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21.070 Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine Bericht des Bundesrates vom 7. September 2022

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Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung

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Der Krieg in der Ukraine

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Internationale Reaktionen

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Reaktionen der Schweiz 4.1 Entscheide und Massnahmen 4.2 Reaktionen in Öffentlichkeit und Politik

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Verändertes sicherheitspolitisches Umfeld der Schweiz

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Schlussfolgerungen für die Schweizer Sicherheitspolitik

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Internationale Zusammenarbeit 7.1 Ausgangslage 7.2 Zusammenarbeit mit der Nato 7.3 Zusammenarbeit mit der EU

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Konsequenzen für die Ausrichtung und Fähigkeiten der Armee

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Erkenntnisse für andere betroffene Bereiche 9.1 Früherkennung 9.2 Bevölkerungsschutz 9.3 Krisenmanagement 9.4 Kriminalität, Energieversorgung, Asylsystem

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10 Schlussfolgerung

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Einleitung

Ausgangslage Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine militärisch an. Mit diesem völkerrechtswidrigen Angriff hat Russland die Grundlagen für eine regelbasierte Friedensordnung in Europa zerstört. Die westlichen Staaten reagierten vehement und geschlossen, mit umfassenden Wirtschafts-, Energie- und Finanzsanktionen und der Lieferung grosser Mengen von Kriegsmaterial an die Ukraine. Der Krieg hat langfristige Auswirkungen auf Europa und darüber hinaus. Sie beschränken sich nicht auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sondern erfassen auch die Aussen-, Wirtschafts-, Finanz-, Energie- und Umweltpolitik.

Die Schweiz ist grundlegenden Prinzipien wie Freiheit und Demokratie, der Einhaltung des Völkerrechts sowie dem Respekt von staatlicher Souveränität und Integrität verpflichtet. Sie hat den russischen Angriffskrieg aufs Schärfste verurteilt und sich den Sanktionen der EU angeschlossen. Der Krieg in der Ukraine hat eine intensive öffentliche Diskussion darüber ausgelöst, wie sich die Schweiz aktuell und längerfristig positionieren soll, namentlich bei der internationalen Kooperation in der Sicherheitspolitik. Dabei ist entscheidend, welches Neutralitätsverständnis die Schweiz anwendet.

Der Bundesrat hat in Stellungnahmen zum Krieg (u. a. in Antworten auf diverse parlamentarische Vorstösse) die Position vertreten, dass der Sicherheitspolitische Bericht vom 24. November 20211 auch in Anbetracht des Krieges in der Ukraine eine solide Grundlage für die Sicherheitspolitik der Schweiz ist: Der Bericht war bereits auf eine markant verschlechterte Sicherheitslage ausgerichtet und wies auf das Risiko einer militärischen Eskalation an der Ostgrenze Europas hin. Die sicherheitspolitischen Ziele und Massnahmen zur Umsetzung für die nächsten Jahre sind bereits entsprechend definiert. Der Krieg in der Ukraine hat aber den Handlungsbedarf in gewissen Bereichen noch dringlicher gemacht.

Der Krieg in der Ukraine wird nachhaltige Auswirkungen auf die Sicherheit und die internationale Kooperation in Europa, die Beziehungen zwischen westlichen Staaten und Russland ­ und somit auch auf die Schweiz ­ haben. Betroffen ist insbesondere die Armee, das Kerninstrument der Schweiz zur Verteidigung und Abwehr von bewaffneten Konflikten, aber auch andere Bereiche wie z. B. der Nachrichtendienst und der Bevölkerungsschutz.
Ziel und Inhalt des Zusatzberichts Um der Bedeutung dieses Krieges als einschneidendes Ereignis mit nachhaltigen Auswirkungen auf die Sicherheit in Europa gerecht zu werden, stellte der Bundesrat in Aussicht, möglichst rasch eine Analyse des Krieges und seiner Folgen vorzunehmen.

Ausgehend vom Sicherheitspolitischen Bericht 2021 analysiert der Zusatzbericht den Krieg in der Ukraine und seine Folgen. Er befasst sich mit den sicherheitspolitischen Erkenntnissen aus dem Krieg, soweit diese bereits abschätzbar sind, und fokussiert

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Die Sicherheitspolitik der Schweiz, Bericht des Bundesrates vom 24. November 2021, BBl 2021 2895.

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insbesondere auf die neue Dynamik der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation in Europa. Der Bericht legt dar, warum die internationale Kooperation für die Schweiz mit dem Krieg in der Ukraine noch dringlicher geworden ist, und zeigt konkrete Möglichkeiten auf, wie diese Kooperation intensiviert werden könnte.

Zudem gab das VBS eine Analyse des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich zur sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation der Schweiz in Europa in Auftrag, deren Ergebnisse in den vorliegenden Bericht einflossen. Weiter mandatierte das VBS den ehemaligen Schweizer Botschafter Jean-Jacques de Dardel mit einer unabhängigen Analyse zur sicherheitspolitischen Kooperation in Europa, deren Ergebnisse für den Bericht berücksichtigt wurden.

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Der Krieg in der Ukraine

Zuspitzung der Lage Die Ukraine und Georgien bekundeten bereits 2008 den Willen, der Nato beizutreten.

Diese bot ­ vor allem aus Rücksicht auf Russland ­ beiden Ländern keine konkrete Beitrittsperspektive an, hielt die Tür zu einer Mitgliedschaft aber für eine unbestimmte Zukunft offen. Wenig später brach ein bewaffneter Konflikt zwischen Russland und Georgien aus, worauf Russland die abtrünnigen georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien de facto annektierte. In der Folge wurde die Kooperation zwischen der Ukraine und Nato-Staaten, vor allem in der Ausbildung und in Übungen, intensiviert. Nach dem Aufstand gegen den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch annektierte Russland 2014 die Krim und unterstützte (auch militärisch) separatistische Bewegungen in den Regionen Donezk und Luhansk in der Ostukraine. Verschiedene Versuche, mit Unterstützung europäischer Staaten, der EU und der OSZE, den Konflikt politisch zu lösen, waren erfolglos.

Im Verlaufe des Jahres 2021 spitzte sich die Situation zu: Russland forderte von den USA und der Nato ­ im Widerspruch zur Helsinki-Schlussakte und zu zahlreichen Folgedokumenten ­ eine Rückabwicklung der militärischen Präsenz der Nato auf den Stand von 1997, inklusive Truppenabzug und Verzicht auf Übungen in Mitgliedstaaten, die seither der Allianz beigetreten sind. Russland forderte auch, dass die Nato keine weiteren ehemaligen Teile der Sowjetunion als Mitglieder aufnehmen dürfe.

Die USA und die Nato wiesen diese Forderungen zurück, weil sie die Souveränität der Ukraine und Georgiens eingeschränkt, die Sicherheit der mittel- und osteuropäischen Nato-Mitglieder geschmälert und eine Einflusssphäre Russlands gegen den expliziten Willen der betroffenen Staaten etabliert hätten.

Russland begann Ende 2021, umfangreiche militärische Kräfte nördlich und östlich der Ukraine, auch in Belarus, in Stellung zu bringen. Diese Truppenpräsenz sollte offenkundig dazu dienen, Druck auf die Ukraine auszuüben. Moskau dementierte bis in den Februar 2022 hinein aber konsequent, dass ein Angriff auf die Ukraine geplant sei; die Truppen befänden sich für Übungen in den Grenzgebieten und würden wieder abgezogen.

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Angriff Russlands auf die Ukraine Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine mit einem massiven militärischen Mitteleinsatz an. Als Begründung wurde angeführt, Russland müsse mit einer präventiven Aktion verhindern, dass die Ukraine Nato-Mitglied werde und dereinst die Krim mit Waffengewalt zurückerobern wolle. Die Ukraine versuche auch, Nuklearwaffen zu beschaffen. Sie müsse dauerhaft auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten, ihre Neutralität erklären und alle Gebietsansprüche auf die Halbinsel Krim aufgeben. Weiter müsse die Ukraine gezwungen werden, den «Genozid» an der Bevölkerung der (wenige Tage vor dem Angriff durch Russland anerkannten) «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk zu beenden. Die Ukraine solle «entwaffnet» und «entnazifiziert» werden, damit sie Russland künftig nicht mehr bedrohen könne. Der Präsident Russlands machte deutlich, dass es darum gehe, die gewählte Regierung der Ukraine abzusetzen oder zu eliminieren. Er sprach der Ukraine gar ihr Existenzrecht ab.

Begleitet wurde die Invasion über die russische und belarussische Grenze von einer Seeblockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen sowie Kampagnen im Cyber-, elektromagnetischen und Informationsraum. Der Krieg verlief bis anhin für Russland offenkundig nicht nach Plan. Es hatte die ukrainische Verteidigungsbereitschaft erheblich unterschätzt und die eigenen militärischen Fähigkeiten überschätzt. Die Ukraine wehrte sich stärker als erwartet und erhielt Unterstützung vieler Staaten mit Militärmaterial, Aufklärung und finanziellen Mitteln. Nach einem anfänglichen Vorstoss bis in die Vororte von Kiew, der erfolglos abgebrochen werden musste, konzentrierte sich Russland in der Folge darauf, die vollständige Kontrolle über die Regionen Donezk und Luhansk zu erringen und eine Landverbindung von dorthin zur Halbinsel Krim zu sichern. Darüber hinaus sollen günstige Bedingungen für einen allfälligen späteren Vorstoss Richtung Odessa geschaffen werden, um die gesamte Schwarzmeerküste zu kontrollieren. Der Krieg hat sich seither zu einem Abnutzungskrieg entwickelt. Beide Seiten versuchen, sich militärisch in eine möglichst günstige Lage für spätere Verhandlungen zu bringen.

Völkerrechtliche Aspekte Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland mehrfache schwerwiegende Verletzungen des Völkerrechts begangen. Russland verletzt mit seinem
Vorgehen namentlich das völkerrechtlich verankerte Gewaltverbot und die territoriale Integrität sowie die Souveränität der Ukraine. Russland verpflichtete sich 1994 im Budapester Memorandum, als Gegenleistung für einen Verzicht der Ukraine und Kasachstans auf Nuklearwaffen die Souveränität und Grenzen dieser Länder zu respektieren. Die Annexion der Krim 2014 widerspricht dieser Verpflichtung ebenso wie die Anerkennung der sogenannten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk durch Russland als unabhängige Staaten im Februar 2022. Die Forderung nach einer verbindlichen Garantie, dass ein Staat der Nato nie beitreten werde, verstösst gegen das Souveränitätsrecht von Staaten, ihre Aussenbeziehungen selber zu gestalten. Der Anspruch, über die aussenund verteidigungspolitische Ausrichtung eines anderen Staates mitbestimmen zu wollen und damit dessen Souveränität zu beschneiden, ist nicht zulässig.

Viele Anzeichen sprechen dafür, dass die russische Armee in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen hat. Dazu zählen die Ermordung unbeteiligter Zivilisten und Angriffe auf zivile Objekte ­ gemäss humanitärem Völkerrecht dürfen nur militärische 5 / 38

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Objekte angegriffen werden. Russland hat wiederholt angedeutet, es könnte Nuklearwaffen einsetzen. Diese Verletzung des Völkerrechts ist besonders stossend, zumal Russland als ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates ausdrückliche Verantwortung für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens hat und am 3. Januar 2022, also nur Wochen vor dem Angriff auf die Ukraine, zusammen mit den anderen ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats erklärt hatte, dass ein Nuklearkrieg nicht gewonnen werden könne und nie geführt werden dürfe.

Globale Auswirkungen des Krieges Der Krieg in der Ukraine hat vielfältige, weitreichende und globale Auswirkungen in verschiedenen Politikbereichen. Er hat sich weltweit auf die Versorgungslage und Lieferketten ausgewirkt. Die Energiepreise sind weltweit und zum Teil massiv gestiegen und tragen zusätzlich zur ohnehin verstärkten Inflation in vielen Ländern bei. Besonders gravierend sind die schweren Störungen in der Versorgung mit wichtigen Grundnahrungsmitteln, da die Ukraine weltweit zu den wichtigsten Getreideexporteuren gehört. Russland setzt die Blockade der Nahrungsmittelexporte als Mittel ein, um Konzessionen zu erzwingen, wie etwa die Lockerung der von den westlichen Staaten verhängten Sanktionen. Weiter haben der Krieg und die umfangreichen Sanktionen gegenüber Russland auch dazu geführt, dass der Druck auf Handels- und Finanzplätze gestiegen ist, da der Handel und Verkauf einer breiten Palette von russischen Produkten sowie Geschäftsbeziehungen mit einer grossen Zahl sanktionierter russischer Personen verboten wurden.

Der Krieg hat darüber hinaus massive Flüchtlingsströme ausgelöst. Insgesamt sind über 15 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als 7 Millionen innerhalb der Ukraine, rund 8 Millionen ausserhalb (Stand: August 2022). Migrationsbewegungen, welche die Sicherheit Europas bzw. der Schweiz an sich nicht direkt bedrohen, aber die Aufnahmestaaten belasten, können auch als ein Element einer hybriden Kriegführung eingesetzt werden, um Druck auszuüben. Der Krieg in der Ukraine wird möglicherweise auch Auswirkungen auf die Kriminalität haben, beispielsweise in den Bereichen Menschen- und Waffenhandel, Betrug (z. B. Vorgeben von Wohltätigkeitszwecken), Betäubungsmittel, Geldwäscherei sowie Cyberangriffe.

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Internationale Reaktionen

Reaktionen von Staaten Der Angriff Russlands auf die Ukraine wurde von fast allen europäischen Staaten, der EU, den USA, Kanada, Japan, Südkorea, Singapur, Australien und Neuseeland verurteilt. 141 Staaten der UNO-Generalversammlung stimmten am 2. März 2022 einer Resolution zu, welche Russlands Vorgehen als Aggression einstuft, die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine bekräftigt und Russland zum sofortigen Abzug seiner Truppen auffordert. Einzig Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien lehnten zusammen mit Russland die Resolution ab, 35 Staaten enthielten sich der Stimme, darunter China, Indien und Südafrika, 12 sind nicht zur Abstimmung erschienen, darunter Usbekistan und Turkmenistan.

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Chinas Position ist zweideutig, weil es sich einerseits vehement für die Achtung von Souveränität und territorialer Integrität von Staaten ausspricht, wozu der Krieg Russlands gegen die Ukraine in offenem Widerspruch steht, anderseits verschiedene Positionen Russlands in den offiziellen Verlautbarungen der Regierung unterstützt. China hat deshalb bislang vermieden, sich klar auf eine Seite zu stellen, und sich darauf konzentriert, den Krieg zu bedauern und die Parteien zu Zurückhaltung und Verhandlungen aufzurufen.

Finnland und Schweden ­ bis in die 1990er-Jahre neutrale und in der Folge allianzfreie Staaten ­ haben als Folge des Krieges eine abrupte sicherheitspolitische Wende vollzogen und der Nato Beitrittsgesuche unterbreitet. Am Gipfeltreffen in Madrid im Juni 2022 hat die Allianz die beiden nordischen Staaten eingeladen, Mitglied zu werden. Gleichzeitig hat Dänemark per Referendum entschieden, seinen Vorbehalt gegenüber der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU aufzugeben ­ eine Zäsur in seiner Politik.

