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Planung und Aufbau der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Ständerates vom 20. September 2022

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Übersicht Am 1. Januar 2019 nahm die Berufungskammer als Teil des Bundesstrafgerichts (BStGer) in Bellinzona ihre Tätigkeit auf. Doch schon vor ihrer Betriebsaufnahme musste das Parlament in aller Eile die bis anhin geplanten finanziellen und personellen Ressourcen der Berufungskammer aufstocken. Zudem müssen sich die Aufsichtskommissionen des Parlaments bis heute mit Fragen der Unabhängigkeit der Berufungskammer sowie deren Raumsituation und unzureichenden Ressourcen befassen.

Aufgrund der problembehafteten Anfangsphase der Berufungskammer beschlossen die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) abzuklären, wie und durch wen die neue Berufungskammer geplant worden war, wie der Aufbau erfolgte und welche Lehren sich aus den Untersuchungsergebnissen für die Zukunft ziehen lassen.

Die Abklärungen zeigten, dass bei der Planung der Berufungskammer die Fallzahlen und der Bedarf an Richterinnen und Richtern von Anfang an deutlich unterschätzt wurden. Obwohl bereits 2014 eine Arbeitsgruppe am BStGer den Ressourcenbedarf rund doppelt so hoch veranschlagt hatte wie die ersten Schätzungen des damaligen Präsidenten des BStGer, was dem heute ausgewiesenen Bedarf nahe gekommen wäre, wurden die Arbeiten der Arbeitsgruppe nicht weiterverfolgt, da die damalige Verwaltungskommission des Bundesgerichts (VK BGer) als Aufsichtsbehörde über das BStGer sowie der Präsident des BStGer der Meinung waren, diese Planungsarbeiten würden bei Bundesrat und Parlament keine Chance auf Akzeptanz haben und die Schaffung einer Berufungsinstanz als Alternative zu einer erweiterten Kognition des Bundesgerichts verunmöglichen. Die Fehleinschätzung der Fallzahlen und der zu niedrig veranschlagte Bedarf an Richterinnen und Richtern hatte entscheidende Konsequenzen im Hinblick auf die Planung der Organisation der Berufungsinstanz, auf deren Funktionalität sowie auch im Hinblick auf den Raumbedarf.

Die GPK kommen weiter zum Schluss, dass der damalige Präsident des BStGer sich zwar persönlich sehr für die Schaffung einer Berufungskammer eingesetzt hat, das Gericht jedoch unzureichend in die Entstehung der Vorlage einbezogen und die zuständige VK BStGer aussen vor gelassen hat. Der Präsident des BGer und die VK BGer als für das Projekt zuständige Aufsichtsinstanz haben ihre Aufgabe ungenügend wahrgenommen und die Rollen nicht geklärt.
Insgesamt hat es bei der Planung und beim Aufbau der Berufungskammer an einem eigentlichen Projektmanagement gefehlt. Im Weiteren stellten die GPK gewisse Mängel in der Dossierführung sowie bei der Protokollierung der Beschlüsse der VK BStGer fest.

Für die Zukunft richten die GPK fünf Empfehlungen an die Gerichte (Ziff. 3.2­3.4).

Als positiv erachten es die GPK, dass das BStGer heute eine sinnvolle Weiterentwicklung der Berufungskammer plant und diese Planung in den ordentlichen Organen nach den Grundsätzen des Projektmanagements durchführen will.

Die GPK sehen in organisatorischer und personeller Hinsicht Handlungsbedarf. Sie beantragen deshalb den Kommissionen für Rechtsfragen (RK), eine Gesetzesrevision im Bereich der Organisation des Bundesstrafgerichts im Sinne ihrer Erwägungen (Ziff. 3.5) an die Hand zu nehmen, mit dem Ziel, ein unabhängiges Berufungs- oder 2 / 48

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Rechtsmittelgericht als zweite Instanz zu schaffen. Dabei sind die derzeitigen Planungs- und Konzeptarbeiten des BStGer miteinzubeziehen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

Einleitung 1.1 Ausgangslage 1.2 Gegenstand der Untersuchung 1.3 Vorgehen

6 6 6 6

2

Feststellungen 2.1 Pläne zur Schaffung einer Berufungskammer 2.1.1 Botschaft des Bundesrates vom 4. September 2013 2.1.2 Überlegungen in den Gerichten zur Schaffung einer Berufungskammer 2.1.2.1 Brief des Präsidenten des Bundesstrafgerichts vom 12. Februar 2014 2.1.2.2 Bericht vom 10. März 2014 der internen Arbeitsgruppe des Bundesstrafgerichts 2.1.2.3 Aufsichtssitzung vom 2. April 2014 2.1.3 Mitarbeit des Bundesstrafgerichts im Rahmen der Vorberatung in den Kommissionen 2.1.3.1 Stellungnahme der Gerichte an die Rechtskommission des Ständerates 2.1.3.2 Erarbeitung von Grundlagen im Bundesamt für Justiz 2.1.3.3 Erster Gesetzesentwurf des Bundesamts für Justiz 2.1.3.4 Stellungnahme des Präsidenten des Bundesstrafgerichts zum ersten Gesetzesentwurf 2.1.3.5 Erarbeitung eines zweiten Gesetzesentwurfs im Bundesamt für Justiz 2.1.4 Rückweisung der Vorlage an den Bundesrat im Mai 2015 2.1.5 Vorbereitung der Zusatzbotschaft des Bundesrates vom 17. Juni 2016 2.1.6 Zusatzbotschaft des Bundesrates vom 17. Juni 2016 2.2 Aufbau der Berufungskammer 2.2.1 Vor der Betriebsaufnahme der Berufungskammer am 1. Januar 2019 2.2.1.1 Bestrebungen innerhalb des BStGer zum Ausbau der Ressourcen 2.2.1.2 Die VK BStGer gelangt an die parlamentarischen Kommissionen 2.2.1.3 Bestrebungen zum Ausbau der Ressourcen in den Kommissionen und im Parlament 2.2.2 Seit der Betriebsaufnahme der Berufungskammer am 1. Januar 2019

7 7 7

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2.2.2.1

2.2.3

2.2.4

Unabhängigkeit und Raumbedarf der Berufungskammer 2.2.2.2 Das Parlament bewilligt eine vierte Richterstelle 2.2.2.3 Entwicklung der Eingänge, Pendenzen und Erledigungsdauer 2019 bis Mitte 2022 Retrospektive Sicht der Gerichte auf ihre damalige Beurteilung 2.2.3.1 Rückblick des damaligen Präsidenten des BStGer 2.2.3.2 Stellungnahmen von weiteren Richterinnen und Richtern des Bundesstrafgerichts 2.2.3.3 Rückblickende Sicht des Bundesgerichts Pläne für den weiteren Aufbau der Berufungskammer 2.2.4.1 Ressourcenbedarf und Reorganisationspläne 2.2.4.2 Pläne für den Umzug der Berufungskammer in den «Pretorio»

25 27 28 30 30 32 33 34 34 35

3

Beurteilung, Schlussfolgerungen und Empfehlungen 3.1 Zuständigkeiten bei den Gerichten 3.2 Falsche Einschätzung des Personalbedarfs 3.3 Mangelhafter Einbezug der Organe des Bundesstrafgerichts 3.4 Mangelhafte Dossierführung 3.5 Weiterentwicklung der Berufungskammer 3.5.1 Personalsituation 3.5.2 Organisationsmodell

36 36 36 38 41 41 42 42

4

Antrag an die Kommissionen für Rechtsfragen

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5

Weiteres Vorgehen

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Verzeichnis der angehörten Personen

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Namen und Funktionen von erwähnten Personen

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Abkürzungsverzeichnis

47

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Bericht 1

Einleitung

1.1

Ausgangslage

Die Berufungskammer als Teil des Bundesstrafgerichts in Bellinzona nahm per 1. Januar 2019 ihre Tätigkeit auf. Doch schon vor ihrer Betriebsaufnahme musste das Parlament in aller Eile die bis anhin geplanten finanziellen und personellen Ressourcen der Berufungskammer aufstocken. Die Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte (GPK) sowie auch die Finanzkommissionen (FK) mussten sich bereits in dieser Anfangsphase mit Fragen der Unabhängigkeit der Berufungskammer sowie deren Raumsituation und unzureichenden Ressourcen befassen. Bis heute, mehr als drei Jahre später, sind die wesentlichen Fragen (ausreichende personelle Ressourcen, getrennte Räumlichkeiten und institutionelle Unabhängigkeit) nicht gelöst.

1.2

Gegenstand der Untersuchung

Aufgrund der problembehafteten Anfangsphase der Berufungskammer beauftragten die GPK ihre Subkommissionen Gerichte/BA1 (im Folgenden: Subkommissionen), die Planung und den Aufbau der Berufungskammer näher zu untersuchen. Aus den Erkenntnissen sollen mögliche Lösungsansätze für die Zukunft aufgezeigt werden.

Die Subkommissionen definierten abgeleitet vom Auftrag der GPK folgende Untersuchungsfragen: 1.

Wie und durch wen erfolgte die Planung der Berufungskammer?

2.

Wie erfolgte der Aufbau der Berufungskammer vor und seit ihrer Betriebsaufnahme?

3.

Welche Lehren und welche Lösungsansätze ergeben sich aus den Abklärungen für die Zukunft?

1.3

Vorgehen

Die Subkommissionen erteilten dem Sekretariat den Auftrag, die untersuchungsrelevanten Unterlagen bei den Gerichten und in der Bundesverwaltung zu edieren und eine Analyse zu Händen der Subkommissionen vorzunehmen.

1

Der Subkommission Gerichte/BA der GPK-N gehören an: Manuela Weichelt (Vorsitz) Marianne Binder-Keller, Prisca Birrer-Heimo, Katja Christ, Yvette Estermann, Erich Hess, Christian Imark, Isabelle Pasquier-Eichenberger, Laurent Wehrli. Der Subkommission Gerichte/BA der GPK-S gehören an: Hans Stöckli (Präsident), Thierry Burkart, Marco Chiesa, Daniel Fässler, Carlo Sommaruga.

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Die Subkommissionen hörten Vertreterinnen und Vertreter des BStGer und des BGer an und zogen im Weiteren die Erkenntnisse aus einer Reihe von Anhörungen zur Berufungskammer seit 2018 bei.

Der vorliegende Bericht wurde vor der Genehmigung durch die GPK und der Veröffentlichung allen betroffenen Behörden in Konsultation gegeben. Die GPK haben die Änderungsanträge aus der Konsultation geprüft und teilweise gutgeheissen.

Die GPK genehmigten den vorliegenden Bericht am 20. September 2022 und beschlossen, ihn zu veröffentlichen.

