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22.427 Parlamentarische Initiative Bundesgericht. Erhöhung der Zahl der ordentlichen Richterinnen und Richter Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. Juni 2022

Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zur Änderung der Verordnung der Bundesversammlung über die Richterstellen am Bundesgericht. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

23. Juni 2022

Im Namen der Kommission: Der Vizepräsident, Vincent Maître

2022-2366

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Übersicht Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates beantragt, die Verordnung der Bundesversammlung über die Richterstellen am Bundesgericht so zu ändern, dass die Zahl der Stellen ordentlicher Richterinnen und Richter am Bundesgericht von 38 auf 40 erhöht wird. Mit dieser Stellenaufstockung, um die vom Bundesgericht ersucht wurde und die von den Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte, welche die Oberaufsicht über die Gerichte ausüben, unterstützt wird, soll die seit mehreren Jahren zunehmende Arbeitslast des Bundesgerichts bewältigt werden.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

Die Verwaltungskommission des Bundesgerichts richtete am 21. Dezember 2021 ein Schreiben an die Kommissionen für Rechtsfragen (RK), mit Kopie an die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK), in dem sie zur Bewältigung der kontinuierlich steigenden Zahl an Gerichtsgeschäften darum ersuchte, die Richterstellen am Bundesgericht von 38 auf 40 zu erhöhen. Die GPK brachten in einem Schreiben vom 5. April 2022 zuhanden der RK ihre Unterstützung für dieses Anliegen zum Ausdruck. Als zuständiges Oberaufsichtsorgan waren die GPK regelmässig über die zunehmende Arbeitslast des Bundesgerichts und dessen Bemühungen zur Bewältigung dieser Arbeitslast informiert worden. Nach Ansicht der GPK werden die ergriffenen Massnahmen langfristig kaum ausreichen, weshalb sie den RK empfahlen, eine parlamentarische Initiative auszuarbeiten mit dem Ziel, die Verordnung der Bundesversammlung vom 30. September 20111 über die Richterstellen am Bundesgericht im Sinne einer Erhöhung der Richterstellen zu ändern.

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Ausgangslage und Entwicklungen

2.1

Stellen des Bundesgerichts

Gemäss Artikel 1 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (BGG)2 besteht das Bundesgericht (BGer) aus 35 bis 45 ordentlichen Bundesrichtern und Bundesrichterinnen (Abs. 3) und legt die Bundesversammlung die Zahl der Richter und Richterinnen in einer Verordnung fest (Abs. 5). Seit dem Inkrafttreten des BGG am 1. Januar 2007 gehören dem BGer gemäss der Verordnung der Bundesversammlung über die Richterstellen am Bundesgericht 38 ordentliche Richterinnen und Richter und 19 nebenamtliche Richterinnen und Richter an. Zuvor umfasste das Bundesgericht inklusive Eidgenössisches Versicherungsgericht 41 ordentliche Richterinnen und Richter und 39 nebenamtliche Richterinnen und Richter.

Die Zahl der Stellen der Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber stieg von 127 im Jahr 2011 auf 136,7 per Ende 2021.

2.2

Zunahme der Arbeitslast

Die im Jahr 2006 festgelegte Zahl der Richterinnen und Richter3 wurde bei der Überprüfung von 2011 ausgehend von einer Zahl von 7400 Geschäften pro Jahr4 beibehal-

1 2 3 4

SR 173.110.1 SR 173.110 Bericht der RK-S vom 21. Februar 2006; BBl 2006 3475, 3488.

Bericht der RK-N vom 8. April 2011; BBl 2011 4509.

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ten. Im Laufe der letzten zehn Jahre stieg die jährliche Fallzahl allerdings kontinuierlich an: von 7419 im Jahr 20115 auf 7881 im Jahr 20216. In den Jahren 2017 und 2020 lag sie sogar über 8000.7 Diese Zunahme ist in erster Linie auf den deutlichen Anstieg der Strafsachen zurückzuführen, auf den der Bundesrat bereits in seiner Botschaft vom 15. Juni 2018 zur Änderung des Bundesgerichtsgesetzes hinwies.8 Seit dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung (StPO)9 am 1. Januar 2011 handelt es sich beim Strafprozessrecht um Bundesrecht, welches das Bundesgericht mit voller Kognition prüft, um so die einheitliche Anwendung der StPO zu gewährleisten. Verschiedene Gesetzesrevisionen, namentlich in den Bereichen Kinder- und Erwachsenenschutzrecht, führten im Übrigen auch zu einem Anstieg der Fallzahlen der II. Zivilrechtlichen Abteilung.