Eine von den USA koordinierte Gruppe von rund 50 Staaten unterstützt die Ukraine militärisch, sowohl finanziell wie auch mit Rüstungsmaterial, auch mit schweren militärischen Mitteln wie Artilleriegeschützen.2 Insbesondere die USA haben der Ukraine nachrichtendienstliche Informationen zur Verfügung gestellt. Um eine weitere Eskalation zwischen der Nato und Russland zu vermeiden, gehen verschiedene Staaten mit einer gewissen Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine mit Kriegsmaterial vor.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat viele Staaten in Europa veranlasst, ihre Verteidigungsbereitschaft zu verstärken. Mehrere Staaten haben beschlossen, ihre Verteidigungsbudgets in den nächsten Jahren substanziell zu erhöhen, darunter Deutschland, Schweden und die Niederlande. Auch hat der Krieg die schon vorher feststellbare Tendenz verstärkt, wieder vermehrt auf die Fähigkeit und Bereitschaft zur territorialen Verteidigung zu setzen.

Reaktionen von internationalen Organisationen In der Nato hat die kollektive Verteidigung des Bündnisgebietes wieder absolute Priorität. Bereits vor dem Krieg hatte die Nato ihre Bereitschaft erhöht, und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine traf sie rasch Massnahmen zum Schutz der Alliierten. Das Dispositiv an der östlichen Grenze des
Bündnisses wurde durch eine verstärkte Verschiebung von Truppen in die baltischen, ost- und südosteuropäischen Staaten markant erhöht. Zudem sind eine grössere Anzahl Kampfflugzeuge in permanenter höchster Alarmbereitschaft, und im Nordatlantik, in der Nord- und Ostsee sowie im Mittelmeer sind Schiffe unter Nato-Kommando stationiert worden. Am Gipfeltreffen in Madrid Ende Juni 2022 hat die Nato zudem ein neues strategisches Konzept verabschiedet, in dem Russland als Hauptbedrohung für die Sicherheit Europas bezeichnet wird, und weitere Massnahmen zur Stärkung der Ostflanke getrof-

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Die Schweiz gehört dieser Gruppe nicht an, da sie als neutraler Staat beim Waffenexport völkerrechtlichen Pflichten unterliegt (namentlich Gleichbehandlungsgebot bei privaten Exporten) und auch gemäss Kriegsmaterialgesetz keine Waffen an Konfliktparteien liefert.

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fen. Die USA haben ihre Truppenpräsenz in Europa von 68'000 auf über 100'000 Soldaten erhöht und damit ihren Beitrag und ihre Bedeutung für die Allianz und die Sicherheit Europas untermauert. Die Nato unterstützte in den letzten Jahren den Kapazitätsaufbau der ukrainischen Streitkräfte. Rasche wirksame westliche Unterstützung ist nur möglich, weil vorgängig die Interoperabilität sichergestellt wurde. Die militärische Unterstützung der Ukraine im Krieg erfolgt jedoch ausserhalb der Nato, die eine direkte militärische Konfrontation mit Russland vermeiden will.

Die Europäische Union (EU) reagierte rasch auf den Angriffskrieg Russlands. Sie hat massive humanitäre Hilfe geliefert und zur Stabilisierung der ukrainischen Wirtschaft eine ausserordentliche Makrofinanzhilfe von bis zu 9 Milliarden Euro gewährt. Erstmals wurde eine Richtlinie aktiviert, um Geflüchteten rasch vorläufigen Schutz zu gewähren. Sie verhängte mehrere Sanktionspakete gegen Russland und Belarus. Diese umfassen individuelle Sanktionen gegen Personen und Organisationen, darunter der russische Präsident und der Aussenminister, sowie Wirtschafts- und Finanzmassnahmen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie, Dual-Use-Güter, Rohstoffe und der Energiesektor, inklusive Ölimporte, sind ebenfalls betroffen. Ausserdem hat die EU Beschränkungen bei Visa, Medien und Transport eingeführt. Weiter gab es koordinierte Aktionen zur Ausweisung von als diplomatische Mitarbeitende akkreditierten russischen Nachrichtendienstoffizieren. Auch europäische Nicht-EU-Staaten haben sich den Sanktionen der EU angeschlossen, darunter auch die Schweiz. Ausserhalb Europas haben die USA, Kanada, Japan, Südkorea, Singapur, Australien und Neuseeland Sanktionen erlassen. Neben den Sanktionspaketen sprach die EU über die Europäische Friedensfazilität, die erstmals zur Lieferung von Waffensystemen verwendet wurde, zweieinhalb Milliarden Euro zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte.

Als Folge des Krieges strebt die EU bis spätestens 2030 eine vollständige Abkehr von fossilen Energieträgern aus Russland an. Mit dem «strategischen Kompass» legte die EU am 21. März 2022 einen ambitionierten Aktionsplan vor, um ihre militärische Handlungsfähigkeit zu erhöhen und ihre Verteidigungsfähigkeiten zu stärken. Europol hat die Polizeizusammenarbeit mit Russland sistiert3. Eurojust
sorgt für die justizielle Zusammenarbeit zwischen Ländern, die Verfahren für in der Ukraine begangene Kriegsverbrechen eingeleitet haben. An seinem Treffen vom 23.­24. Juni 2022 verlieh der Europäische Rat der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten.4 Die OSZE wäre eigentlich prädestiniert als Dialogforum zwischen westlichen Staaten und Russland in Ergänzung zur Abschreckung und Verteidigung gegenüber Russland durch die Nato. Ihre Handlungsfähigkeit ist aber seit dem russischen Angriff noch stärker beeinträchtigt als zuvor, da Russland und Belarus Entscheide blockieren können. Der Ukraine-Konflikt war seit 2014 Hauptaufgabengebiet der OSZE, aber die Beobachtermission in der Ukraine musste beendet werden, da Russland die Verlängerung ihres Mandats ablehnte.

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Die internationale kriminalpolizeiliche Organisation INTERPOL verzichtete auf einen Ausschluss Russlands, verschärfte indes ihr Kontrollregime bei russischen Ausschreibungen (z. B. Personenfahndungen), um allfällige Missbräuche zu verhindern.

Am gleichen Treffen wurde Moldawien der Kandidatenstatus verliehen und Georgien die europäische Perspektive in Aussicht gestellt.

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Die UNO ist durch Russlands Vetorecht im Sicherheitsrat nicht in der Lage, rechtlich verbindliche Massnahmen zu verabschieden. Die 141 Staaten, die in der Generalversammlung den Angriff auf die Ukraine verurteilten, gaben damit ein Zeichen der politischen Unterstützung an die Ukraine ab.

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Reaktionen der Schweiz

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Entscheide und Massnahmen

Am 23. Februar 2022 verurteilte der Bundesrat Russlands Anerkennung der zwei ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten als völkerrechtswidrigen Akt und Verstoss gegen die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine. Den darauffolgenden russischen Angriff auf die Ukraine verurteilte die Schweiz aufs Schärfste und forderte Russland auf, die militärische Aggression unverzüglich zu beenden und seine Truppen von ukrainischem Boden zurückzuziehen.

Am 28. Februar 2022 entschied der Bundesrat, die Sanktionen der EU gegenüber Russland zu übernehmen. Die Schweiz hat bisher die Sanktionspakete der EU ­ mit Ausnahme der Medienverbote und der (für die Schweiz irrelevanten) Verbote betreffend Strassen- und Wassertransport ­ umgesetzt. Dies löste eine Diskussion zur Sanktionspolitik der Schweiz aus ­ mehrere parlamentarische Vorstösse zeugen davon.5 Der Bundesrat hat zudem Einreiseverbote gegen verschiedene Personen ausgesprochen.

Mit Verweis auf die Neutralität und die Bestimmungen des Kriegsmaterialgesetzes vom 13. Dezember 19966 machte die Schweiz von Anfang an klar, dass sie in einem internationalen bewaffneten Konflikt keine Waffenlieferungen an eine Kriegspartei zulassen kann und wird. Sie hat auch Gesuche anderer Staaten abgelehnt, aus der Schweiz beschafftes Kriegsmaterial an die Ukraine weiterzugeben.

Die Schweiz hat auf den Krieg in der Ukraine durch die rasche Bereitstellung von humanitärer Hilfe reagiert, namentlich mit der Lieferung von Hilfsgütern, dem Einsatz von Expertinnen und Experten des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe und finanzieller Unterstützung humanitärer Organisationen. Auch die Armee stellte Material für die humanitäre Hilfe zur Verfügung, unter anderem medizinisches Gerät und ziviles Schutzmaterial. Die Schweiz hat zudem wie üblich ihre guten Dienste für Vermittlungstätigkeiten angeboten und konnte etwa mit der Ukraine ein g ein Schutzmachtmandat aushandeln, zu dem Russland bisher noch keine Zustimmung erteilt hat.

Massive Auswirkungen hat der Krieg auf die Migration. Bislang haben gegen 8 Millionen Menschen die Ukraine verlassen und über 7 Millionen wurden intern vertrieben. Rund 60 000 Menschen aus der Ukraine haben in der Schweiz Schutz beantragt (Stand: August 2022). Mit der Aktivierung des Schutzstatus S, der anhand bestimmter Kriterien die Bezeichnung von Personen ohne Asylverfahren als Schutzbedürftige 5

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22.3395 Mo. APK-N «Kohärente, umfassende und eigenständige Sanktionspolitik», 22.3455 Mo. SP Fraktion «Gesetzliche Grundlagen für die Verwendung eingefrorener Vermögenswerte zum Wiederaufbau der Ukraine schaffen» oder die laufende Änderung des Embargogesetzes (19.085).

SR 514.51

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ermöglicht, wurde eine Überlastung des Schweizer Asylsystems verhindert. Zur Unterstützung bei der Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge kamen auch die Armee, der Zivilschutz und der Zivildienst zum Einsatz.

Als Folge des Krieges in der Ukraine setzte die Schweiz die Zusammenarbeit mit Russland in der internationalen Rechtshilfe aus. Auch die Polizeizusammenarbeit wurde auf wenige Ausnahmen (wie Kindsmissbrauch, Terrorismus sowie unmittelbare Gefährdung von Leib und Leben) beschränkt. Die Strafverfolgungsbehörden des Bundes unterstützen die Bemühungen der internationalen Strafverfolgung und bereiten sich darauf vor, Ermittlungen wegen allfälliger Verstösse gegen das Völkerstrafrecht zu unterstützen. Mögliche Beweismittel von einreisenden Flüchtlingen werden erhoben, damit späteren Rechtshilfeersuchen, z. B. des Internationalen Strafgerichtshofs, entsprochen oder eigene Verfahren eröffnet werden können.

Der Krieg hat wegen den völkerrechtlichen Pflichten zum Schutz von ausländischen Behörden und Gebäuden auch Auswirkungen auf die innere Sicherheit. Das Bundesamt für Polizei (fedpol) hat die Sicherheitsmassnahmen für die diplomatischen Vertretungen Russlands, der Ukraine und von Belarus erhöht. Auch internationale Konferenzen mit völkerrechtlich geschützten Personen erfordern Sicherheitsmassnahmen, so die Ukraine Recovery Conference in Lugano im Juli 2022. Die Armee leistete subsidiäre Einsätze zum Schutz von internationalen Konferenzen in der Schweiz sowie der Schweizer Vertretung in Kiew. Im Bereich Cybersicherheit wurde die Überwachung hinsichtlich möglicher direkter oder indirekter Angriffe auf Ziele in der Schweiz intensiviert.

Im Bereich Bevölkerungsschutz verfolgt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) seit Kriegsausbruch intensiv die bevölkerungsschutzrelevante Lage, insbesondere in Bezug auf mögliche radiologische Gefährdungen sowie allfällige Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Es stellt die Grundbereitschaft des Labor Spiez für die Bewältigung von ABC-Ereignissen sicher und unterstützt im Rahmen des Ressourcenmanagements Bund die Beiträge der Schweiz für die internationale Hilfe. In den Kantonen aktualisieren die zuständigen Stellen die Zuweisungsplanungen für Schutzräume. Die Information der Öffentlichkeit zu Notvorräten und Schutzräumen wurde ebenfalls
verstärkt.

Die europäischen Energiemärkte sind seit Beginn des Krieges von Nervosität und Unsicherheit geprägt, was sich auch auf die Schweiz auswirkt. Bei der Erdgasversorgung ist die Schweiz vollständig von Importen abhängig. Das Gas stammt zu einem wesentlichen Teil aus Russland, und die Schweiz hat keine eigenen grossen Speicheranlagen. Eine massive Einschränkung oder Einstellung der Importe hätte grosse Auswirkungen auf Unternehmen und private Haushalte. Im Hinblick auf die Sicherstellung der Energieversorgung hat der Bundesrat Massnahmen ergriffen, z. B.

Einführung einer Wasserkraftreserve, Buchung zusätzlicher Gas-Speicherkapazitäten im Ausland und Bereitstellung von Finanzhilfen für Stromproduzenten.

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Reaktionen in Öffentlichkeit und Politik

Der Krieg in der Ukraine führte in der Schweiz zu intensiven Diskussionen in Öffentlichkeit und Parlament. Diese drehen sich vor allem darum, wie sich die Schweiz in Bezug auf den Krieg und künftige bewaffnete Konflikte positionieren und wie viel Solidarität mit der Ukraine unter dem aktuellen Neutralitätsverständnis möglich ist.

Im Fokus steht auch, was der Krieg für die Sicherheitspolitik der Schweiz und vor allem die Armee bedeutet, konkret welche Schlüsse für ihre Ausrichtung, ihre Mittel und ihre internationale Kooperation zu ziehen sind.

Neutralität und internationale Zusammenarbeit Eine Diskussion entstand zur Frage, wie weit die Schweiz als neutraler Staat bei der Unterstützung der Ukraine gehen kann und soll, wie zwischen der Neutralität und der Solidarität mit einem angegriffenen Staat und der westlichen Wertegemeinschaft abgewogen werden soll.7 Das Neutralitätsrecht verpflichtet einen neutralen Staat, an keinem internationalen bewaffneten Konflikt teilzunehmen. Ferner darf ein Neutraler keine Partei in einem internationalen bewaffneten Konflikt militärisch unterstützen.

In Bezug auf den Export von Rüstungsgütern durch Private muss ein neutraler Staat alle Kriegsparteien gleich behandeln; der Export von Rüstungsgütern aus staatlichen Beständen ist verboten.8 In Friedenszeiten darf der neutrale Staat keine Verpflichtungen eingehen, die im Kriegsfall eine Verletzung seiner Neutralität zur Folge hätten.

So kann er beispielsweise keiner Militärallianz wie der Nato beitreten. Beim bewaffneten Angriff auf einen neutralen Staat entfallen dessen Verpflichtungen aus dem Neutralitätsrecht, und er ist frei, seine Verteidigung gemeinsam mit anderen Staaten zu organisieren. Die Beibehaltung der Neutralität im Sinne der Erfüllung der Pflichten, die sich aus dem Neutralitätsrecht für die Schweiz ergeben, wird in der öffentlichen Diskussion kaum in Frage gestellt.

