eingezahlten Beiträge für Selbstständigerwerbende in der Säule 3a ein höherer steuerlich abzugsfähiger Maximalbetrag gelten.

Letztlich kommt der Bericht zum Schluss, dass es durchaus zielführend erscheinen mag, die berufliche Vorsorge an die einzelnen Gegebenheiten der Selbstständigerwerbenden anzupassen, dass die Umsetzung aber mit zahlreichen Herausforderungen verbunden wäre. Die berufliche Vorsorge, wie sie heute den Arbeitnehmenden offensteht, auf selbstständig Erwerbstätige auszudehnen ­ wenn auch nur teilweise ­, würde nicht alle Prekaritätsrisiken von Selbstständigerwerbenden im Alter beseitigen.

Der Grad der sozialen Sicherheit wird nämlich in erster Linie durch das Einkommensniveau der Tätigkeit bestimmt, unabhängig davon, ob das Einkommen durch eine 4 / 46

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selbstständige oder eine unselbstständige Tätigkeit oder eine Kombination aus beidem erzielt wird.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Ausgangslage

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Aktuelle Rechtslage und historische Entwicklung der Vorsorgedeckung von Selbstständigerwerbenden und von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen 2.1 Geltende Gesetzesbestimmungen 2.2 Aktuelles institutionelles Umfeld 2.2.1 Mit Berufsverbänden verbundene Einrichtungen 2.2.2 Andere Einrichtungsformen 2.2.3 Stiftung Auffangeinrichtung BVG 2.3 Historische Entwicklung 2.3.1 Schaffung der Verfassungsgrundlage für die Einführung der beruflichen Vorsorge 2.3.2 Landwirtinnen und Landwirte 2.3.3 1. Teilrevision der beruflichen Vorsorge 2.3.4 Kulturfördergesetz 2.3.5 Reform der Altersvorsorge 2020 2.3.6 Reform der Ergänzungsleistungen 2.3.7 Reform BVG 21 2.4 Parlamentarische Vorstösse für den Ausbau der 3. Säule

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Wirksame Vorsorgedeckung von Selbstständigerwerbenden und Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen 3.1 Gesamteinkommen der Selbstständigen und der Teilselbstständigen im Zeitpunkt der Pensionierung im Vergleich zu den über 64bzw. 65-jährigen Unselbstständigen 3.2 Einkommensanteile ehemals Selbstständigerwerbender aus AHVRente, 2. und 3. Säule nach Altersrücktritt 3.3 Vermögen und Erwerb als Ersatz für die 2. oder 3. Säule für ehemals Selbstständigerwerbende im Rentenalter?

3.4 Selbstständige Erwerbstätigkeit und Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV 3.5 Wie Selbstständigerwerbende ihre Altersvorsorge einschätzen Ansätze zur Verbesserung der beruflichen Vorsorge von Selbstständigerwerbenden und von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen 4.1 Bessere Information der Selbstständigerwerbenden über die Möglichkeiten der Versicherung in der beruflichen Vorsorge

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4.2

4.3 4.4 4.5

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Erhalt des Vorsorgeguthabens von Personen, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln, im System der 2. Säule 4.2.1 Erhalt der Austrittsleistung in der beruflichen Vorsorge 4.2.2 Anwendung der Regeln für die Wohneigentumsförderung auf die Barauszahlung der Austrittsleistung für Selbstständigerwerbende 4.2.3 Lockerung bei der Barauszahlung der Austrittsleistung für Selbstständigerwerbende Ausbau des Angebots der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende ohne Angestellte Bessere Versicherung in der Säule 3a für Teilselbstständige Selbstständigerwerbende: Versicherungspflicht in der beruflichen Vorsorge 4.5.1 Obligatorische berufliche Vorsorge für Selbstständigerwerbende 4.5.2 Obligatorische berufliche Vorsorge «light» speziell für Selbstständigerwerbende 4.5.3 Obligatorische berufliche Vorsorge beschränkt auf die Versicherung der Risiken Tod und Invalidität

Schlussfolgerungen

28 29 30 31 32 33 34 34 37 38 39

Anhänge Wortlaut des Postulats 16.3908 «Die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden analysieren» Forschungsberichte

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Bericht 1

Ausgangslage

Schon seit einigen Jahren wird verlangt, die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden im Hinblick auf Verbesserungen zu prüfen. Dabei steht für Selbstständigerwerbende auch ein Versicherungsobligatorium in der beruflichen Vorsorge zur Diskussion. Die Vorsorgesituation gewisser Gruppen von Selbstständigerwerbenden in der beruflichen Vorsorge ist tatsächlich problematisch. Da Selbstständigerwerbende nicht verpflichtet sind, für die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge ­ zusätzlich zur 1. Säule (AHV/IV) ­ eine 2. oder 3. Säule aufzubauen, besteht das Risiko, dass sie im Falle einer Lücke in der Selbstvorsorge nach der Pensionierung übermässig von steuerfinanzierten Ergänzungsleistungen (EL) abhängig sind.

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) das Postulat 16.3908 eingereicht, das der Nationalrat am 8. Dezember 2016 angenommen hat und das den Bundesrat beauftragt, in einem Bericht die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden zu analysieren. Der Bericht soll insbesondere mögliche Vorsorgelücken von Selbstständigerwerbenden sowie die Vorsorgesituation von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Teilzeitarbeit nachgehen, untersuchen. Ausserdem sollen im Rahmen des Berichts mögliche Versicherungsmodelle und deren Auswirkungen auf die Ergänzungsleistungen geprüft werden.

Mit dem vorliegenden Bericht erfüllt der Bundesrat das Postulat der SGK-N.

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Aktuelle Rechtslage und historische Entwicklung der Vorsorgedeckung von Selbstständigerwerbenden und von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen

2.1

Geltende Gesetzesbestimmungen

Für Selbstständigerwerbende besteht kein Versicherungsobligatorium in der beruflichen Vorsorge, da Artikel 113 der Bundesverfassung (BV)1 für Selbstständigerwerbende keine obligatorische Versicherung vorsieht ­ nur für Arbeitnehmende. Selbstständigerwerbende können sich jedoch freiwillig bei einer Vorsorgeeinrichtung versichern. Ausserdem kann der Bund gemäss BV für bestimmte Gruppen von Selbstständigerwerbenden die berufliche Vorsorge allgemein oder für einzelne Risiken obligatorisch erklären.

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SR 101

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Die Gesetzgebung über die berufliche Vorsorge (Art. 3, 42 und 43 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 19822 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [BVG]) enthält die rechtliche Grundlage für ein Versicherungsobligatorium für Selbstständigerwerbende auf Antrag ihrer Berufsverbände, in Übereinstimmung mit der BV. Danach ist es am Bundesrat, sämtliche Selbstständigerwerbenden, die dem entsprechenden Verband angehören, der obligatorischen Versicherung zu unterstellen. Die Versicherung kann alle Risiken (Invalidität, Tod, Alter) oder nur ein einzelnes Risiko umfassen. Diese gesetzliche Möglichkeit wurde bisher nie genutzt.

Selbstständigerwerbende können zu den gleichen Bedingungen wie Arbeitnehmende freiwillig einer Vorsorgeeinrichtung beitreten (Art. 4 und 44 BVG). Beschäftigen sie Angestellte, können sie sich bei derselben Einrichtung wie ihre Angestellten versichern lassen. Verfügt ihr Berufsverband über eine eigene Vorsorgeeinrichtung, können sie dieser beitreten (z. B. Ärztinnen und Ärzte, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte). Sie können sich auch bei der Stiftung Auffangeinrichtung BVG versichern lassen. Selbstständigerwerbende haben ausserdem die Möglichkeit, sich ausschliesslich bei einer Vorsorgeeinrichtung im Bereich der weiter gehenden Vorsorge versichern zu lassen (Art. 4 Abs. 3 BVG), was ihnen mehr Freiheiten ermöglicht: Sie können für das gesamte Einkommen oder nur für den überobligatorischen Teil beitreten oder lediglich das Risiko Alter versichern lassen. Die Grundsätze der beruflichen Vorsorge (Planmässigkeit, Angemessenheit, Kollektivität) gelten auch bei dieser Lösung.

Selbstständigerwerbende, die sich keiner Vorsorgeeinrichtung anschliessen wollen oder finanziell dazu nicht in der Lage sind, können nach dem verfassungsmässigen Dreisäulenprinzip eine steuerbegünstigte gebundene Selbstvorsorge aufbauen (Säule 3a). Artikel 7 der Verordnung vom 13. November 19853 über die steuerliche Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte Vorsorgeformen (BVV 3) sieht vor, dass Personen, die keiner Vorsorgeeinrichtung angehören (was bei Selbstständigerwerbenden ohne Pensionskasse der Fall ist), jährlich bis 20 Prozent des Erwerbseinkommens, jedoch höchstens 40 Prozent des oberen Grenzbetrages gemäss BVG von ihrem Einkommen abziehen können. 2022 beträgt der abzugsfähige
Maximalbetrag 34 416 Franken. Selbstständigerwerbende, die einer Vorsorgerichtung angehören, können wie Arbeitnehmende jährlich bis 8 Prozent des oberen Grenzbetrages nach BVG abziehen, das heisst 2022 maximal 6883 Franken. Nur bescheinigte Beiträge sind steuerlich abzugsberechtigt. Diese Bestimmung berücksichtigt den Umstand, dass Selbstständigerwerbende zwischen einer Vorsorge der 2. Säule und der 3. Säule wählen können. Ein höherer Maximalbeitrag soll es auch Selbstständigerwerbenden, die keiner Vorsorgeeinrichtung angeschlossen sind, ermöglichen, eine angemessene Altersvorsorge aufzubauen.

Gemäss Freizügigkeitsgesetz vom 17. Dezember 19934 (FZG) können Arbeitnehmende, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen und der obligatorischen beruflichen Vorsorge nicht mehr unterstehen, eine Barauszahlung ihres Vorsorgeguthabens verlangen (Art. 5). Dieser Vorbezug soll es Personen, die neu eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen, erlauben, an das nötige Startkapital für ihre Firma 2 3 4

SR 831.40 SR 831.461.3 SR 831.42

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zu gelangen. Sobald die Person in der Selbstständigkeit Fuss gefasst hat, wird davon ausgegangen, dass sie in ihrem Unternehmen die Grundlage für eine ausreichende Selbstvorsorge findet. Die seit Langem geltende Praxis sieht vor, dass die Barauszahlung innerhalb eines Jahres nach Beendigung der obligatorischen Versicherung beantragt werden muss.

Diese Möglichkeit besteht im Übrigen seit der Einführung der beruflichen Vorsorge (zuerst im BVG, seit 1995 im FZG).

Die berufliche Vorsorge kennt keine besonderen Bestimmungen für Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Tätigkeit nachgehen.

Historisch betrachtet wurde diese Personengruppe offenbar nicht speziell erörtert, weder zum Zeitpunkt der Einführung der beruflichen Vorsorge noch im Rahmen der späteren Revision der Vorsorge. Erzielen diese Personen für ihre unselbstständige Tätigkeit einen Jahreslohn von mehr als 21 510 Franken (Eintrittsschwelle BVG), sind sie grundsätzlich obligatorisch bei einer Vorsorgeeinrichtung versichert. Für die selbstständige Erwerbstätigkeit können sie freiwillig einer anderen Vorsorgeeinrichtung beitreten. Andernfalls können sie in die 3. Säule einzahlen. Weil sie aufgrund ihrer Anstellung aber in einer Vorsorgeeinrichtung versichert sind, können sie maximal 8 Prozent des oberen BVG-Grenzbetrages einzahlen, das heisst jährlich 6883 Franken. Wollen diese Personen bis 20 Prozent ihres selbstständigen Erwerbseinkommens einzahlen, maximal jedoch 34 416 Franken pro Jahr (40 % des oberen BVGGrenzbetrages), können sie die bestehende gesetzliche Regelung nutzen (Art. 1j Abs. 1 Bst. c der Verordnung vom 18. April 19845 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [BVV 2]), die es nebenberuflich tätigen Arbeitnehmenden erlaubt, auf eine obligatorische Versicherung zu verzichten, wenn sie im Hauptberuf eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben. Wird die unselbstständige Tätigkeit nicht nebenberuflich ausgeübt, kann die Person diese Möglichkeit nicht nutzen und bleibt in der Vorsorgeeinrichtung versichert. Folglich kann sie jährlich nur maximal 6883 Franken in die 3. Säule einzahlen. Die hauptberufliche Tätigkeit wird beispielsweise anhand des Zeitaufwands oder des erwirtschafteten Einkommens bestimmt.

2.2

Aktuelles institutionelles Umfeld

Die institutionellen Vorsorgeanbieter für Selbstständigerwerbende lassen sich in drei Kategorien unterteilen, wobei es in jeder Kategorie je nach Sprachregion Unterschiede bezüglich Grösse und Gewicht gibt. Die im Folgenden erwähnten Vorsorgeeinrichtungen sind als Beispiele zu verstehen und nicht als abschliessende Liste.

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SR 831.441.1

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2.2.1

Mit Berufsverbänden verbundene Einrichtungen

Die erste Anbieterkategorie für Selbstständigerwerbende, die ihre Tätigkeit allein oder mit Mitarbeitenden ausüben, bilden Gemeinschaftseinrichtungen, die in irgendeiner Form mit Berufsverbänden verbunden sind. Mit einer Gemeinschaftseinrichtung wird den Verbandsmitgliedern die Möglichkeit gegeben, auf die Errichtung einer eigenen Vorsorgeeinrichtung zu verzichten. Gründen mehrere Berufsverbände zusammen eine Gemeinschaftseinrichtung, gilt dasselbe Reglement für alle Versicherten und Arbeitgeber einer Stiftung. Allerdings kann dieses Reglement mehrere Vorsorgepläne umfassen.

Ein führender Anbieter ist die vom Schweizerischen Gewerbeverband (SGV) gegründete Stiftung proparis. Ihr gehören rund 11 000 Unternehmen und über 73 000 Versicherte der 13 angeschlossenen Vorsorgewerke an, die von den 52 Mitgliedsverbänden des SGV gegründet wurden.6 Eine weitere führende Gemeinschaftseinrichtung für KMU ist die Asga Pensionskasse.7 In der Westschweiz gibt es zwei mit Berufsverbänden verbundene Gemeinschaftseinrichtungen, die wie proparis und Asga Pensionskasse gewichtige Akteure vertreten: die Caisse Inter-Entreprises de Prévoyance Professionnelle (CIEPP) und den Fonds interprofessionnel de prévoyance (FIP). Die CIEPP versichert seit über 50 Jahren Westschweizer Unternehmen. Heute gehören ihr 10 000 KMU und Selbstständigerwerbende mit rund 45 000 Versicherten an.8 Dem FIP gehören 5000 KMU und Selbstständigerwerbende mit knapp 34 000 Versicherten an.9 Sowohl die CIEPP als auch der FIP bieten Selbstständigerwerbenden unter bestimmten Voraussetzungen innovative Vorsorgelösungen, indem sie beispielsweise auf den Koordinationsabzug verzichten, so dass auch Einkommen unter 21 510 Franken versichert werden können.

Es gilt zu beachten, dass abgesehen von diesen beiden Westschweizer Einrichtungen die meisten Gemeinschaftseinrichtungen in ihren Reglementen zwischen Selbstständigerwerbenden mit Personal und solchen ohne Personal unterscheiden. Mehrere im Internet verfügbare Reglemente enthalten für Selbstständigerwerbende ohne Personal strengere Aufnahmebedingungen als für Selbstständigerwerbende mit Personal.