2

Feststellungen

2.1

Pläne zur Schaffung einer Berufungskammer

2.1.1

Botschaft des Bundesrates vom 4. September 2013

Aufgrund der vom Parlament angenommenen Motion 10.31382 legte der Bundesrat dem Parlament die Botschaft vom 4. September 2013 vor, die vorsah, dem Bundesgericht (BGer) die Kompetenz zuzuweisen, bei Beschwerden gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts (BStGer) in Zukunft die Feststellung des Sachverhalts und die Beweiswürdigung der Strafkammer uneingeschränkt zu überprüfen (erweiterte Kognition).3 Das BGer lehnte die beabsichtigte Erweiterung seiner Kognition in Strafsachen mit Verweis auf seine drohende Überlastung und eine zu erwartende Verlängerung der Verfahren ab. Es machte auch grundsätzliche Einwände geltend: Eine Sachverhaltskontrolle durch das BGer widerspreche den Zielen der Totalrevision der Bundesrechtspflege und der Rolle des BGer als oberstem Gericht diametral. Sie laufe der Grundidee, durch den Ausbau von Vorinstanzen zu erreichen, dass sich das Bundesgericht auf eine Prüfung der Rechtsfragen beschränken kann, zuwider. Der Verweis des Bundesrates in den Vernehmlassungsunterlagen auf nur etwa elf Beschwerden in Strafsachen pro Jahr an das BGer beruhe auf einer Fehleinschätzung. Es sei ein wesentlicher Unterschied, ob das Bundesgericht nur die Feststellungen der Vorinstanz auf Willkür hin überprüfen müsse oder ob es ganze Aktenberge ­ die Hunderte von Bundesordnern umfassen könnten ­ überprüfen müsse, ob der Sachverhalt richtig festgestellt worden ist. Das BStGer setze in der Strafkammer für rund 25 Fälle im Jahr 10 Richterinnen und Richter mit insgesamt 7,7 Stellen ein. Darin zeige sich, wie aufwendig die Sachverhaltsermittlung sei. Nach Meinung des BGer wäre es richtig, wie in den Kantonen eine Berufungsinstanz als Vorinstanz des BGer zu schaffen.4

2

3

4

Mo 10.3138 (Janiak), Erweiterung der Kognition des Bundesgerichtes bei Beschwerden gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes, angenommen am 17. Dezember 2010.

Botschaft des Bundesrates vom 4. September 2013 zur Änderung des Bundesgesetzes über das BGer (Erweiterung der Kognition bei Beschwerden in Strafsachen), BBl 2013 7109.

Botschaft vom 4. September 2013, BBl 2013 7109, hier 7116 und 7117.

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Das BGer hatte zusammen mit dem BStGer im Rahmen der Vernehmlassung zur Botschaft des Bundesrates zwei alternative Lösungen vorgeschlagen, wobei sie die Variante 1 bevorzugen würden: 1.

die Einbettung eines Berufungsgerichts in das BStGer, wobei die bestehende Beschwerdekammer zusammen mit der zusätzlichen Aufgabe eines Berufungsgerichts zu einem Rechtsmittelgericht ausgebaut werden könnte. Ein Zusammenlegen von Beschwerdeinstanz und Berufungsgericht in einem Rechtsmittelgericht sei gemäss der Strafprozessordnung zulässig (Art. 20 Abs. 2 StPO5). Die Einschränkung, dass ein Mitglied der Beschwerdeinstanz im gleichen Fall nicht auch im Berufungsgericht mitwirken könne (Art. 21 Abs. 2 StPO) stelle kein Problem dar, falls die Anzahl Richter und Richterinnen in einem zusammengelegten Rechtsmittelgericht hoch genug sei. Das Parlament müsste die Richter und Richterinnen in die erste oder in die zweite Instanz wählen. Das Rechtsmittelgericht könne mit wenig Kosten realisiert werden, da das heutige Bundesstrafgericht in ein erstinstanzliches Strafgericht und ein Rechtsmittelgericht (Beschwerden und Berufungen) aufzugliedern sei. Die genaue Anzahl Richter und Richterinnen sowie der Gerichtsschreiber und Gerichtsschreiberinnen müsste noch evaluiert werden, da von Synergien auszugehen sei;

2.

die Schaffung eines selbständigen Berufungsgerichts, das administrativ beim Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen angesiedelt werden könnte. Für ein solches Berufungsgericht prognostizierte das BGer den Bedarf von zwei hauptamtlichen Berufungsrichterinnen und -richtern (1,5 bis 2 Stellen), ergänzt mit nebenamtlichen Richterinnen und Richtern6.

Die Frage des Rechtsmittels gegen Entscheide der Strafkammer des BStGer wurde bereits im Jahr 2008 in der Botschaft7 zum Strafbehördenorganisationsgesetz (StBOG8) eingehend geprüft. Untersucht wurden damals vier Varianten:

5 6 7 8

1.

Errichtung eines neuen, eigenständigen Berufungsgerichts. Diese Variante verwarf der Bundesrat, insbesondere, weil die zu erwartenden Fallzahlen für ein eigenständiges Gericht zu tief seien. Bereits hier ging der Bundesrat davon aus, dass es höchstens zwei vollamtlich tätige Richterinnen und Richter geben würde und sonst mit nebenamtlichen Richterinnen und Richtern gearbeitet werden müsste;

2.

die Ansiedlung einer Berufungskammer beim BStGer in Bellinzona. Gegen diese Variante äusserte der Bundesrat Bedenken betreffend die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit;

Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung), SR 312.0.

Botschaft vom 4. September 2013, BBl 2013 7109, hier 7117-7118.

Botschaft des Bundesrates vom 10. September 2008 zum Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes, BBl 2008 8125.

Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes vom 19. März 2010 (Strafbehördenorganisationsgesetz), SR 173.71.

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3.

das BGer als Berufungsinstanz. Diese Variante war im Vorentwurf zum StBOG vom Bundesrat vorgeschlagen worden; in der Botschaft verzichtete der Bundesrat jedoch darauf; und

4.

die Beibehaltung der bisherigen Rechtsmittelordnung, wonach Entscheide der Strafkammer des BStGer mit Beschwerde in Strafsachen beim BGer angefochten werden konnten. Dabei konnte das BGer zwar die Rechtsanwendung überprüfen, war aber grundsätzlich an den Sachverhalt gebunden, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hatte. Nur wenn diese Feststellung offensichtlich unrichtig war oder auf einer Rechtsverletzung beruhte, konnte das BGer sie berichtigen. Diese Regelung entsprach nicht jener der Strafprozessordnung (StPO), wonach Urteile erstinstanzlicher Gerichte sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht uneingeschränkt überprüft werden können sollten. Diese Variante setzte sich bei den Beratungen zum StBOG durch und blieb geltendes Recht bis zur Schaffung der heutigen Berufungskammer.

Mit der Botschaft vom 4. September 2013 setzte der Bundesrat die vom Parlament überwiesene Motion (Janiak) 10.3138 um. Diese verlangte die Ausarbeitung der Variante 3, die noch im Vorentwurf des StBOG enthalten war, mit dem Unterschied, dass das BGer nicht selber Beweise erheben oder öffentliche Verhandlungen führen müsste, sondern die Beschwerden zur Nachbesserung an die Vorinstanz (die Strafkammer des BStGer) zurückweisen könnte.9 Bei den Fallprognosen im Rahmen der Botschaft verwies der Bundesrat darauf, dass in der Vergangenheit pro Jahr durchschnittlich elf Beschwerden in Strafsachen gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts beim BGer erhoben worden seien, wobei ein Beschwerdefall mehrere Personen umfassen könne.

2.1.2

Überlegungen in den Gerichten zur Schaffung einer Berufungskammer

In der Phase der parlamentarischen Beratung der Vorlage des Bundesrates vom 4. September 2013 machten das BStGer und das BGer sich weitere Überlegungen im Hinblick auf die Schaffung einer Berufungskammer, da sie die erweiterte Kognition des BGer, also den vom Bundesrat aufgrund der Motion Janiak eingeschlagenen Weg, ablehnten (siehe Ziff. 2.1.1).

2.1.2.1

Brief des Präsidenten des Bundesstrafgerichts vom 12. Februar 2014

Im Dezember 2013 beauftragte der Präsident des BGer den Präsidenten des BStGer, ein Modell für die Integration des Berufungsgerichts (in das BStGer) auszuarbeiten.10

9 10

Botschaft vom 4. September 2013, BBl 2013 7109, hier 7122.

Notiz des Generalsekretärs des BGer vom 2. Dezember 2013.

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Am 1. Januar 2014 wechselte am BStGer das Präsidium. Am 4. Februar 2014 schrieb der Präsident des BGer dem neuen Präsidenten des BStGer per Mail, er sei mit seinem Vorgänger im Amt übereingekommen, dass das BStGer ein detailliertes Konzept fùr eine Berufungsabteilung innerhalb des BStGer erarbeiten werde. Es gehe darum, bereit zu sein, um dem Parlament bei der Beratung des bundesrätlichen Entwurfs zur Umsetzung der Motion Janiak etwas Konkretes vorlegen zu können. Da das Parlament in dieser Sache bald tätig werde, frage er an, wie weit die Arbeiten gediehen seien.

In einem folgenden Mailwechsel kamen die beiden Präsidenten überein, dass es aus taktischen Überlegungen am besten sei, vorerst kein allzu konkretes Projekt zu erarbeiten, sondern sich auf einige allgemeine, aber seriöse Informationen zu Umsetzbarkeit, Kosten und Zahl der zusätzlichen Richterinnen und Richter zu beschränken, was aber nicht daran hindern solle, intern weitere Überlegungen zu machen, um rasch bereit zu sein, falls zusätzliche Auskünfte verlangt würden.11 Der Präsident des BStGer leitete den Mailwechsel gleichentags an die beiden Kammerpräsidenten weiter und lud sie für den nächsten Tag zu einer Besprechung der Angelegenheit, welche er vorerst nicht in die VK bringen, sondern präsidial erledigen wolle, ein. Die beiden übrigen Mitglieder der VK BStGer ­ diese bestand damals aus fünf Mitgliedern ­ wurden mit einer Mailkopie orientiert. Einer der zwei orientierten VK-Mitglieder, der Vizepräsident, antwortete darauf mit Erstaunen, dass der Präsident diese delikate Frage nicht in der VK behandeln wolle und verlangte eine Behandlung in der VK BStGer. Darauf antwortete der Präsident, die Sache könne nicht bis zur nächsten VK-Sitzung vom 18. Februar 2014 warten, aber gemäss seinem Wunsch werde er für Morgen kurzfristig eine Sitzung einberufen.

Am Vormittag des 5. Februar 2014 orientierte der Präsident die Mitglieder der VK, der Vizepräsident, welcher die Sitzung verlangt hatte, werde ebenfalls an der Besprechung mit den Kammerpräsidenten teilnehmen. Somit sei eine VK-Sitzung obsolet.