Hingegen hat der Krieg eine Debatte ausgelöst, ob das Neutralitätsverständnis, das die Schweiz seit 30 Jahren praktiziert, noch aktuell ist, um der Balance zwischen Neutralität und Solidarität mit der westlichen Wertegemeinschaft Rechnung zu tragen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine wurde in der Öffentlichkeit praktisch einhellig verurteilt. Viele vertreten die Meinung, dass die Schweiz auch als neutraler Staat bei solch eklatanten
und massiven Verstössen gegen Völkerrecht und zentrale Werte der Schweiz stärker mit ihren Partnern zusammenarbeiten muss, um diese Werte zu verteidigen. Es gibt aber auch Stimmen, wonach die Schweiz eine strikt unparteiische Haltung einnehmen, zu den Konfliktparteien gleichermassen Abstand halten und sich keinen Sanktionen anschliessen sollte.

In diesem Zusammenhang hat der Krieg auch eine Debatte über die künftigen Beziehungen der Schweiz zur Nato ausgelöst. Diese wird durch den bevorstehenden Beitritt Finnlands und Schwedens zur Allianz verstärkt. In der Schweiz wird ein Beitritt zur

7 8

Siehe z. B. das Postulat der APK-S vom 11. April 2022 (22.3385 «Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik»).

Die Schweiz hat über das Neutralitätsrecht hinaus in ihrer Kriegsmaterialgesetzgebung festgehalten, dass Exporte von Kriegsmaterial nicht bewilligt werden, wenn das Bestimmungsland in einen internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist.

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Nato nur von wenigen gefordert. Hingegen ist innerhalb dieser Debatte angeregt worden, die militärische Kooperation mit der Nato zu intensivieren, inklusive der Vorbereitung einer gemeinsamen Verteidigung. Beispielsweise wurde gefordert, künftig an Nato-Übungen zur gemeinsamen Verteidigung teilzunehmen.

Kriegsmaterialausfuhren Westliche Länder unterstützen die Ukraine mit Kriegsmaterial. Dieser Umstand und ausländische Anfragen an die Schweiz im Zusammenhang mit Schweizer Kriegsmaterial führten zu einer öffentlichen Debatte über die Möglichkeiten direkter oder indirekter Kriegsmaterialausfuhren aus der Schweiz in die Ukraine. Die Ausfuhr von Kriegsmaterial aus der Schweiz direkt in die Ukraine ist mit der Neutralität nicht vereinbar. Auch das Kriegsmaterialgesetz schliesst das aus.

Die Schweiz verlangt bei der Ausfuhr von Kriegsmaterial, dass sich der staatliche Empfänger (eine ausländische Regierung oder eine für diese tätige Unternehmung) mit einer sogenannten Nichtwiederausfuhr-Erklärung verpflichtet, das Material nicht ohne Zustimmung der Schweiz in ein Drittland wieder auszuführen. Die Schweiz erhielt Anfragen europäischer Staaten, ob aus der Schweiz beschafftes Kriegsmaterial an die Ukraine weitergegeben werden darf. Da Ausfuhren aus der Schweiz in die Ukraine aufgrund des neutralitätsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots und des Kriegsmaterialgesetzes nicht bewilligt werden können, wurde auch die Zustimmung zu einer Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial durch europäische Länder an die Ukraine verweigert.

Das Kriegsmaterialgesetz sieht vor, dass Schweizer Unternehmen an den internationalen Wertschöpfungsketten der Rüstungsindustrie partizipieren können. Zu diesem Zweck kann bei Einzelteilen oder Baugruppen von Kriegsmaterial auf Nichtwiederausfuhr-Erklärungen verzichtet werden, wenn feststeht, dass sie im Ausland in ein Produkt eingebaut und nicht unverändert wiederausgeführt werden und deren Wert im Vergleich zum fertigen Produkt einen gewissen Schwellenwert nicht überschreitet, oder wenn es sich um anonyme Teile handelt, deren Wert im Verhältnis zum fertigen Kriegsmaterial nicht ins Gewicht fällt. Solche Exporte sind mit dem Neutralitätsrecht vereinbar, selbst wenn das im Ausland mittels der Zulieferungen aus der Schweiz hergestellte Kriegsmaterial für eine Konfliktpartei bestimmt sein
könnte. Der Bundesrat hat deshalb beschlossen, die bestehende Praxis weiterzuführen und KriegsmaterialZulieferungen in Form von Baugruppen und Einzelteilen ins Ausland auch trotz des Ukraine-Konflikts weiterhin zu bewilligen.

Es gab auch vereinzelte ausländische Anfragen für die Veräusserung von überschüssigem, ausser Dienst gestelltem Schweizer Armeematerial.9 Eine Abgabe von Rüstungsgütern wie Waffen und Munition an einen Staat in einem bewaffneten Konflikt ist wegen der Neutralität und auch gemäss Kriegsmaterialgesetzgebung ausgeschlossen.

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Es gibt drei Optionen für ausser Dienst gestelltes Armeematerial: Verkauf oder Abgabe an das Herkunftsland, ohne Auflagen bezüglich Weiterverwendung; Verkauf oder Abgabe an Staaten, die im Anhang 2 der Kriegsmaterialverordnung aufgeführt sind (u. a. mit Nichtwiederausfuhr-Erklärung); Lagerung oder Verwertung des Materials in der Schweiz.

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Die Entscheide des Bundesrates führten zu Diskussionen im Parlament und in der Öffentlichkeit. Im Inland wurden Bedenken hinsichtlich der Zukunft der sicherheitsrelevanten Technologie- und Industriebasis in der Schweiz geäussert: Diese könnte leiden, wenn ausländische Regierungen und Unternehmen befürchten müssen, dass bei einer Beschaffung von Kriegsmaterial aus Schweizer Produktion ihre Handlungsfreiheit eingeschränkt wird. International wurde teilweise Unverständnis über die verweigerte Zustimmung der Schweiz für die Wiederausfuhr geäussert. Kritisiert wurde, dass die Schweiz damit die Unterstützung anderer Staaten für die Ukraine behindere.

Verteidigungsausgaben Der Krieg in der Ukraine führte zu Forderungen nach einer Erhöhung der Finanzmittel für die Armee.10 Das Parlament hat Motionen überwiesen, wonach ab 2023 die Armeeausgaben schrittweise erhöht werden sollen, sodass diese spätestens bis 2030 mindestens 1 Prozent des Bruttoinlandproduktes betragen.11 Zudem hat der Ständerat in der Sommersession12 kurzfristige Erhöhungen des Armeebudgets beschlossen, um zusätzliche Beschaffungen zu ermöglichen.

Bevölkerungsschutz Der Krieg in der Ukraine hat zu Diskussionen und zusätzlichen Aktivitäten im Bereich des Bevölkerungsschutzes geführt. Im Vordergrund standen die Betreuung der Flüchtlinge, die Unterstützung der internationalen Hilfe sowie mögliche radiologische Gefährdungen für die Schweiz, beispielsweise als Folge eines nuklearen Zwischenfalls in umkämpften Gebieten der Ukraine. Dazu kamen wiederholte Andeutungen von Personen der russischen Führung über einen möglichen Einsatz von Nuklearwaffen.

Als Folge davon wurden Einsatzplanungen für das Krisenmanagement des Bundes für den Fall eines radiologischen Ereignisses vorgenommen. Zudem gab es ein grösseres Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit bezüglich Versorgungssicherheit und möglicher Schutzmassnahmen, namentlich der Bereitschaft und Zuteilung der Schutzräume im Hinblick auf nukleare Ereignisse. Das BABS und die Kantone verstärkten daraufhin ihre Informationstätigkeiten und den gegenseitigen Austausch.

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Parlamentarische Vorstösse thematisierten zudem Grundlagen, Ausrichtung und Bereitschaft der Armee: U. a. dringliche Interpellationen: Ip. SVP 22.3046, Die Schweiz braucht dringend eine Armee-, Schutz- und Verteidigungsstrategie zum Schutz der eigenen Bevölkerung; Ip. FDP-Liberale Fraktion 22.3047, Lehren aus dem Ukraine-Konflikt für die Schweiz ziehen; IP Fraktion Mitte/EVP 22.3050, Krieg gegen die Ukraine. Sicherheitspolitische Zäsur in Europa. Welche Auswirkungen für die Schweiz?; Ip. Dittli 22.3040, Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee; zudem Po. Binder 22.3061, Terrestrische Bedrohung und Verteidigungsfall Schweiz. Wie ist die Schweiz vorbereitet? Welche Lücken müssen geschlossen werden aufgrund der neuesten Ereignisse?

Motion 22.3367, Motion 22.3374, «Schrittweise Erhöhung der Armeeausgaben».

22.005 | Armeebotschaft 2022 | Amtliches Bulletin | Das Schweizer Parlament

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Fazit Die öffentliche Diskussion, die parlamentarischen Vorstösse und aktuelle Umfragen13 zeigen: Der Krieg hat das Sicherheitsempfinden der Schweizer Bevölkerung beeinflusst; die Positionierung des Bundesrats hat breite Unterstützung; die Haltung zur Neutralität ist etwas kritischer, jene zur internationalen Zusammenarbeit dafür offener geworden; es gibt mehr Zustimmung für eine stärkere Ausrichtung auf die Verteidigung und die Aufstockung der finanziellen Mittel für die Armee. Mehr in den Fokus gerückt sind auch die Antizipation von Bedrohungen und Gefahren sowie der Bevölkerungsschutz, insbesondere mit Blick auf radiologische Ereignisse. Zudem hat der Krieg unmittelbare und massive Auswirkungen für Politikbereiche wie Sanktionen, Asylwesen und Versorgung mit kritischen Gütern und Leistungen, insbesondere im Energiebereich.

5

Verändertes sicherheitspolitisches Umfeld der Schweiz

Tendenzen Der Krieg verstärkt bereits länger erkennbare sicherheitspolitische Tendenzen. Die Spaltung zwischen westlichen Demokratien auf der einen Seite und autoritären Staaten wie China und Russland auf der anderen nimmt weiter zu. Auch Handelsbeziehungen bei Technologie und Energie folgen immer mehr der sicherheitspolitischen Logik einer Blockbildung. Russland versucht, seine Einflusssphäre mit Verweis auf imperiale Vorbilder auszudehnen. Die Einflussnahme der USA auf die europäische Sicherheit hat im Zuge des Krieges in der Ukraine zugenommen, nicht zuletzt wegen der militärischen Unterstützung der Ukraine bei der Aufklärung, Ausbildung und Rüstung, aber auch der signifikant verstärkten US-Militärpräsenz an der Nato-Ostflanke.

Es zeigt sich, dass die USA für die Sicherheit Europas zentral bleiben und auch künftig das Rückgrat der Verteidigung auf dem Kontinent innerhalb der Nato bilden werden, selbst bei ausgeglichenerer transatlantischer Lastenteilung. Längerfristig bleibt indessen die Frage, ob die USA ihr Engagement in Europa trotz der strategischen Ausrichtung auf den asiatisch-pazifischen Raum unverändert aufrechterhalten wird.

Mit dem Strategischen Kompass zeigt die EU, dass sie mehr Verantwortung für die europäische Sicherheit übernehmen möchte.

Der Krieg hat auch die grössere Rolle von Technologiefirmen gezeigt. Beispielsweise nutzte die Ukraine die Satelliteninfrastruktur von Starlink und wurde beim Schutz vor Cyberangriffen von Microsoft unterstützt.

Der Krieg führt zu einer stärkeren Fokussierung der Nato auf die kollektive Verteidigung. Der Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato stärkt die Allianz. Die Nato wird auf absehbare Zeit das Rückgrat der gemeinsamen Verteidigung, inklusive der Abschreckung, in Europa bilden. Dass die Abschreckung funktioniert, zeigt der Um-

13

Siehe z.B. Nachbefragung der Studie «Sicherheit 2022» aufgrund des Krieges in der Ukraine, Bericht vom 14. Juli 2022, Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich und Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich.

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stand, dass Russland bislang die westliche Rüstungshilfe an die Ukraine auf dem Territorium der angrenzenden Nato-Staaten nicht aktiv bekämpft. Aber auch westliche Staaten sind vorsichtig, um keine Eskalation zu provozieren. Europäische Streitkräfte werden wieder stärker auf die Abschreckung und Abwehr eines militärischen Angriffs und auf den konventionellen Krieg ausgerichtet. Der Ukraine-Konflikt war zwar seit 2014 durch den Einsatz hybrider Mittel Russlands geprägt, mündete schliesslich aber doch in einen Angriff mit konventionellen militärischen Mitteln. Dieser Umstand wird bei der Streitkräfteentwicklung in Europa berücksichtigt werden, auch bei Rüstungsvorhaben.

Die EU ist bezüglich der militärischen Verteidigung Europas keine Alternative zur Nato. Sie kann aber zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten und der Verteidigungsindustrie in Europa beitragen. Die militärische Friedensförderung dürfte als Folge des Krieges gegenüber der verstärkten Ausrichtung auf Verteidigung an Priorität verlieren, obwohl der Bedarf an Stabilität insbesondere im Westbalkan wieder zunimmt. Mehrere Nato- und EU-Mitglieder haben als Reaktion auf den Krieg eine substanzielle Aufstockung ihrer Verteidigungsbudgets angekündigt. Es ist deshalb in den nächsten Jahren in Europa wie auch in anderen Teilen der Welt von einer erheblichen Aufrüstung auszugehen respektive von einer Korrektur oder Umkehr der Reduktion der Verteidigungsausgaben der letzten zwanzig bis dreissig Jahre. Dies wird sich auch auf die globale Nachfrage nach Rüstungsgütern auswirken.

Die Beziehungen zwischen westlichen Staaten und Russland werden für längere Zeit konfrontativ bleiben. Russlands Ziel ist es offenbar nicht nur, die Ukraine als eigenständigen Staat zu vernichten, sondern auch eine Einflusssphäre in Europa wiederherzustellen, ähnlich wie in den Zeiten der Sowjetunion. Paradoxerweise hat aber Russlands Angriffskrieg dazu geführt, dass mit Finnland und Schweden weitere Länder der Nato beitreten wollen und die Nato ihr Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv wesentlich stärkt. Ähnliches gilt für die EU-Annäherung der Ukraine, die seit 2022 zusammen mit Moldawien Beitrittskandidat ist.

Bedrohungs- und Gefahrenlage Schweiz Europa und auch die Schweiz sind direkt von den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine betroffen. Er führt insbesondere
zu einer Intensivierung der verteidigungspolitischen Kooperation in Europa. Die Schweiz ist dank ihrer geografischen Lage weniger stark exponiert. Ein direkter bewaffneter Angriff Russlands auf die Schweiz, insbesondere mit Bodentruppen, ist auch in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich. Im Krieg in der Ukraine zeigt sich jedoch, wie das übrige Spektrum der Mittel hybrider Kriegführung zum Einsatz gelangt, von Desinformation und Beeinflussung, Cyberangriffen, über Druckausübung und Erpressung bis zu verdeckten Operationen. Von solchen Bedrohungen kann auch die Schweiz betroffen sein, wobei diese praktisch ohne Vorwarnzeiten eintreten können.