Selbstständigerwerbende ohne Personal können nur beitreten, wenn der Berufsverband, in dem sie Mitglied sind, die jeweilige Kasse anerkennt.

Die Berufsverbände spielen bisweilen eine entscheidende Rolle, wenn
es darum geht, ihren selbstständig erwerbstätigen Mitgliedern eine angemessene Lösung bei der beruflichen Vorsorge zu vermitteln. Das Syndicat Suisse Romand du Spectacle (SSRS) zum Beispiel beteiligte sich über die Vorsorgestiftung Artes & Comoedia an der Ausarbeitung von Vorsorgelösungen für selbstständige Kulturschaffende, die auf die Bedürfnisse dieser Berufsgruppe zugeschnitten sind (aufeinanderfolgende befristete Verträge, gleichzeitige selbstständige und unselbstständige Erwerbstätigkeit). Diese 6 7 8 9

Proparis Vorsorgestiftung: Geschäftsbericht 2020.

2021 gehörten der Asga Pensionskasse 455 Selbstständigerwerbende ohne Personal und 207 Einzelfirmen mit Personal an.

CIEPP (2021): Jahresbericht 2020. 2020 gehörten der CIEPP über 1151 Selbstständigerwerbende mit und ohne Personal an.

Centre patronal vaudois ­ Fonds interprofessionnel de prévoyance (2021): Geschäftsbericht 2020. 2020 gehörten dem FIP 285 Selbstständigerwerbende mit und ohne Personal an.

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massgeschneiderten Lösungen sind bisweilen völlig neuartig. Sie ermöglichen beispielsweise die gleichzeitige Versicherung einer unselbstständigen und einer selbstständigen Erwerbstätigkeit bei ein und derselben Einrichtung (Pensionskasse Musik und Bildung). Auch die Pensionskasse Freelance der Gewerkschaft Medien und Kommunikation syndicom bietet eine Lösung für Freischaffende an, die mehrere kleine Aufträge haben oder gleichzeitig selbstständig und unselbstständig erwerbstätig sind.

Die Versicherung erfolgt ohne Koordinationsabzug, und die Arbeitgeber beteiligen sich hälftig an der beruflichen Vorsorge, sofern der geschätzte jährliche Gesamtlohn der versicherten Person über 21 510 Franken liegt, was der Eintrittsschwelle der beruflichen Vorsorge entspricht.

Die vom Schweizer Bauernverband errichtete Gemeinschaftsstiftung Agrisano Pencas ist die Pensionskasse der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. Sie bietet drei Vorsorgepläne an, die auf die Bedürfnisse von Landwirtinnen und Landwirten sowie deren Mitarbeitenden ausgerichtet sind. Auch klassische selbstständige Berufe haben eine eigene Pensionskasse wie z. B. diejenige des Schweizerischen Anwaltsverbandes, die Pensionskasse der technischen Verbände (Architekten) oder die Pro Medico Stiftung (Stiftung Pro Medico, die Vorsorgeeinrichtung der Medizinalberufe), die VSM-Sammelstiftung für das Medizinalpersonal oder die Vorsorgestiftung für das Personal in der Human- und Veterinärmedizin PAT-BVG.

2.2.2

Andere Einrichtungsformen

Die zweite Anbieterkategorie für Selbstständigerwerbende bilden die privaten Versicherer, deren Vorsorgelösungen über Sammeleinrichtungen angeboten werden. Grob gesagt sind Sammeleinrichtungen Vorsorgeeinrichtungen, denen sich Arbeitgeber und Selbstständigerwerbende zur Durchführung der obligatorischen, überobligatorischen und freiwilligen beruflichen Vorsorge anschliessen können. Jeder Arbeitgeber unterzeichnet einen Anschlussvertrag und bildet innerhalb der Sammeleinrichtung ein Vorsorgewerk (Versichertenkollektiv), das wiederum mehrere Vorsorgepläne, zum Beispiel einen für die BVG-Mindestleistungen und einen für Zusatzleistungen, beinhalten kann. Sammeleinrichtungen werden im Allgemeinen von Versicherungen oder Banken errichtet und bieten ihre Vorsorgelösungen voneinander unabhängigen Unternehmen an.

Fünf Versicherungsgesellschaften ­ Allianz Leben, Basler Leben, Helvetia Leben, Pax und Swiss Life ­ haben heute umfassende Versicherungslösungen für Unternehmen mit Personal und Selbstständigerwerbende ohne Personal im Angebot.

Neben den fünf Hauptakteuren gibt es mehrere andere Sammeleinrichtungen unterschiedlicher Grösse. Die Sammelstiftung Vita zum Beispiel, die der Zürich Versicherungs-Gesellschaft nahesteht, ist ein wichtiger Player in der Schweiz. 2020 gehörten ihr rund 139 000 Versicherte und mehr als 23 000 Unternehmen an.10 Zu den grossen «unabhängigen» Sammeleinrichtungen gehören Swisscanto, PK Pro, PKG und Nest.

10

Sammelstiftung Vita (2021): Geschäftsbericht 2020. Im September 2021 gehörten der Sammelstiftung Vita 444 Einzelfirmen mit Personal an.

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Eine erwähnenswerte Ausnahme ist eine Westschweizer Einrichtung nach öffentlichem Recht mit Vorsorgelösungen für Selbstständigerwerbende: Die Rentes Genevoises sind eine öffentlich-rechtliche Sammeleinrichtung mit Staatsgarantie, der sich Selbstständigerwerbende für die berufliche Vorsorge oder für die Säule 3a anschliessen können. Die Anschlussbedingungen für Selbstständigerwerbende mit Personal und solche ohne Personal sind bei dieser Einrichtung unterschiedlich (restriktive Voraussetzungen).

2.2.3

Stiftung Auffangeinrichtung BVG

Die dritte Anbieterkategorie der Vorsorgeeinrichtungen für Selbstständigerwerbende ist per se die Stiftung Auffangeinrichtung BVG (Auffangeinrichtung). Die Auffangeinrichtung ist eine von den Sozialpartnern getragene privatrechtliche Vorsorgeeinrichtung. Seit 1983 fungiert sie im Auftrag des Bundes als Sicherheitsnetz in der 2. Säule. Die Auffangeinrichtung muss als einzige Vorsorgeeinrichtung in der Schweiz ausnahmslos jeden anschlusswilligen Arbeitgeber und jede anschlusswillige Einzelperson aufnehmen, sofern diese die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen. Sie bietet somit allen Selbstständigerwerbenden eine Lösung, die sich freiwillig in der 2. Säule versichern lassen wollen, vorausgesetzt, ihr Gesamtjahreslohn ist höher als die BVG-Eintrittsschwelle von 21 510 Franken. Der Vorsorgeplan für Selbstständigerwerbende versichert einen koordinierten Lohn gemäss Artikel 8 BVG, das heisst den Teil des Jahreslohnes von 25 095 bis und mit 86 040 Franken. In diesem Vorsorgeplan kann auch der Einkommensanteil versichert werden, der zwischen 86 040 Franken und dem maximal versicherten UVG-Lohn liegt. Letzterer beträgt aktuell 148 200 Franken.11 Das Angebot der Auffangeinrichtung wird von selbstständig erwerbenden Personen allerdings wenig genutzt: Per 31. Dezember 2020 waren der Auffangeinrichtung lediglich 537 Selbstständigerwerbende (Art. 44 BVG) und 312 Arbeitnehmende im Dienste mehrerer Arbeitgeber (Art. 46 BVG) angeschlossen.

In der jüngeren Vergangenheit entstanden hingegen innovative Formen der Zusammenarbeit zwischen der Auffangeinrichtung und Berufs- und Branchenverbänden. So hat beispielsweise der Verband Frauenunternehmen, der Frauen bei der Unternehmensgründung unterstützt, 2017 die Verbandslösung Impavida entwickelt. Impavida umfasst verschiedene BVG-Vorsorgepläne für Selbstständigerwerbende, die bezüglich Leistung und Administration eine einfache Vorsorgelösung suchen. Es handelt sich dabei nicht um eine eigentliche Vorsorgeeinrichtung, sondern um einen «Kanal», über den Selbstständigerwerbende, die sich der beruflichen Vorsorge anschliessen wollen, von ihrem Berufsverband an die Auffangeinrichtung weitergeleitet werden.

11

Stiftung Auffangeinrichtung BVG:.Art. 3 Abs. 2 Vorsorgeplan Selbständigerwerbende (SE).

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2.3

Historische Entwicklung

2.3.1

Schaffung der Verfassungsgrundlage für die Einführung der beruflichen Vorsorge

Die Einführung des Dreisäulensystems ist in Artikel 111 BV verankert, namentlich in Absatz 1. Artikel 111 Absatz 1 BV hat folgenden Wortlaut: «Der Bund trifft Massnahmen für eine ausreichende Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge. Diese beruht auf drei Säulen, nämlich der eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, der beruflichen Vorsorge und der Selbstvorsorge.» Artikel 113 BV verleiht dem Gesetzgeber den Auftrag, Vorschriften über die berufliche Vorsorge zu erlassen und legt in Absatz 2 Buchstabe d den Grundsatz der freiwilligen beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende fest: «Selbstständigerwerbende können sich freiwillig bei einer Vorsorgeeinrichtung versichern.» Artikel 111 Absatz 4 BV schliesslich konkretisiert die 3. Säule: «Er fördert in Zusammenarbeit mit den Kantonen die Selbstvorsorge namentlich durch Massnahmen der Steuer- und Eigentumspolitik.» Diese Verfassungsgrundlage verlieh dem Gesetzgeber die entsprechende Gesetzgebungsbefugnis. Sie führte zum BVG, das 1985 in Kraft getreten ist. Das Gesetz enthält auch Bestimmungen für Selbstständigerwerbende ein (vgl. Ziff. 3.1).

Der Prozess, der in diese gesetzliche Regelung mündete, hatte bereits in den 1960erJahren begonnen. Anlässlich der am 1. Januar 1964 in Kraft getretenen 6. AHVRevision formulierte der Bundesrat zum ersten Mal das Dreisäulensystem, das die Risiken Alter, Invalidität und Tod versichern soll. Die Deckung dieser Risiken durch die 2. Säule sollte mit einer beruflichen Kollektivversicherung konkretisiert werden.12 Im Rahmen der ersten Debatte über die Einführung einer beruflichen Vorsorge kam eine 1968 eingesetzte Expertenkommission zum Schluss, dass die verfassungsrechtliche Grundlage für eine obligatorische Pensionsversicherung nicht ausreiche. Sie sprach sich für die Schaffung einer neuen Verfassungsgrundlage zur Verankerung des Dreisäulenprinzips aus. 1969 lancierte die Partei der Arbeit die Volksinitiative «für eine wirkliche Volkspension». Mit der Initiative sollte die 2. Säule (berufliche Vorsorge) in die 1. Säule (staatliche Versicherung) eingebaut werden. 1970 wurden zwei weitere Initiativen eingereicht, eine von der Sozialdemokratischen Partei und eine von einem überparteilichen Komitee. Die erste forderte die Einführung einer Volkspension (eine Art berufliche Vorsorge),
die zweite eine zeitgemässe Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenfürsorge. Die überparteiliche Initiative wollte das Dreisäulenprinzip in der Verfassung verankern. Die berufliche Vorsorge sollte für Arbeitnehmende obligatorisch werden. Entsprechende Massnahmen hätten auch zugunsten von Selbstständigerwerbenden eingeführt werden können.

Als Reaktion auf die Initiative der Partei der Arbeit und basierend auf den Grundsätzen der beiden anderen Initiativen verabschiedete die Bundesversammlung einen Gegenvorschlag 13, der auf dem Drei-Säulen-System beruht. Der Gegenvorschlag sah die

12 13

BBl 1970 II 560 BBl 1971 II 1597

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Schaffung einer freiwilligen Versicherung für Selbstständigerwerbende vor. Die Bestimmung sollte es dieser Personengruppe ermöglichen, sich zu gleichwertigen Bedingungen wie die Arbeitnehmenden versichern zu können. Ein allgemeines Obligatorium für Selbstständigerwerbende wurde aufgrund der «Mannigfaltigkeit der in Frage kommenden Berufe auch bei einer sehr elastischen Ausgestaltung» explizit ausgeschlossen. Die Probleme der Vorsorge stellten sich in der Landwirtschaft ganz anders als im Kleingewerbe oder bei den liberalen Berufen. Der Bund müsse jedoch auf Ersuchen der interessierten Berufsorganisationen die Möglichkeit haben, zugunsten der einen oder andern Kategorie von Selbstständigerwerbenden einzugreifen. Gestützt darauf könnte für Selbstständigerwerbende ein allgemeines Obligatorium ins Auge gefasst werden oder eines, das sich einzig auf die Risiken Tod und Invalidität erstrecken würde.14 Der Gegenentwurf erteilte dem Bund die erforderlichen verfassungsrechtlichen Kompetenzen, auf deren Basis es zum Beispiel möglich ist, einen selbstständigen Arbeitgeber bei derselben Vorsorgeeinrichtung wie sein Personal zu versichern.15 Im Zusammenhang mit der Einführung einer freiwilligen beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende stellte sich die Frage der Finanzierung ihrer einzuzahlenden Beiträge. Die Idee einer Finanzierung der fehlenden Arbeitgeberbeiträge durch den Bund wurde rasch mit der Begründung verworfen, dass die 2. Säule ohne Beitrag der öffentlichen Hand finanziert werden müsse.16 Der Gegenentwurf wollte zudem die Selbstvorsorge als 3. Säule der Alters-, Hinterlassen- und Invalidenvorsorge fördern. Es ging jedoch nicht darum, auf diese Weise ein Steuerprivileg für die grossen Einkommen zu schaffen, sondern den Selbstständigerwerbenden eine gleichwertige Versicherung zu bieten wie den Arbeitnehmenden, die dem Obligatorium unterstehen. Der Gesetzgeber anerkannte, dass die soziale Stellung vieler Selbstständigerwerbenden mit jener von Unselbstständigerwerbenden, die der Versicherungspflicht unterstehen, vergleichbar ist, dass es aber vielen Selbstständigerwerbenden auch freiwillig nicht möglich sei, sich bei einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge zu versichern, weil sie gezwungen seien, alle ihre Einnahmen in ihren Betrieb zu investieren. Wenn den Arbeitnehmenden Steuervergünstigungen
in Bezug auf die Beiträge an eine Einrichtung der beruflichen Vorsorge gewährt würden, so sei es nur gerecht, die Selbstständigerwerbenden steuerlich nicht weniger günstig zu behandeln.

Die Initiativen der Sozialdemokratischen Partei und des überparteilichen Komitees wurden angesichts des direkten Gegenentwurfs zurückgezogen. Im Dezember 1972 wurde die Initiative der Arbeiterpartei abgelehnt und der Gegenentwurf der Bundesversammlung in der Volksabstimmung angenommen. Dieser Wortlaut ist auch heute noch die verfassungsrechtliche Grundlage der beruflichen Vorsorge (namentlich Art. 111 und Art. 113 BV).

14 15 16

BBl 1971 II 1622 BBl 1971 II 1622 BBl 1971 II 1623

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2.3.2

Landwirtinnen und Landwirte

Die Landwirtschaft unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von anderen Berufsgruppen. Aus diesem Grund forderten die Berufsverbände der Landwirtschaft eine auf die besonderen Bedürfnisse dieser Berufsgruppe zugeschnittene landwirtschaftliche berufliche Vorsorge (Art. 83 E-BVG Berufliche Vorsorge in der Landwirtschaft).17 Dieses Anliegen kam bereits im Postulat Junod vom 26. Januar 1971 zum Ausdruck. Die bäuerlichen Kreise wollten deshalb eine eigene Vorsorgeeinrichtung schaffen. Nun verfügte aber die Landwirtschaft im Gegensatz zu den meisten anderen Berufsständen über keine eigene AHV-Ausgleichskasse, der die Verwaltung einer solchen Vorsorgeeinrichtung hätte übertragen werden können. Die Landwirte hatten deshalb mit Rücksicht auf die Besonderheiten der bäuerlichen Betriebe sowie auf ihre landesweite Streuung ein Interesse daran, in ihren kantonalen Ausgleichskassen zu verbleiben.