Als Ergebnis des Treffens vom 5. Februar 2014, das nicht protokolliert wurde, liess der Präsident des BStGer dem Präsidenten des BGer am 12. Februar 2014 ein Schreiben zukommen, das «insbesondere nach Absprache mit dem Präsidenten der Strafkammer»
erfolge. Es enthielt Überlegungen und Angaben zu einer möglichen Berufungskammer in Bellinzona und beschränkte sich vorerst auf die Ermittlung der mutmasslich erforderlichen Juristenstellen (Richter- und Gerichtsschreiberstellen).

Im Weiteren stellte der Präsident in Aussicht, für Fragen der Organisation noch eine Arbeitsgruppe einzusetzen.

Gemäss dem Brief des Präsidenten des BStGer seien bei der Richterschaft zwei grundsätzliche Lösungen denkbar: Ausschliesslich vollamtlich tätige Richterinnen und Richter im Haus, welche aus Flexibilitätsgründen mehreren Kammern zugeteilt wären, oder ein vollamtlich besetztes Präsidium der Berufungskammer im Haus, das fallweise auf nebenamtlich tätige Berufungsrichterinnen und -richter zurückgreifen könnte. Zusammenfassend ging das Papier davon aus, dass, global betrachtet, für die Behandlung von Berufungen gegen Urteile der Strafkammer juristische Kapazitäten im Umfang von vier juristischen Vollzeitstellen (Richter- und Gerichtsschreiberstellen) zu schaffen wären (ca. ein Viertel der damals gut 15 juristischen Stellen bei der 11

Mailwechsel vom 4. Februar 2014 (nicht öffentlich).

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Strafkammer). Zusammenfassend erscheine es klar, dass die Einrichtung einer Berufungsinstanz auf Bundesebene per Saldo mit verhältnismässig bescheidenen Mitteln realisiert werden könnte.

In Bezug auf die Infrastruktur hielt das Schreiben fest, dass, aus damaliger Sicht, sowohl was die Büros als auch was die Gerichtssäle betrifft, für eine Berufungskammer hinreichend Platz am Gericht vorhanden wäre. Längerfristig könnten voraussichtlich im benachbarten «Pretorio»-Gebäude nach dessen Umbau zusätzliche Räume angemietet werden. Die Eidgenossenschaft hätte also für eine Berufungskammer in Bellinzona aller Voraussicht nach keinerlei bauliche Massnahmen zu treffen.

Das Schreiben des Präsidenten des BStGer wurde den Richtern und Richterinnen des BStGer zur Kenntnisnahme zugestellt.12 Die VK BGer als Aufsichtsbehörde über das BStGer nahm an ihrer Sitzung vom 17. Februar 2014 Kenntnis von den ersten Überlegungen des Präsidenten des BStGer zum konkreten Bedarf einer beim BStGer angesiedelten Berufungskammer. Im Protokoll wurde festgehalten: «Die Verwaltungskommission nimmt zur Kenntnis, dass am heutigen Sitz in Bellinzona genügend Platz für eine Berufungskammer vorhanden ist und der Personalbedarf auf rund vier Stellen veranschlagt wird.»

2.1.2.2

Bericht vom 10. März 2014 der internen Arbeitsgruppe des Bundesstrafgerichts

Am 13. Februar 2014 wurde am BStGer eine interne Arbeitsgruppe gebildet, die abklären sollte, wie beim BStGer eine Berufungsinstanz des Bundes errichtet werden könnte. Ihr gehörten vier Richterinnen und Richter an, zwei von der Strafkammer und zwei von der Beschwerdekammer.

Gemäss ihrem Bericht vom 10. März 2014 an den Präsidenten des BStGer prüfte die Arbeitsgruppe, welche minimalen Anforderungen an eine funktionierende Berufungsinstanz am BStGer zu stellen wären. Dabei zog sie mehrere Modelle in Betracht, insbesondere in Anlehnung an diejenigen, die in den Kantonen existieren.

Bei einer Variante A (Schaffung einer Berufungsinstanz, die lediglich für Berufungen zuständig wäre) kam die Arbeitsgruppe zum Schluss, dass das Modell einer unabhängigen Berufungsinstanz (Berufungsgericht) einer Berufungskammer innerhalb des BStGer vorzuziehen wäre. Denn, abgesehen von der Tatsache, dass die Schaffung von zwei Instanzen innerhalb desselben Gerichts einmalig wäre, sei die Arbeitsgruppe der Meinung, dass eine solche Struktur zu internen organisatorischen Schwierigkeiten führen würde, mit dem Risiko, das Funktionieren des ganzen Gerichts zu belasten.

Insbesondere würden sich verschärft Fragen des Ausstands stellen.

Die Arbeitsgruppe prüfte auch eine Variante B (Schaffung einer Rechtsmittelinstanz), die ­ analog zu praktisch allen Kantonen ­ sowohl Berufungen als auch Beschwerden behandeln würde und damit auch die Funktion der heutigen Beschwerdekammer übernähme. Bei dieser Variante würde klar zwischen erster und zweiter Instanz auf Bundesebene unterschieden.

12

Protokoll der Sitzung der VK BStGer vom 18. Februar 2014 (nicht öffentlich).

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Bei Variante A (Berufungsinstanz) schätzte die Arbeitsgruppe die minimalen personellen Anforderungen auf mindestens vier hauptamtliche Richterinnen und Richter zu je mindestens 80 Prozent Beschäftigungsgrad, insbesondere, weil Entscheide der Berufungsinstanz in der Regel zu dritt erfolgen müssen und eine rasche Bildung der Spruchkörper möglich sein müsste. Zudem müsste der sprachlichen Verteilung sowie Abwesenheiten Rechnung getragen werden. Weiter müssten noch mindestens vier nebenamtliche Richterinnen und Richter vorgesehen werden, um Fluktuationen auffangen zu können. Bei den Gerichtsschreiberinnen und -schreibern müsste mit der gleichen Anzahl erforderlicher Stellen wie bei den hauptamtlichen Richterinnen und Richtern gerechnet werden, also mit mindestens vier.

Bei Variante B (Rechtsmittelgericht) müsste eher mit drei als mit vier zusätzlichen hauptamtlichen Richterinnen und Richtern gerechnet werden, da in dieser Variante eine gewisse Konzentration der Kräfte möglich wäre. Erforderlich wären ebenso viele Gerichtsschreiberinnen und -schreiber. In dieser Variante könnte auf nebenamtliche Richter verzichtet werden, weil in einem Rechtsmittelgericht die übrigen hauptamtlichen Richterinnen und Richter die Fluktuationen ausgleichen könnten.

Der Bericht der Arbeitsgruppe vom 10. März 2014 wurde den Richtern und Richterinnen des BStGer zur Kenntnisnahme zugestellt.13 Am 27. März 2014 orientierte der Präsident des BStGer das Gesamtgericht per Mail, er habe soeben einen Anruf des Bundesgerichtspräsidenten erhalten. Dieser lege Wert darauf, dass die Papiere des BStGer, insbesondere das zweite, dasjenige der Arbeitsgruppe, «streng vertraulich bleiben und nicht an Parlamentarier oder andere Personen weitergegeben werden». Der Präsident des BGer werde zusammen mit ihm, dem Präsidenten des BStGer, die Sache im Parlament vertreten, wenn es eine Anfrage gebe, und es sei unbedingt zu vermeiden, dass sie durch eigene Papiere, die den Weg zu Parlamentariern gefunden haben sollten, gebunden wären.

2.1.2.3

Aufsichtssitzung vom 2. April 2014

An der Aufsichtssitzung der VK BGer mit der VK BStGer vom 2. April 2014 wurden das Schreiben des Präsidenten des BStGer sowie der Bericht der Arbeitsgruppe (vgl. Ziff. 2.1.2.1 und 2.1.2.2) thematisiert.

Der Bundesgerichtspräsident stellte klar, dass sich die Präsidien der beiden Gerichte als Gegenvorschlag zur Motion Janiak auf eine Berufungskammer innerhalb des BStGer geeinigt hätten. Der gemeinsame Vorschlag der beiden Gerichte werde in der Botschaft des Bundesrates ausführlich dargestellt. Neue Vorschläge der Gerichte würden jede Chance zerschlagen, eine andere Lösung als jene der Motion Janiak durchzubringen. Der Bundesgerichtspräsident ersuchte das BStGer daher dringend, nicht mehr von einem selbständigen Berufungsgericht zu sprechen. Wie sich das BStGer intern organisiere, sei dagegen seine Sache.

Der Präsident des BStGer teilte die Auffassung, dass einzig der gemeinsame Vorschlag für eine interne Berufungskammer noch eine politische Chance habe. Es sei 13

Mail des Präsidenten des BStGer vom 27. März 2014 (nicht öffentlich).

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nicht der Wunsch des BStGer, einen neuen Vorschlag für ein unabhängiges Gericht in die politische Diskussion zu bringen. Das BStGer werde darauf achten, das gemeinsame Projekt nicht zu gefährden.

2.1.3

Mitarbeit des Bundesstrafgerichts im Rahmen der Vorberatung in den Kommissionen

2.1.3.1

Stellungnahme der Gerichte an die Rechtskommission des Ständerates

Auf Einladung der vorberatenden Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S) nahmen das BGer und das BStGer im Juni 2014 Stellung zur Vorlage des Bundesrates vom 4. September 2013 (vgl. Ziff. 2.1.1). Sie bekräftigten ihre bereits in der Botschaft dargelegten Gründe, weshalb sie eine erweiterte Kognition durch das BGer ablehnten und für die Schaffung einer Berufungsmöglichkeit als 2. Instanz plädierten. In organisatorischer Hinsicht führte das BStGer aus, intern angestellte Überlegungen hätten ergeben, dass eine Berufungsmöglichkeit mit bescheidenem Zusatzaufwand eingerichtet werden könnte. Im Weiteren wies das Gericht darauf hin, dass die in Ziffer 3 der Botschaft genannten Zahlen nicht zutreffend seien. In der Periode 2008­2013 seien mehr als doppelt so viele Beschwerden an das Bundesgericht erhoben worden als in der Botschaft angegeben.14 In der Botschaft war die Rede von jährlich durchschnittlich elf Beschwerden in Strafsachen, die beim BGer erhoben wurden.

Gemäss der Statistik der Strafkammer des BStGer waren es 2008 19, 2009 61, 2010 27, 2011 16, 2012 12 und 2013 22 Beschwerden.15

2.1.3.2

Erarbeitung von Grundlagen im Bundesamt für Justiz

Im Rahmen der ersten Beratung der Vorlage am 4. Juli 2014 beauftragte die RK-S das Bundesamt für Justiz (BJ), einen Alternativvorschlag auszuarbeiten, um am Bundesstrafgericht eine Berufungsinstanz einzurichten. Damit nahm die Kommission den Vorschlag des BGer und des BStGer auf, den diese im Rahmen der Botschaft vom 4. September 2013 eingebracht und inzwischen bekräftigt hatten.