Mit dem Krieg haben denn auch russische Beeinflussungs- und Desinformationsaktivitäten gegenüber der Schweiz zugenommen, auch wegen ihres Standorts für viele internationale Organisationen. Die Cybervorfälle im Vorfeld und am Anfang der Invasion zeigen, dass Cybermittel in erster Linie zur Unterstützung militärischer Aktionen eingesetzt werden, mit zeitlich und schadenmässig limitierter Wirkung. Es wurde vor allem versucht, militärische Fähigkeiten der Ukraine einzuschränken, aber 15 / 38

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auch der Wirtschaft und Gesellschaft zu schaden, um den Verteidigungswillen zu schwächen. Die zunehmende internationale Vernetzung bedeutet, dass Cyberangriffe über Grenzen hinweg Auswirkungen haben und auch Schweizer Einrichtungen betreffen können. In einer eskalierenden Lage muss auch mit direkten Cyberangriffen gegen Ziele in der Schweiz gerechnet werden. Nichtstaatliche Cyberakteure sind bei Vorgehen und Wahl der Ziele freier, aber meistens handelt es sich um niederschwellige Vorfälle wie Angriffe auf die Verfügbarkeit von Webseiten, das Entwenden und Veröffentlichen von Daten oder deren Veränderung durch die Angreifer.

Die Bedrohung durch verbotenen Nachrichtendienst, auch gegen Drittstaaten, wird im Zusammenhang mit dem Krieg wahrscheinlich weiter zunehmen, insbesondere auf dem Platz Genf, der in Krisenzeiten durch die Präsenz von internationalen Organisationen, ausländischen Vertretungen und Nichtregierungsorganisationen gegenüber Spionage besonders exponiert ist.

Als Folge des Krieges könnten zudem Waffen und Kriegsmaterial aus der Ukraine in die Hände der organisierten Kriminalität gelangen, was den Schwarzmarkt und die Verfügbarkeit von Sprengstoff, Waffen und Munition beeinflussen kann. Davon können kriminelle Organisationen, terroristische Netzwerke und auch extremistische Kreise profitieren. Der Krieg in der Ukraine sowie die dadurch verursachten Migrationsbewegungen können Auswirkungen auf andere Bereiche der Kriminalität wie Menschenhandel, Betrug, Betäubungsmittel sowie Geldwäscherei haben. Bisher sind die Auswirkungen auf die Kriminalitätslage in der Schweiz auch dank guter nationaler und internationaler Zusammenarbeit und der getroffenen Massnahmen gering.

Die durch den Krieg ausgelösten Störungen in der Energieversorgung Europas betreffen auch die Schweiz. Die Unsicherheiten bei der Versorgung mit russischem Erdgas wegen drohenden Lieferunterbrüchen, verbunden mit längeren Trockenperioden, die sich negativ auf die Wasserkraft auswirken, können auch in der Schweiz, insbesondere im Winter, zu einer Strom- und Gasmangellage führen. Davon sind nicht nur Privathaushalte und Wirtschaft betroffen, sondern potenziell auch kritische Infrastrukturen, die u. a. im Sicherheitsbereich eine wichtige Rolle spielen (z. B. Alarmierungsund Krisenkommunikationssysteme).

6

Schlussfolgerungen für die Schweizer Sicherheitspolitik

Im Sicherheitspolitischen Bericht des Bundesrats vom 28. November 2021 werden Prinzipien aufgeführt, die den Rahmen für die Gestaltung der Schweizer Sicherheitspolitik bilden: Neutralität und Kooperation; Demokratie, Respektierung des Völkerrechts und Rechtstaatlichkeit; Föderalismus und Subsidiarität; Miliz und Dienstpflicht. Diese Prinzipien gelten auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Der Bericht hält aber auch fest, dass ihre Auslegung im Lichte politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen immer wieder zu überprüfen ist.

Die sicherheitspolitischen Interessen ­ Gewaltverzicht und regelbasierte internationale Ordnung, Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit, Sicherheit der Bevölkerung und kritischer Infrastrukturen ­ haben wegen des Krieges nichts an Bedeutung und

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Aktualität verloren. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein frontaler Verstoss gegen diese Interessen.

Das übergeordnete Ziel der Schweizer Sicherheitspolitik bleibt unverändert, die Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Integrität der Schweiz und ihrer Bevölkerung sowie ihre Lebensgrundlagen gegen Bedrohungen und Gefahren zu schützen und zu Frieden und Stabilität jenseits der Grenzen beizutragen.

Die neun sicherheitspolitischen Ziele14 im Sicherheitspolitischen Bericht sind auch in der kritischer gewordenen Sicherheitslage richtig. Der Krieg führt aber die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs bei der Umsetzung bestimmter Ziele noch konkreter vor Augen, insbesondere in Bezug auf die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit im Interesse von Sicherheit und Stabilität. Das trifft auch zu für die Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen; die stärkere Ausrichtung auf hybride Konfliktführung, inklusive bewaffnetem Konflikt; die freie Meinungsbildung ohne Desinformation sowie die Stärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen.

Schliesslich haben auch die Stärkung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen, die Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit wie auch das Krisenmanagement an Relevanz gewonnen.

Für die Umsetzung dieser Ziele sind im Sicherheitspolitischen Bericht konkrete Massnahmen aufgeführt. Dazu gehören etwa die Verbesserung der Aufklärungsfähigkeiten zur Identifizierung und eigenständigen Beurteilung von sicherheitsrelevanten Entwicklungen und Bedrohungen; die Umsetzung der neuen Strategie Cyber des VBS zur Schliessung von Lücken im Abwehrdispositiv und weiteren Stärkung der Mittel im Bereich Cyberdefence; eine verstärkte Ausrichtung der Fähigkeiten der Armee auf hybride Bedrohungen, gerade im Cyberbereich, oder die Klärung des Bedarfs an Schutzbauten sowie die Aktualisierung von Schutzkonzepten für die Bevölkerung, z. B. im ABC-Schutz. Besondere Aktualität seit dem Ausbruch des Krieges haben zudem die Verbesserung der Resilienz kritischer Infrastrukturen, die Reduktion von Abhängigkeiten von kritischen Gütern und Dienstleistungen und die Weiterentwicklung der nationalen Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen.

Es ist davon auszugehen, dass sich als Folge des Krieges das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz nachhaltig verschlechtert und
volatil bleibt. Ebenso absehbar ist, dass sich die internationale sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation in Europa intensiviert und für die Sicherheit und Stabilität der Schweiz noch wichtiger wird als zuvor. Die Schweiz ist grenzüberschreitenden Bedrohungen genauso ausgesetzt wie andere europäische Staaten, mit denen sie wirtschaftlich, technologisch und gesellschaftlich hoch vernetzt ist und deren Werte sie teilt.

Aufgrund ihrer günstigen geografischen Position befindet sich die Schweiz zwar immer noch in einer verhältnismässig guten Lage. Ein bewaffneter Angriff könnte aber 14

Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen; Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, Stabilität und Sicherheit; verstärkte Ausrichtung auf hybride Konfliktführung; freie Meinungsbildung und unverfälschte Information; Verstärkung des Schutzes vor Cyberbedrohungen; Verhinderung von Terrorismus, gewalttätigem Extremismus, organisierter und übriger transnationaler Kriminalität; Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit bei internationalen Krisen; Verbesserung des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen und der Regenerationsfähigkeit; Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Behörden und des Krisenmanagements.

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auch aus der Distanz durchgeführt werden. Bei einem solchen Angriff, beispielsweise durch Einsatz oder Androhung mit ballistischen Lenkwaffen, Marschflugkörpern oder Hyperschallwaffen, wird die Schweiz erpressbar, und sie wäre auf Zusammenarbeit mit anderen Staaten angewiesen. Im Falle eines direkten terrestrischen Angriffs auf die Schweiz ist davon auszugehen, dass die umliegenden Länder bereits in den Konflikt einbezogen wären. Der Krieg in der Ukraine verdeutlicht zudem, dass eine Verteidigung gegenüber einem mächtigen Gegner mit Unterstützung durch andere Staaten oder Organisationen wirksamer ist. Diese Erkenntnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, die Zusammenarbeit mit den internationalen Sicherheitsorganisationen, insbesondere der Nato, zu intensivieren. Im Fall eines bewaffneten Angriffs kann sich ein neutraler Staat auch mit anderen Staaten zusammen verteidigen, weil dann die Neutralitätspflichten entfallen.15 Die verteidigungspolitische Strategie der Schweiz zielt darauf ab, die Fähigkeit zu haben, sich soweit wie möglich selbständig zu schützen und zu verteidigen, gleichzeitig aber die Möglichkeit zu haben, sich bei Bedarf im Verbund mit anderen Staaten zu verteidigen.

Angesichts des Kriegs in der Ukraine liegt es im Interesse der Schweiz, ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik konsequenter als bislang auf Kooperation mit Partnern auszurichten. Die militärische Zusammenarbeit im Ernstfall soll so weit wie möglich vorbereitet und mit den Partnern geübt werden, ohne dabei Verpflichtungen einzugehen oder Sachzwänge zu schaffen. Dabei muss die Schweiz bereit sein, substanzielle Beiträge zur Sicherheit ihrer Partner zu leisten. Deshalb wird zu prüfen sein, wie weit die Schweiz in der Zusammenarbeit mit Partnern gehen kann. Partnerschaften kann nur eingehen, wer auch substanzielle Leistungen erbringen kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass kein Partner mit der Schweiz eine Kooperation eingehen wird, wenn er die gesamte Last alleine zu tragen hat. Als Konsequenz daraus muss die Schweiz über die gesamte Breite an Verteidigungsfähigkeiten verfügen, um eine glaubwürdige Kapazität zur eigenständigen Verteidigung zu erhalten, aber auch um substanzielle Beiträge nach dem erforderlichen politischen Entscheid zugunsten der Partner erbringen zu können. Es ist letztlich ein Geben und Nehmen ­
auch in der Verteidigung.

Ein Nato-Beitritt, der das Ende der Neutralität bedeuten würde, ist für die Schweiz keine Option. Ein solcher Schritt würde zwar bedeuten, dass die Schweiz von der kollektiven Bündnisverteidigungspflicht profitieren könnte. Sie stünde aber auch in der Pflicht, wenn ein anderes Mitglied der Allianz angegriffen würde. Ausserdem würde von ihr erwartet, dass sie ihre Verteidigungsausgaben substanziell erhöht. Das andere Extrem, ein sicherheitspolitischer Alleingang mit Verzicht auf internationale Kooperation und Streben nach vollständiger Autonomie in der Verteidigung, ist nicht gangbar.

15

Siehe u. a. Sicherheitspolitischer Bericht 2021: «Falls die Schweiz Ziel eines bewaffneten Angriffs und die Neutralität hinfällig wird, soll sie damit beide Optionen haben: autonome Verteidigung oder Zusammenarbeit mit anderen Staaten, insbesondere den Nachbarstaaten» (Sicherheitspolitischer Bericht vom 24. November 2021, S. 38).

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Internationale Zusammenarbeit

7.1

Ausgangslage

Die Schweizer Armee arbeitet seit Jahrzehnten mit ausländischen Streitkräften und internationalen Organisationen in der Ausbildung, Streitkräfteentwicklung und Rüstung, aber auch in Einsätzen zur militärischen Friedensförderung und zur Bewältigung von Katastrophen zusammen. In den letzten Jahren ist Kooperation im Cyberbereich dazugekommen.

Das Milizsystem führt zu Einschränkungen. Bei Ausbildungsdiensten im Ausland sind bestimmte Merkmale des Milizsystems zu berücksichtigen. Ausbildung im Ausland ist für die Armeeangehörigen freiwillig, was die Teilnahme von Verbänden erschwert. Zudem werden die Wiederholungskurse weit im Voraus festgelegt. Aus diesen Gründen nahmen bisher hauptsächlich Stabsoffiziere und Angehörige von Berufsformationen wie Militärpolizei, Spezialkräfte und Luftwaffe an Ausbildungen im Ausland teil. Wenn es darum geht, die Interoperabilität und militärischen Fähigkeiten von Verbänden der Schweizer Armee durch die Nato prüfen zu lassen, könnte das aber auch in der Schweiz erfolgen.

Als Kooperationspartnerin hat die Schweizer Armee aber auch Vorteile: Sie verfügt über gute Ausbildungsinfrastrukturen für Kampftruppen, insbesondere mit Simulatoren. Angebote für die Ausbildung oder Übungen für den Kampf im Gebirge und bei der Militärmedizin stossen seit Jahren auf reges Interesse von Partnerstaaten. Potenzial hat zudem der Bereich Cyberdefence, wo die Schweiz Ausbildungs- und Trainingsmöglichkeiten für Cyberspezialisten sowie Partnerschaften mit Wirtschaft und Wissenschaft anbieten kann.16 Von hohem Interesse für die Nato sind Beiträge der Schweiz in Nato-geführten Operationen, insbesondere in der Kosovo Force (KFOR) im Kosovo. Schliesslich eröffnet die Beschaffung des Kampflugzeuges F-35A und der bodengestützten Luftabwehr Patriot neue Möglichkeiten für die Zusammenarbeit.

Die Schweiz hat bislang nur als Beobachterin an Nato-Übungen teilgenommen, die auf gemeinsame Verteidigung ausgerichtet sind. Sollte eine Teilnahme künftig angestrebt werden, ist zu berücksichtigen, dass die meisten europäischen Armeen nicht mehr das ganze Spektrum abdecken, sondern sich in internationaler Arbeitsteilung auf bestimmte Aufgaben spezialisieren.17 Deshalb stehen gewisse Nato-Staaten einer Beteiligung von Drittstaaten, die im Verteidigungsfall möglicherweise ihre militärischen Fähigkeiten nicht zur Verfügung stellen, an derartigen Übungen zurückhaltend gegenüber.

16

17

Die Schweiz ist bereits «Contributing Partner» beim «Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence» in Tallinn, das von der Nato als internationales Kompetenzzentrum akkreditiert ist.

Um sicherzustellen, dass auf multinationaler Ebene trotzdem alle benötigten Fähigkeiten vorhanden sind, erlassen die Nato und die EU Vorgaben für den Aufbau und Erhalt entsprechender Fähigkeiten (NATO Defence Planning Process, NDPP; Coordinated Annual Review of Defence, CARD).

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7.2

Zusammenarbeit mit der Nato

Kooperation heute Die Schweiz beteiligt sich seit 1996 an der Partnerschaft für den Frieden. Bisher stand die Stärkung der militärischen Zusammenarbeitsfähigkeit in friedensunterstützenden Operationen im Zentrum. Seit Oktober 1999 beteiligt sich die Schweizer Armee am von der Nato geführten friedensunterstützenden Einsatz der KFOR. Das aktuelle nationale Mandat läuft bis Ende 2023; der Bundesrat wird voraussichtlich eine Verlängerung für 2024­2026 beantragen.