Diese verfügten über ein breites Netz örtlicher Zweigstellen und waren ausserdem bereits mit der Anwendung des Bundesgesetzes vertraut, das die Familienzulagen für landwirtschaftliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Kleinbäuerinnen und Kleinbauern regelt. Aus diesen Gründen erachteten die bäuerlichen Kreise die Mitarbeit der kantonalen AHV-Ausgleichskassen bei der Umsetzung der geplanten beruflichen Vorsorge für die Landwirtschaft als notwendig ­ insbesondere was die Erhebung der Beiträge anging. Mit Artikel 83 des Entwurfs sollte die geplante landwirtschaftliche berufliche Vorsorge auf gesamtschweizerischer Ebene zustande kommen.

Diese Bestimmung wurde schliesslich in Artikel 88 BVG eingeführt.

Artikel 88 ist nie angewendet worden und wurde im Zuge der formellen Bereinigung des Bundesrechts per 1. August 2008 aufgehoben.18 Diese Rechtsbereinigung bezweckte die Aufhebung von Erlassen der Bundesversammlung und die Streichung einzelner Bestimmungen, die obsolet geworden waren oder nicht mehr angewendet wurden ­ wie beispielsweise Artikel 88 BVG.

Landwirte können sich auch gegen die Risiken Alter, Tod und Invalidität freiwillig in der beruflichen Vorsorge versichern.

Wiederholt wurden parlamentarische Vorstösse eingereicht, mit denen eine Eidgenössische Pensionskasse für die Landwirtschaft gefordert wurde. Im Nationalrat reichte Josef Zisyadis zwei gleichlautende Motionen ein (00.3293 und 02.3501). Die Motionen
zielten auf die Schaffung einer obligatorischen eidgenössischen Pensionskasse für die Landwirtschaft, wobei die Beiträge zu gleichen Teilen von Bund und Landwirten finanziert werden sollten. Beide Motionen wurden ohne Folge abgeschrieben. Auch zwei Standesinitiativen verfolgten dasselbe Ziel, eine des Kantons Jura 2002 (02.304) und eine des Kantons Neuenburg 2003 (03.316). Ihnen wurde ebenfalls keine Folge gegeben.

17 18

BBl 1976 I 273­274 BBl 2007 6121

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2.3.3

1. Teilrevision der beruflichen Vorsorge

Mit der 1. BVG-Revision wurden in Artikel 4 BVG die Absätze 3 und 4 eingeführt.

Diese Bestimmungen waren ursprünglich in der Botschaft zur BVG-Revision vom 1. März 2000 nicht enthalten. Absatz 3 ist auf einen Antrag Engelberger zurückzuführen und sieht vor, dass Selbstständigerwerbende die Möglichkeit haben, sich ausschliesslich bei einer Vorsorgeeinrichtung im Bereich der weitergehenden Vorsorge, insbesondere auch bei einer Vorsorgeeinrichtung, die nicht im Register für die berufliche Vorsorge eingetragen ist, zu versichern. Diese Form der Versicherung muss sich selbstverständlich an die Grundsätze der beruflichen Vorsorge halten (vgl. Art. 1 Abs. 3 BVG). Absatz 4 wurde durch einen Antrag Bortoluzzi19 eingeführt und sieht vor, dass die von den Selbstständigerwerbenden geleisteten Beiträge in die Vorsorgeeinrichtung dauernd der beruflichen Vorsorge dienen müssen.

Mit der 1. BVG-Revision konnte ausserdem das Postulat Carobbio (91.3062) betreffend die berufliche Vorsorge für Selbstständigerwerbende abgeschrieben werden. Gemäss Botschaft wurde das Begehren nicht erfüllt. Das Postulat forderte den Bundesrat auf, einen Bericht vorzulegen zur Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden mit geringem Einkommen, namentlich Handwerkerinnen und Handwerker, Musikerinnen und Musiker, Malerinnen und Maler, Schauspielerinnen und Schauspieler, Tänzerinnen und Tänzer.

2.3.4

Kulturfördergesetz

Um die berufliche Vorsorge von Kulturschaffenden zu verbessern, wurde das Bundesgesetz vom 11. Dezember 200920 über die Kulturförderung (KFG) angepasst.

Gemäss Artikel 9 KFG müssen das Bundesamt für Kultur (BAK) und die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia einen prozentualen Anteil (12 %) der Finanzhilfen, die von ihnen vergeben werden, an die berufliche Vorsorge (Vorsorgeeinrichtung oder Säule 3a) der Kulturschaffenden entrichten. Die Beiträge werden zu gleichen Teilen von den Kulturschaffenden und vom BAK respektive von Pro Helvetia finanziert.

Konkret berechnet sich der Anteil von 12 Prozent wie folgt: Will beispielsweise Pro Helvetia im Bereich der Musik einen Werkbeitrag in der Höhe von 10 000 Franken vergeben, sieht sie in ihrem Budget für diese Massnahme 10 600 Franken vor. Die restlichen 6 Prozent der total 12 Prozent werden von der Finanzhilfe direkt in Abzug gebracht. Zusammengefasst erhält der Kulturschaffende 9400 Franken direkt ausbezahlt. 1200 Franken gehen an seine berufliche Vorsorge. Der Beitrag des BAK oder von Pro Helvetia an die Vorsorgeeinrichtung des Kulturschaffenden wird im Unterschied zu Artikel 6 der Verordnung vom 31. Oktober 194721 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) nicht als Lohn im Sinne der beruflichen Vorsorge qualifiziert, da BAK und Pro Helvetia gegenüber den Finanzhilfeempfängern keine Arbeitgeberstellung zukommt. Die Auszahlung der Förderbeiträge und Preise 19 20 21

Amtliches Bulletin: Nationalrat. Sondersession Mai 2003. Dritte Sitzung. 6. Mai 2003.

SR 442.1 SR 831.101

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an die Kulturschaffenden erfolgt erst, wenn dem BAK resp. Pro Helvetia die notwendigen Angaben zur Vorsorgeeinrichtung oder Säule 3a der Kulturschaffenden vorliegen. Der Bundesrat hat die Gesetzes- und die diesbezüglichen Ausführungsbestimmungen (Art. 2a der Verordnung vom 23. November 201122 über die Förderung der Kultur) per 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt.

Bei dieser einfachen Lösung ausserhalb des BVG kümmert man sich nicht um die Frage, ob die betroffenen Personen selbständig oder unselbständig sind, noch um die Eintrittsschwelle oder den Koordinationsabzug. Ist die Person keiner Vorsorgeeinrichtung angeschlossen, dann kann sie stattdessen ein 3a-Konto eröffnen und die Beiträge auf dieses Konto einzahlen lassen (Gelder der Säule 3a können später auch in eine Vorsorgeeinrichtung transferiert werden).

Es bestehen branchenspezifische Pensionskassen (Film / Musik / Literatur / visuelle Kunst / Theater / Tanz), welche die Durchführung dieser Regelung ermöglichen.

Branchenverbände führen entweder selbst eine Vorsorgeeinrichtung oder sie ermöglichen es ihren Mitgliedern, sich einer anderen solchen Einrichtung anzuschliessen. Zum Beispiel ermöglicht der Berufsverband visuelle Kunst (visarte) seinen Aktivmitgliedern, ihr Einkommen bei der Pensionskasse Musik und Bildung oder bei der Vorsorgeeinrichtung CAST zu versichern. Die PK Musik und Bildung kennt keine Eintrittsschwelle. Auch die Vorsorgeeinrichtung CAST ermöglicht es, kleinere Einkommen zu versichern.

2.3.5

Reform der Altersvorsorge 2020

Die Vorlage zur Reform der Altersvorsorge 2020 vom 19. November 2014 enthielt eine Änderung von Artikel 44 BVG, die Selbstständigerwerbenden in der 2. Säule eine neue Anschlussmöglichkeit geben sollte.23 Mit dieser Änderung hätten sich Selbstständigerwerbende bei Vorsorgeeinrichtungen und insbesondere bei Sammeleinrichtungen versichern können, sofern deren reglementarische Bestimmungen dies vorsehen. Diese Bestimmung hätte den Selbstständigerwerbenden mehr Möglichkeiten verliehen, denn in Ermangelung einer Verbandseinrichtung können sie sich nur bei der Stiftung Auffangeinrichtung BVG anschliessen.

Mit dieser neuen Möglichkeit sollte das Postulat «Zweite Säule für Selbstständigerwerbende ohne Angestellte» (12.3981), das der Nationalrat 2013 angenommen hatte, umgesetzt werden. Selbstverständlich hätten die Grundsätze der beruflichen Vorsorge einhalten müssen, namentlich den Grundsatz der Kollektivität. Für die einzelnen Selbstständigerwerbenden, die sich derselben Vorsorgeeinrichtung anschliessen, hätte folglich derselbe Vorsorgeplan gelten müssen. Eine «À-la-carte-Versicherung» wäre ausgeschlossen gewesen.

Die Reform wurde in der Volksabstimmung vom 24. September 2017 abgelehnt.

22 23

SR 442.11 BBl 2015 182

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2.3.6

Reform der Ergänzungsleistungen

Die Vorlage vom 16. September 2016 zur Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen (ELG) sah vor, dass eine Barauszahlung des obligatorischen Teils des Vorsorgeguthabens für die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit ausgeschlossen sein sollte.24 Der Ausschluss des Kapitalvorbezugs für die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit wurde damit begründet, dass im Falle eines Konkurses des neu gegründeten Unternehmens die Vorsorgegelder teilweise oder vollständig verloren sein könnten. Die statistische Wahrscheinlichkeit eines solchen Verlustes ist hoch, denn schätzungsweise ein Drittel der neu gegründeten Firmen ist nach drei Jahren nicht mehr aktiv, nach fünf Jahren sogar die Hälfte. Dazu kommt, dass das Armutsrisiko bei Selbstständigerwerbenden höher ist als bei Arbeitnehmenden. Haben sie keine Altersvorsorge mehr, ist dieses Risiko nach der Pensionierung noch höher.

Der Ständerat schlug vor, die Barauszahlung des BVG-Obligatoriums für die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nicht gänzlich zu verbieten, sondern die Kapitalbezugsmöglichkeiten ab dem 50. Altersjahr einzuschränken (ältere Versicherte sollten nur das Altersguthaben bar beziehen können, auf das sie im 50. Altersjahr Anspruch gehabt hätten).

Der Nationalrat stützte aber weder den Entwurf des Bundesrates noch die Version des Ständerates und beschloss die Beibehaltung des geltenden Rechts ohne Einschränkung oder Verbot des Kapitalbezugs aus der 2. Säule für die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit. Der Ständerat folgte der Position des Nationalrates und stimmte für den Erhalt des Status quo. Die geltenden Bestimmungen wurden somit beibehalten.

2.3.7

Reform BVG 21

Die Reform BVG 21 läuft derzeit. Die Vorlage des Bundesrates sah keine Änderung für Selbstständigerwerbende vor. Die SGK-N hat vorgeschlagen, Selbstständigerwerbenden die Möglichkeit zu bieten, sich jeder Vorsorgeeinrichtung anzuschliessen, sofern deren Reglement dies erlaubt. Der Nationalrat hat den Vorschlag der SGK-N ohne Abstimmung angenommen. Diese Ausweitung greift auf, was im Rahmen der Altersvorsorge 2020 vorgesehen war. Die SGK-S hat die Beratungen der Reform Anfang 2022 aufgenommen.

2.4

Parlamentarische Vorstösse für den Ausbau der 3. Säule

Die Motion Hess (18.3836) vom 25. September 2018 verlangt eine Anhebung des Maximalbetrags für Einzahlungen in die Säule 3a sowohl für Arbeitnehmende als auch für Selbstständigerwerbende ohne berufliche Vorsorge. Für letztere solle der 24

BBl 2016 7490

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Höchstbetrag auf 45 000 Franken angehoben werden. Diese Motion wurde folgenlos abgeschrieben. Nationalrat Hess hat nun eine parlamentarische Initiative (20.494) eingereicht, die fordert, den steuerlichen Maximalbetrag für die Einzahlungen in die 3. Säule anzuheben. Die SGK-N hat diese Initiative Anfang 2022 behandelt und beantragt, dieser keine Folge zu geben. Der Nationalrat wird sie in einer der kommenden Sessionen behandeln. Zudem fordert die am 19. Juni 2019 eingereichte Motion Ettlin (19.3702), dass Personen mit einem AHV-Einkommen, die in früheren Jahren keine oder nur Teilbeiträge in die Säule 3a einzahlen konnten, die Möglichkeit erhalten, dies nachzuholen und die Beträge vollumfänglich vom steuerbaren Einkommen im Einkaufsjahr abziehen zu können (3a-Einkauf). Sowohl der Ständerat als auch der Nationalrat haben diese Motion am 2. Juni 2020 angenommen und die Umsetzung wird derzeit vorbereitet.

Das gleiche Thema war bereits Gegenstand früherer Motionen, beispielsweise im Jahr 2012 der Motion Pezzatti (12.3519), die für Beitragszahlende ohne 2. Säule eine Anhebung auf 40 000 Franken vorsah. Die Motion präzisierte die im Jahre 2009 durch die FDP-Liberale Fraktion eingereichte Motion (09.3082) mit demselben Ziel: Stärkung der Selbstverantwortung in der Altersvorsorge. Beide Motionen wurden vom Nationalrat angenommen, vom Ständerat jedoch abgelehnt. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass nur wenige Steuerpflichtige von der Anhebung der Steuerfreibeträge profitiert hätten, weil nur sie finanziell in der Lage wären, sich ein volles Ansparen zu leisten. Für Personen, die effektiv eine Stärkung ihrer Altersvorsorge benötigen, hätte die Massnahme wenig bewirkt.

3

Wirksame Vorsorgedeckung von Selbstständigerwerbenden und Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen

Es gibt keine Statistik, die spezifisch die berufliche Vorsorge beziehungsweise die Altersvorsorge von Selbstständigerwerbenden oder Personen erfasst, die sowohl einer unselbstständigen als auch einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen. Informationen zur Altersvorsorge und zum Einkommensniveau dieser beiden Personengruppen finden sich ansatzweise in der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE), den Verwaltungsregistern wie dem Betriebs- und Unternehmensregister (BUR) oder den individuellen AHV-Konten (IK AHV). Anhand dieser Quellen lassen sich die Fragen des Kommissionspostulats jedoch nicht beantworten.