Das BJ hatte Möglichkeiten geprüft, wie eine Berufungsinstanz geschaffen werden könnte. In einem Variantenvergleich zeigte sich, dass aus rechtlicher Sicht nur die Schaffung einer Berufungsinstanz mit der Rechtsordnung im Einklang stand (Bundesgerichtsgesetz BGG16 und Strafprozessordnung StPO). Bei der Schaffung einer Berufungskammer am BStGer sah man als Nachteile und Schwierigkeiten die Vereinigung von erster und zweiter Instanz unter gleichem Präsidium und die zu niedrigen Fall-

14 15 16

Schreiben BGer vom 24. Juni 2014 und Schreiben BStGer vom 26. Juni 2014 an die RK-S (nicht öffentlicht).

Auszug aus der Datenbank der Strafkammer zu Händen der GPK vom 30. Juni 2022.

Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz), SR 173.110.

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zahlen, um eine Berufungskammer in drei Amtssprachen auszulasten. Um dem Problem der niedrigen Fallzahlen zu begegnen, könnte man ­ so die Überlegungen des BJ ­ Berufungs- und Beschwerdekammer vereinigen, wobei aber bei vorbefassten Richterinnen und Richtern Ausstandsgründe entstehen würden. Nebenamtliche Richterinnen und Richter wären erforderlich, doch sah man die Schwierigkeit, dass ihre Rekrutierung möglicherweise schwierig wäre und die Entwicklung einer einheitlichen Rechtspraxis erschwert würde.17 In Rechtlicher Hinsicht schnitt die Variante eines neuen eigenständigen Berufungsgerichts noch besser ab, doch auch hier sah man die gleichen Nachteile wie bei einer Integration in das BStGer, insbesondere zu niedrige Fallzahlen. Zudem müsste dieses Gericht sich selbst verwalten.

2.1.3.3

Erster Gesetzesentwurf des Bundesamts für Justiz

Am 29. August 2014 stellte das BJ dem BStGer einen ersten Gesetzesentwurf samt Erläuterungen für die Schaffung einer Berufungskammer zu und bat das Gericht um Stellungnahme bis zum 15. September 2014, insbesondere zu den finanziellen und personellen Auswirkungen. Der Entwurf stützte sich auf die Vorschläge des BGer und des BStGer, die diese in die Botschaft des Bundesrates eingebracht hatten, sowie auf das Memorandum des BGer vom 28. Juni 2013. Gemäss dem Entwurf sollte es am BStGer neu eine oder mehrere Berufungskammern geben, die sowohl für Berufungen und Revisionen als auch für die bisher der Beschwerdekammer zugewiesenen Tätigkeiten zuständig sein sollten. Die Berufungskammern sollten in der Besetzung mit drei Richtern oder Richterinnen entscheiden. Das Parlament sollte die Richterinnen und Richter in die erste oder zweite Instanz (Strafkammer oder Berufungskammern) wählen.

Am 2. September 2014 informierte der Präsident des BStGer das Gesamtgericht per Mail über die Einladung des BJ zur Stellungnahme. Den Entwurf des BJ vom 29. August 2014 fügte er dem Mail nicht bei, hielt aber fest, der Entwurf sei einerseits sehr fehlerhaft und enthalte andererseits Regelungen, die das Gericht so kaum wollen würde. Er werde deshalb versuchen, eine Aussprache mit dem BJ zu organisieren, um die Stellungnahme des BStGer mündlich zu erläutern. Eine Diskussion im Plenum sei nicht möglich. Hingegen scheine es ihm möglich, die Sache in der VK oder wenigstens im Kreis der interessierten VK-Mitglieder zu diskutieren. Die interessierten Mitglieder des Plenums seien auch eingeladen. Als Datum für eine Besprechung schlug er den 5. September 2014 vor. Wer interessiert sei, solle sich melden. Er werde den Interessierten dann den Entwurf zukommen lassen.

Ein Mitglied der Beschwerdekammer meldete darauf hin sein Interesse an, teilzunehmen, und wies darauf hin, es wäre wünschenwert, dass das Gesamtgericht vom Entwurf des BJ Kenntnis nehmen könnte. Darauf hin liess der Präsident des BStGer den Entwurf des BJ dem Gesamtgericht zukommen.

Was am Ad-hoc-Treffen vom 5. September 2014 besprochen und beschlossen wurde, wurde nicht schriftlich festgehalten. Es nahmen neun Richterinnen und Richter teil, fünf von der Strafkammer und vier von der Beschwerdekammer. Nach der Erinnerung 17

Arbeitspapier des BJ vom 2. Juli 2014.

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des damaligen Präsidenten war ein wesentliches Argument für eine dritte Kammer anstelle eines unabhängigen Gerichts die Möglichkeit der Aushilfe zwischen den Kammern.18 Ein Teilnehmer erinnert sich, man habe vor allem den Aspekt diskutiert, dass das Gericht an Autonomie verlieren würde, weil der Entwurf vorsah, dass die Kammerpräsidentinnen und -präsidenten durch das Parlament gewählt werden sollten.

Da man unter Zeitdruck gestanden habe, habe die Gruppe die Ausarbeitung der Stellungnahme an den Präsidenten delegiert.19 Der Präsident liess den Entwurf seiner Stellungnahme am 11. September 2014 dem Gesamtgericht zukommen. Er konsultierte auch das Bundesgericht zum Entwurf. Der Generalsekretär des BGer teilte ihm am 15. September mit, der Präsident des BGer habe den Entwurf gesehen und habe keine Einwendungen.

2.1.3.4

Stellungnahme des Präsidenten des Bundesstrafgerichts zum ersten Gesetzesentwurf

Mit Schreiben vom 15. September 2014 antwortete der Präsident des BStGer dem BJ, das Gericht sei nach internen Diskussionen zum Schluss gekommen, dass der vorliegende Entwurf vom 29. August 2014 rechtlich zumindest diskutabel sei und dass das vorgesehene Organisationsmodell nicht praktikabel wäre. Das Modell des BJ sehe zwei Kammern vor, die unter dem selben Dach als komplett getrennte Gerichte funktionieren würden, wobei die Berufungskammer für die Behandlung von Berufungen und Beschwerden zuständig wäre und die Strafkammer, wie bereits heute, als erstinstanzliches Sachgericht fungieren würde. Für die so konzipierte Beschwerdekammer würden nicht handhabbare Ausstandsprobleme geschaffen. Eine vollständige organisatorische Fusion von Beschwerde- und Berufungsinstanz sei bereits deshalb aus Sicht des Gerichts ausgeschlossen.

Im Übrigen hätte der vorgeschlagene Organisations- und Wahlmodus zur Folge, dass Aushilfen im Einzelfall ­ wie damals zwischen Straf- und Beschwerdekammer üblich ­ inskünftig verunmöglicht würden. Die dreisprachige Strafkammer sei in ihrer aktuellen Grösse zwingend auf solche Aushilfen angewiesen.

Aus Sicht des Gerichts könnte ein mögliches Modell so aussehen, dass neben den beiden bestehenden Kammern eine dritte selbständige Kammer als Berufungskammer geschaffen würde. Es sollten ein oder maximal zwei vollamtliche Berufungsrichter eingesetzt werden, die an allen Verfahren beteiligt wären und auf einen Pool erfahrener kantonaler Strafrichter als nebenamtliche Berufungsrichter zurückgreifen könnten. Nicht auszuschliessen wäre aus Sicht des Gerichts, dass einzelne Mitglieder der Beschwerdekammer in der Berufungskammer eingesetzt werden könnten, unter der Voraussetzung, dass Aushilfen der Beschwerdekammer für die Strafkammer möglich bleiben würden.

In Bezug auf die Ressourcen gehe das Gericht davon aus, dass 400 juristische Stellenprozente erforderlich wären (das entsprach einem Viertel der damals 16 Juristenstellen in der Strafkammer). Die 400 Stellenprozente würden sich aufteilen auf den 18 19

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 21 (nicht öffentlich).

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 17 (nicht öffentlich).

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hauptamtlichen Vorsitz (100 Prozent), Gerichtsschreiber (200 Prozent) und nebenamtliche Richterinnen und Richter (100 Prozent). Dazu kämen sehr bescheidene Mehraufwendungen im Bereich Informatik, Logistik/Sicherheit und Kanzlei im Umfang von einer bis maximal eineinhalb Stellen. Im Übrigen sei die am Gericht vorhandene Infrastruktur für die Schaffung einer Berufungskammer ausreichend und würde keine zusätzlichen Investitionen bedingen.

Die Angaben des Präsidenten des BStGer zu den Ressourcen entsprachen ungefähr seinen ersten Überlegungen, die er im Schreiben vom 12. Februar 2014 an den Bundesgerichtspräsidenten dargelegt hatte.

Der Präsident liess das Schreiben dem Gesamtgericht per Mail zur Kenntnis zukommen.

2.1.3.5

Erarbeitung eines zweiten Gesetzesentwurfs im Bundesamt für Justiz

Am 10. Oktober 2014 schrieb das BJ in einem E-Mail an den Präsidenten des BStGer folgendes: «Wir haben die Stellungnahme des Bundesstrafgerichts vom 15. September 2014 zu unserem Vorschlag in rubrizierter Angelegenheit erhalten und geprüft.

Wir stellen fest, dass der Alternativvorschlag des Bundesstrafgerichts vom Vorschlag des Bundesgerichts vom 28. Juni 2013 abweicht, dies obwohl das Bundesstrafgericht diesem zugestimmt hat. Wir haben im Rahmen unserer Arbeiten lediglich den Vorschlag des Bundesgerichts umgesetzt.» Im Weiteren lud das BJ den Präsidenten des BStGer ins Bundesamt ein, um die verschiedenen Vorschläge zu prüfen und allfällige Alternativen zu besprechen.

Am 23. Oktober 2014 informierte der Präsident des BStGer das Gesamtgericht per Mail, er sei am 20. Oktober 2014 vom BJ kurzfristig zu einer Besprechung eingeladen gewesen. Über den Inhalt werde er an der nächsten Plenarsitzung informieren.