Die Zusammenarbeitsfähigkeit wird in Übungen überprüft. Aktuell nimmt die Schweiz pro Jahr an rund sieben Übungen der Nato aktiv oder als Beobachterin teil, in den Bereichen Luftwaffe, Spezialkräfte, Führungsunterstützung und Cyberdefence.

Zur Stärkung der Interoperabilität beteiligt sich die Schweiz seit 1998 am Planning and Review Process (PARP). In diesem Rahmen werden Partnerschaftsziele für die Zusammenarbeitsfähigkeit vereinbart. Die Schweiz konzentriert sich bislang auf Bereitschaft und Doktrin sowie Spezialgebiete wie Kommunikation, Minenräumung, Aufklärung, Sanität und Cyberdefence. Die Ziele widerspiegeln zum Teil Fähigkeiten, welche die Schweiz für Nato-geführte Friedensförderungsmissionen zur Verfügung stellt.

Die Schweiz beteiligt sich seit 2015 an einer Gruppierung, welche die Interessen von Australien, Finnland, Irland, Neuseeland, Österreich, Schweden und der Schweiz gegenüber der Nato vertritt und Empfehlungen zuhanden der Nato ausarbeitet, wie die Interoperabilität zwischen der Nato und diesen Partnerstaaten verbessert werden könnte. Der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens wird die Bedeutung dieser Gruppierung allerdings verändern. Ab 2023 wird mit dem neu geschaffenen «Individuellen Partnerschafts- und Kooperationsprogramm» (ITPP) auf der politischen Ebene ein Instrument zur Verfügung stehen, um die Kooperation noch flexibler zu gestalten.

Bei der Streitkräfteentwicklung beteiligt sich die Schweiz an einer Vielzahl von verschiedenen thematischen Arbeitsgruppen, womit das Fähigkeitsspektrum der Schweizer Armee bereits breit abgedeckt wird. Die Interoperabilität als zentrale Voraussetzung für eine Kooperation spielt dabei auch über die Aufgabe Friedensförderung hinaus eine wichtige Rolle. Sie ist die Grundlage dafür, um in der Doktrin, in der Führung, im Einsatz und in der Rüstungsbeschaffung Kooperationsmöglichkeiten
effizient nutzen zu können.

Die Armee nutzt das Kursangebot der verschiedenen Nato-Schulen zur Aus- und Weiterbildung von zivilen Angestellten, Berufsmilitär und Milizangehörigen. In den vergangenen Jahren nahmen rund 500 Personen pro Jahr aus der Schweiz an Kursen, Übungen, Arbeitsgruppen und Konferenzen teil. Die Schweiz führt pro Jahr selber gut 30 Ausbildungskurse im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden durch, die internationalen Teilnehmenden offenstehen. Dieses Angebot wird jeweils von über 400 Teilnehmenden aus über 90 Staaten wahrgenommen. Ausserdem ist die Schweiz jährlich Gastgeberin verschiedener Nato-Veranstaltungen. Ein Beispiel dafür ist das Nato-Partnerschaftssymposium, das im Juli 2022 in Genf stattfand.

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Die Nato arbeitet mit 28 sogenannten Centres of Excellence zusammen. Diese sind nicht Teil der Nato-Kommandostruktur, stellen der Allianz aber Expertise zur Verfügung. Die Schweiz unterstützt das Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence in Tallinn mit zwei Personen. Eine verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Zentren, zum Beispiel mit dem Nato Centre of Excellence for Military Medicine oder dem Military Engineering Centre of Excellence, wird derzeit geprüft.

Die Zusammenarbeit mit der Nato umfasst auch die sicherheits-, aussen- und militärpolitische Ebene, insbesondere regelmässige Konsultationen und die Teilnahme an Sitzungen von politischen und militärischen Gremien.

Auch armasuisse und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) arbeiten in ihren Tätigkeitsbereichen mit der Nato zusammen. Das BABS bietet zusammen mit dem GCSP seit mehreren Jahren Kurse im Bereich im Bereich Krisenmanagement an und beteiligt sich an den Arbeitsgruppen der Nato zur zivilen Notfallplanung und in Fragen der Resilienz. Die Interessen von armasuisse im Rüstungsbereich werden durch die Teilnahme an Arbeitsgruppen und Projekten, die sich beispielsweise mit gemeinsamen Versuchen und der Erarbeitung von militärischen Standards befassen, abgedeckt. Letztere sind massgebend für die Fähigkeit zur militärischen Zusammenarbeit mit den Streitkräften der Nato-Länder. Armasuisse unterhält auch Beziehungen zur NATO Supply and Procurement Agency (NSPA) und zur NATO Communication and Information Agency (NCIA). Weiter nimmt die Schweiz an Forschungsprojekten und -foren im Rahmen der Science and Technology Organization (STO) der Nato teil.

Schliesslich stellt die Schweiz verschiedenen Stellen der Nato Personal für Stabs- und Verbindungsfunktionen zur Verfügung.18 Ausbaumöglichkeiten Die Zusammenarbeit kann innerhalb der bestehenden Partnerschaft mit der Nato intensiviert werden, um die Interoperabilität weiter zu verbessern. Die Schweiz kann etwa ihre Beteiligung an Friedensförderungseinsätzen und entsprechenden Übungen ausbauen. Weiter könnte zusätzliches Personal gestellt und eine grössere Zahl von für die Schweiz wichtigen Stabsfunktionen in der Kommandostruktur der Nato besetzt werden.19 Auch ein Ausbau der Beteiligung an von der Nato zertifizierten Centres of Excellence ist möglich. Die Intensivierung der bestehenden
Zusammenarbeit geht mit einer Stärkung des politischen Dialogs sowohl auf Ministerebene als auch auf der Fachebene einher.

Wenn die Schweiz eine neue Stufe der Kooperation mit der Nato anstrebt, könnte das Ambitionslevel erhöht werden, indem sich die Schweizer Armee an Übungen der Nato im gesamten Spektrum beteiligen würde, vorerst mit mehr Berufsformationen.

Eine Beteiligung an Übungen zur gemeinsamen Verteidigung könnte im Einzelfall mit der Nato geprüft werden. Voraussetzung wäre eine Einladung der Nato, was nicht 18

19

Allied Command Operations in Mons, Belgien; Comprehensive Crisis and Operations Management Centre in Mons; Federated Mission Networking Secretariat in Mons; Allied Command Transformation in Norfolk, USA; Internationaler Stab der Nato in Brüssel; NATO Defense College, in Rom; NATO School in Oberammergau, Deutschland.

Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE), Allied Joint Force Command (JFC) Naples, Italien, JFC Brunssum, Niederlande, Allied Air Command in Ramstein, Deutschland, Allied Land Command in Izmir, Türkei.

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als gesichert angenommen werden kann: Übungen zur gemeinsamen Verteidigung auch mit Partnerstaaten basieren in der Regel auf der Annahme, dass man im Ernstfall gemeinsam kämpfen würde, und zwar auch dann, wenn die Schweiz selber nicht direkt militärisch angegriffen würde. Falls Nato-Truppen in der Schweiz für Übungen eingeladen würden, könnten auch Miliztruppen mit ihnen üben. Der Hauptnutzen läge darin, unter Beachtung der Neutralität optimale Bedingungen dafür zu schaffen, im Fall eines Angriffs auf die Schweiz mit der Allianz und ihren Mitgliedstaaten in der Verteidigung zusammenarbeiten zu können. Darüber hinaus ergäbe sich ein wesentlich verbesserter Zugang zu den Lageverfolgungs-, Führungs- und Planungsprozessen der Nato. Falls sich die Schweizer Armee auch mit Milizformationen an Übungen der Nato zur gemeinsamen Verteidigung beteiligen will, würde das eine Revision der rechtlichen Grundlagen voraussetzen, um den Ausbildungsdienst im Ausland obligatorisch zu machen. Eine allfällige Verlängerung von Wiederholungskursen und der Einsatz von Durchdienern müsste auch vorgesehen werden.

Zur Steigerung der Interoperabilität für die Verteidigung könnte die Teilnahme am Operational Capabilities Concept Evaluation and Feedback Programme (OCC E&F) angestrebt werden. Dieses Programm dient der Nato dazu, die Interoperabilität und militärischen Fähigkeiten von Verbänden ihrer Partnerstaaten mit einem Zertifizierungsprozess zu überprüfen. Damit auf gefechtstechnischer und taktischer Ebene zusammengearbeitet werden kann, müsste das OCC mindestens für die an Übungen teilnehmenden Verbände der Armee implementiert werden. Die Nato könnte die Interoperabilität und militärischen Fähigkeiten von Verbänden der Armee allenfalls auch in der Schweiz überprüfen.

In der sanitätsdienstlichen Zusammenarbeit könnte eine Beteiligung am NATO Multinational Medical Coordination Centre erwogen werden. Der Fokus der Zusammenarbeit in der Streitkräfteplanung würde auf alle verteidigungsrelevanten Themen ausgeweitet. Auch eine Vertiefung der Partnerschaft, z. B. als Enhanced Opportunities Partner (EOP) oder in einer anderen Form, könnte angestrebt werden. Von EOPPartnern beispielsweise erwartet die Nato ihrerseits, dass sie unter anderem für mindestens eine Nato-Operation Truppen stellen und an Übungen mit der Nato teilnehmen,
auch solchen zur kollektiven Verteidigung. Weiter ist eine Vereinbarung zur Definition der Unterstützungsleistungen des Partners für Nato-Streitkräfte nötig (z. B.

für den Transit von Material und Personal oder für gemeinsame Übungen auf dem Territorium des Partnerlandes). Eine vertiefte Partnerschaft würde der Schweiz den Zugang zu Übungen und Programmen zur Stärkung der Interoperabilität sowie zu Informationen und gewonnenen Erkenntnissen erleichtern. Zudem werden solche Partnerstaaten in der Regel zu sicherheits- und militärpolitischen Konsultationen mit den Alliierten eingeladen. In Krisenzeiten bezieht die Nato sie enger ein und konsultiert sie in der Vorbereitung von Einsätzen. Der politische und der militärpolitische Austausch würden dadurch an Bedeutung gewinnen.

Eine teilweise Beteiligung der Schweizer Armee an High-Readiness-Einsatzverbänden20 der Nato könnte in Frage kommen. Die Beteiligung müsste aber so gestaltet 20

Very High Readiness Joint Task Force, NATO Response Force oder ähnliche Verbände als Teile des am Madrid-Gipfel Ende Juni beschlossenen New Force Model. Dabei soll die Nato Response Force durch Allied Reaction Force abgelöst werden und sich auch der Fokus auf das ganze Bündnisgebiet ausweiten.

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werden, dass sie mit der Neutralität kompatibel ist, zumal diese rasch verfügbaren Verbände für das ganze Einsatzspektrum gedacht sind Das kürzlich verabschiedete neue strategische Konzept der Nato bietet weitere Kooperationsmöglichkeiten, beispielsweise in den Bereichen Cyber, neue Technologien, Innovation, Klima und Umwelt, Bevölkerungsschutz und Resilienz. Bei diesen neuen Themen besteht ein Kooperationsinteresse der Nato. Die Schweiz könnte sich zum Beispiel bei der Entwicklung normativer Prinzipien in neuen Technologien einbringen und dabei das Potenzial der Industrie und Wissenschaft einbeziehen. Um die Zusammenarbeit der Nato mit dem internationalen Genf zu fördern, könnte die Schweiz auf die Eröffnung eines «Nato Liaison Office» in Genf hinwirken.

Fazit Die Kooperation mit der Nato ist bereits gut etabliert. Sie könnte auf dieser Basis weiterentwickelt werden oder auf eine qualitativ neue Stufe gehoben werden. Die Nato hat in ihren Partnerschaften schon immer eine massgeschneiderte Zusammenarbeit mit einzelnen Staaten gesucht. Sie ist in letzter Zeit noch mehr dazu übergegangen, individuelle Zusammenarbeitsprogramme zu vereinbaren, je nach Interessen und Möglichkeiten des jeweiligen Partnerstaates, selbst wenn bisherige Zusammenarbeitsformate wie die Partnerschaft für den Frieden weitergeführt werden. Das vergrössert den Gestaltungsspielraum und kommt der Schweiz entgegen. Sie kann auf bisherige, selbst gewählte Beschränkungen verzichten, ohne dabei die Neutralität zu verletzen.

Bei einer Ausweitung der Zusammenarbeit auf die Teilnahme an Übungen zur kollektiven Verteidigung sind neben den Einschränkungen des Milizsystems auch die Befindlichkeiten und Interessen der Nato auszuloten respektive zu berücksichtigen.

Die Partnerschaft war bislang auf die kooperative Sicherheit, einschliesslich Interoperabilität, und nicht die Verteidigung ausgerichtet.

Zu prüfen ist auch, wie die Schweiz die Zusammenarbeit in den Bereichen Cyber, Bevölkerungsschutz und Resilienz kritischer Infrastrukturen und Dienstleistungen, in denen gegenseitiges Interesse besteht, verstärken kann.

7.3

Zusammenarbeit mit der EU

Kooperation heute Die Schweiz beteiligt sich an zivilen und militärischen Krisenbewältigungseinsätzen der EU. Am militärischen Friedensförderungseinsatz Eufor Althea in Bosnien und Herzegowina ist die Schweiz seit 2004 mit einem Kontingent beteiligt, und seit 2008 mit Expertinnen und Experten an der zivilen Rechtsstaatlichkeitsmission Eulex Kosovo.

Die Teilnahme an Übungen ist derzeit beschränkt auf einzelne Cyber-Übungen, die innerhalb der Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur stattfinden.

An den Projekten der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, Pesco) zur militärischen Fähigkeitsentwicklung können sich Dritt-

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staaten in Ausnahmefällen beteiligen, wenn sie einen erheblichen Mehrwert erbringen. Drittstaaten beteiligen sich bislang einzig am Projekt Military Mobility. Derzeit wird eine Teilnahme der Schweiz am Pesco-Projekt Cyber Ranges Federation vorbereitet, das der Verbesserung der Übungen zur Abwehr von Cyberangriffen dient.

Pesco-Projekte fördert die EU auch mit Mitteln aus dem Europäischen Verteidigungsfonds. In diesem Fonds für Forschung und industrielle Kooperation im Sicherheitsund Verteidigungsbereich stehen in der laufenden Finanzperiode 2021­2027 acht Milliarden Euro zur Verfügung. Schweizer Firmen können sich unter gewissen Bedingungen an Konsortien beteiligen, erhalten aber keine Finanzmittel.

Mit der Europäischen Verteidigungsagentur besteht seit 2012 auf der Basis eines Framework for Cooperation eine Zusammenarbeit. Bei Forschung und Entwicklung beteiligt sich die Schweiz an sieben Capability Technology Areas sowie an weiteren Arbeitsgruppen und Projekten. Dazu kommt die Beteiligung an drei Ausbildungsprogrammen der Agentur (u. a. Übungsprogramm für Helikopterbesatzungen). Die Schweiz arbeitet auch beim Projektteam Cyber Defence mit.