Deshalb wurden zwei Forschungsprojekte in Auftrag gegeben. Das erste Projekt wurde vom Büro für Arbeit und Sozialpolitische Studien BASS AG (BASS) durchgeführt und basiert auf einer repräsentativen schriftlichen Erhebung bei aktuell und ehemals selbstständig oder teilselbstständig Erwerbstätigen zwischen 55 und 77 Jahren. Die Fragestellungen der Umfrage betrafen verschiedene Themen wie die Höhe der Leistungen der drei Säulen beim Übertritt in den Ruhestand, den Vorbezug der Vorsorgeguthaben, Vermögensniveau und -einkommen, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach der Pensionierung und die Einschätzung der finanziellen Situation im Ruhestand. Das Projekt analysierte auch den Bezug von Ergänzungsleistungen 20 / 46

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(EL) durch Personen bis 75 Jahren. Dazu wurde das Register der individuellen Konten (IK) beigezogen, dessen Angaben die Analyse ergänzen. Das zweite Forschungsprojekt wurde von der Berner Fachhochschule (BFH) durchgeführt. Dabei ging es um eine Untersuchung der Einkommens- und Vermögenssituation aller Personen im Alter von 69 bzw. 70 Jahren, die 2012 im Kanton Bern steuerpflichtig waren, aufgeschlüsselt nach ihrem früheren Erwerbsstatus (selbstständig, unselbstständig, teilselbstständig).

3.1

Gesamteinkommen der Selbstständigen und der Teilselbstständigen im Zeitpunkt der Pensionierung im Vergleich zu den über 64- bzw. 65-jährigen Unselbstständigen

Ohne Berücksichtigung eines allfälligen Vermögensverzehrs liegt das durchschnittliche Gesamteinkommen ohne Ergänzungsleistungen (EL) und/oder Sozialhilfe der früher Selbstständigerwerbenden im Alter von 69 beziehungsweise 70 Jahren im Kanton Bern mit 53 963 Franken25 leicht über dem Einkommen der früher Unselbstständigen (Fr. 51 654.­), aber unter jenem der Teilselbstständigen26 (Fr. 56 512.­). Die BASSUmfrage gelangt zu vergleichbaren Beträgen: Das mittlere Gesamteinkommen der früheren Selbstständigen (Männer) liegt im Rentenalter inklusive EL, Sozialhilfe und Vermögensverzehr bei 54 000 Franken.27 Weitere Erkenntnisse aus den Steuerdaten liefern ein nuancierteres Bild des Einkommensniveaus früherer Selbstständigerwerbender: Der Medianwert des jährlichen Gesamteinkommens der Selbstständigerwerbenden (Fr. 33 602.­) liegt klar unter dem Median der Angestellten (Fr. 42 278.­), während das Medianeinkommen der Teilselbstständigen (Fr. 37 535.­) zwischen jenem der beiden anderen Erwerbsarten liegt.

Das bedeutet, dass die finanzielle Situation nach Erreichen des Rentenalters in der Gruppe mit hohen Einkommen bei den Selbstständigen besser ist als bei den Angestellten, während sie in der Gruppe mit tieferen Einkommen schlechter ist. Die tiefsten Einkommensgruppen der ehemals Selbstständigerwerbenden sind deutlich schlechter gestellt: Während das durchschnittliche jährliche Gesamteinkommen bei 40 Prozent der Unselbstständigen mit den tiefsten Einkommen maximal 29 707 Franken beträgt, liegt das Gesamteinkommen bei 40 Prozent der ehemals Selbstständigerwerbenden der tiefsten Einkommensgruppe unter 25 472 Franken.28 Die BASS-Studie liefert erste Erklärungsansätze für diesen Umstand, indem sie die Verteilung des früheren Erwerbseinkommens der Selbstständigerwerbenden mit jener 25

26 27 28

Die hier genannten Zahlen betreffen das Jahr 2012 und stammen aus Fluder, R. / Oesch, T. (2018): Vorsorgesituation der Selbständigerwerbenden. Vertiefte Untersuchung anhand der Steuerdaten des Kantons Bern 2002 bis 2012. Beiträge zur Sozialen Sicherheit 10/20.

Bern. Tab. 7, S. 14. Einzelheiten zum Gesamteinkommen nach Erwerbsart finden sich in Tabelle 23, S. 48.

Ebd. Personen mit einem Anteil des Einkommens aus einer selbstständigen Erwerbstätigkeit von 20 bis 80 %.

Guggisberg, J. u. a. (2018): Analyse der Vorsorgesituation von Selbständigerwerbenden.

Beiträge zur Sozialen Sicherheit 9/20. Bern. S. 59 ff.

Fluder u. a.. Abb. 4 S. 21.

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der Unselbstständigen und jener der Landwirtinnen und Landwirte vergleicht. Grundsätzlich geht aus den Zahlen hervor, dass die meisten Selbstständigerwerbenden im Durchschnitt tiefere Einkommen als die Unselbstständigen aufweisen, wobei die Polarisierung am unteren und oberen Ende der Skala, das heisst in der tiefsten und in der höchsten Einkommensgruppe, besonders ausgeprägt ist (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1 Häufigkeit des durchschnittlichen Erwerbseinkommens nach Erwerbsbiografie der AHV-Rentner29

N Selbstständigerwerbende (Zielgruppe 1 und 2): 14 353 in Landwirtschaft, 42 083 ohne Landwirtschaft.

N Arbeitnehmer: 260 107.

Bemerkung: Gesamtes Erwerbseinkommen zwischen 45 und 63/64 dividiert durch die Anzahl Jahre (19 resp. 20).

Quelle: Registerdaten ZAS (2016). Berechnungen BASS.

Die bei den Selbstständigerwerbenden ausgeprägtere Einkommenspolarisierung widerspiegelt sich natürlich auch in der Situation nach dem Eintritt in den Ruhestand und hat unterschiedliche Gründe: Erstens ist die Gruppe der Selbstständigen sehr heterogen. Ihr gehören Selbstständigerwerbende und Teilselbstständige aus Branchen wie Medizin, Gewerbe, Landwirtschaft oder digitale Wirtschaft an. Zweitens erzielen Selbstständigerwerbende im Verlauf ihres Erwerbslebens insgesamt deutlich tiefere Einkommen als Unselbstständige, was bei den Selbstständigerwerbenden in der Landwirtschaft besonders eklatant ist (vgl. Abb. 1). Und drittens wirkt sich die Erwerbsbiografie der Selbstständigerwerbenden natürlich auch auf die Einkommenssituation nach dem Altersrücktritt aus: Personen die sich relativ spät selbstständig machen, zum Beispiel zwischen 46 und 57 Jahren, erzielen im Durchschnitt klar tiefere Einkommen als Unselbstständige derselben Altersgruppe oder als Personen, die bereits vor dem 29

Guggisberg, J. u. a.: Abb. 15 S. 27. Die Verteilung der Einkommen der Frauen sowie die Verteilung der Einkommen von Frauen und Männern zusammen wurde auch erhoben, ist aber in der Studie nicht dargelegt. Einerseits verläuft die Kurve bei den Frauen flacher und andererseits führt die Rollenaufteilung bezüglich Erwerbsarbeit bei Verheirateten öfter zu Karriereunterbüchen bei den Frauen. Die Kombination dieser beiden Faktoren macht es schwieriger, die Ergebnisse zu interpretieren.

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46. Altersjahr selbstständig waren. Im Übrigen erzielen selbstständig erwerbstätige Frauen ein deutlich tieferes Einkommen als Männer mit derselben Erwerbsart.

3.2

Einkommensanteile ehemals Selbstständigerwerbender aus AHV-Rente, 2. und 3. Säule nach Altersrücktritt

Bei der AHV-Rente bestehen kaum Unterscheide zwischen ehemals Selbstständigerwerbenden und Arbeitnehmenden: Die durchschnittliche Rente pro Monat liegt zwischen 1821 Franken (Selbstständigerwerbende) und 1860 Franken (Arbeitnehmende).30 Grundsätzlich beziehen ehemals Selbstständigerwerbende nach der Pensionierung deutlich seltener Leistungen aus der 2. und der 3. Säule als ehemals Unselbstständige.

Statistiken des Bundesamtes für Statistik (BFS)31 bestätigen diesbezüglich die Ergebnisse der BASS-Untersuchung. Während drei Viertel der ehemals Angestellten im Rentenalter auf Leistungen der 2. Säule oder der Säule 3a zurückgreifen können, kann nur rund die Hälfte der ehemals Selbstständigerwerbenden Leistungen aus mindestens einer der beiden institutionellen Säulen beziehen. Die Unterschiede kommen vor allem durch eine geringere Versicherung in der beruflichen Vorsorge während des Erwerbslebens zustande. Das heisst, ehemals Selbstständigerwerbende sind viel häufiger auf Einkommen aus anderen Quellen wie der freien Vorsorge, Vermögenseinkommen oder Vermögensverzehr angewiesen, um ihr AHV-Einkommen zu ergänzen.

Bei der 2. und der 3. Säule gibt es auch deutliche Unterschiede innerhalb der Gruppe der ehemals Selbstständigerwerbenden selbst: Personen, die sich zwischen 47 und 57 Jahren selbstständig gemacht haben, haben öfter keinen Zugang zu Leistungen aus der beruflichen Vorsorge oder der Säule 3a als Personen, die bereits vor dem 47. beziehungsweise nach dem 57. Lebensjahr selbstständig wurden. Ausserdem können ehemals Selbstständigerwerbende mit einem Tertiärabschluss eher auf Leistungen aus der 2. und 3. Säule zählen als Personen mit einem Abschluss auf der Sekundarstufe I oder II. Das zeigt, dass sich die Erwerbsbiografie direkt auf den Zugang zu Leistungen der 2. Säule auswirkt. Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner ohne berufliche Vorsorge und ohne Säule 3a ist in der Westschweiz höher als in der Deutschschweiz.

Dass weniger Selbstständigerwerbende bei der Pensionierung Leistungen aus der 2. Säule beziehen, hat auch damit zu tun, dass fast ein Viertel der ehemals Selbstständigerwerbenden einen Kapitalvorbezug getätigt hat, sei es zur Finanzierung der selbstständigen Erwerbstätigkeit, oder sei es zum Erwerb von Wohneigentum. Bei den Männern, insbesondere bei denjenigen, die erst relativ spät und
nur kurzzeitig selbstständig erwerbstätig waren, ist der Anteil der Kapitalvorbezüge fast durchgängig höher. Vorbezüge aus der Säule 3a hingegen sind wenig zu beobachten; ihr Anteil bei den Selbstständigerwerbenden liegt bei rund 9 Prozent.

30 31

Ebd. Tabelle 4 S. 37.

BFS (2015): Neurentenstatistik.

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3.3

Vermögen und Erwerb als Ersatz für die 2. oder 3. Säule für ehemals Selbstständigerwerbende im Rentenalter?

Vermögenseinkommen und/oder Vermögensverzehr tragen erheblich zum Gesamteinkommen der ehemals Selbstständigerwerbenden im AHV-Alter bei. Gemäss der Studie verfügen rund 41 Prozent der Befragten über ein Vermögenseinkommen. Ausserdem gaben 30 Prozent der Befragten einen Vermögensverzehr an32.

Insgesamt beträgt das mittlere Einkommen aus dem Vermögen rund 25 000 Franken pro Jahr (Median)33. Vermögensverzehr ist am häufigsten bei Personen festzustellen, die Leistungen aus der 2. Säule oder der Säule 3a bezogen haben. Der mittlere Vermögensverzehr beträgt 15 000 Franken pro Jahr, im Durchschnitt werden damit 27 Prozent ans Gesamteinkommen beigesteuert. Personen aus bestimmten Branchen wie beispielsweise der Medizin, dem Gesundheitswesen, dem Bankenwesen und den Beratungsdienstleistungen greifen im Rentenalter häufiger auf den Verzehr von Vermögen zurück als andere Gruppen ehemals Selbstständigerwerbender. Personen, die sich während der letzten zehn Jahre vor der Pensionierung in den oberen Einkommensklassen befanden (Median Fr. 64 000.­), verzehren wesentlich häufiger Vermögen als Personen aus den unteren Einkommensklassen (Median Fr. 37 000.­).

Ein weiterer bedeutender Einkommensbestandteil bei den ehemals Selbstständigerwerbenden im Rentenalter ist das Erwerbseinkommen. Ein Drittel der befragten AHV-Rentnerinnen und -Rentner zwischen 64/65 und 77 Jahren gab an, weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachzugehen34. Die jüngeren Rentnerinnen und Rentner bis maximal 70 Jahre sind mit 44 Prozent deutlich häufiger noch erwerbstätig als die älteren (26 %). Das mittlere Jahreseinkommen (Median) aus der Erwerbstätigkeit beträgt über alle erwerbstätigen Rentnerinnen und Rentner hinweg 25 000 Franken. Die Erwerbseinkommen der Frauen (Median Fr. 18 000.­) sind deutlich tiefer als diejenigen der Männer (Median Fr. 30 000.­). Der Bildungsstand ist entscheidend für die Höhe des erzielten Erwerbseinkommens im AHV-Rentenalter, wobei Personen mit einem Tertiärabschluss im Alter über 64/65 Jahren die höchsten Erwerbseinkommen erzielen. Ehemals Selbstständige, die über das AHV-Rentenalter hinaus noch erwerbstätig sind, weisen im Vergleich zu den nicht mehr Erwerbstätigen deutlich höhere Gesamteinkommen auf.

3.4

Selbstständige Erwerbstätigkeit und Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV

Die Studie untersuchte allfällige Auswirkungen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit auf den Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV. In diesem Zusammenhang 32

33 34

Guggisberg, J. u. a.: S. 67 ff. Gemäss Fluder, R. / Oesch, T. (Tabelle 6, S. 14) verfügt ein deutlich höherer Anteil der ehemals Selbstständigerwerbenden über ein Vermögenseinkommen (87,9 %). Der Anteil bei den ehemals Unselbstständigen ist vergleichbar hoch (86,2 %).

Ebd. S. 68 ff.

Ebd. S. 64­66.

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steht die Hauptfragestellung im Vordergrund, ob und in wieweit ehemals Selbstständigerwerbende im Vergleich zu Personen, die nie selbstständig erwerbstätig waren, ein erhöhtes Risiko aufweisen, im Alter auf EL zur AHV angewiesen zu sein.

Von den insgesamt 794 000 AHV-Rentnerinnen und -Rentnern bis und mit 75 Jahren (ältere Personen wurden in dieser Studie nicht berücksichtigt) bezogen im Jahr 2016 insgesamt 7,8 Prozent EL (vgl. Abb. 2)35. Bei ehemals Selbstständigerwerbenden im AHV-Rentenalter bis 75 Jahre lag die EL-Bezugsquote mit 10,1 Prozent deutlich über dem Durchschnitt. Vergleicht man den Anteil der Selbstständigerwerbenden mit den ehemals Angestellten (ohne Nichterwerbspersonen), ist die Differenz noch grösser.

Die Wahrscheinlichkeit, im Alter auf EL angewiesen zu sein, hängt in der Grundpopulation sowohl bei den ehemals Selbstständigerwerbenden als auch bei den ehemals Angestellten stark mit dem im Verlauf des gesamten Erwerbslebens erzielten Erwerbseinkommen zusammen. Weil Selbstständigerwerbende im Vergleich zu ehemaligen Angestellten im Mittel ein tieferes Einkommen erzielen, liegt es auf der Hand, dass sie ein höheres EL-Risiko aufweisen. Auch andere Faktoren, wie zum Beispiel die berufliche Laufbahn, insbesondere zu Beginn der selbstständigen Erwerbstätigkeit, haben einen erheblichen Einfluss auf das Risiko, im AHV-Rentenalter auf EL angewiesen zu sein. Personen, die sich zwischen 51 und 57 Jahren selbstständig machten, beziehen signifikant öfter EL als Personen mit vergleichbaren Eigenschaften, aber einer anderen Erwerbsbiografie36. Diese Gruppe umfasst überdurchschnittlich viele Personen, die «eher unfreiwillig» den Schritt in die selbstständige Erwerbstätigkeit gemacht haben und häufiger arbeitslos waren.