Zudem trat die erwartete Entlastung durch die nebenamtlichen Richterinnen und Richter nicht ein: Diese lieferten zwischen 2011 und 2020 durchschnittlich 150 Referate pro Jahr (2021: 181) und nicht die vom Gesetzgeber veranschlagten 510.10

2.3

Ergriffene Massnahmen und Perspektiven

Zur Bewältigung der gestiegenen Arbeitslast ergriff das Bundesgericht mehrere interne Reorganisationsmassnahmen. Es erhöhte die Zahl der Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber (siehe Kap. 2.1) und beschloss 2020, der Strafrechtlichen Abteilung einen sechsten Richter zuzuteilen, und zwar zulasten der II. Sozialrechtlichen Abteilung, sowie das Abgaberecht von der II. Öffentlich-rechtlichen Abteilung in die II. Sozialrechtliche Abteilung zu verschieben. Zudem passte es sein Reglement vom 20. November 2006 (BGerR)11 dahingehend an, dass der Vorsitz einem anderen Abteilungsmitglied übertragen werden kann (Art. 27 Abs. 2 BGerR), wodurch die Abteilungspräsidentinnen und -präsidenten entlastet werden.

Diese Massnahmen reichten jedoch nicht aus, die Zahl der Geschäfte, die aufs nachfolgende Jahr verschoben werden mussten (Pendenzen), einzudämmen: Diese stieg von 2265 im Jahr 2011 auf 3235 im Jahr 2021. Besonders hoch sind die Pendenzen in der Strafrechtlichen Abteilung (898) und in der I. Öffentlich-rechtlichen Abteilung (620), die für die strafprozessualen Zwischenentscheide zuständig ist. Dadurch fiel der Erledigungsgrad für neue Fälle in der Strafrechtlichen Abteilung 2021 auf 48 Prozent (gegenüber 64 bis 68 % in den anderen Abteilungen). 2011 hatte er noch bei 69 Prozent gelegen (gegenüber 63 bis 78 % in den anderen Abteilungen).

Der beschriebene Trend dürfte sich in näherer Zukunft nicht umkehren, da die Revision des BGG12, die unter anderem auf eine Entlastung des Bundesgerichts abzielte, 5 6 7 8 9 10 11 12

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Geschäftsbericht 2011 des Bundesgerichts.

Geschäftsbericht 2021 des Bundesgerichts.

Gemäss den jeweiligen Geschäftsberichten: 8033 Eingänge im Jahr 2017 und 8024 im Jahr 2020.

BBl 2018 4605 SR 312.0 BBl 2006 3475 3490 Reglement für das Bundesgericht; SR 173.110.131.

18.051 n Bundesgerichtsgesetz. Änderung.

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2020 vom Parlament abgelehnt wurde. Zudem sind auch die Arbeiten des Bundesrates in Erfüllung des von Ständerat Andrea Caroni eingereichten Postulats 20.4399 («Für ein modernes Bundesgerichtsgesetz») noch nicht abgeschlossen. Mit dem entsprechenden Bericht sollen Denkanstösse für eine künftige Revision des BGG geliefert werden.

Sollten die zwei beantragten Stellen dem Bundesgericht bewilligt werden, wird dieses eine zweite Strafrechtliche Abteilung schaffen, in welche ein Teil der Fälle der heutigen Strafrechtlichen Abteilung und das Strafprozessrecht aus der I. Öffentlich-rechtlichen Abteilungen verschoben würden. Dieser neuen Abteilung würde neben den beiden neuen Mitgliedern je eine Person aus der I. Öffentlich-rechtlichen Abteilung und der II. Zivilrechtlichen Abteilung angehören.

Die GPK halten in ihrem Schreiben vom 5. April 2022 fest, dass ihnen insbesondere die vom Bundesgericht beabsichtigte Schaffung einer zweiten Strafrechtlichen Abteilung sinnvoll und effizient erscheint. Die neue Zusammensetzung des BGer mit acht Abteilungen à je fünf Richterinnen bzw. Richtern würde nach Ansicht der GPK eine konsistente Rechtsfortbildung ermöglichen.

3

Parlamentarische Initiative und Arbeiten der Kommission

Die RK des Nationalrates (RK-N) nahm an ihrer Sitzung vom 8. April 2022 Kenntnis von den Schreiben der BGer-Verwaltungskommission und der GPK. Da der Gesetzgeber die Möglichkeiten, vor dem BGer zu rekurrieren, regelmässig erweitert, erachtet die RK-N das Anliegen des BGer als absolut begründet. Sie beschloss deshalb mit 18 zu 4 Stimmen bei 1 Enthaltung, eine parlamentarische Initiative im Sinne des BGer-Antrags einzureichen, wies allerdings auch darauf hin, dass die effektive Arbeitslast der nebenamtlichen Richterinnen und Richter noch einmal überprüft werden muss.