Die Folgearbeiten unter der Mitwirkung des Präsidenten des BStGer resultierten in einem zweiten Gesetzesentwurf des BJ vom 31. Oktober 2014. Dieser sah nun ­ in Übereinstimmung mit dem Schreiben des Präsidenten des BStGer vom 15. September 2014 ­ die Schaffung einer Berufungskammer als dritte Kammer neben der Strafkammer und der Beschwerdekammer am BStGer vor. Die Richter und Richterinnen der Strafkammer und der Beschwerdekammer sollten weiterhin zur Aushilfe in der jeweils anderen Kammer verpflichtet sein. Soweit erforderlich, sollten die Richter und Richterinnen der Beschwerdekammer in der Berufungskammer aushelfen, vorbehältlich der Ausstandspflicht. Weiter sollten die Richter und Richterinnen der Berufungskammer speziell für diese Kammer gewählt werden. In der Richterstellenverordnung20 wurden höchstens 2 Vollzeitstellen für ordentliche Richter und Richterinnen und höchstens 7 nebenamtliche Richter und Richterinnen in der Berufungskammer vorgesehen.

20

Verordnung der BVers vom 13. Dezember 2013 über die Richterstellen am BStGer, SR 173.713.150.

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Am 4. November 2014 führte das Plenum des BStGer eine allgemeine Diskussion zu einer möglichen Berufungskammer. Der Präsident orientierte eingangs, dass er zur Sitzung der RK-S vom 17. November 2014 eingeladen sei, und bat die Kolleginnen und Kollegen um ihre Meinungsäusserung hinsichtlicher der Organisation einer künftigen Berufungskammer, damit er der RK-S diese übermitteln könne. Dem Protokoll ist keine Information des Präsidenten über die Aussprache beim BJ vom 20. Oktober 2014 zu entnehmen. Die Diskussion drehte sich zum grossen Teil um die nebenamtlichen Richter und Richterinnen. Die meisten Votantinnen und Votanten äusserten Bedenken in Bezug auf deren Rekrutierung und Bereitschaft, teilzeitlich zur Verfügung zu stehen. Ein Votant riet, die Tätigkeit der Arbeitsgruppe wieder aufzunehmen.

Gefordert wurde u. a., dass genügend hauptamtliche Richter und Richterinnen zur Verfügung stehen müssten, um die Dreisprachigkeit und die Einheit der Rechtsprechung sicher zu stellen. Andere meinten, das Gericht brauche sich im jetzigen Zeitpunkt gar nicht zu äussern. Der Präsident hielt fest, er werde der Kommission auf der Grundlage der Diskussion berichten, dass mindestens zwei Richterpersonen Vollzeit beschäftigt sein müssten (Präsidium und Vizepräsidium) und weitere Richterinnen und Richter teilzeitlich tätig sein müssten. Eine gewisse Flexibilität werde erforderlich sein.21 Das Sekretariat der RK-S stellte den Präsidenten des BGer und des BStGer den Entwurf des BJ vom 31. Oktober 2014 im Hinblick auf die Anhörung durch die RK-S vom 17. November 2014 am 4. November 2014 zu. Das Papier ging beim BStGer gemäss Eingangsstempel am 5. November 2014, d. h. am Tag nach der Plenarsitzung ein, wurde aber den Gerichtsmitgliedern zu diesem Zeitpunkt nicht zugestellt.

2.1.4

Rückweisung der Vorlage an den Bundesrat im Mai 2015

Die RK-S beriet die Vorlage des Bundesrates vom 4. September 2013 an ihrer Sitzung vom 17. November 2014 in Anwesenheit der Präsidenten des BGer und des BStGer und nahm vom Entwurf des BJ Kenntnis. Die Kommission trat auf die Vorlage ein und beschloss gleichzeitig, sie an den Bundesrat zurückzuweisen, mit dem Auftrag, einen Gesetzesentwurf für eine Berufungskammer am BStGer zu erarbeiten.22 Am 25. November 2014 orientierte der Präsident des BStGer in der VK BStGer über seine Anhörung in der RK-S vom 17. November 2014. Die entsprechende Medienmitteilung der RK-S wurde am Gericht verteilt.23 Der Ständerat folgte seiner Kommission und wies am 10. Dezember 2014 die Vorlage zurück an den Bundesrat.24 Im Nationalrat wies Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des EJPD, darauf hin, dass die Vorlage gemäss der Motion Janiak zwar nicht optimal sei, aber in der Vernehmlassung sei die Schaffung einer Berufungskammer wegen der geringen Fallzahlen abgelehnt worden. Der Nationalrat folgte am 21 22 23 24

Plenarprotokoll des BStGer vom 4. November 2014 (nicht öffentlich).

Medienmitteilung der RK-S vom 18. November 2014.

Protokoll der VK BStGer vom 25. November 2014 (nicht öffentlich).

AB 2014 S 1289

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5. Mai 2015 ganz knapp, mit 92 zu 91 Stimmen, dem Ständerat und wies die Vorlage an den Bundesrat zurück.25

2.1.5

Vorbereitung der Zusatzbotschaft des Bundesrates vom 17. Juni 2016

Am 12. August 2015 stellte das BJ dem Präsidenten des BStGer den Gesetzesentwurf vom 31. Oktober 2014 zu, das dieser bereits am 5. November 2014 vom Sekretariat der RK-S erhalten hatte, bat um Stellungnahme bis Ende September 2015 und bedankte sich beim Präsidenten für die seinerzeitige Mitwirkung am Entwurf. Dieses Mail ist in der zentralen Ablage des BStGer nicht auffindbar.

Mit Mail vom 14. August 2015 stellte der Präsident dem Gesamtgericht den Entwurf jetzt erstmals zu, mit dem Hinweis, dass das Parlament die Vorlage «Janiak» zurückgewiesen habe und das BJ nun eine Vorlage erarbeitet habe und das BStGer in diesem frühen Stadium die Gelegenheit zur Stellungnahme bis Ende September erhalten habe.

Wer sich an der Diskussion und der Ausarbeitung einer Stellungnahme beiligen möchte, solle sich bis zum 24. August 2015 melden. Eine formelle Behandlung im Plenum sei nicht erforderlich.

Ob eine solche Besprechung stattfand und was gegebenenfalls dort besprochen wurde, ist beim BStGer nicht dokumentiert. Es findet sich lediglich der Nachweis, dass ein Mitglied der Beschwerdekammer per Mail sein Interesse bekundete, an der Besprechung teilzunehmen.

Am 10. September 2015 bat der Präsident des BStGer das BJ um eine Fristerstreckung, da die Diskussion der Unterlagen des BJ zur Berufung in Bundesstrafsachen komplizierter sei als geplant und er gerne auch das Plenum einbeziehen würde, auch wenn dieses formell nicht zuständig sei. Später würde ja das BStGer zu einer Vernehmlassung eingeladen, die vom Plenum zu verabschieden wäre. Es wäre also nicht sinnvoll, jetzt etwas einzufädeln, was später nicht bestehen würde. Auch dieses Mail ist in der zentralen Ablage des BStGer nicht mehr auffindbar.

Das Protokoll der Plenarsitzung des BStGer vom 29. September 2015 hält fest, es würden nun zwei Varianten vom BJ geprüft, die dann vom Parlament behandelt würden: eine Berufungskammer am BStGer und die Lösung gemäss Motion Janiak. Die erste Variante würde in jedem Fall die einzige sein, die wirklich machbar sei. Nach einer allgemeinen Diskussion forderte der Präsident seine Kolleginnen und Kollegen auf, ihm bis zum 20. Oktober 2015 allfällige Bemerkungen zukommen zu lassen, damit er ein Positionspapier verfassen könne.26 Über die Diskussion sind dem Protokoll keine Einzelheiten zu entnehmen. Der Gesetzesentwurf des
BJ vom 31. Oktober 2014 war nicht Gegenstand der Diskussion und lag dem Plenum auch nicht als Dokumentation zur Sitzung vor.

Die befragten Mitglieder des Gerichts konnten sich nicht mehr daran erinnern, was an dieser Plenarsitzung inhaltlich diskutiert wurde. Ein Gerichtsmitglied meinte, dass das 25 26

AB 2015 N 651 Plenarprotokoll des BStGer vom 29. September 2015 (nicht öffentlich).

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Plenum die Formulierung einer Stellungnahme an das BJ relativ rasch an den Präsidenten delegiert habe. Der damalige Präsident sagte, es habe sich niemand mehr äussern mögen, weil alle von diesem Geschäfts genug hatten. Deshalb sei das Protokoll so kurz ausgefallen. Auf die Frage, weshalb man in diesem Plenum noch über die Variante vemäss Motion Janiak diskutiert habe, obwohl das Parlament diese bereits zurückgewiesen hatte, erklärte er, man dürfe die Verunsicherung am BStGer nicht unterschätzen. Man sei sich überhaupt nicht sicher gewesen, dass der Vorschlag einer Berufungskammer durch das Parlament gehen werde. Dann wäre man wieder auf Feld 1 gewesen.27 In der Stellungnahme vom 6. November 2015 an das BJ schrieb der Präsident des BStGer, aufgrund der im Plenum geführten Diskussion könne er mitteilen, dass das BStGer die Vorlage unterstütze. Das Modell als solches werde von Seiten des Gerichts nicht mehr diskutiert oder in Frage gestellt. In Bezug auf die nebenamtlichen Richter und Richterinnen schlage das Gericht vor, die Obergrenze in der Richterverordnung von sieben auf zehn zu erhöhen.

In einer E-Mail vom 9. Dezember 2015 bat das BJ den Präsidenten des BStGer um seine Mithilfe bezüglich der personellen und finanziellen Auswirkungen, welche in der Zusatzbotschaft ausgewiesen werden müssten. Das BJ sei aufgrund von früheren Angaben von folgenden Eckwerten ausgegangen: Ordentliche Richter und Richterinnen: 130­160 Stellenprozente; nebenamtliche Richter und Richterinnen gesamthaft entsprechend einer Vollzeitstelle eines ordentlichen Richters; Gerichtsschreiber und -schreiberinnen: 200 Stellenprozente; Informatik, Logistik/Sicherheit und Kanzlei: 100­150 Stellenprozente.

Darauf antwortete der Präsident des BStGer mit Mail vom 13. Januar 2016, wenn man von zwei hauptamtlichen Teilzeitrichtern ausgehe, seien 160 Stellenprozente richtig; wenn man von einem hauptamtlichen Richter ausgehe, wären 100 Stellenprozente vorzusehen; also 100­160 Stellenprozente. Bei den nebenamtlichen Richtern und Richterinnen würden aus Sicht des Gerichts 100 Stellenprozente das Maximum darstellen. Bei den Gerichtsschreibern und -schreiberinnen schienen 200 Stellenprozente richtig. Für Informatik, Logistik, Sicherheit und Kanzlei würden 100­150 Stellenprozente plausibel erscheinen.