Studien zeigen, dass Gründungen aus der Not in der Schweiz im internationalen Vergleich äusserst tief sind37. Dieses Ergebnis dürfte massgeblich auf die hohe Erwerbsbeteiligung, die vergleichsweise tiefe Arbeitslosigkeit und die guten Verdienstmöglichkeiten in den meisten Berufsgruppen zurückzuführen sein. Die höchste Gründungsneigung lässt sich in der Schweiz bei der Personengruppe mit hohen Opportunitätskosten, d.h. hohem Einkommen, finden.

Selbstständigerwerbende, die in Branchen mit niedrigen Einkommen wie Körperpflege, Gastgewerbe, Reinigung oder Handel tätig waren, sind besonders gefährdet, auf EL angewiesen zu sein.

35 36

37

Ebd. S. 77 ff. Aus finanziellen und praktischen Gründen sind standardisierte, repräsentative Befragungen nicht auf Personen über 75 Jahren ausgerichtet.

Die Studie von BASS zeigt insbesondere, dass Personen, die sich zwischen 51 und 57 Jahren selbstständig gemacht haben und nur kurze Zeit ­ weniger als 5 Jahre ­ selbstständigerwerbend waren, eine deutlich erhöhte EL-Bezugsquote aufweisen.

Vgl. Bundesrat (2017): Rasch wachsende Jungunternehmen in der Schweiz. Bericht in Erfüllung des Postulates 13.4237 Derder vom 12. Dezember 2013.

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Abbildung 2 Bezug von Ergänzungsleistungen im Jahr 2016 der Altersrentner/innen nach Erwerbsbiografie

N=794 263 AHV-Rentner/innen zwischen ordentlichem Rentenalter bis und mit 75 Jahren per 2016.

Quelle: Registerdaten ZAS (2016). Berechnungen BASS.

Unter den ehemals Selbstständigerwerbenden, die EL beziehen, ist ausserdem der Anteil der Personen, die einen Kapitalvorbezug aus der beruflichen Vorsorge getätigt haben, höher. Wenn Selbstständigerwerbende Kapital aus der 2. Säule beziehen, verdoppelt sich bei ansonsten gleichen Bedingungen das Risiko eines späteren ELBezugs. Als häufigster Grund für den Vorbezug und die Verwendung des Guthabens der beruflichen Vorsorge nennen ehemals Selbstständigerwerbende die Finanzierung der selbstständigen Erwerbstätigkeit. Offensichtlich können die Lücken, die durch einen Kapitalvorbezug in der Altersvorsorge entstehen, bis zum Eintritt ins AHVRentenalter nicht mehr geschlossen werden. Anhand der Ergebnisse der Studie kann nicht gesagt werden, wie sich die Erwerbsintegration und die Erwerbseinkommen ohne Beginn einer selbstständigen Erwerbstätigkeit entwickelt hätten. Es sind allerdings Hinweise vorhanden, dass zumindest ein Teil derjenigen Personen, die sich zwischen 46 und 57 Jahren selbstständig gemacht haben, im Arbeitsmarkt mit Schwierigkeiten als Angestellte konfrontiert waren (z. B. Phasen der Arbeitslosigkeit und Aneinanderreihung befristeter Arbeitsverhältnisse). Solche diskontinuierlichen Erwerbsbiografien wirken sich besonders stark auf die Altersvorsorge aus, namentlich in der 2. und der 3. Säule.

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3.5

Wie Selbstständigerwerbende ihre Altersvorsorge einschätzen

Laut BASS-Studie schätzt rund ein Drittel der ehemals Selbstständigerwerbenden zwischen 64/65 und 75 Jahren ihre finanzielle Absicherung für den Ruhestand als eher ungenügend ein, wobei der Anteil bei den Frauen mit 39 Prozent höher ist als bei den Männern (30 %). Die Daten zeigen, dass ­ unabhängig vom Geschlecht ­ erstens geschiedene Personen ihre finanzielle Absicherung deutlich häufiger als ungenügend einschätzen als verheiratete oder ledige Personen. Zweitens hat der Bildungsstand einen Einfluss darauf, wie die finanzielle Situation nach der Pensionierung eingeschätzt wird. Drittens können Unterschiede zwischen den einzelnen Branchen beobachtet werden: Personen, die in den Bereichen Körperpflege, Gastgewerbe, Reinigung oder Handel sowie Kunst oder Sozialwesen selbstständig erwerbstätig waren, stufen ihre finanzielle Situation im Ruhestand als ungenügend ein. Die Landwirtinnen und Landwirte sind trotz des tiefen Einkommensniveaus während ihres Erwerbslebens und im Rentenalter weniger häufig unzufrieden mit ihrer Situation. Personen, die sich zwischen 46 und 57 Jahren selbstständig gemacht haben, schätzen ihre finanzielle Absicherung im Vergleich zu Personen, die früher oder erst ab 58 Jahren selbstständig wurden, als schlechter ein.

Die ungenügende finanzielle Absicherung für den Ruhestand wird am häufigsten (56 %) mit fehlenden finanziellen Mitteln während der selbstständigen Erwerbstätigkeit begründet. Als weiterer Grund wird der tiefe Wert der Firma zum Zeitpunkt der Übergabe oder des Verkaufs genannt (25 % der Männer), weil sich das eigene Unternehmen nicht wie erwartet entwickelt habe oder weil der Verkaufspreis unter den Vorstellungen lag. Als dritten Grund gaben die Selbstständigerwerbenden an, sich während der Erwerbstätigkeit zu wenig mit der Altersvorsorge beschäftigt zu haben.

Auch der Vorbezug von Vorsorgeguthaben aus der beruflichen Vorsorge oder der dritten Säule wird als Grund für die ungenügende finanzielle Absicherung im Ruhestand genannt.

61 Prozent der Befragten stimmen der Aussage eher zu, dass es bessere Möglichkeiten für Selbstständigerwerbende brauche, um sich in der 2. Säule zu versichern. Dass ein Obligatorium für Selbstständigerwerbende zum Abschluss einer 2. Säule generell sinnvoll wäre, findet jedoch nur rund die Hälfte aller Befragten. 58 Prozent der Befragten erachten einen Anschluss an die 2. Säule zwar als wünschenswert, zurzeit aber als zu teuer.

4

Ansätze zur Verbesserung der beruflichen Vorsorge von Selbstständigerwerbenden und von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen

Wie im Postulat verlangt, wurden Massnahmen zur Verbesserung der beruflichen Vorsorge von Selbstständigerwerbenden und von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, analysiert.

Im Folgenden werden verschiedene denkbare Optionen dargelegt. Die Auswirkungen 27 / 46

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der einzelnen Optionen auf die Zielgruppen mittels Anpassung der entsprechenden gesetzlichen Grundlagen sowie die möglichen Folgen für das EL-System wurden theoretisch untersucht.

4.1

Bessere Information der Selbstständigerwerbenden über die Möglichkeiten der Versicherung in der beruflichen Vorsorge

Die AHV-Ausgleichskassen könnten in Zusammenarbeit mit dem BSV und den Berufsverbänden vermehrt und systematisch Anstrengungen unternehmen, um Informationskanäle und Inhalte anzubieten, die auf Selbstständigerwerbende ausgerichtet sind und sie für die Möglichkeiten der Versicherung in der beruflichen Vorsorge sensibilisieren.

Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass sich Selbstständigerwerbende weiterhin freiwillig der beruflichen Vorsorge anschliessen oder eine Vorsorgeform der 3. Säule wählen können. Ausserdem könnten Personen, die von einer unselbstständigen zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit wechseln, weiterhin eine Barauszahlung der Austrittsleistung verlangen.

Eine bessere Information müsste sich konkret so auf die Zielgruppen auswirken, dass die Zahl der Selbstständigerwerbenden, die nur die AHV als Vorsorge haben, abnimmt und die Zahl der Selbstständigerwerbenden mit einer 3. Säule und/oder einer beruflichen Vorsorge gleichzeitig zunimmt, weil sie dank der Informationen auf die Risiken einer ungenügenden Altersvorsorge aufmerksam gemacht wurden. Die Information sollte nicht allein auf die Risiken einer ungenügenden Versicherung ausgerichtet sein. Vielmehr sollten Personen, die von einer unselbstständigen in eine selbstständige Tätigkeit wechseln, systematisch auf einen möglichen Verlust der ins eigene Unternehmen investierten Austrittsleistung hingewiesen werden.

4.2

Erhalt des Vorsorgeguthabens von Personen, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln, im System der 2. Säule

Versicherte können die Barauszahlung der Austrittsleistung verlangen, wenn sie eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen und der obligatorischen beruflichen Vorsorge nicht mehr unterstellt sind.

Sie können die Austrittsleistung sodann in ihre selbstständige Erwerbstätigkeit investieren und ein Risikokapital bilden. Sollte das Unternehmen die erwartete Rendite nicht erreichen und Konkurs anmelden müssen, laufen die betroffenen Personen Gefahr, das gesamte Vorsorgekapital oder einen Teil davon zu verlieren, wenn es ihnen danach nicht gelingt, eine neue Vorsorge aufzubauen.

Personen, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln, könnten auf mehrere Arten im System der 2. Säule verbleiben. Mit den folgenden drei Varian-

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ten könnten Personen, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln, das Risiko eines Verlusts des ins Unternehmen investierten Vorsorgekapitals mehr oder weniger verringern und eine Form der beruflichen Vorsorge beibehalten.

Unter anderem würde dadurch die Zahl der Selbstständigerwerbenden, die nur die AHV als Vorsorge haben, erheblich zurückgehen, weil alle Personen, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln, davon betroffen wären. Auch die Zahl der EL- oder Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger könnte künftig gesenkt werden. Allerdings liessen sich mit diesen Massnahmen allein die Vorsorgeguthaben von Personen, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln, nicht erhöhen.

Die vorgestellten Varianten würden Anpassungen des geltenden Rechts erfordern. So müssten aufgrund der im Kapitel 4.2.3 vorgestellten Variante das BVG, das FZG sowie das Steuerrecht angepasst werden.

4.2.1

Erhalt der Austrittsleistung in der beruflichen Vorsorge

Diese Lösung würde hauptsächlich für Personen, die von einer unselbstständigen zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit wechseln, gelten, nicht aber für Personen, die schon immer selbstständig erwerbstätig waren, oder für Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, da sie keine Austrittsleistung für ihre selbstständige Erwerbstätigkeit beziehen können.

Eine Barauszahlung der Austrittsleistung wäre nicht mehr möglich. Das Vorsorgeguthaben der Personen dieser Zielgruppe würde bei der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit auf ein Freizügigkeitskonto oder eine Freizügigkeitspolice überwiesen. Das bedeutet, dass die berufliche Vorsorge dieser Personen bei der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit sozusagen eingefroren würde und zwar bis zum Zeitpunkt der Pensionierung oder bis zum Zeitpunkt, an dem die betreffende Person wieder einer Vorsorgeeinrichtung angeschlossen wird (z. B. beim Wechsel von der Selbstständigkeit in die Unselbstständigkeit). Es gilt zu beachten, dass die individuellen Guthaben der beruflichen Vorsorge bei einer Freizügigkeitsstiftung gemäss geltendem Recht nur als Kapital bezogen werden können. Diese Guthaben können erst in eine lebenslange Rente «umgewandelt» werden, nachdem sie aus dem System der beruflichen Vorsorge abgezogen wurden und die versicherte Person die fälligen Steuern entrichtet hat. Anschliessend kann sie bei einem privaten Versicherer eine Leibrentenversicherung abschliessen.

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4.2.2

Anwendung der Regeln für die Wohneigentumsförderung auf die Barauszahlung der Austrittsleistung für Selbstständigerwerbende

Bei dieser Massnahme für den Erhalt der Austrittsleistung im System der 2. Säule würde die Barauszahlung zu den gleichen Voraussetzungen erfolgen wie in der Verordnung vom 3. Oktober 199438 über die Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge (WEFV). Die Modalitäten für einen Vorbezug für den Erwerb von Wohneigentum sehen drei kumulierte Voraussetzungen vor: 1. Der Mindestbetrag für den Vorbezug beträgt 20 000 Franken; 2. Ein Vorbezug kann alle fünf Jahre geltend gemacht werden; 3. Für Personen, die das Alter 50 überschritten haben, ist der Betrag begrenzt. Bei dieser Lösung würde der Teil des nicht bezogenen Vorsorgekapitals in Form eines Freizügigkeitskontos oder einer Freizügigkeitspolice im System der beruflichen Vorsorge verbleiben.

Die Zielgruppe beschränkt sich hier auf Personen, die während mehrerer Jahre eine unselbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt haben und sich zu einem späteren Zeitpunkt ihres Berufslebens selbstständig machen. Diese Personen könnten bei der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nach dem Alter von 50 Jahren nicht mehr über ihr ganzes Vorsorgeguthaben verfügen. Wie bei der vorherigen Variante (Ziff. 4.2.1) würde der nicht bezogene Teil des Vorsorgeguthabens bei der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit auf ein Freizügigkeitskonto oder eine Freizügigkeitspolice überwiesen. Das bedeutet, dass ein Teil des Vorsorgeguthabens dieser Personen aus der Versicherung bei einer Vorsorgeeinrichtung mit der Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit sozusagen eingefroren würde und zwar bis zum Zeitpunkt der Pensionierung (Überweisung des Guthabens an eine Freizügigkeitsstiftung).

Es gilt zu beachten, dass die individuellen Guthaben der beruflichen Vorsorge bei einer Freizügigkeitsstiftung nach geltendem Recht nur als Kapital bezogen werden können. Diese Guthaben können erst in eine lebenslange Rente «umgewandelt» werden, nachdem sie aus dem System der beruflichen Vorsorge abgezogen wurden und die versicherte Person die fälligen Steuern entrichtet hat. Anschliessend kann sie bei einem privaten Versicherer eine Leibrentenversicherung abschliessen.

Im Rahmen der Reform der EL enthielt die Vorlage des Bundesrates einen leicht anderen Vorschlag, der eine Alternative zur Grundidee dieser Variante darstellte (Ausschluss des Kapitalbezugs für den
obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge beim Wechsel von einer unselbstständigen zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit). Die Alternative wurde nicht weiterverfolgt, weil sich die eidgenössischen Räte diesbezüglich nicht einig wurden39.

Diese Massnahme würde eine Anpassung von BVG und FZG erfordern.

38 39

SR 831.411 Vgl. Ziffer 2.3.6 Reform der Ergänzungsleistungen.

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4.2.3

Lockerung bei der Barauszahlung der Austrittsleistung für Selbstständigerwerbende

Gemäss geltendem Recht müssen Personen, die sich selbstständig machen und sich ihr Guthaben der 2. Säule auszahlen lassen, das gesamte Kapital beziehen oder auf maximal zwei Freizügigkeitskonten oder -policen einzahlen.

Eine Lockerung der Regeln für die Barauszahlung der Austrittsleistung für Personen, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln, würde bedeuten, dass das Vorsorgekapital bei der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nur teilweise ausbezahlt wird, wobei die Auszahlung erst erfolgt, sobald die AHVAusgleichskasse die Absicht zur Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit anerkennt. Bei dieser Variante würde der nicht benötigte Teil des Vorsorgeguthabens entweder in Form eines Freizügigkeitskontos im System der 2. Säule verbleiben, oder er könnte in einem zweiten Schritt bezogen werden, beispielsweise nach einer Frist von drei bis vier Jahren nach der ersten Auszahlung. Diese schrittweise Auszahlung käme nur bei Personen zur Anwendung, deren Vorsorgekapital einen bestimmten Grenzwert übersteigt, zum Beispiel 20 000 Franken, was dem Mindestbetrag für einen Vorbezug für Wohneigentumsförderung entspricht. Tiefere Beträge würden wie heute vollständig zum Zeitpunkt der Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit ausbezahlt.