Die RK des Ständerates (RK-S) folgte dem Beschluss ihrer nationalrätlichen Schwesterkommission am 26. April 2022 einstimmig.

Die RK-N arbeitete in der Folge einen Entwurf zur Änderung der Verordnung aus, den sie am 23. Juni 2022 mit 15 zu 6 Stimmen bei 0 Enthaltungen annahm. Eine Minderheit (Addor, Geissbühler, Guggisberg, Hess Erich, Steinemann, Tuena) beantragt Nichteintreten. Die gleiche Minderheit will die Vorlage an die Kommission zurückweisen mit dem Auftrag, einen Entwurf zur Abschaffung des Systems der nebenamtlichen Richterinnen und Richter am Bundesgericht auszuarbeiten. Da die Effizienz dieses Systems regelmässig infrage gestellt wird, sprach sich die Kommission im Übrigen einstimmig dafür aus, dass die Parlamentarische Verwaltungskontrolle mit einer Evaluation der Situation beauftragt werden soll.

Die Kommission beschloss zudem, auf ein Vernehmlassungsverfahren zu verzichten, da der Entwurf hauptsächlich die Organisation einer Bundesbehörde betrifft (Art. 3a Abs. 1 Bst. a des Vernehmlassungsgesetzes13). Gestützt auf Artikel 112 Absatz 1 des 13

Bundesgesetz vom 18. März 2005 über das Vernehmlassungsverfahren; SR 172.061.

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Parlamentsgesetzes14 wurde die Kommission bei ihren Arbeiten vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement unterstützt.

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Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Ziff. I Art. 1 Bst. a Die Zahl der ordentlichen Richterinnen und Richter des Bundesgerichts wird von aktuell 38 auf 40 erhöht (Bst. a). Dies entspricht 40 Vollzeitstellen, da das BGG nicht vorsieht, ordentliche Richterinnen und Richter des BGer in Teilzeit zu ernennen, wie es beim Bundesverwaltungsgericht (Art. 13 Abs. 1 des Verwaltungsgerichtsgesetzes15), beim Bundesstrafgericht (Art. 46 des Strafbehördenorganisationsgesetzes16) und beim Bundespatentgericht (Art. 11 des Patentgerichtsgesetzes17) möglich ist. Die Zahl der nebenamtlichen Richterinnen und Richter bleibt unverändert (Bst. b).

Ziff. II Die Änderung der Verordnung untersteht nicht dem Referendum und kann nach der Annahme durch die Räte in Kraft treten.

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Auswirkungen

Die Richterinnen und Richter des BGer sind Magistratspersonen und unterliegen folglich nicht dem Bundespersonalgesetz vom 2. März 200018, wie in dessen Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a präzisiert ist. Ihre Besoldung richtet sich nach dem Bundesgesetz über Besoldung und berufliche Vorsorge der Magistratspersonen vom 6. Oktober 198919 und der entsprechenden Verordnung20. Gemäss Artikel 1a Buchstabe b dieser Verordnung beträgt die Jahresbesoldung für die Richterinnen und Richter des BGer 80 Prozent der Besoldung eines Bundesratsmitglieds, sprich 365 484 Franken im Jahr 2022. Werden die Sozialabgaben von 8,15 Prozent hinzugerechnet, belaufen sich die Kosten für die zwei zusätzlichen Richterstellen auf insgesamt 790 600 Franken.

14 15 16 17 18 19 20

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Bundesgesetz vom 13. Dezember2002 über die Bundesversammlung; SR 171.10.

Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht; SR 173.32.

Bundesgesetz vom 19. März 2010 über die Organisation der Strafbehörden des Bundes; SR 173.71.

Bundesgesetz vom 20. März 2009 über das Bundespatentgericht; SR 173.41.

SR 172.220.1 SR 172.121 SR 172.121.1

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Rechtliche Aspekte

6.1

Rechtmässigkeit

Die Zuständigkeit der Bundesversammlung für den Entscheid über diese Aufstockung ergibt sich aus Artikel 1 Absatz 5 BGG, welcher bestimmt, dass die Bundesversammlung die Zahl der Richterinnen und Richter festlegt. Gemäss Artikel 1 Absatz 3 BGG besteht das BGer aus 35 bis 45 ordentlichen Bundesrichterinnen und Bundesrichtern.

Die Bundesversammlung ist somit berechtigt, eine andere Anzahl Richterstellen festzulegen, sofern diese zwischen 35 und 45 liegt.

6.2

Erlassform

Gemäss Artikel 1 Absatz 5 BGG legt die Bundesversammlung die Zahl der Richterinnen und Richter in einer Verordnung fest. Es handelt sich um eine Teilrevision.

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