Seit 2017 besteht zwischen der Schweiz und der EU eine Verwaltungsvereinbarung im Bereich der zivilen Katastrophenhilfe. Die Vereinbarung vereinfacht den Informationsaustausch zwischen den Einsatzzentralen der Schweiz und der EU. Das EUKatastrophenschutzverfahren verbessert Prävention, Vorsorge und Reaktion auf Katastrophen, Notlagen und in Krisen (u. a. bewaffnete Konflikte, Pandemie, Stromausfall/-mangel und Waldbrand).

Auf Verwaltungsebene findet jährlich ein sicherheitspolitischer Austausch zwischen dem EDA und VBS und dem Europäischen Auswärtigen Dienst statt. Es besteht aber kein regelmässiger oder institutionalisierter Dialog zu Sicherheits- und Verteidigungsfragen auf politischer oder militärischer Ebene. Eine Möglichkeit zum politischen Austausch bietet voraussichtlich das EU Security and Defence Partnerships Forum, zu dem die EU alle zwei Jahre hohe politische Vertreterinnen und Vertreter ihrer Partner einladen will. Im Europäischen Auswärtigen Dienst, zu dem der EUMilitärstab gehört, arbeitet eine Schweizer Person im Bereich Mediation. Die Schweiz nimmt neben Norwegen am SKI-Programm der EU teil und kann sich zu konzeptionellen und methodischen
Fragen mit der EU-Kommission und den EU-Staaten austauschen.

Ausbaumöglichkeiten Innerhalb der bestehenden Zusammenarbeit könnte die Schweizer Armee die Kooperation mit der Europäischen Verteidigungsagentur bei Ausbildung und Streitkräfteentwicklung ausbauen und das Ausbildungsangebot umfassender als heute nutzen sowie mehr Expertinnen und Experten an EU-Stellen entsenden. Neben dem PescoProjekt Cyber Ranges Federation könnte die Beteiligung an weiteren Projekten angestrebt werden. Die Schweiz könnte sich zudem an den EU-Ausbildungsmissionen beteiligen und Stabsoffiziere in den EU-Militärstab und mehr zivile Expertinnen und Experten in EU-Missionen oder an den Europäischen Auswärtigen Dienst entsenden, wenn die EU dies wünscht. Zudem könnte die Schweiz vorschlagen, die sicherheitspolitischen Konsultationen mit der EU zu formalisieren und öfters durchzuführen oder ein EU-Partnerschaftssymposium in der Schweiz zu organisieren. Im Cyberbereich

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könnte die Schweiz den Aufbau eines Cyberdialogs mit der EU anregen und die Entsendung von Personal an die Europäische Agentur für Cybersicherheit (ENISA) prüfen. Möglich wäre es weiter, einen Finanzbeitrag an die Europäische Friedensfazilität (EPF) zu leisten.

Wenn die Schweiz eine intensivere Zusammenarbeit mit der EU anstrebt, könnte darüber hinaus eine Beteiligung am sich im Aufbau befindenden Hub for Defence Innovation (HEDI) angestrebt werden. Die EU unterhält derzeit vier militärische Ausbildungsmissionen und hat wiederholt Interesse an militärischem Ausbildungspersonal aus der Schweiz gezeigt. Eine Schweizer Beteiligung an den EU-Ausbildungsmissionen wäre gemäss Artikel 66 des Militärgesetzes vom 3. Februar 199521 nach Einzelfallprüfung möglich, wenn diese von einem UNO-Mandat abgeleitet werden können. Weiter könnte eine Beteiligung der Armee an EU-Verbänden wie der EU Rapid Deployment Capacity geprüft werden. Die EU will bis 2025 solche Einsatzkräfte schaffen, die bis zu 5000 Truppen umfassen sollen. Diese Kräfte sollen vorerst bei Rettungs-, Evakuierungs- und Stabilisierungsoperationen zum Einsatz kommen. Weiter will die EU für Luftoperationen (einschliesslich Luftunterstützung, Rettung und Evakuierung, Überwachung sowie Katastrophenhilfeaufgaben) bis 2023 ein Konzept erarbeiten. Inwiefern eine Beteiligung der Schweiz an solchen multinationalen Einsatzkräften möglich wäre, hängt davon ab, für welche Art von Einsätzen sie vorgesehen sind. Eine Beteiligung an internationalen Krisenbewältigungs- oder Evakuierungseinsätzen wäre mit der Neutralität zu vereinbaren. Dafür kämen aber grundsätzlich nur Berufsformationen der Armee in Frage.

Im Bevölkerungsschutz könnte die Schweiz die Kooperation im Rahmen des europäischen Katastrophenschutzverfahrens in der Gefahren- und Risikoanalyse, bei Forschung und Entwicklung, Ausbildung und Übungen und bei Einsätzen intensivieren.

Dazu könnte sie den Beitritt als Drittstaat zum EU- Katastrophenschutzverfahren prüfen. Auch könnte die Zusammenarbeit im SKI-Bereich auf operationeller Ebene gestärkt werden.

Fazit Für den Ausbau der heute punktuellen Kooperation mit der EU stehen weniger Instrumente zur Verfügung als mit der Nato, weil die EU bislang keine institutionalisierten Partnerschaften und Kooperationsgefässe kennt. Allerdings könnten solche bei der
Umsetzung des Strategischen Kompasses für Sicherheit und Verteidigung vom März 2022 entstehen. Bis jetzt regelt die EU den Einbezug von Drittstaaten für jede Aktivität (Friedensförderung, Europäische Verteidigungsagentur, Pesco) separat. Die Partner werden anders als bei der Nato nur als Zweitbieter berücksichtigt, weshalb ein Mitmachen als Drittstaat umständlicher ist. Beispielsweise können sich Drittstaaten an Pesco-Projekten nur unter speziellen Voraussetzungen beteiligen. Zudem hat die Armee bislang nur bei wenigen der derzeit insgesamt 60 laufenden Pesco-Projekten ein Bedürfnis identifiziert, weil sie von den meisten Projekten nicht betroffen ist (z. B.

Fähigkeiten der Marine). Am ehesten könnte mehr Personal in EU-Stellen entsendet und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur gestärkt werden.

Besonderes Potenzial für den Ausbau der Zusammenarbeit birgt die die Beteiligung 21

SR 510.10

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an EU-geführten militärischen Ausbildungsmissionen oder an der EU Rapid Deployment Capacity. Auch beim EU-Katastrophenschutzverfahren kann die Zusammenarbeit ausgebaut werden.

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Konsequenzen für die Ausrichtung und Fähigkeiten der Armee

Ausrichtung der Armee in den vergangenen Jahren In den letzten 30 Jahren wurde die Armee laufend auf das sich verändernde sicherheitspolitische Umfeld angepasst. Im Wesentlichen wurden die Beweglichkeit der Verbände erhöht und die Bestände gesenkt. Das Armeebudget wurde kontinuierlich reduziert. Erst in den letzten Jahren wurde eine Trendwende eingeleitet. 2021 betrug das Budget 4,9 Milliarden Franken. 1990 wendete die Schweiz etwa 1,4 % des BIP für die Verteidigung auf; heute sind es rund 0,7 %. Bei der Konzeption der Armee XXI 2004 rechnete man wegen der günstigen Lageentwicklung mit einer Vorwarnzeit von mehreren Jahren für einen Verteidigungseinsatz, um bei Bedarf die Verteidigungsbereitschaft der Armee zu erhöhen. Seit 2016 wird die Weiterentwicklung der Armee (WEA) umgesetzt, wobei der Sollbestand reduziert und die Armee neu gegliedert wurde. Der Fokus liegt auf der Unterstützung der zivilen Behörden. Dabei wurde die Armee auf die wahrscheinlichen Einsätze ausgerichtet, und weniger auf die Abwehr eines bewaffneten Angriffs bzw. die Verteidigungsfähigkeit. In den kommenden Jahren werden verschiedene Hauptsysteme der Armee das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen und entsprechen bereits heute nicht mehr den Anforderungen eines modernen bewaffneten Konflikts. Die angestossene Weiterentwicklung der Fähigkeiten der Armee ist auch eine Chance, sie auf die sicherheitspolitischen, militärischen und technischen Gegebenheiten und Entwicklungen auszurichten.

Bisherige Planung In den letzten Jahren hat das VBS für die mittel- bis längerfristige Ausrichtung der Armee und ihrer Fähigkeiten drei Grundlagenberichte erarbeitet: Luftverteidigung der Zukunft (2017), Zukunft der Bodentruppen (2019) und Gesamtkonzeption Cyber (2022): ­

Um die Schweiz vor Bedrohungen aus der Luft zu schützen und den Einsatz der Bodentruppen zu ermöglichen, braucht die Armee auch in Zukunft leistungsfähige Kampfflugzeuge und Systeme zur bodengestützten Luftverteidigung unterschiedlicher Reichweite. Die bereits eingeleiteten und geplanten Beschaffungen sind darauf ausgerichtet (Radar- und Führungsanlagen, Kampfflugzeuge F-35A, bodengestützte Luftverteidigung grösserer Reichweite Patriot, später zusätzlich bodengestützte Luftverteidigung mittlerer und kleinerer Reichweite).

­

2019 entschied der Bundesrat, die Entwicklung der Armee stärker auf ein hybrides Konfliktbild auszurichten. Die Bodentruppen müssen in einem unübersichtlichen Umfeld mit kleinen, möglichst autonom einsetzbaren Verbänden im selben Raum und zur selben Zeit helfen, schützen und kämpfen können.

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Dazu benötigen sie leistungsfähige vernetzte Sensoren sowie leichtere, mobilere, präzisere und vielseitig einsetzbare Systeme.

­

Die Gesamtkonzeption Cyber zeigt auf, über welche Fähigkeiten die Armee im Cyber- und elektromagnetischen Raum sowie in der Informations- und Kommunikationstechnologie verfügen muss. Gleichzeitig schafft sie die Grundlage für die Digitalisierung der Truppe.

Die ersten Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine zeigen, dass diese Konzeptionen und insbesondere die Beschaffung eines modernen Kampfflugzeuges und der Wiederaufbau der bodengestützten Luftverteidigung grosser Reichweite richtig sind.

Gestützt auf diese drei Grundlagenberichte hat die Armee in den vergangenen Jahren ihre Rüstungsvorhaben geplant und die Planungen laufend verfeinert. Im Zentrum der Armeeplanung stehen nicht Systeme, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ersetzt werden müssen. Es geht vielmehr darum, welche militärischen Fähigkeiten die Armee zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt und wie diese neu aufgebaut oder weiterentwickelt werden müssen. Diese fähigkeitsorientierte Weiterentwicklung der Armee ist ein fortwährender Prozess, der auf einer permanenten Beurteilung der sicherheitspolitischen Lage und der militärisch relevanten Entwicklungen im strategischen Umfeld der Schweiz, Erkenntnissen aus bewaffneten Konflikten und einer laufenden Beurteilung des technologischen Fortschritts basiert.

Mit der Armeebotschaft 2022 hat der Bundesrat die Beschaffung der Kampfflugzeuge F-35A und der bodengestützten Luftverteidigung grösserer Reichweite Patriot beantragt. Diese Grossbeschaffungen haben zur Folge, dass kurzfristig weniger Mittel für andere Bereiche verfügbar sind. Mittelfristig soll aber wieder stärker in die Fähigkeiten der Bodentruppen investiert werden, namentlich in Systeme zur indirekten Feuerunterstützung und zur Nachrichtenbeschaffung am Boden.

Gegen Ende der 2020er-Jahre sollen die Fähigkeiten zur bodengestützten Luftverteidigung weiter ausgebaut werden, damit auch Ziele im unteren und mittleren Luftraum wirksam bekämpft werden können. Zudem soll ein Ersatz für die Transporthelikopter Super Puma und Cougar evaluiert werden. Geprüft wird ferner, inwiefern mit neuartigen Mitteln die Fähigkeiten der Armee komplettiert werden können. Der Aufbau eines Innovationssystems Verteidigung soll es ermöglichen, innovative Mittel und Methoden im Rahmen des humanitären Völkerrechts (Kriegsvölkerrecht) direkt mit den Nutzenden bei der Truppe zu entwickeln und einzuführen. Damit soll die Armee in bestimmten Bereichen ähnlich unkonventionell vorgehen können, wie es die Ukraine mit dem Einsatz von handelsüblichen Drohnen vormacht.

Erste Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine Die Erkenntnisse
aus dem Krieg in der Ukraine für die Armee werden laufend abgeleitet, sofern sie sich auf die Schweiz übertragen lassen. Es sind verschiedene Einsatzformen und Mittel gleichzeitig feststellbar. Zum einen wird eine Vielzahl herkömmlicher militärischer Mittel auf eher konventionelle Weise eingesetzt, zum anderen nutzt insbesondere die ukrainische Seite auch neuartige Mittel unkonventionell, wie z. B. Minidrohnen und Satellitenkommunikation in Kombination mit Artillerie. Die laufenden Umsetzungsarbeiten aus den Grundlagenberichten für die nötigen Fähigkeiten der Armee wurden im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine überprüft. Die

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bislang gewonnenen Erkenntnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Fähigkeitsplanung insgesamt auf Kurs ist. Für die Verteidigung sind dabei folgende Erkenntnisse am Wesentlichsten: ­

Führung und Logistik: Eine zentrale Voraussetzung für jede militärische Aktion ist, dass Verbände Informationen in einem vernetzten Verbund zeitverzugslos austauschen und dass sie logistisch möglichst lange durchhalten können. Robuste, geschützte Kommunikationsmittel und eine funktionierende Logistik sind von existenzieller Bedeutung.

­

Luftverteidigung: Die Verteidigung muss fähig sein, mit Kampfflugzeugen und bodengestützter Luftverteidigung Angriffe aus der Luft abzuwehren oder diese einzuschränken. Dadurch werden Aktionen der eigenen Truppen ermöglicht und Infrastrukturen geschützt. Die ukrainische Luftverteidigung setzt Systeme kurzer bis langer Reichweite ein. Mit Luft-Boden-Feuer werden Schlüsselziele bekämpft, wichtige Sensoren ausgeschaltet und herannahende Verbände aufgehalten. Weitreichende Luft-Boden-Mittel werden von Russland aus auf wichtige Infrastrukturen und Schlüsselziele im Hinterland der Ukraine eingesetzt.

­

Panzerabwehr: Moderne Panzerabwehrlenkwaffen gehören zu den wichtigsten Mitteln des Verteidigers. Diese Waffen sind einfach zu bedienen und gegen mechanisierte Formationen sehr wirksam. Sie dienten vor allem in der Anfangsphase des Krieges dazu, die vorrückenden russischen mechanisierten Verbände in schwierigem Gelände abzunützen und die russischen Streitkräfte in ihrer Handlungsfreiheit einzuschränken.

­

Indirekte Feuerunterstützung: Rohrartillerie, Raketenartillerie, Mörser und bewaffnete Drohnen sind für beide Kriegsparteien von grosser Bedeutung.

Die russische Armee bereitet praktisch jeden Vorstoss mit massiven Feuerschlägen vor. Die ukrainischen Streitkräfte setzen ihre Artillerie zur Rückgewinnung von Gelände und gegen Schlüsselziele in der Tiefe des Raumes ein.