Die Lockerung bei der Barauszahlung der Austrittsleistung für Selbstständigerwerbende ist auf dieselbe Zielgruppe ausgerichtet wie die beiden vorhergehenden Varianten: Personen, die zu Beginn ihrer Berufslaufbahn während mehrerer Jahre eine unselbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt haben und sich gegen Ende ihres Berufslebens selbstständig machen. Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, müssten wegen einer möglichen Missbrauchsgefahr davon ausgeschlossen werden (Beispiel: ein Arbeitgeber entlässt Angestellte, um sie anschliessend wieder Teilzeit anzustellen und sie parallel dazu als Selbstständige zu beschäftigen) sowie schwierige Umsetzbarkeit aufgrund der zahlreichen Erwerbsbiografien, die zu einer gleichzeitigen selbstständigen und unselbstständigen Erwerbstätigkeit führen können. Aus den Forschungsarbeiten geht ausserdem hervor, dass Personen, die sich zwischen 51 und 57 Jahren selbstständig machten und ihre Tätigkeit nach weniger als fünf Jahren wieder aufgaben,
ein höheres Risiko als die anderen Kategorien von Selbstständigerwerbenden aufweisen, über eine ungenügende Absicherung für den Ruhestand zu verfügen. Mit der Lockerung bei der Barauszahlung der Austrittsleistung würde die Verpflichtung entfallen, mehr Vorsorgekapital beziehen zu müssen, als für die Gründung des eigenen Unternehmens nötig ist, wodurch auch das Risiko abnimmt, bei einem Scheitern das gesamte Kapital zu verlieren.

Bei der Umsetzung dieser Variante stellen sich verschiedene Schwierigkeiten: Eine Teilauszahlung bedeutet eine Teilbesteuerung, weshalb der Steuersatz auf der Grundlage des gesamten vorhandenen Vorsorgekapitals und nicht gestützt auf die Teilauszahlung berechnet werden müsste. Beim Steuersatz könnten somit ähnliche steuerliche Regeln angewandt werden wie bei der Besteuerung des Vorbezugs für den Erwerb von Wohneigentum. Weitere Probleme würden entstehen, wenn eine Person mehr als ein Freizügigkeitskonto respektive mehr als eine Freizügigkeitspolice hat. Auch der 31 / 46

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Ausschluss von Personen, die gleichzeitig arbeitnehmend und selbstständigerwerbend sind, wäre kaum praktikabel, da sie in der Regel unterschiedlichen AHV-Ausgleichskassen angeschlossen sind und über diese Anschlüsse keine Übersicht in Echtzeit vorliegen kann.

Im Vergleich zur vorhergehenden Variante (Ziff. 4.2.2) würde die Lockerung bei der Barauszahlung der Austrittsleistung für Selbstständigerwerbende in geringerem Masse zum Erhalt der Vorsorgedeckung beitragen.

Diese Variante würde zur Anpassung des geltenden Rechts Änderungen im BVG, im FZG und im Steuerrecht bedingen.

4.3

Ausbau des Angebots der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende ohne Angestellte

Aktuell haben Selbstständigerwerbende ohne Mitarbeitende drei Möglichkeiten, in die 2. Säule einzuzahlen: 1. Selbstständigerwerbende können sich der Vorsorgeeinrichtung ihres Berufs- oder Branchenverbandes anschliessen. Allerdings haben viele dieser Organisationen keine Vorsorgeeinrichtung, und etliche Berufe verfügen über keinen Verband, der sie vertritt. 2. Selbstständigerwerbende können sich bei einem Privatversicherer oder einer Sammeleinrichtung versichern. 3. Selbstständigerwerbende können sich der Auffangeinrichtung anschliessen, einer Vorsorgeeinrichtung, die alle anschlusswilligen Personen versichert. In der jüngeren Vergangenheit entstanden mehrere innovative Formen der Zusammenarbeit zwischen der Stiftung Auffangeinrichtung BVG und Berufsverbänden (vgl. Ziff. 2.2.3). Diese Zusammenarbeit zeigt, dass flexible, auf die Bedürfnisse von Selbstständigerwerbenden zugeschnittene Lösungen möglich sind.

Ein Ausbau des Angebots der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende ohne Angestellte würde es dieser Personengruppe konkret ermöglichen, sich jeder Vorsorgeeinrichtung anzuschliessen, die dies gemäss ihrem Reglement zulässt. Das Parlament hatte diese Möglichkeit im Rahmen der Reform der Altersvorsorge 2020 gutgeheissen (Art. 44 Abs. 1 BVG der Reformvorlage). Eine neue Reform wird gegenwärtig diskutiert (BVG-Reform 21). Die Vorlage des Bundesrates sieht keine Anpassung der Regeln für Selbständigerwerbende vor. Aber die SGK-N schlug vor, dass Selbstständige sich jeder beliebigen Vorsorgeeinrichtung anschließen können, wenn die reglementarischen Bestimmungen der Einrichtung dies zulassen. Der Nationalrat nahm diesen Vorschlag ohne Abstimmung an. Es sei darauf hingewiesen, dass die derzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen Selbstständigen eine gewisse Flexibilität bieten, indem sie sich auch bei einer Vorsorgeeinrichtung versichern können, die nur im Bereich der weitergehenden Vorsorge tätig ist (Art. 4 Abs. 3 BVG). Solche Vorsorgepläne weisen eine größere Flexibilität auf als das Obligatorium der beruflichen Vorsorge.

Sollte das Angebot der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende ohne Angestellte ausgebaut werden, bestünde nach wie vor die freie Wahl der Vorsorgeeinrichtung ­ die geltenden Regeln würden somit nicht grundlegend geändert. Die Versicherung in der beruflichen Vorsorge wäre für Selbstständigerwerbende weiterhin

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freiwillig, und die Erweiterung des Angebots im Bereich der weitergehenden Vorsorge wäre Sache jeder Vorsorgeeinrichtung. Das grössere Angebot und die neuen Möglichkeiten würden die berufliche Vorsorge für einen Teil der Selbstständigerwerbenden attraktiver machen, wobei nicht gewährleistet ist, dass alle Vorsorgeeinrichtungen ein kommerzielles Interesse an einer Erweiterung ihres Vorsorgeangebots hätten. Um die Vorsorgeeinrichtungen für einen Ausbau ihres Vorsorgeangebots für Selbstständigerwerbende zu gewinnen, müsste mit ihnen über den jeweiligen Branchenverband und den Schweizerischen Pensionskassenverband ASIP das Gespräch gesucht werden.

Dieser Ansatz würde für alle Personen der Zielgruppe gelten, das heisst sowohl für jene, die schon immer selbstständig erwerbstätig waren, als auch für jene, die von der Unselbstständigkeit in die Selbstständigkeit wechseln. Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, könnten ebenfalls vom Ausbau profitieren, wobei bei ihnen die Auswirkung bescheidener wäre. Diese Personenkategorie ist für ihre unselbstständige Erwerbstätigkeit in der Regel bereits bei der Vorsorgeeinrichtung des Arbeitgebers versichert. Wenn das Reglement dieser Vorsorgeeinrichtung es zulässt, können Personen, die gleichzeitig selbstständig und unselbstständig erwerbstätig sind, sich für ihre selbstständige Erwerbstätigkeit ebenfalls dort versichern lassen. Schwierig vorauszusagen ist hingegen, wie sich ein Ausbau des Vorsorgeangebots auf die Situation der Selbstständigerwerbenden auswirken würde.

Bei dieser Variante wäre eine Änderung des BVG notwendig.

4.4

Bessere Versicherung in der Säule 3a für Teilselbstständige

Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, befinden sich aufgrund ihrer beruflichen Stellung unter Umständen in einer weniger vorteilhaften Situation, als wenn sie nur angestellt oder nur selbstständig wären (vgl. Ziff. 2.1).

Zur Erinnerung: Der steuerlich abzugsfähige Höchstbetrag für Personen, die einer Vorsorgeeinrichtung angeschlossen sind, ist beträchtlich tiefer als der Höchstbetrag für Selbstständigerwerbende, die keiner Vorsorgeeinrichtung angehören. Dieser beträgt 40 Prozent des oberen BVG-Grenzbetrags, (2022: Fr. 34 416.­). Wenn also eine Person einen Grossteil ihres Einkommens durch ihre selbstständige Erwerbstätigkeit erzielt und gleichzeitig in der beruflichen Vorsorge versichert ist, kann sie allfällige Einzahlungen in die Säule 3a, die über 6883 Franken liegen, nicht vom steuerbaren Einkommen abziehen.

Die Vorsorgesituation von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, könnte verbessert werden, wenn für sie bei der Säule 3a ein höherer steuerlich abzugsfähiger Maximalbetrag gelten würde als für Arbeitnehmende. Konkret dürfte die Summe der Beiträge an die berufliche Vorsorge und der steuerlich anrechenbaren Einzahlungen in die Säule 3a 40 Prozent des oberen Grenzbetrags gemäss Artikel 8 Absatz 1 BVG (2022: Fr. 34 416.­) nicht

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übersteigen. Dieser Ansatz bedeutet, dass für Teilselbstständige bei der Säule 3a analoge Regeln der steuerlichen Abzugsfähigkeit wie für Selbstständigerwerbende gelten würden. Im Unterschied zu den Selbstständigerwerbenden oder den Angestellten würden für den steuerlich abzugsfähigen Höchstbetrag für die Säule 3a bis zu 34 416 Franken betragen, wobei der genaue zulässige Betrag auf der Basis der im Verlauf des jeweiligen Jahres geleisteten Beiträge an die 2. Säule berechnet würde.

Um zu vermeiden, dass diese neue Möglichkeit zu einer Überversicherung führt, wären folgende Anpassungen erforderlich: Die auf dem jährlichen, mit der Steuererklärung einzureichenden Lohnausweis aufgeführten Beiträge an die 2. Säule könnten beispielsweise mit zwei multipliziert werden, um auch die Arbeitgeberbeiträge an die 2. Säule zu berücksichtigen. Eine andere Möglichkeit wäre die Plafonierung der Einzahlung in die Säule 3a, zum Beispiel auf das Doppelte des steuerlich abzugsfähigen Höchstbetrages für Angestellte (Fr. 6883.­ x 2 = Fr. 13 766.­).

Dieser Ansatz brächte eine neue Aufgabe für die Steuerbehörden mit sich. Sie müssten überprüfen, dass das Total der Beiträge an die berufliche Vorsorge, der Einkäufe in die 2. Säule und der steuerlich abzugsfähigen Einzahlungen in die Säule 3a den jährlichen Höchstbetrag für Selbstständigerwerbende, die keiner Vorsorgeeinrichtung angehören, nicht übersteigt.

Diese Variante würde zur Anpassung des geltenden Rechts Änderungen in der BVV 2, der BVV 3.

4.5

Selbstständigerwerbende: Versicherungspflicht in der beruflichen Vorsorge

Für Selbstständigerwerbende würde die berufliche Vorsorge obligatorisch, sobald das Erwerbseinkommen die BVG-Eintrittsschwelle übersteigt. Dieser Ansatz könnte mit folgenden Varianten umgesetzt werden.

4.5.1

Obligatorische berufliche Vorsorge für Selbstständigerwerbende

Mit dieser Massnahme würde die berufliche Vorsorge nicht nur für Arbeitnehmende, sondern auch für Selbstständigerwerbende obligatorisch. Sämtliche Personen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben oder aufnehmen wollen und deren Einkommen über der BVG-Eintrittsschwelle liegt (Fr. 21 510.­), müssten einer Vorsorgeeinrichtung beitreten und ihrer AHV-Ausgleichskasse eine entsprechende Bestätigung vorlegen.

Gemäss den heute geltenden Bestimmungen steht es den Vorsorgeeinrichtungen frei, ob sie Vorsorgepläne für Selbstständigerwerbende anbieten wollen oder nicht. Beim hier skizzierten Obligatorium für Selbstständigerwerbende würde sich daran nichts ändern, da ja auch in der heutigen beruflichen Vorsorge für Arbeitnehmende keine Aufnahmepflicht besteht ­ mit Ausnahme der Auffangeinrichtung ­ und keine klare objektive Zuordnung von Selbstständigerwerbenden zu bestimmten Vorsorgeeinrichtungen besteht, ausser bei Mitgliedern von Berufsverbänden. Ein Anschluss 34 / 46

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an die Auffangeinrichtung bliebe weiterhin für alle Formen der Selbstständigkeit möglich und wäre standardmässig für alle Personen vorgesehen, die ihrer AHVAusgleichskasse keine Bestätigung vorlegen, dass sie in einer Vorsorgeeinrichtung versichert sind. Gegebenenfalls müsste die Auffangeinrichtung von Amtes wegen alle Personen versichern, die per Entscheid der AHV-Ausgleichskasse noch keiner Einrichtung beigetreten wären.

Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, hätten zwei Möglichkeiten. Wer für die unselbstständige Erwerbstätigkeit bereits der Vorsorgeeinrichtung des Arbeitgebers angehört, könnte das Einkommen aus der selbstständigen Erwerbstätigkeit ebenfalls bei der Pensionskasse des Arbeitgebers versichern, sofern deren Reglement dies zulässt. Sollte das nicht möglich sein, bliebe der Anschluss an die Stiftung Auffangeinrichtung BVG oder an eine andere Vorsorgeeinrichtung möglich. Für Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, aber noch nicht in der beruflichen Vorsorge versichert sind, würden dieselben Regeln wie für Selbstständigerwerbende gelten, sobald das kumulierte Erwerbseinkommen die Eintrittsschwelle übersteigt.

Die Umsetzung dieses Ansatzes wäre mit grösseren Schwierigkeiten verbunden. Die AHV-Ausgleichskassen müssten für alle Selbstständigerwerbenden überprüfen, ob sie bei einer Vorsorgeeinrichtung versichert sind, und für all jene, die keinen Nachweis für die Versicherung bei einer Pensionskasse erbringen, systematisch einen Anschluss an die Auffangeinrichtung veranlassen. Dafür müssten sie das Einkommen der Selbstständigerwerbenden, die der obligatorischen beruflichen Vorsorge unterstellt sind, bestimmen. Die AHV-Einkommen von Selbstständigerwerbenden können von Jahr zu Jahr stark schwanken und zudem durch (je nach Situation individuelle) Abzüge stark beeinflusst werden. Die definitive AHV-Beitragsberechnung für die Selbstständigerwerbenden erfolgt nach steuerlicher Veranlagung, also erst lange nach dem jeweiligen Kalenderjahr. Solange den Ausgleichskassen keine definitive Steuerveranlagung vorliegt, erheben sie Akonto-Beiträge an die AHV/IV/EO und verlangen gegebenenfalls später Nachzahlungen. Für die Festlegung der Akonto-Beiträge sind sie auf die
Mitwirkung der Selbstständigerwerbenden angewiesen, da nur diese ihre aktuellen Einkommensverhältnisse kennen. Die Selbstständigerwerbenden müssen daher den Ausgleichskassen wesentliche Änderungen ihrer Einkommenseinkommen mitteilen, damit die Akonto-Beiträge möglichst nahe an der Realität festgelegt werden können. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Selbstständigerwerbende ihre Mitwirkungspflicht oft nicht wahrnehmen. Das hat zur Folge, dass es sehr lange dauert, bis das versicherte jährliche Einkommen definitiv bekannt ist. In der AHV/IV/EO hat dies in der Regel keine grossen Auswirkungen, solange kein Versicherungsfall eintritt, zudem ist der Beitragssatz immer der gleiche (ausser bei der sinkenden Beitragsskala).