Nach den Informationen, die den GPK
vorliegen, waren sowohl der erste Gesetzesentwurf des BJ vom 29. August 2014 als auch der Gesetzesentwurf des BJ vom 31. Oktober 2014 nie Gegenstand von formellen Beratungen in der VK BStGer oder im Plenum und auch nie Teil einer Dokumentation für eine Sitzung dieser Gremien. Zu einer formellen Stellungnahme zur Vorlage, für welche das Plenum zuständig gewesen wäre (Art. 53 Abs. 2 Bst. h StBOG), kam es nicht mehr, weil der Bundesrat im Vorfeld der Verabschiedung seiner Zusatzbotschaft (vgl. Ziff. 2.1.6) auf eine formelle Vernehmlassung der Vorlage verzichtete, da die Frage des Rechtsmittels gegen Urteile der Strafkammer des BStGer bereits zweimal Gegenstand von Vernehmlassungen war.28

27 28

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 24 (nicht öffentlich).

Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016 zur Änderung des Bundesgesetzes über das BGer (Schaffung einer Berufungskammer am BStGer), BBl 2016 6199, hier 6204.

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2.1.6

Zusatzbotschaft des Bundesrates vom 17. Juni 2016

Mit der Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016 zur Schaffung einer Berufungskammer29 kam der Bundesrat dem Auftrag der eidgenössischen Räte nach (vgl. Ziff. 2.1.4) und beantragte die Schaffung einer Berufungskammer als Teil des BStGer, jedoch ohne eine Zusammenlegung mit der Beschwerdeinstanz, also anders als dies das BGer zusammen mit dem BStGer im Rahmen der Botschaft vom 4. September 2013 vorgeschlagen hatte. Hinsichtlich der Fallprognosen ging der Bundesrat nach wie vor von etwa elf Berufungsverfahren pro Jahr (mit etwa doppelt so vielen Beschuldigten) aus.

Um der Schwierigkeit der drei Verfahrenssprachen Rechnung zu tragen, beantragte der Bundesrat, zwei ordentliche Richterinnen oder Richter in Teilzeitpensen zu beschäftigen und etwa drei Aushilfen aus der Beschwerdekammer vorzusehen. im Übrigen sollten zehn nebenamtliche Richter und Richterinnen beigezogen werden30.

Allerdings wies der Bundesrat auch auf die Nachteile dieser Lösung hin. So könnten Bedenken hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit geweckt werden. Die Mitglieder der Berufungskammer müssten mit ihrem Urteil die Qualität der Arbeit ihrer erstinstanzlich tätigen Richterkolleginnen und -kollegen qualifizieren. Damit bestehe die Gefahr der Beeinflussung. Die erste und zweite Instanz würden unter gleicher administrativer Leitung und unter gleichem Präsidium stehen, was in der Schweiz wohl einzigartig sei. Bei den nebenamtlichen Richterinnen und Richtern könnte sich die Rekrutierung schwierig gestalten, und die einheitliche Rechtsfindung könnte erschwert oder nur langsam möglich sein31.

Die VK BGer nahm von der Vorlage Kenntnis. An ihrer Sitzung vom 15. September 2016 stellte sie befriedigt fest, dass mit der Schaffung der Berufungskammer am BStGer den gemeinsamen Vorschlägen des BGer und des BStGer entsprochen worden sei. Detailfragen seien nicht Sache des BGer und eher vom BStGer weiter zu verfolgen. BGer-intern lag die Federführung für dieses Geschäft bei der VK BGer.32 Mit Schreiben vom 11. Oktober 2016 nahm das BGer auf Einladung der RK-S Stellung. Darin begrüsste das BGer die Zusatzbotschaft, mit welcher eine Berufungskammer gegen die erstinstanzlichen Urteile des BStGer geschaffen werden solle. In Bezug auf die personelle Planung des Berufungsgerichts äusserte das BGer die Meinung, die Einzelheiten der Vorlage, namentlich
die Zusammensetzung der Berufungskammer, erscheine aufgrund der dem BGer zur Verfügung stehenden Informationen als sachgerecht.33 Am 25. Oktober 2016 konnten der Präsident des BGer und der Präsident des BStGer nochmals in der RK-S zur Vorlage des Bundesrates Stellung nehmen. Das Protokoll der RK-S dieser Sitzung war beim BStGer in der zentralen Ablage nicht auffindbar.

29 30 31 32 33

Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016 zur Änderung des Bundesgesetzes über das BGer (Schaffung einer Berufungskammer am BStGer), BBl 2016 6199.

Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016, BBl 2016 6199, hier 6202.

Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016, BBl 2016 6199, hier 6203-6204.

Protokoll VK BGer vom 15. September 2016 (nicht öffentlich).

Schreiben des BGer vom 11. Oktober 2016 an die RK-S (nicht öffentlich).

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Die beiden Räte stimmten der vom Bundesrat vorgelegten Vorlage gemäss der Zusatzbotschaft am 17. März 2017 zu. Das Gesetz, mit dem die heutige Berufungskammer am Bundesstrafgericht geschaffen wurde, trat auf den 1. Januar 2019 in Kraft.

Die gleichzeitig vom Parlament verabschiedete Änderung34 der Verordnung über die Richterstellen am BStGer35 sah für die zu schaffende Berufungskammer höchstens zwei Vollzeitstellen für ordentliche Richter und Richterinnen und höchstens zehn nebenamtliche Richter und Richterinnen vor (Art. 1 Bst. c und d).

Die vom Bundesrat vorgelegte Vorlage und die schliesslich verabschiedete Gesetzesänderung entsprachen weitestgehend dem Vorentwurf vom 31. Oktober 2014, den das BJ in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten des BStGer erarbeitet hatte (vgl.

Ziff. 2.1.3.3 bis 2.1.5).

2.2

Aufbau der Berufungskammer

2.2.1

Vor der Betriebsaufnahme der Berufungskammer am 1. Januar 2019

Am 15. Januar 2018 ersuchte die VK BStGer die Gerichtskommission (GK) darum, die 200 Prozent Richterstellen für die Berufungskammer auf drei Richterinnen und Richter mit den drei Sprachen Deutsch, Französisch und Italienisch aufzuteilen, d. h.

entsprechende Teilzeitstellen auszuschreiben. Die GK folgte der Empfehlung und schrieb drei Richterstellen aus.

Am 13. Juni 2018 wählte die Vereinigte Bundesversammlung (BVers.) zwei ordentliche Richterinnen mit Teilzeitpensum, eine deutscher Sprache (80 Prozent) und eine italienischer Sprache (50 Prozent), sowie neun nebenamtliche Richterinnen und Richter für die Berufungskammer.36 Die zwei hauptamtlichen Richterinnen nahmen ihre Tätigkeit im Laufe des Herbsts 2018 auf, vorerst zur Vorbereitung der Betriebsaufnahme der Berufungskammer am 1. Januar 2019. Die Stelle eines ordentlichen Richters oder einer ordentlichen Richterin französischer Sprache konnte trotz dreier Ausschreibungen nicht rechtzeitig auf den 1. Januar 2019 besetzt werden, da keine geeigneten Bewerbungen eingegangen waren.37

2.2.1.1

Bestrebungen innerhalb des BStGer zum Ausbau der Ressourcen

Die gewählten Richterinnen begannen nach ihrer Wahl, der Gerichtsleitung des BStGer kritische Fragen in Bezug auf die mutmasslich unzureichenden personellen 34 35 36 37

AS 2018 1187 Verordnung der BVers. über die Richterstellen am BStGer vom 13. Dezember 2013 (SR 173.713.150).

Bericht der GK vom 30. Mai 2018, 18.203 vbv Bundesstrafgericht. Wahl der Mitglieder der neuen Berufungskammer; AB 2018 V 1201.

Bericht der GK vom 6. März 2019, 18.211 vbv Bundesstrafgericht. Wahl eines Mitglieds der neuen Berufungskammer.

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Ressourcen und die Wahrung der Unabhängigkeit der Berufungskammer zu stellen.

So gelangte eine Richterin schon am 14. Juni 2018 per Mail an das Gericht mit dem Anliegen, die Zahl der ordentlichen Richter müsse erhöht werden.38 Gemäss ihren Aussagen vor den Subkommissionen hatte der damalige Vizepräsident des BStGer ihr gegenüber Bedenken geäussert, dass die Berufungskammer so nicht funktionieren könne. Es brauche mindestens halb so viele Richterinnen und Richter an der Berufungskammer wie an der Strafkammer.39 Die VK BStGer beschloss, die beiden Richterinnen Anfang September 2018 zu einem Gespräch über die verschiedenen organisatorischen Aspekte in Bezug auf die Berufungskammer einzuladen.40 Im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten für die Berufungskammer hatte die VK BStGer drei Gerichtsschreiberinnen der Strafkammer (je eine pro Sprache) bestimmt und diese mit Entscheid vom 8. August bzw. 29. September 2018 der Berufungskammer zugewiesen.41 Anlässlich der Sitzung vom 3. Oktober 2018 kritisierten die beiden neu gewählten Richterinnen diesen Entscheid, der ohne ihre Mitwirkung bzw. ihr Wissen zustande gekommen war. Sie warnten vor Ausstandsproblemen und forderten die eigenständige Rekrutierung von genügend und «unverbranntem» Gerichtsschreiberpersonal, um die zu erwartende Arbeitslast bewältigen zu können. Diese Forderung, wie auch ihre Forderung betreffend die Anschaffung von Laptops mit Systemzugang für die nebenamtlichen Richterinnen und Richter wurden von der VK BStGer jedoch mit der Begründung fehlender finanzieller Mittel abgelehnt.

Nach Kenntnisnahme der Tatsache, dass die Ressourcen für die Berufungskammer im Globalbudget des BStGer enthalten seien, dieses jedoch im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten nicht erhöht worden sei, forderte eine der zwei gewählten Richterinnen sofort die Beantragung eines Nachtrags- bzw. Zusatzkredits für die nötigen Mittel zur Sicherstellung der Funktionalität der Berufungskammer sowie für sechs Richterpersonen. Dies wurde von der VK BStGer jedoch abgelehnt, wie auch die Forderung der beiden neu gewählten Richterinnen nach einem separaten Budget für die Berufungskammer zwecks Wahrung der Transparenz und Unabhängigkeit.

Der Forderung nach einem separaten Budget wurde aus dem Kreis der Anwesenden entgegengehalten, dass die Berufungskammer formell gesehen eine der drei
Kammern des Gerichts darstelle und somit demselben Haushalt angehöre. Bezüglich der Forderung nach einem Nachtrags- bzw. Zusatzkredit wurde von der anwesenden Richterschaft zur Vorsicht gemahnt. Diese Massnahme sei nicht gerechtfertigt, solange die Rechtsgrundlage für die Anzahl der Richterpersonen nicht geändert worden sei. Ausserdem müsse den parlamentarischen Kommissionen konkrete Zahlen geliefert werden. Es müsse abgewartet werden, bis die Berufungskammer ihre Arbeit aufgenommen habe. Mit Statistiken in der Hand werde es leichter sein, begründete Anträge ans Parlament zu stellen.