Eine wichtige Rolle für den Artillerieeinsatz und die Bekämpfung von Schlüsselzielen spielen bewaffnete und unbewaffnete Drohnen.

­

Mobilität: Es zeigt sich, dass kleine, geländegängige Gefechtsfahrzeuge in überbautem und bewaldetem Gelände weniger gut erkannt und bekämpft werden als schwere Mittel. Letztere werden auf beiden Seiten vor allem mit Drohnen rasch erkannt und mit Erfolg bekämpft. Für Angriffsaktionen zur Rückgewinnung von Gelände spielen aber der Schutzgrad und die Durchsetzfähigkeit der Gefechtsfahrzeuge eine grosse Rolle.

­

Durchhaltefähigkeit: Die Durchhaltefähigkeit wird massgeblich durch die Bevorratung von Material und Munition bestimmt, wozu eine geschützte dezentrale Infrastruktur notwendig ist. Ersatzgüter und zusätzliche Munition können im besten Fall von Partnerstaaten bezogen werden.

­

Kriegführung im urbanen Raum: Weil die Kriegführung vermehrt im urbanen Raum stattfindet, werden die dort lebende Zivilbevölkerung und deren Lebensgrundlagen auf Jahre hinaus massiv beeinträchtigt. Die aufgeführten Mittel und Methoden der Kriegführung (insbesondere jene der Artillerie bzw.

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indirekten Feuerwirkung) müssen deshalb jederzeit völkerrechtskonform eingesetzt werden können. Dies setzt eine entsprechende Ausbildung der Armee auf strategischer, operativer und taktischer Stufe voraus.

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Cyber als Mittel der Kriegführung: Cybermittel werden in erster Linie zur Vorbereitung und Unterstützung militärischer Aktionen eingesetzt, mit zeitlich und schadenmässig limitierter Wirkung. Es geht primär darum, militärische Fähigkeiten der Gegenseite einzuschränken sowie der Wirtschaft und Gesellschaft zu schaden, um den Verteidigungswillen zu schwächen. Technologiefirmen spielen dabei eine zunehmend wichtige Rolle und arbeiten direkt mit Staaten zusammen.

Diese Beobachtungen bestätigen weitgehend die in den Grundlagenberichten aufgezeigte Stossrichtung der Fähigkeiten der Armee. Die Führungsfähigkeit wird nicht nur durch ein Führungsnetz, die Telekommunikation und Rechenzentren erhöht, sondern auch durch ein Cyberkommando. Mit einem neuen Planungs- und LageverfolgungsInformationssystem soll die Aktionsplanung und Lageverfolgung verbessert werden.

Um die Bevölkerung und die Armee gegen Luftangriffe zu schützen, braucht es sowohl Kampfflugzeuge als auch Mittel zur bodengestützten Luftverteidigung. Systeme zur bodengestützten Luftverteidigung mittlerer und kleinerer Reichweite sollen beschafft werden, um tieffliegende Kampfflugzeuge und Kampfhelikopter, anfliegende Marschflugkörper und Drohnen bekämpfen zu können. Die Fähigkeit zur indirekten Feuerunterstützung auf Distanzen bis zu einigen Kilometern kann durch die Mörser 19 und Mörser 16 erhalten werden. Für die Artillerie ist ein neues System vorgesehen, mit dem Kampfverbände mit präzisem indirektem Feuer unterstützt werden können, und zwar auf erheblich grössere Distanzen, als dies mit den vorhandenen Panzerhaubitzen M-109 möglich ist. Die Mobilität soll in den kommenden Jahren durch neue geschützte Radfahrzeuge erhöht werden, die sich für den Einsatz im überbauten Gelände besser eignen als Raupenfahrzeuge.

Fähigkeitslücken und Sofortmassnahmen Die Erkenntnisse aus dem bisherigen Kriegsverlauf zeigen aber auch kritische Fähigkeitslücken der Schweizer Armee auf. Dazu gehört die weitreichende Panzerabwehr.

Seit der Ausserdienststellung des Panzerjägers 90 haben die Bodentruppen keine Mittel mehr, um bewegliche gepanzerte Ziele auf eine Distanz von mehreren Kilometern zu bekämpfen. Mit der Beschaffung einer weitreichenden Boden-Boden-Lenkwaffe soll diese Fähigkeit wiedererlangt werden.

Ebenso kritisch ist die Durchhaltefähigkeit und insbesondere die Bevorratung von Munition. Die Beschaffungsmengen orientierten sich bisher primär an den Ausbildungsbedürfnissen. Teure Einsatzmunition oder Lenkwaffen wurden nur in kleineren Mengen beschafft. Bei einer Erhöhung des Armeebudgets sollen als Erkenntnis aus dem Krieg in der Ukraine die Munitions- und Lenkwaffenbestände für den Einsatz erhöht werden. Bereits mit dem Rüstungsprogramm 2023 sollen mehrere hundert Millionen Franken für solche Beschaffungen
beantragt werden.

Konkrete Investitionsvorhaben und die langfristige Ausrichtung der Armee werden ab 2024 dem Parlament in Form einer fähigkeitsorientierten Armeebotschaft vorgelegt. Diese wird Eckwerte zur Ausrichtung der Armee und zu ihren Fähigkeiten mit

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einem Zeithorizont von zwölf Jahren enthalten und die Erkenntnisse umsetzen respektive Fähigkeitslücken schliessen.

9

Erkenntnisse für andere betroffene Bereiche

9.1

Früherkennung

Der Krieg hat Auswirkungen bei verschiedenen sicherheitspolitischen Instrumenten und Politikbereichen, nicht nur auf die Ausrichtung, Kooperation und Mittel der Armee. So verstärkt der Krieg die Notwendigkeit, die Kompetenzen zur sicherheitspolitischen Früherkennung und Antizipation weiterzuentwickeln und diese Aufgabe im Verbund verschiedener Bundesstellen noch umfassender und systematischer wahrzunehmen. Dies bestätigt auch die Bedeutung einer integralen Lagedarstellung. Dabei sind Interessen und Beiträge verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Stellen in der Schweiz zu berücksichtigen und zu integrieren. Dadurch soll den Auswirkungen von Konflikten in allen sicherheitspolitisch relevanten Bereichen, beispielsweise im Energiesektor, besser Rechnung getragen werden, womit auch die Resilienz und Versorgungssicherheit gestärkt werden können.

9.2

Bevölkerungsschutz

Der Krieg zeigt schonungslos die Betroffenheit der Zivilbevölkerung und damit auch die Bedeutung des Bevölkerungsschutzes inklusive des Zivilschutzes auf. Verschiedene Vorhaben wurden in den letzten Jahren aufgegleist, deren Bedeutung nun noch verdeutlicht wird. Dass diese Projekte so rasch wie möglich vorangetrieben werden sollten, war bereits vor dem Krieg in der Ukraine klar, wird jetzt aber nochmals bestätigt.

Die nationale Risikoanalyse «Katastrophen und Notlagen Schweiz» (KNS) hat als wahrscheinlichste Risiken Versorgungsengpässe vor allem im Energiebereich, Naturgefahren wie Unwetter, Hochwasser oder Hitzewellen, sowie der Ausfall von Mobilfunk und die Pandemie ausgewiesen. Entsprechend hat sich der Bevölkerungsschutz in den letzten Jahrzehnten tendenziell eher weg von Kriegsszenarien hin zu Katastrophen und Notlagen anderer Ursachen entwickelt.

Bei einigen Bereichen, die in den letzten Jahren weniger prioritär angegangen wurden, gilt es nun im Lichte der Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine Anpassungen vorzunehmen: ­

Verbundsystem Bevölkerungsschutz: Das Verbundsystem Bevölkerungsschutz ist heute in erster Linie auf Katastrophen und Notlagen ausgerichtet.

Seine Aufgaben, Organisation und Kompetenzen sollen im Hinblick auf einen bewaffneten Konflikt angepasst werden.

­

Leistungsprofil des Zivilschutzes: Das Leistungsprofil des Zivilschutzes ist heute vor allem auf die Bereiche Schadensbewältigung, Räumung und Instandstellung, Sicherung, Logistik und Führungsunterstützung ausgerichtet.

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Bereits während der Pandemie, aber auch mit den Flüchtlingen aus der Ukraine hat sich gezeigt, dass der Bereich Betreuung wieder verstärkt werden muss. Dazu gehört auch die Betreuung der Bevölkerung für den Fall, dass ein Schutzraumbezug angeordnet wird. Das Leistungsprofil des Zivilschutzes muss im Hinblick auf einen bewaffneten Konflikt überprüft werden, ebenso wie die Ausbildung im Bereich Bevölkerungs- und Zivilschutz.

­

Bereitstellung der Schutzbauten: In den letzten Jahren wurden Diskussionen darüber geführt, inwiefern man noch Investitionen für die Schutzbauten tätigen soll; die Instandhaltung wurde zum Teil vernachlässigt. Der Krieg in der Ukraine hat die Notwendigkeit von Schutzbauten verdeutlicht, sowohl betreffend Schutzräume für die Bevölkerung als auch Kommandoposten und Bereitstellungsanlagen. Das zu erstellende Konzept Schutzbauten wurde im Hinblick auf einen bewaffneten Konflikt noch einmal überarbeitet und klärt den künftigen Bedarf an Schutzbauten.

­

Bereitstellung der sanitätsdienstlichen Schutzanlagen: Die Mehrheit der sanitätsdienstlichen Schutzanlagen ist veraltet und kann heute nicht mehr genutzt werden. Im Lichte eines bewaffneten Konfliktes erhalten diese Anlagen wieder eine grössere Bedeutung. In Zusammenarbeit mit den Kantonen, insbesondere den zuständigen Stellen des Gesundheitswesens, muss der künftige Bedarf an solchen Anlagen möglichst rasch geklärt werden.

­

Information der Bevölkerung über die Schutzräume und den Schutzraumbezug: Da bis zu Beginn dieses Jahres ein Schutzraumbezug eher unwahrscheinlich schien, war die Information der Bevölkerung betreffend Schutzräume in den letzten Jahren nicht prioritär. Der Krieg in der Ukraine hat zu einem grossen öffentlichen Informationsbedürfnis geführt. Es wird Informationsmaterial zu den Schutzräumen und zum Schutzraumbezug erarbeitet und verteilt. Auch wird mit den Kantonen und Gemeinden die Zuteilung der Bevölkerung zu den Schutzräumen (Zuweisungsplanung) besser und transparenter kommuniziert.

­

Weiterentwicklung der Systeme für die Alarmierung und Information der Bevölkerung: Die Schweiz verfügt heute über ein gut funktionierendes MultiKanalsystem für die Alarmierung und Information der Bevölkerung, dass auf Sirenen, Radio und Alertswiss-Kanälen basiert. Neben dem Werterhalt dieser Kanäle muss aufgrund technologischer Fortschritte auch eine Weiterentwicklung des Gesamtsystems sichergestellt werden, auch unter Berücksichtigung des Szenarios eines bewaffneten Konflikts.

­

Stärkung des ABC-Schutzes: Mit dem Labor Spiez und der Nationalen Alarmzentrale verfügt das BABS über zwei zentrale Elemente für den ABC-Schutz.

Mit dem Projekt für eine Auslegeordnung im ABC-Schutz Schweiz wurde festgestellt, wie die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure und Mittel zu verbessern ist. Die Ergebnisse dieser Auslegeordnung sind nun so rasch wie möglich umzusetzen.

­

Resilienz: Die Widerstands-, Anpassungs- und Regenerationsfähigkeit oder die Fähigkeit, Krisensituationen zu überstehen, betrifft unter anderem den Schutz kritischer Infrastrukturen, die innere Sicherheit, die Cybersicherheit, den Katastrophenschutz und die humanitäre Hilfe sowie die Nachhaltigkeit.

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Aufgrund des Krieges in der Ukraine passen die Nato und die EU ihre Strategien zu Resilienz an, inkl. Zusammenarbeit mit Partnern, was neue Möglichkeiten für die Schweiz bietet.

9.3

Krisenmanagement

Der Krieg in der Ukraine und seine breiten Auswirkungen haben kurz nach der Pandemie ein weiteres Mal die Wichtigkeit und Dringlichkeit einer gut eingespielten, breit abgestützten und effizienten Krisenorganisation und -vorbereitung gezeigt. Mit seinen Beschlüssen vom 22. Juni 2022 zur zweiten Auswertung des Krisenmanagements der Bundesverwaltung in der Covid-19-Pandemie hat der Bundesrat diesbezüglich bereits massgebliche Aufträge erteilt: Die BK und das VBS erarbeiten gemeinsam mit den anderen Departementen bis Ende März 2023 Varianten für die Organisation des Krisenmanagements der Bundesverwaltung auf strategischer und operativer Ebene. Dabei soll u. a. ausgewiesen werden, wie auf der strategischen Ebene ein vorausschauendes und ganzheitliches Krisenmanagement sichergestellt werden kann.

Für die operative Ebene soll u. a. ausgewiesen werden, wie die künftige Krisenmanagementunterstützung zugunsten der federführenden Verwaltungseinheiten verbessert werden kann. Diesem Ziel dient auch die bereits eingeleitete Überprüfung der Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten des Bundesstabs Bevölkerungsschutz (BSTB). Weiter wird bei den Überlegungen zum Krisenmanagement des Bundes auch die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit zu berücksichtigen sein.

9.4

Kriminalität, Energieversorgung, Asylsystem

Für die Bekämpfung der negativen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Kriminalität in der Schweiz ist der Austausch von polizeilichen Informationen und ein darauf gestütztes umfassendes Lagebild mit nationalen und internationalen Partnerbehörden zwingend. Dabei ist die Zusammenarbeit im Schengenraum sowie der Informationsaustausch mit Europol und Interpol unentbehrlich. Die Teilnahme der Schweiz an EMPACT (European Multidisciplinary Platform Against Criminal Threats) spielt dabei eine wichtige Rolle.

Die Herausforderungen in der Energieversorgung offenbaren die Verletzlichkeit eines Versorgungssystems, das stark auf Import angewiesen ist. Für fossile Energien ist die Schweiz vollständig vom Import abhängig. Der eingeleitete Umbau der Energieversorgung mit einer Erhöhung der Energieeffizienz und einem Ausbau der erneuerbaren Energien im Inland steigert die Versorgungssicherheit und muss beschleunigt werden.

Kurzfristig sind die Schaffung einer Winter-Gasreserve, die Wasserkraftreserve und die Bereitstellung subsidiärer Finanzhilfen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit systemkritischer Stromunternehmen zweckmässig. Der Bundesrat hat dem Parlament die notwendigen Gesetzesentwürfe unterbreitet. Die notwendigen Verordnungsbestimmungen sind teilweise beschlossen, teilweise in Vorbereitung.

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Das Schweizer Asylsystem hat sich auch angesichts der Fluchtbewegungen aus der Ukraine bewährt und seine Flexibilität unter Beweis gestellt. Grundlegende Anpassungen drängen sich nicht auf. Eine gute Koordination und Abstimmung auf europäischer Ebene ist weiterhin massgebend. Notwendig sind in diesem Zusammenhang Fortschritte bei der Reform des europäischen Asylsystems, wofür sich der Bundesrat einsetzt.