Für eine obligatorische berufliche Vorsorge, bei der aufgrund des AHV-Einkommens unter Anwendung des Koordinationsabzuges festzulegen ist, ob überhaupt eine Versicherungspflicht besteht oder nicht, und welcher Anteil des Einkommens gegebenenfalls zu versichern und darauf Beiträge zu erheben sind, wären solche grossen Verspätungen aber sehr problematisch. Konkret könnte erst mit (meist) mehreren Jahren Verspätung entschieden werden, ob die jeweilige Person versichert werden muss und die Beiträge könnten daher oft erst mit Verspätung erhoben werden. Jedes einzelne Jahr müsste mindestens zweimal bearbeitet werden, mit Nachzahlungsforderungen 35 / 46

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und Rückzahlungen. Es ist mit erheblichen Beitragsverlusten zu rechnen. Die Vorsorgeeinrichtungen müssten Altersguthaben verzinsen, die ihnen nicht zur Verfügung stehen und die sie daher auch nicht anlegen könnten. Sie müssten mit mehreren Jahren Rückstand administrative Abläufe wie Ein- und Austritte abwickeln und wären mit Leistungsfällen konfrontiert (Vorsorgeteilungen infolge Scheidung, Auszahlungen für Wohneigentumsförderung, Einkäufe, Invaliden- und Hinterlassenenrenten), für welche die Beiträge noch nicht oder nur teilweise geleistet worden sind und bei denen unklar wäre, ob und für welche Jahre überhaupt eine Versicherungsunterstellung und eine Beitragspflicht bestehen. Sie würden infolgedessen auch ihre Leistungsverpflichtungen und Beitragsansprüche über Jahre hinaus gar nicht kennen und könnten daher auch nicht über allfällig nötige Anpassungen bei den Rückstellungen oder Wertschwankungsreserven oder Sanierungsmassnahmen entscheiden. Eine korrekte Tarifierung für die Leistungen bei Tod und Invalidität wäre ebenfalls kaum möglich. Eine allfällige Koordination bei Personen, die sowohl als Selbstständigerwerbende wie auch als Arbeitnehmende versicherungspflichtig wären, wäre unter diesen Umständen erst recht schwer durchführbar. All diese Umsetzungsschwierigkeiten würden sich nicht zuletzt auch in hohen Verwaltungskosten niederschlagen.

Es sind zwar Anpassungen denkbar, welche die Durchführung vereinfachen könnten, so zum Beispiel eine Versicherung ab dem ersten Franken Einkommen (also Wegfall des Koordinationsabzuges) und ein altersunabhängiger Altersgutschriftensatz. Solche Anpassungen würden die Durchführungsprobleme jedoch nur etwas reduzieren, aber nicht beseitigen. In jedem Fall wäre die Durchführung mit einem hohen Aufwand für die Ausgleichskassen und für die Vorsorgeeinrichtungen verbunden. Auf die spezifischen Bedürfnisse der Selbstständigerwerbenden kann in freiwilligen Vorsorgelösungen besser eingegangen werden als im Rahmen der obligatorischen Vorsorge nach BVG.

Dieser Ansatz würde die Vorsorgesituation der Selbstständigerwerbenden langfristig verbessern. Allerdings blieben gewisse Nachteile der selbstständigen Erwerbstätigkeit in Bezug auf die berufliche Vorsorge bestehen. Die Forschungsarbeiten haben ergeben, dass eine Mehrheit der Selbstständigerwerbenden einen Anschluss an
eine 2. Säule als zu teuer erachtet. Darüber hinaus müssen sie die hohen Verwaltungskosten für massgeschneiderte Versicherungsmodelle für solche per Definition relativ kleinen Versichertenkollektive alleine tragen. Angesichts des Wandels des heutigen institutionellen Umfelds (vgl. Ziff. 2.2) ist zudem nicht sicher, ob sich das Vorsorgeangebot angemessen auf die Bedürfnisse der Selbstständigerwerbenden ausrichten würde ­ eine Grundvoraussetzung der weitergehenden Vorsorge ist schliesslich die Vertragsfreiheit. Vertragsfreiheit bedeutet insbesondere, dass die Leistungserbringer im Versicherungsvertrag diverse Vorbehalte anbringen können.

Da heute keine Verfassungsgrundlage für eine generelle Versicherungspflicht für Selbstständigerwerbende in der beruflichen Vorsorge besteht, müsste Artikel 113 BV entsprechend geändert werden. Anschliessend müssten die notwendigen Änderungen im BVG und auf Verordnungsstufe vorgenommen werden. Eine obligatorische berufliche Vorsorge für Selbstständigerwerbende hätte auch Auswirkungen auf die steuerliche Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte Vorsorgeformen (Säule 3a).

Selbstständigerwerbende würden bis zum Erreichen des ordentlichen Rentenalters

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gleichbehandelt wie Arbeitnehmende: Abzugsberechtigt wären Beiträge bis höchstens 8 Prozent des oberen Grenzbetrags gemäss Artikel 8 Absatz 1 BVG.

4.5.2

Obligatorische berufliche Vorsorge «light» speziell für Selbstständigerwerbende

Die Besonderheiten der selbstständigen Erwerbstätigkeit wie beispielsweise das schwankende Einkommen und die relativ starren Vorschriften in der beruflichen Vorsorge (Eintrittsschwelle, Koordinationsabzug, nach Alter abgestufte Altersgutschriften) lassen im Rahmen des geltenden Rechts nur wenige Lösungen zu, die den Bedürfnissen tatsächlich gerecht werden.

Den besonderen Umständen der Selbstständigkeit könnte eine obligatorische berufliche Vorsorge «light» Rechnung tragen, die nur für Selbstständigerwerbende gelten und diesem Personenkreis eine minimale Absicherung bieten würde. Diese neue Versicherung wäre eine Ergänzung der bestehenden beruflichen Vorsorge. Dieser Ansatz wird im Bericht des Bundesrates «Digitalisierung ­ Prüfung einer Flexibilisierung im Bereich des Sozialversicherungsrechts (Flexi-Test)» vorgeschlagen. Der Bericht untersucht den Bedarf sowie die Vor- und Nachteile einer Flexibilisierung im Bereich des Sozialversicherungsrechts, um angemessen auf die Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung in der Arbeitswelt zu reagieren. Er analysiert verschiedene Optionen der Flexibilisierung und zeigt, wie die Risiken der Prekarisierung und der Kostenverschiebung auf die Sozialhilfe und das EL-System, die mit einer Digitalisierung der Wirtschaft potenziell verbunden sind, vermieden werden können. Die dort gemachten Überlegungen sind aber auch generell für die Vorsorge von Selbstständigerwerbenden mit kleinen Einkommen von Interesse.

Die im erwähnten Bericht vorgeschlagene obligatorische berufliche Vorsorge «light» richtet sich an Plattform-Beschäftigte, die selbstständig oder unselbstständig für einen oder mehrere Arbeitgeber tätig sind und kleine Einkommen erzielen. Der Vorschlag sieht vor, dass der Einkommensanteil zwischen 2 300 und 21 510 Franken durch eine obligatorische Versicherung «light» abgedeckt wäre, die lediglich das Risiko Alter versichert. Der untere Grenzbetrag von 2 300 Franken entspricht dem Einkommen, bis zu dem Selbstständigerwerbende keine Beiträge an die AHV leisten müssen40, während der obere Grenzbetrag der BVG-Eintrittsschwelle entspricht. Bei Einkommen, die über der BVG-Eintrittsschwelle liegen, wäre die Versicherung in der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende weiterhin freiwillig. Beim versicherten Lohn würde kein Koordinationsabzug vorgenommen,
und der Beitragssatz würde ausreichend tief angesetzt, so dass Versicherte nach aktuellem BVG gegenüber Arbeitnehmenden aufgrund des Koordinationsabzugs nach aktuellem BVG nicht schlechter gestellt wären (Vermeidung von Schwelleneffekten). Mit einem Beitragssatz von 2 Prozent des AHV-Einkommens würde jeglicher Schwelleneffekt vermieden. Nach einer vollen Erwerbslaufbahn von 40 Jahren läge das Altersguthaben zwischen 1840 Franken (bei einem Jahreseinkommen von Fr. 2300.­ während des Sparprozesses) und 17 208 Franken (bei einem Jahreseinkommen von Fr. 21 510.­). Eine solche 40

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Lösung würde also keinen substanziellen Beitrag zu einer ausreichenden Vorsorge liefern.

Für die Durchführung kommt nur eine einheitliche Vorsorgeeinrichtung infrage, die mit der neuen Aufgabe beauftragt werden könnte. Es wäre Aufgabe der AHVAusgleichskassen, die Selbstständigerwerbenden der Stiftung Auffangeinrichtung BVG zu melden sowie den Beitrag an die obligatorische berufliche Vorsorge «light» zu erheben und an die Stiftung Auffangeinrichtung BVG zu überweisen. Es würden dieselben Modalitäten wie für die Erhebung der AHV-Beiträge gelten (vierteljährliche Akontozahlungen, jährliche Schlussabrechnung). Die in Ziffer 4.5.1 erwähnten Schwierigkeiten bei der Durchführung bestünden allerdings auch hier.

Angesichts des geringen Beitragsvolumens und des erforderlichen Verwaltungsaufwands ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis dieser Option eingehender zu prüfen. Wie der Bericht des Bundesrates «Digitalisierung ­ Prüfung einer Flexibilisierung im Bereich des Sozialversicherungsrechts (Flexi-Test)» zeigt, kämen für die Ausgleichskassen und die Auffangeinrichtung BVG nebst den oben erwähnten Kosten auch die Kosten der Plattformen in ihrer Rolle als Auftraggeberin oder Vermittlerin hinzu. Ohne finanzielle Beteiligung der Plattformen müssten die Kosten für die Beitragsverwaltung von den Selbstständigerwerbenden getragen werden und wären insgesamt zu hoch.

Neben den praktischen Herausforderungen bei der Umsetzung einer obligatorischen beruflichen Vorsorge «light» bestehen auch mehrere rechtliche Hürden. Gemäss Artikel 113 Absatz 2 Buchstabe e BV kann der Bund für bestimmte Gruppen von Selbstständigerwerbenden die berufliche Vorsorge allgemein oder für einzelne Risiken obligatorisch erklären. Es bestünde somit grundsätzlich eine Verfassungsgrundlage für eine Versicherungspflicht für Selbstständigerwerbende mit kleinen Einkommen. Für eine solche Versicherung wären neue Bestimmungen im BVG nötig. Wie beim unter Ziffer 4.4.1 beschriebenen Ansatz würde auch dieser Vorschlag eine Anpassung der steuerlichen Abzugsberechtigung für Beiträge der Selbstständigerwerbenden an anerkannte Vorsorgeformen (Säule 3a) erforderlich machen. Selbstständigerwerbende würden bis zum Erreichen des ordentlichen Rentenalters gleichbehandelt wie Arbeitnehmende: abzugsberechtigt wären Beiträge bis höchstens 8 Prozent des oberen Grenzbetrags gemäss Artikel 8 Absatz 1 BVG.

4.5.3

Obligatorische berufliche Vorsorge beschränkt auf die Versicherung der Risiken Tod und Invalidität

Vorsorgelücken können bei Selbstständigerwerbenden auch durch die obligatorische Versicherung der Risiken Tod und Invalidität in der beruflichen Vorsorge vermieden werden. Dabei würde es sich um eine Kapitalversicherung handeln, die den Vorteil hat, dass sie administrativ einfacher und kostengünstiger umzusetzen wäre als eine Rentenversicherung. Auch dieser Lösungsvorschlag ist im Rahmen des Berichts des Bundesrates «Digitalisierung ­ Prüfung einer Flexibilisierung im Bereich des Sozialversicherungsrechts (Flexi-Test)» für selbstständigerwerbende Plattform-Beschäftigte mit kleinen Einkommen entwickelt worden. Die dort gemachten Überlegungen

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sind aber auch generell für die Vorsorge von Selbstständigerwerbenden mit kleinen Einkommen von Interesse.

Selbstständigerwerbende, deren Einkommen über der BVG-Eintrittsschwelle liegt (Fr. 21 510.­) würden obligatorisch bei der Stiftung Auffangeinrichtung BVG gegen die Risiken Tod und Invalidität versichert. Die Beschränkung auf diese Einrichtung ist dadurch begründet, dass mit einem zentral verwalteten Fonds eine ausreichende Anzahl Versicherter erreicht werden kann, was für die Realisierung einer möglichst kostengünstigen Lösung pro versicherte Person unabdingbar ist (Skaleneffekte).

Zur Deckung der Risiken Tod und Invalidität würden die Selbstständigerwerbenden einen Pauschalbetrag einzahlen. Die Leistungshöhe würde beispielsweise auf 50 000 Franken festgelegt, und der Betrag würde der versicherten beziehungsweise der anspruchsberechtigten Person im Invaliditäts- beziehungsweise im Todesfall ausbezahlt. Um den Verwaltungsaufwand möglichst gering zu halten, wäre der Beitrag für alle Einkommen gleich. Eine solche Lösung würde also keinen substanziellen Beitrag zu einer ausreichenden Vorsorge liefern, könnte aber andere Vorsorgelösungen ergänzen.

Wie bei den unter Ziffer 4.4.1 und Ziffer 4.4.2 beschriebenen Ansätzen wäre es Aufgabe der AHV-Ausgleichskassen, die Selbstständigerwerbenden der Stiftung Auffangeinrichtung BVG zu melden, damit sie sie automatisch versichert. Den AHVAusgleichskassen käme eine zweite Aufgabe zu: Sie würden die Beiträge an die auf die Risiken Tod und Invalidität beschränkte obligatorische berufliche Vorsorge nach denselben Modalitäten wie für AHV-Beiträge erheben (vierteljährliche Akontozahlungen, jährliche Schlussabrechnung) und sie an die Stiftung Auffangeinrichtung BVG überweisen. Die in Ziffer 4.5.1 erwähnten Schwierigkeiten bei der Durchführung bestünden allerdings auch hier, wenn auch in einem deutlich geringeren Ausmass, da kein Alterskapital aufgebaut würde.

Gemäss Artikel 113 Absatz 2 Buchstabe e BV kann der Bund für bestimmte Gruppen von Selbstständigerwerbenden die berufliche Vorsorge allgemein oder für einzelne Risiken obligatorisch erklären. Es bestünde somit grundsätzlich eine Verfassungsgrundlage für eine auf die Risiken Tod und Invalidität begrenzte Versicherungspflicht für Selbstständigerwerbende mit kleinen Einkommen. Es müssten neue Bestimmungen im
BVG geschaffen werden. Dieser Ansatz erfordert keine Anpassung der steuerlichen Abzugsberechtigung für Beiträge der Selbstständigerwerbenden an anerkannte Vorsorgeformen (Säule 3a). Eine allfällige Überversicherung der Risiken Tod und Invalidität wäre hingegen von den Versicherern (3a-Versicherungspolicen) im Einzelfall zu regeln.

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Schlussfolgerungen

Als vor rund fünfzig Jahren die obligatorische berufliche Vorsorge für Arbeitnehmende erstmals debattiert wurde, wurde auch die Einführung einer freiwilligen Vorsorgeversicherung für Selbstständigerwerbende in Betracht gezogen. Man wollte es dieser Personengruppe ermöglichen, sich zu gleichwertigen Bedingungen versichern

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zu können wie die Arbeitnehmenden. Ein allgemeines Obligatorium für Selbstständigerwerbende wurde aufgrund der Mannigfaltigkeit der selbstständigen Berufe auch bei einer sehr elastischen Ausgestaltung von Anfang an ausgeschlossen.