Schliesslich beschloss die VK BStGer, der GK ihre Bedenken hinsichtlich der unzureichenden Dotierung der Berufungskammer per 1. Januar 2019 darzulegen, und ihr 38 39 40 41

Protokoll der VK BStGer vom 19. Juni 2018 (nicht öffentlich).

Protokoll der Subkommissionen vom 30. Juni 2022, S. 15 (nicht öffentlich).

Protokoll der VK BStGer vom 19. Juni 2018 (nicht öffentlich).

Protokolle der VK BStGer vom 8. August und 27. September 2018 (nicht öffentlich).

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vorzuschlagen, den Beschäftigungsgrad der beiden Richterinnen auf Anfang Jahr auf je 100 Prozent zu erhöhen, bis das noch zu wählende französischsprachige Mitglied der Berufungskammer sein Amt antreten werde.42

2.2.1.2

Die VK BStGer gelangt an die parlamentarischen Kommissionen

In einem Schreiben vom 8. November 2018 an die GK, mit Kopie an die Aufsichtskommissionen und die Kommissionen für Rechtsfragen (RK) schlug die VK BStGer in mehrerer Hinsicht Alarm: Mit Blick auf die Strukturen und die Effizienz der künftigen Berufungskammer gestalte sich die Situation aktuell und kurzfristig bereits als kritisch. Die in Betracht gezogenen Zahlen zur Bestimmung sowohl der Anzahl Richter und Richterinnen als auch ihrer Mitarbeitenden und der benötigten Infrastruktur entspreche nicht den realistischen Erwartungen. Es sei illusorisch anzunehmen, dass die Möglichkeit der Berufung nur zurückhaltend genutzt werden würde, nicht zuletzt auch wegen der Befugnis der Berufungskammer zur umfassenden Überprüfung der angefochtenen Urteile.

Die VK BStGer legte die aktuellen Zahlen vor und wies darauf hin, dass man davon ausgehen müsse, dass die Berufungen ungefähr der Hälfte der gefällten Urteile der Strafkammer entsprechen werde. Ende 2018 dürften sich die Strafurteile auf etwa 70 belaufen, weshalb jährlich etwa 35 Berufungsverfahren erwartet werden könnten.

Weiter müsse man auch davon ausgehen, dass Beschwerden gegen einige Urteile der Berufungskammer vom BGer als letzte Instanz gutgeheissen und zur Neubeurteilung zurückgeschickt werden, was zu weiterem Aufwand führen werde. Demnach bestimme sich die am realistischsten erscheinende Anzahl an Richtern und Richterinnen nach der Formel 3-2-1 (drei deutscher Sprache, zwei französischer Sprache und eine Richterperson italienischer Sprache), was auch den Verhältnissen in der Strafkammer entspreche.

Weiter wies die VK BStGer darauf hin, dass sich der Einsatz der nebenamtlichen Richterinnen und Richter schwierig gestalten dürfte. Die Abklärung deren Verfügbarkeit habe gezeigt, dass viele von ihnen nicht bereit seien, ihre Funktion gemäss dem bei der Ausschreibung ihrer Stellen vorgesehenen Beschäftigungsgrad auszuüben (weniger als 10 Prozent anstatt 10­15 Prozent). Viele würden bereits jetzt angeben, dass sie sich nur an wenigen aufeinander folgenden Tagen freihalten könnten, oder machten geltend, gewisse Wochentage seien für andere Aufgaben vorbehalten. Selbst bei Ausübung einer erheblichen Überzeugungskraft gegenüber den nebenamtlichen Richtern und Richterinnen sei zu bezweifeln, dass das Bundesstrafgericht bzw. die Berufungskammer eine effiziente
Abwicklung der Verfahren gewährleisten könne.

Schliesslich wies die VK BStGer darauf hin, dass der zu erwartende grössere Ausbau auch Folgen für die Räumlichkeiten am Gericht haben werde. Die aktuellen Räumlichkeiten im Gebäude des BStGer genügten kaum, um die Berufungskammer am 1. Januar 2019 beherbergen zu können. Eine Vergrösserung der Berufungskammer 42

Protokoll der VK BStGer vom 3. Oktober 2018, Gesprächsnotiz vom 24. Oktober 2018, Protokoll der FK-N1 vom 24./25. Oktober 2018.

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habe notwendigerweise deren Unterbringung an anderen Orten zur Folge. Die Interventionen beim Kanton Tessin, damit dieser seinen Verpflichtungen zur Bereitstellung von Räumlichkeiten nachkommt, seien bis heute erfolglos geblieben. Das Nachbargebäude des BStGer, in welchem gemäss den Vereinbarungen die Berufungskammer untergebracht werden solle, sei veraltet, und nichts lasse vermuten, dass die Renovationsarbeiten, welche mehrere Jahre andauern werden, demnächst beginnen könnten. Es sei zwingend eine vorübergehende Lösung anzustreben.

2.2.1.3

Bestrebungen zum Ausbau der Ressourcen in den Kommissionen und im Parlament

Am 24. Oktober 2018 hörte eine Subkommission der Finanzkommission des Nationalrates (FK-N) die zwei gewählten Richterinnen der Berufungskammer an. Diese äusserten aufgrund ihrer Vorbereitungsarbeiten ihre Besorgnis im Hinblick auf die Aufnahme der Tätigkeit der Berufungskammer. Die vom Parlament vorgesehenen Personalbestände (200 Stellenprozente für drei ordentliche Richterinnen und Richter im Teilzeitpensum und maximal zehn nebenamatliche Richterinnen und Richter) würden bei Weitem nicht ausreichen. Statt der ursprünglich angenommenen elf Berufungsverfahren jährlich sei zu erwarten, dass mindestens die Hälfte bis zwei Drittel der Strafurteile der Strafkammer an die Berufungskammer weitergezogen werden würden, weshalb von 40 bis 50 Berufungen ausgegangen werden müsse. Ausserdem zeichne sich bereits ab, dass die nebenamtlichen Richterinnen und Richter zeitlich nur beschränkt einsetzbar sein würden. Es seien deshalb mindestens sechs Vollzeitstellen nötig, was rund der Hälfe des Richterbestandes bei der Strafkammer entsprechen würde. Diese Auffassung werde im Übrigen auch vom amtierenden und vom vorherigen Präsidenten der Strafkammer vertreten.

Im Weiteren wiesen die Richterinnen darauf hin, dass der Berufungskammer in organisatorischer, finanzieller und räumlicher Hinsicht mehr Unabhängigkeit zugestanden werden müsse. Sie seien von der VK BStGer in die Vorbereitungen der Berufungskammer zu wenig einbezogen worden. Zudem seien ihre Vorstösse seit dem Juni 2018, möglichst rasch bei den zuständigen Kommissionen vorstellig zu werden, um mehr Ressourcen zu erhalten, zu wenig gehört worden.

In der Subkommission der FK-N löste die Diskrepanz zwischen der urprünglich angenommenen niedrigen Fallzahl und den nun vorgelegten Zahlen Erstaunen aus. Ein Mitglied erwähnte, dass bei der Schaffung der Rechtsgrundlagen für die Berufungskammer und noch im laufenden Jahr bei der Wahlvorbereitung der Richterinnen und Richter der Berufungskammer von Seiten der Gerichte stets betont worden sei, dass man von elf, höchstens zwölf Berufungen ausgehen könne. Doch hätte man, so dieses Kommissionsmitglied, vielleicht mehr auf jene Fachkreise hören sollen, die diese Fallzahlen seinerzeit hinterfragt hatten.43 In der Folge beschlossen die Finanzkommissionen (FK), für die Berufungskammer ein eigenes Globalbudget vorzusehen und dieses für 2019 um 1 Million Franken aufzustocken, um eine kurzfristige Erhöhung der Richterzahl zu ermöglichen.

43

Protokoll vom 24./25. Oktober 2018 (nicht öffentlich).

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Im November 2018 ersuchte die Gerichtskommission (GK) die Kommissionen für Rechtsfragen beider Räte (RK), die Verordnung über die Richterstellen am BStGer unverzüglich so zu ändern, dass in der Frühjahrssession 2019 eine zusätzliche Richterin bzw. ein zusätzlicher Richter gewählt werden könne. Angesichts der Ausschreibungsfristen sollte die Verordnung schon in der Wintersession 2018 geändert werden, damit ab Sommer 2019 ein normaler Geschäftsbetrieb der Beschwerdekammer mit einer ordentlichen Richterin bzw. einem ordentlichen Richter pro Amtssprache möglich sei.

Die RK-N entsprach dem Gesuch und reichte eine entsprechende Parlamentarische Initiative ein.44 Gemäss ihrem Bericht vom 29. November 2018 hatte der Präsident des BStGer in seiner Anhörung durch die GK am 29. August 2018 die ursprüngliche Schätzung von jährlich elf Berufungen aufgrund der Fallzahlen von 2017 als deutlich zu optimistisch eingeschätzt. Man gehe eher von rund 35 Fällen pro Jahr aus. Bereits in der Dezembersession verabschiedeten die eidgenössischen Räte die entsprechende Änderung der Richterstellenverordnung.45

2.2.2

Seit der Betriebsaufnahme der Berufungskammer am 1. Januar 2019

2.2.2.1

Unabhängigkeit und Raumbedarf der Berufungskammer

Am 1. Januar 2019 nahm die Berufungskammer ihre Tätigkeit auf.

Aufgrund von Anhörungen vom 27. Februar 2019 der damaligen Präsidentin der Berufungskammer sowie der damaligen Präsidenten des BStGer und des BGer durch ihre Subkommissionen, stellten die GPK fest, dass die Räumlichkeiten der Berufungskammer im Hinblick auf die vom Parlament kurzfristig geschaffene zusätzliche Richterstelle und die zusätzlich erforderlichen Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber bereits prekär waren und nicht lange ausreichen würden. Im Weiteren gelangten sie zur Überzeugung, dass die räumlich getrennte Unterbringung der Berufungskammer mit Blick auf die erforderliche Unabhängigkeit der Berufungskammer als Rechtsmittelinstanz der Strafkammer des BStGer dringlich wäre, zumal gegen aussen für die Parteien von Strafverfahren auch jeder Anschein einer fehlenden Unabhängigkeit vermieden werden sollte. Nach den Angaben des damaligen Präsidenten des BStGer war jedoch mit einem Bezug von externen Räumlichkeiten durch die Berufungskammer erst im Verlauf von 2020 zu rechnen.