10

Schlussfolgerung

Die sicherheitspolitischen Grundlagen, Ziele und Prioritäten der Schweiz liegen vor.

Sie wurden auf ein markant verschlechtertes Sicherheitsumfeld ausgerichtet. Es gilt nun, die im Sicherheitspolitischen Bericht 2021 festgelegten Ziele umzusetzen, insbesondere dort, wo der Krieg in der Ukraine den Handlungsbedarf noch dringlicher gemacht hat. Das sind die Stärkung der Früherkennung, die stärkere Ausrichtung auf das ganze Spektrum der hybriden Konfliktführung, inklusive bewaffneter Konflikt, Desinformation und Cyberbedrohungen, ebenso wie die Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit, des Schutzes vor Katastrophen und Notlagen sowie des Krisenmanagements.

Auf strategischer Stufe betrifft der Krieg vor allem den Kernbereich der Sicherheitspolitik, nämlich die Verteidigungspolitik. Damit die Armee einen bewaffneten Angriff abwehren kann, muss sie im ganzen Spektrum hybrider Bedrohungen die Schweiz schützen und verteidigen können. Die Weiterentwicklung und Modernisierung der Armee basiert auf soliden Grundlagen, die den bewaffneten Konflikt berücksichtigen. Die Erhöhung der finanziellen Mittel für die Armee ermöglicht konkret ­

Fähigkeitslücken gegenüber der bisherigen Planung rascher zu schliessen;

­

bestehende Fähigkeiten im gesamten Fähigkeitsspektrum der Armee zu erhalten und zur Abwehr eines bewaffneten Angriffs aufzubauen, wobei die militärischen Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine laufend berücksichtigt werden;

­

die Bereitschaft zur Abwehr eines bewaffneten Angriffs zu erhöhen, inklusive einer besseren Durchhaltefähigkeit durch die Aufstockung der Munitions- und Lenkwaffenbestände für den Einsatz.

Der Krieg hat eine neue Dynamik in der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation in Europa ausgelöst. Diese wird angesichts der Bedrohung durch Russland intensiviert, sowohl im Rahmen der Nato wie auch der EU, wobei für die Sicherheit und Verteidigung Europas die Nato zentral bleibt. Zur Stärkung ihrer Sicherheit mitten in Europa muss die Schweiz Teil dieser Zusammenarbeit sein.

Als neutraler Staat muss die Schweiz die Unverletzlichkeit ihres Territoriums innerhalb der Grenzen des Zumutbaren sicherstellen können. Die Schweiz hat den Anspruch, sich selbstständig verteidigen zu können. Dies ist nicht unbeschränkt möglich.

Je nachdem, wie mächtig ein Angreifer ist und über welche Mittel er verfügt, wäre die Schweiz in der Verteidigung auf Zusammenarbeit mit anderen Staaten angewiesen. Deshalb strebt die Schweiz bereits seit langem an, für den Fall eines bewaffneten Angriffs die Optionen zu haben, entweder sich selbständig zu verteidigen oder ihre 33 / 38

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Verteidigung zusammen mit anderen Staaten zu organisieren. Um die militärische Zusammenarbeitsfähigkeit zu verbessern und damit die Handlungsfreiheit der Schweiz zu erhöhen, muss die Armee die internationale Kooperation rechtzeitig vorbereiten.

Dazu sollen die Kooperationsmöglichkeiten zur Steigerung der Verteidigungsfähigkeit genutzt werden, unter Einhaltung der Neutralität.

Zur Verstärkung der Zusammenarbeit bestehen folgende Möglichkeiten: ­

Intensivierung der Kooperation mit der Nato, namentlich durch: ­ den Ausbau von Beiträgen bei Friedensförderungseinsätzen, ­ eine Ausweitung der Interoperabilität auf verteidigungsrelevante Bereiche, ­ die Besetzung von Verbindungs- und Stabsfunktionen in der Kommandostruktur der Nato, ­ und den Ausbau der Schweizer Beteiligung an von der Nato zertifizierten Centres of Excellence;

­

Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation mit der Nato, namentlich durch: ­ die Teilnahme an Übungen im ganzen Spektrum (inkl. Prüfung, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln eine Beteiligung an Übungen für gemeinsame Verteidigung möglich ist), ­ die Nutzung von OCC (Operational Capabilities Concept Evaluation and Feedback Programme) zur Sicherstellung der Interoperabilität in einem breiten Fähigkeitsspektrum, ­ sowie Sondierungen bei der Nato für eine Intensivierung des Partnerschaftsstatus, z. B. als EOP;

­

Intensivierung der Kooperation mit der EU, namentlich durch: ­ Formalisierung und Intensivierung der sicherheitspolitischen Konsultationen, ­ die Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur bezüglich Ausbildung und Streitkräfteentwicklung, ­ die Mitarbeit beim Pesco-Projekt Cyber Ranges Federation und das Anstreben der Beteiligung an weiteren Projekten, ­ eine Beteiligung an EU-Ausbildungsmissionen und eine Prüfung der Entsendung von Stabsoffizieren in den EU-Militärstab;

­

Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation mit der EU, namentlich durch: ­ eine Prüfung der Beteiligung am Hub for EU Defence Innovation, ­ eine Beteiligung der Armee an EU-Verbänden wie der EU Rapid Deployment Capacity (für Rettungs-, Evakuierungs- und Stabilisierungsoperationen).

Die bisherigen Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine zeigen auch Handlungsbedarf beim Bevölkerungsschutz, damit dieser seine Aufgaben zum Schutz der Bevölkerung und Lebensgrundlagen im Hinblick auf einen bewaffneten Konflikt erfüllen

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kann. Zur Stärkung des Bevölkerungsschutzes können sowohl internationale Zusammenarbeit wie eigene Massnahmen beitragen. Es bestehen folgende Möglichkeiten: ­

Intensivierung der Kooperation mit der Nato, namentlich durch Prüfung, wie und wo die Zusammenarbeit in den Bereichen Bevölkerungsschutz, ABCSchutz und Resilienz kritischer Infrastrukturen und Dienstleistungen verstärkt werden könnte;

­

Intensivierung der Kooperation mit der EU, namentlich durch eine Prüfung des Beitritts als Drittstaat zum EU-Katastrophen-schutzverfahren;

­

Prüfen, inwieweit der Bevölkerungsschutz stärker auf den bewaffneten Konflikt auszurichten ist, namentlich durch Weiterentwicklung der integralen Lagedarstellung;

­

Überprüfung des Verbundsystems Bevölkerungsschutz und des Leistungsprofils des Zivilschutzes sowie der entsprechenden Ausbildungen;

­

Konzept für den Bedarf an Schutzbauten (Schutzräume, Kommandoposten, Bereitstellungsanlagen und sanitätsdienstliche Schutzanlagen), inkl. Informationsmaterial für die Bevölkerung;

­

Weiterentwicklung der Systeme für die Alarmierung und Information der Bevölkerung;

­

Stärkung des ABC-Schutzes im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung, der zivilen Einsatzkräfte und der Armee.

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Anhang Zusammenfassung der Analyse des CSS Das CSS empfiehlt in seiner Analyse vom 24. August 202222, dass die Schweiz ihre Ziele der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation in politischen Leitlinien verankern soll, damit diese auch klar und auf Ebene der Regierung nach aussen kommuniziert und vertreten werden können. Es plädiert dafür, dass im Zusatzbericht klar aufgezeigt wird, welche Gründe für eine noch engere Kooperation sprechen. Selber nennt es u. a. die enge Vernetzung technologisch und wirtschaftlich hoch integrierter Gesellschaften, die Akzentuierung grenzüberschreitender Bedrohungen über weite geografische Räume hinweg (inkl. Cyberbedrohungen, Distanzwaffen) und die technische Komplexität künftiger militärischer Fähigkeiten und die damit verbundenen Kosten. Das CSS empfiehlt, den neutralitätspolitischen Spielraum für eine Ausweitung und Vertiefung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation zu nutzen und dazu die verschiedenen Gefässe der internationalen Zusammenarbeit (Nato, EU, bilateral) nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie komplementär zu nutzen. Weiter weist das CSS darauf hin, dass internationale Kooperation immer einen gegenseitigen Nutzen erbringen muss und nicht als Ersatz für den Aufbau eigener nationaler Fähigkeiten dienen kann.

Bei den Möglichkeiten für eine Verstärkung der Kooperation mit der Nato spricht sich das CSS dafür aus, die hochrangigen Kontakte zu intensivieren und einen politischen Rahmen für eine engere Zusammenarbeit zu schaffen. Es wird empfohlen, zu prüfen, ob der Status eines «Enhanced Opportunity Partner» (EOP) für die Schweiz von Interesse ist. Weiter plädiert das CSS dafür, die militärische Zusammenarbeitsfähigkeit über das ganze Fähigkeitsspektrum der Armee hinweg sicherzustellen, um die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Eine besondere Priorität für eine verstärkte Kooperation sieht das CSS bei der Rüstung und Fähigkeitsentwicklung aufgrund der zunehmend dynamischen Technologieentwicklung, der Digitalisierung und der Kostenspirale. Das neue Kommando Cyber und das Programm Air2030 erachtet es diesbezüglich als vielversprechende Anknüpfungspunkte für eine engere Kooperation. Weiter empfiehlt das CSS eine Ausweitung der Übungsteilnahmen der Schweiz, vor allem die Prüfung von Teilnahmen an Übungen zur gemeinsamen
Verteidigung. Als Gebiet mit grossem künftigem Kooperationspotenzial erachtet das CSS zudem den ganzen Technologiebereich, namentlich in Bereichen wie künstliche Intelligenz, Robotik, Cyber und Drohnen.

Bezüglich der Kooperation mit der EU empfiehlt das CSS die Etablierung eines festen sicherheitspolitischen Dialogs sowie die Prüfung einer Beteiligung an Projekten im Rahmen von Pesco sowie des European Defence Fund (EDF) unter industriepolitischen Gesichtspunkten. Weiter sollte die Schweiz die Kooperation im Bereich Wissenschaft, Technologie und Innovation vertiefen und dabei auch eine mögliche Beteiligung am HEDI prüfen.

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«Sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation der Schweiz in Europa: Politische Leitlinien, Optionen der Weiterentwicklung, inhaltliche Schwerpunkte, Koordination und Steuerung».

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Insgesamt spricht sich das CSS für eine erweiterte und vertiefte sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation der Schweiz um die folgenden drei Schwerpunkte aus: Zusammenarbeit zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit; Digitalisierung, Wissenschaft, Technologie und Innovation; sowie Friedenförderung, Resilienz, kooperative Sicherheit. Die Anregungen und Schlussfolgerungen aus der Analyse des CSS sind in den Zusatzbericht eingeflossen.

Zusammenfassung der Analyse von Jean-Jacques de Dardel In seiner Analyse vom 20. August 202223 hält der Jean-Jacques de Dardel fest, dass der Krieg in der Ukraine die Sicherheitslage und -ordnung in Europa und darüber hinaus nachhaltig verändern wird. Die Schweizer Sicherheitspolitik müsse sich auf diesen Umstand ausrichten, was zusätzliche Investitionen und einen Paradigmenwechsel in der internationalen Zusammenarbeit erfordert. Die Schweiz könne die Herausforderungen im Zusammenhang mit einem bewaffneten Angriff, hybrider Konfliktführung, Cyberangriffen, Energieengpässen und nuklearen Bedrohungen alleine nicht wirksam bewältigen.

Die Stärkung der Sicherheit der Schweiz erfordere auch eine sorgfältige Vorbereitung und enge Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Auf militärischer Ebene müssen die Mittel der Armee rasch modernisiert und die Interoperabilität mit der Nato und EU erhöht werden, ohne den neutralen Status aufzugeben. Die Schweiz solle sich als wertvolle und engagierte Partnerin zeigen, etwa mit Beiträgen in strategischen Sektoren wie der Forschung, Entwicklung und Innovation.

Zudem sollte die Schweiz, ähnlich wie das bislang Finnland und Schweden gemacht haben, die Teilnahme an Übungen zur kollektiven Verteidigung anstreben, und zwar mit militärischen Verbänden. Auch sollten mehr Stabsoffiziere und Experten in internationale Stäbe der Nato und EU entsendet werden, was in der Laufbahnplanung besser zu berücksichtigen sei. Die Entwicklung von Partnerschaften im Hinblick auf Einsätze und industrielle Fähigkeiten solle gefördert werden. Kooperationen sollen im Bereich Cyber, Nachrichtendienste, Versorgung, Rüstungsbeschaffung und nukleare Bedrohungen gefördert werden, ebenso wie ein politischer Dialog mit Nato und EU auf höchstmöglicher Ebene. Schliesslich solle die Teilnahme der Schweiz an der militärischen Friedensförderung
dieser Organisationen gestärkt werden.

Die konkreten Empfehlungen decken sich weitgehend mit den Überlegungen und Vorschlägen des Zusatzberichtes für die Vertiefung der Zusammenarbeit. Das trifft etwa zu für die Überlegungen zur Teilnahme an Übungen zur gemeinsamen Verteidigung, die Prüfung des EOP-Status, die Stärkung der Interoperabilität und der Fähigkeiten der Armee in der Panzer- und Luftabwehr sowie die Entwicklung von Robotik und Drohnen. Vorgeschlagen werden auch mehr Entsendungen von Personal in Natound EU-Gremien, ein Ausbau der Kooperation mit der Europäischen Verteidigungsagentur, die Teilnahme an Pesco-Projekten sowie die Förderung der Kooperation der Industrie mit dem EDF. Es werden auch Prüfungen zu Themen vorgeschlagen, die im VBS bereits bearbeitet werden wie etwa die Berücksichtigung von Auslandeinsätzen

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«Rapport sur la politique de sécurité de la Suisse dans un environnement sécuritaire altéré».

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in der Laufbahnplanung in der Armee, oder eine stärkere Information der Öffentlichkeit über die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit unter Einhaltung der Neutralität. Einen besonderen Akzent legt der Experte auf die Rolle der drei Genfer Zentren, auf Initiativen wie «Geneva Science and Diplomacy Anticipator», auf die Stärkung der Fähigkeiten der Schweiz und ihrer Zusammenarbeit mit der Nato und EU im Bereich Cyber sowie auf die Modernisierung der Schutzräume für nukleare Ereignisse. Schliesslich schlägt er eine Erleichterung der Überflüge von Nato-Truppen über die Schweiz und die Beschaffung von militärischen Transportflugzeugen vor. Einzig bei diesem letzten Punkt gibt es unterschiedliche Einschätzungen.

Im Wesentlichen kommt die unabhängige Analyse zu denselben Ergebnissen wie der Zusatzbericht. Dies trifft für die Analyse der Bedrohungslage mit Blick auf den Krieg, die Auswirkungen auf Europa wie auch die Konsequenzen und Massnahmen für die Schweizer Sicherheitspolitik, insbesondere die internationale Kooperation, zu.

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