Vor diesem historischen Hintergrund greift das Postulat SGK-N 16.3908 «Die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden analysieren» die Frage auf, ob die Freiwilligkeit der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende nicht zu einer kritischen Situation geführt habe, weil diese Personengruppe heute im Rentenalter eher Ergänzungsleistungen beziehe als ehemals Angestellte oder Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgingen. Zur Beantwortung dieser Frage wurden zwei Studien in Auftrag gegeben, um anhand von einschlägigen Zahlen einen Überblick über die Vorsorgesituation von ehemals Selbstständigen und Teilselbstständigen zu erhalten. So konnte die finanzielle Situation im Rentenalter dieser beiden Gruppen mit jener der Referenzgruppe (ehemals Angestellte) verglichen werden.

Unternehmensgründungen sind mit wirtschaftlichen Auswirkungen verbunden, die über die Vorsorgesituation der Gründerin oder des Gründers hinausgehen. Unternehmerische Aktivitäten führen zu Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, was sich wiederum auf die Einnahmen der öffentlichen Hand sowie der Sozialversicherungen (inkl. EL) auswirkt. Diese volkswirtschaftlichen Effekte sind ­ ebenso wenig wie allfällige negative Auswirkungen der diskutierten Massnahmen auf die unternehmerische Aktivität ­ allerdings nicht Gegenstand des vorliegenden Berichtes.

Mögliche Vorsorgelücken Die statistischen Daten zeigen, dass es bei der AHV-Rente nur geringe Unterschiede zwischen den Gruppen der ehemals Selbstständigen, Teilselbstständigen und Unselbstständigen gibt. Allerdings beziehen ehemals Selbstständigerwerbende nach der Pensionierung deutlich seltener Leistungen aus der 2. und/oder 3. Säule als ehemals Unselbstständige. Während drei Viertel der ehemals Angestellten im Rentenalter auf Leistungen der beruflichen Vorsorge und/oder der 3. Säule zurückgreifen können, ist dies nur bei rund der Hälfte der ehemals Selbstständigerwerbenden der Fall. Die schlechtere Altersabsicherung der Selbstständigerwerbenden im Bereich der beruflichen Vorsorge
wird jedoch durch andere Einkommensquellen abgefedert, wie beispielsweise Vermögens- und/oder Erwerbseinkommen.

Bei ehemals Selbstständigerwerbenden besteht das Risiko einer Vorsorgelücke, wenn der Schritt in die Selbstständigkeit eher unfreiwillig und erst in einer späteren Phase des Erwerbslebens erfolgte. Auch bei Selbstständigerwerbenden, die keine Mitarbeitenden beschäftigen und kleine, gering bezahlte Aufträge ausführen, besteht dieses Risiko.

«Herkömmliche» Selbstständigerwerbende wiederum verfügen im Rentenalter über ein ähnliches Einkommensniveau wie ehemals Angestellte. Bei einer Minderheit der Selbstständigerwerbenden ist das Einkommen im Rentenalter höher oder sogar deutlich höher als bei den ehemals Angestellten. Die Tatsache, dass es für Selbstständigerwerbende kein Obligatorium für die berufliche Vorsorge, die Arbeitslosen- und die Unfallversicherung gibt, ist wirtschaftlich gesehen eher ein Vorteil. Selbstständigerwerbende können so während der für das Überleben des Unternehmens wichtigen An-

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fangsphase ihre Geschäftstätigkeit ohne hohe Sozialversicherungskosten vorantreiben. Sofern der Schritt in die Selbstständigkeit nicht im fortgeschrittenen Alter erfolgt, können die Selbstständigerwerbenden ihre private Vorsorge dank zunehmendem Einkommen im Verlauf der Geschäftsentwicklung und dank der steuerlichen Anreize allmählich ausbauen. Auch der Verkauf des Unternehmens beim Austritt aus dem Arbeitsmarkt kann ein wichtiges Instrument zur Finanzierung des Ruhestands sein.

Auswirkungen auf die Ergänzungsleistungen Die statistischen Daten zeigen, dass Selbstständigerwerbende während ihres gesamten Erwerbslebens im Durchschnitt tiefere Einkommen erzielen als Angestellte. Es liegt somit auf der Hand, dass bei ehemals Selbstständigerwerbende ein proportional grösserer Anteil EL bezieht (10,1 %) als bei ehemals Unselbstständigen (6,5 %). Auch andere Faktoren, wie zum Beispiel die Erwerbsbiografie oder der allfällige Bezug von Vorsorgeguthaben zu Beginn der selbstständigen Erwerbstätigkeit, haben einen erheblichen Einfluss auf das Risiko, im Rentenalter auf EL angewiesen zu sein. Dies trifft beispielsweise auf Personen zu, die sich zwischen 51 und 57 Jahren selbstständig gemacht haben. Bei ihnen bestehen in überdurchschnittlichem Mass gleich zwei Risikofaktoren: «eher unfreiwilliger» Schritt in die Selbstständigkeit und Bezug angesparter Vorsorgegelder zur Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit. Betreffen diese Faktoren Selbstständigerwerbende, die in Branchen mit niedrigen Einkommen wie Körperpflege, Gastgewerbe, Reinigung oder Detailhandel tätig sind, ist das Risiko, später auf EL angewiesen zu sein, besonders hoch. Wären die Personen, bei denen diese Risikofaktoren gegeben sind, als Unselbstständige in den Arbeitsmarkt integriert worden, wären sie nach Erreichen des Rentenalters unter Umständen auch auf EL angewiesen.

Vorsorgesituation von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Teilzeitarbeit nachgingen, stehen beim Gesamteinkommen im Rentenalter mit einem mittleren Einkommen von 57 000 Franken leicht besser da als ehemals Angestellte (Fr. 54 000.­) oder ehemals Selbstständige (Fr. 52 000.­). Diese Personengruppe läuft nicht direkt Gefahr, nach
der Pensionierung über ein ungenügendes Einkommen zu verfügen.

Die im Rahmen der Beantwortung des vorliegenden Postulats erhobenen Daten zeigen, dass knapp drei Viertel der Selbstständigerwerbenden, die gleichzeitig einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, 80 Prozent oder mehr ihres Einkommens aus der selbstständigen Erwerbstätigkeit erzielen. Der Anteil ihrer unselbstständigen Tätigkeit ist also relativ gering.

Mögliche Versicherungsmodelle Angesichts möglicher Vorsorgelücken aufgrund der selbstständigen Erwerbstätigkeit und der damit einhergehenden finanziellen Belastung der öffentlichen Hand, namentlich durch den Anspruch auf EL zur AHV, wurden verschiedene Ansätze geprüft, mit denen für bestimmte gefährdete Gruppen von Selbstständigerwerbenden, das heisst für Personen, die im Rentenalter vermutlich über keine ausreichende Selbstvorsorge 41 / 46

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verfügen, eine Verbesserung der obligatorischen sozialen Absicherung erreicht werden könnte. Jeder Ansatz ­ einige beinhalten verschiedene Varianten ­ stellt eine mögliche Lösung für die spezifischen Probleme der einzelnen Kategorien von Selbstständigerwerbenden dar.

Eine bessere Information der Selbstständigerwerbenden über die Möglichkeiten der Versicherung in der beruflichen Vorsorge oder der Ausbau des Angebots der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende ohne Angestellte sind zwei Ansätze, die einem Grossteil der selbstständig Erwerbstätigen von Nutzen sein könnten. Weil sie nicht verbindlich sind, stehen sie in einer historischen Kontinuität mit der individuellen Freiheit der Selbstständigerwerbenden, sich nach Gutdünken gegen das Risiko Alter abzusichern.

Bei Personen, die sich im Anschluss an eine unselbstständige Erwerbstätigkeit selbstständig machen, beispielsweise zwischen 46 und 57 Jahren, ist das Risiko, im Rentenalter weniger Einkommen zu erzielen und deshalb auf EL angewiesen zu sein, grösser als bei anderen Selbstständigerwerbenden. Der Erhalt der Austrittsleistung in der beruflichen Vorsorge würde es dieser spezifischen Kategorie erlauben, den vor der Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit erworbenen Versicherungsschutz aufrechtzuerhalten. Drei Varianten dieses Ansatzes wurden analysiert: Anwendung der Regeln für die Wohneigentumsförderung auf die Barauszahlung der Austrittsleistung, «Einfrieren» der Austrittsleistung im System der beruflichen Vorsorge und Lockerung der Barauszahlung. Jede der Varianten hat Vor- und Nachteile und schränkt die Wirtschaftsfreiheit mehr oder weniger ein.

Drei Ansätze zur obligatorischen beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende wurden geprüft. Ein Obligatorium der beruflichen Vorsorge würde die Schaffung einer entsprechenden Verfassungsgrundlage voraussetzen. Die Durchführung einer solchen obligatorischen Versicherung erweist sich zudem als schwierig. Weil dieser Ansatz eine starke Beschneidung der Wirtschaftsfreiheit darstellt, wurden zwei weniger einschränkende Ansätze geprüft: eine obligatorische Vorsorge «light», die Selbstständigerwerbenden mit kleinem Einkommen vorbehalten wäre. Dieser Ansatz würde nur einen geringen Einkommensanteil und nur das Risiko Alter decken. Ein dritter Ansatz wäre eine obligatorische berufliche
Vorsorge, die auf die Versicherung der Risiken Tod und Invalidität beschränkt ist und sich ausschliesslich an Selbstständigerwerbende mit tiefem Einkommen richtet.

Der besonderen Situation von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, trägt ein Ansatz Rechnung, der die Versicherung dieser Zielgruppe, die sich unter Umständen in einer weniger vorteilhaften Situation befindet, als wenn sie nur angestellt oder nur selbstständig wäre, verbessern soll. Dabei würde unter Berücksichtigung der Beiträge in der beruflichen Vorsorge für Selbstständigerwerbende in der Säule 3a ein höherer steuerlich abzugsfähiger Maximalbetrag gelten.

Die berufliche Vorsorge an die einzelnen Gegebenheiten der Selbstständigerwerbenden anzupassen, mag erstrebenswert erscheinen, die konkrete Umsetzung hingegen ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. Eine Ausdehnung der beruflichen Vorsorge, wie sie heute den Arbeitnehmenden offensteht, auf selbstständig Erwerbs-

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tätige ­ wenn auch nur teilweise ­, würde nicht alle Prekaritätsrisiken von Selbstständigerwerbenden im Alter beseitigen. Der Grad der sozialen Sicherheit wird nämlich in erster Linie durch das Einkommensniveau der Tätigkeit bestimmt, unabhängig davon, ob das Einkommen durch eine selbstständige oder eine unselbstständige Tätigkeit oder eine Kombination aus beidem erzielt wird.

Die für die Beantwortung des Postulats erhobenen statistischen Daten zeigen, dass es für den Aufbau einer adäquaten Vorsorge nicht unbedingt entscheidend ist, ob der Zugang zur beruflichen Vorsorge obligatorisch oder freiwillig ist (je nachdem, ob die Erwerbstätigkeit selbstständig oder unselbstständig ausgeübt wird), sondern vielmehr, ob über das ganze Erwerbsleben hinweg ein genügendes Einkommen erzielt wird, um eine ausreichende berufliche oder individuelle Vorsorge für den Übergang ins Rentenalter zu finanzieren. Ist das Einkommen über eine längere Zeitspanne tief, steigt unabhängig von der Erwerbsbiografie auch das Risiko, dass es zu Lücken in der Alters- oder der Selbstvorsorge kommt. Diese Zwangsläufigkeit gilt auch für Selbstständigerwerbende, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen: Die Kombination mehrerer gering bezahlter Tätigkeiten schützt nicht unbedingt vor möglichen Vorsorgelücken, wenn das Gesamteinkommen aller Erwerbstätigkeiten unter dem Koordinationsabzug bleibt oder nicht für einen Beitrag an die Säule 3a ausreicht. Es gilt zu beachten, dass in der beruflichen Vorsorge eine Eintrittsschwelle für die obligatorische Versicherung der Arbeitnehmenden gilt.

Die Schwelle wurde vom Gesetzgeber festgelegt, weil er eine Versicherung eines zu geringen Einkommens mit Blick auf die Funktionsweise der beruflichen Vorsorge als nicht sinnvoll erachtete. Bevor man technische Aspekte im Zusammenhang mit dem in der beruflichen Vorsorge versicherbaren Einkommen korrigiert, oder in der 2. Säule eine Versicherungspflicht für alle Erwerbstätigen einführt, ist dem angestrebten effektiven Versicherungsschutz Rechnung zu tragen.

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Anhang 1

Wortlaut des Postulats 16.3908 «Die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden analysieren» Eingereichter Text Der Bundesrat wird beauftragt, in einem Bericht die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden zu analysieren. Der Bericht soll insbesondere die folgenden Punkte untersuchen: 1.

Mögliche Vorsorgelücken.

2.

Mögliche Versicherungsmodelle (inkl. Prüfung eines Obligatoriums im BVG, punktuelle Massnahmen usw.).

3.

Auswirkungen auf die Ergänzungsleistungen.

4.

Vorsorgesituation von Personen, die gleichzeitig einer selbstständigen und einer unselbstständigen Teilzeitarbeit nachgehen.

Eine Minderheit (Brunner, Brand, Clottu, de Courten, Frehner, Giezendanner, Herzog, Steinemann) beantragt, das Kommissionspostulat abzulehnen.

Begründung Die Vorsorgesituation gewisser Segmente von Selbstständigerwerbenden ist oft kritisch. Da es für die Selbstständigerwerbenden keine Versicherungspflichten gibt, kann ein Risiko bestehen, dass Selbstständigerwerbenden keine adäquate Vorsorge aufbauen und deshalb «automatisch» ab Pensionierungsalter Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) haben. Aufgrund der sich abzeichnenden Kostendynamik der EL ist diesem Problem vermehrt Beachtung zu schenken.

Im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens zur Teilrevision des ELG wurde denn auch von verschiedener Seite die Prüfung eines Versicherungsobligatoriums in der beruflichen Vorsorge auch für Selbstständigerwerbenden gefordert. Aufgrund der Bedeutung dieser Fragestellung im Hinblick auf die EL muss jedoch vorerst Klarheit darüber bestehen, wie sich die Problematik darstellt, sowie anschliessend der Bundesrat mit der Erarbeitung der notwendigen Auswertungen und Grundlagen beauftragt sowie eingeladen werden, verschiedene Lösungsansätze zu erarbeiten. Es ist an der Zeit, verschiedene Optionen der Versicherung von Selbstständigerwerbenden zu analysieren und die Vor- und Nachteile abzuwägen.

Liegen die notwendigen Grundlagen bis zur Beratung der Botschaft zum ELG vor, können adäquate Lösungen für die Verbesserung der Vorsorgesituation der Selbstständigerwerbenden zum Beispiel in diese Vorlage aufgenommen werden, wo sie systematisch auch hingehören.

Antrag des Bundesrates vom 02.12.2016 Der Bundesrat beantragt die Annahme des Postulates.

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Anhang 2

Forschungsberichte Fluder, Robert / Oesch, Thomas (2018): Vorsorgesituation der Selbständigerwerbenden. Vertiefte Untersuchung anhand der Steuerdaten des Kantons Bern 2002 bis 2012.

Beiträge zur Sozialen Sicherheit 10/20. Bern.

Guggisberg, Jürg / Rudin, Melania / Bischof, Severin / Morger, Mario (2018): Analyse der Vorsorgesituation von Selbständigerwerbenden. Beiträge zur Sozialen Sicherheit 9/20. Bern.

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