Während die Präsidentin der Berufungskammer die anstehenden offenen Fragen und Probleme als gravierend erachtete, hob der ebenfalls anwesende damalige Präsident des BGer hervor, dass der Aufbau eines neuen Gerichts eine hohe Ehre sei und die Mitglieder der Berufungskammer jetzt in der Pflicht stehen würden, diese Arbeit einfach zu machen.46 44 45 46

18.464 Pa.Iv. RK-N Berufungskammer des Bundesstrafgerichtes. Erhöhung bei den Vollzeitstellen.

BBl 2019 367 Protokoll der Subkommissionen vom 27. Februar 2019, S. 17 (nicht öffentlich).

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Mit Schreiben vom 2. April 2019 teilten die GPK dem BStGer mit, sie erachteten es als unabdingbar, dass die VK BStGer zusammen mit dem für die Bereitstellung von Räumlichkeiten grundsätzlich zuständigen Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL) alles daransetze, dass externe Räumlichkeiten für die Berufungskammer bis Ende des laufenden Jahres zur Verfügung stehen.

In Bezug auf die strukturelle und organisatorische Unabhängigkeit der Berufungskammer wiesen die GPK mit Schreiben vom 13. Mai 2019 an das BStGer darauf hin, dass sie sich der besonderen institutionellen Situation am BStGer bewusst seien, nämlich dass die 1. und 2. Instanz unter einer gemeinsamen Gerichtsleitung vereint sind und die VK BStGer organisatorische Entscheide trifft und über Ressourcenzuteilungsbefugnisse verfügt, was für die Unabhängigkeit der Berufungskammer problematisch sein kann. Die GPK kündigten an, sie würden in den kommenden Jahren die Entwicklung sehr genau beobachten.

Im Herbst 2019 erfuhren die GPK, dass für die örtliche Trennung der Berufungskammer in Zusammenarbeit mit dem BBL und dem Kanton Tessin eine provisorische Zwischenlösung gesucht wurde, dass diese voraussichtlich jedoch nicht bis Ende Jahr realisierbar sei.47 In der Folge unternahmen das BStGer und ihre Berufungskammer zusammen mit dem BBL mehrere Versuche, geeignete Räumlichkeiten für eine vorübergehende Auslagerung der Berufungskammer zu finden, bis ein endgültiger Umzug in das benachbarte «Pretorio»-Gebäude möglich sein würde. Die Subkommissionen liessen sich darüber regelmässig orientieren. Die Suche nach Räumlichkeiten gestaltete sich aus verschiedenen Gründen äusserst mühsam und zeitaufwändig. Mehrere Projekte wurden geprüft, doch konnten keine geeigneten Lokalitäten gefunden werden bzw. ein geeignetes Objekt musste aufgrund der Planungsverzögerungen aufgegeben werden.

Die VK BStGer beschloss deshalb am 5. Juli 2022, sich nicht weiter um eine provisorische Übergangslösung zu bemühen, bis das benachbarte «Pretorio»-Gebäude des Kantons Tessin bezugsbereit sein wird. Wie der Präsident der Berufungskammer an der Anhörung vom 30. Juni 2022 gegenüber den Subkommissionen darlegte, hat die räumliche Nähe zur Strafkammer bisher zu keinen Beschwerden von Prozessparteien geführt. Zudem habe das Gericht die nötigen Massnahmen getroffen, damit eine klare
Trennung der Informatik, des Aktenzugangs usw. gewährleistet ist.

In Bezug auf die Benutzung des Verhandlungssaals konnte das BStGer mit dem Bundesverwaltungsgericht (BVGer) in St. Gallen eine Vereinbarung treffen, wonach die Berufungskammer Verhandlungen am BVGer durchführen kann. Erste Erfahrungen damit wurden vom Präsidenten der Berufungskammer als sehr positiv beurteilt.48 Die Berufungskammer führt nun insbesondere deutschsprachige Verhandlungen in St.

Gallen durch. Sofern aufgrund der Verfahren Sicherheitsbedürfnisse bestehen, werden die Verhandlungen ausschliesslich in Bellinzona durchgeführt.

47 48

vgl. Jahresbericht 2019 der GPK und der GPDel vom 28. Januar 2020, Ziff. 3.6.2 (BBl 2020 2971, hier 3006).

Protokoll der Subkommissionen vom 30. Juni 2022, S. 20 (nicht öffentlich).

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2.2.2.2

Das Parlament bewilligt eine vierte Richterstelle

Im Sommer 2020 reichte die VK BStGer der GK ein Gesuch um die Schaffung einer vierten Richterstelle in deutscher Sprache für die Berufungskammer ein.49 Zu diesem Zeitpunkt war die Berufungskammer mit drei hauptamtlichen Richterpersonen (je eine vollzeitlich tätige Richterperson pro Verfahrenssprache) und acht nebenamtlichen Richterpersonen zu je 10­15 Prozent dotiert. Die Schaffung der vierten Stelle sei aufgrund der Pendenzen dringend notwendig. Eine entsprechende Änderung der Richterstellenverordnung50, die nur drei Vollzeitstellen zuliess, müsse unverzüglich in die Wege geleitet und umgesetzt werden. Die VK BStGer verwies im Weiteren auf ihr Schreiben vom 8. November 2018, in welchem der damals amtierende Präsident des BStGer prognostiziert hatte, dass die Berufungskammer zur Bewältigung der zu erwartenden Arbeitslast bzw. zur Sicherstellung ihrer Funktionsfähigkeit mittelfristig sechs hauptamtliche Richterpersonen (nach der Formel 3 Deutsch, 2 Französisch und 1 Italienisch) benötigen werde. Aufgrund der Erfahrungen hätten sich diese Prognosen als realistisch erwiesen.

Im Hinblick auf diese mittelfristige Prognose und die lange Zeitdauer, die der Gesetzgebungsprozess zur Änderung der Richterstellenverordnung erfordert, beantragte das BStGer gleichzeitig, in der Verordnung sechs Vollzeitrichterstellen als Obergrenze vorzusehen. Damit könnte ­ nach Meinung des BStGer ­ künftig auf einen möglichen weiteren Aufstockungsbedarf flexibler und ohne unnötige Verzögerungen sachgerecht reagiert werden.

Mit Schreiben vom 10. August 2020 bat das BStGer die VK BGer darum, als Aufsichtsbehörde das Anliegen der Erhöhung der Richterstellen für die Berufungskammer bei den zuständigen Parlamentskommissionen zu unterstützen. Insbesondere verwies das BStGer darauf, dass in den ersten 18 Monaten der Berufungskammer von Anfang 2019 bis Mitte 2020 67 Verfahren eröffnet wurden, was mit den bei der ursprünglichen Planung zu Grunde gelegten elf Berufungen pro Jahr in keinem Verhältnis stehe. Es gelte zu vermeiden, dass die Situation nicht mehr korrigiert werden könne, und die durchschnittliche Verfahrensdauer über Gebühr weiter zunehme.

In einem darauf folgenden Mailaustausch51 zwischen den Generalsekretären des BGer und des BStGer zeigte sich ersterer erstaunt darüber, dass in der ursprünglichen Planung von nur elf
Berufungen ausgegangen wurde, und frage nach der Quelle dieser Zahl. Nach Erinnerung des BGer sei man immer davon ausgegangen, dass die Berufungskammer etwa die Hälfte der Verfahren der Strafkammer haben werde. Diese habe pro Jahr rund 70 bis 80 Geschäfte; bereits 2014 seien es 55 gewesen. Als Antwort verwies der Generalsekretär des BStGer auf die Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016 (vgl. Ziff. 2.1.6).

Mit Schreiben vom 31. August 2020 an die GK unterstützte die VK BGer die Schaffung einer vierten Richterstelle für die Berufungskammer, mit der Begründung, die

49 50 51

Schreiben der VK BStGer vom 17. Juni 2020 an die GK (nicht öffentlich).

Verordnung der BVers. über die Richterstellen am Bundesstrafgericht vom 13. Dezember 2013 (SR 173.713.150).

Mailaustausch vom 24. und 28. August 2020 (nicht öffentlich).

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Fallzahlen seien weit höher als ursprünglich veranschlagt. Es könne davon ausgegangen werden, dass zumindest eine zusätzliche Richterstelle deutscher Sprache langfristig notwendig sein werde. Im Weiteren erachte die VK BGer es als politische Frage, ob die Obergrenze in der Richterstellenverordnung auf vier oder sechs Stellen angehoben werden solle.52 Die GK leitete das Gesuch der VK BStGer und die Stellungnahme des BGer an die zuständigen RK beider Räte weiter.

Die RK-N lehnte das Gesuch knapp ab. Die RK-S hörte den Präsidenten der Berufungskammer an, der mitteilte, dass im Jahr 2020 54 neue Fälle eingegangen waren, die Hälfte davon in deutscher Sprache. Aufgrund dieser Auskünfte hielt die RK-S den Mehrbedarf in deutscher Sprache für erwiesen, und beschloss einstimmig, eine parlamentarische Initiative zur Erhöhung der Obergrenze der ordentlichen Richter an der Berufungskammer von drei auf vier Vollzeitstellen einzureichen.53 Der Ständerat hiess die Vorlage in der Herbstsession 2021 oppositionslos gut; der Nationalrat folgte in der Dezembersession dem Ständerat ohne Gegenstimme. Im Weiteren wählte die BVers. in der Wintersession 2021 einen ordentlichen Richter italienischer Sprache zu 50 Prozent als Ersatz für eine Richterin, die nicht zur Wiederwahl angetreten war. Am 16. März 2022 wählte die BVers. eine ordentliche Richterin deutscher Sprache zur Besetzung der neuen Stelle in der Berufungskammer. Eine weitere Teilzeitstelle für eine Richterperson französischer Sprache musste mangels geeigneter Bewerbungen dreimal ausgeschrieben werden.

2.2.2.3

Entwicklung der Eingänge, Pendenzen und Erledigungsdauer 2019 bis Mitte 2022

Die Zahl der eingehenden Fälle bei der Berufungskammer lagen seit Beginn ihrer Tätigkeit deutlich über den prognostizierten durchschnittlichen elf Berufungen pro Jahr, wobei die Berufungen den weitaus grösseren Zeitaufwand verursachen als die Revisionen. Die Revisionen und die Rückweisungen von Fällen durch das BGer waren in den ursprünglichen Prognosen nicht mitberücksichtigt worden.

52 53

Schreiben der VK BGer an die GK vom 31. August 2020 (nicht öffentlich).

21.401 Pa.Iv. RK-S Anpassung der Ressourcen des Bundesstrafgerichtes, Bericht vom 20. Mai 2021.

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Entwicklung der Eingänge, Erledigungen und Pendenzen in der Berufungskammer 2019 bis Mitte 202254 2019

2020

2021

2022 (30.6.)

Erledigung Anklagen Strafkammer

60

40

53

24

Eingang Berufungen

35

23

27

18

Erledigung Berufungen

16

22

18

12

Pendente Berufungen Ende Jahr

19

20

29

35

Eingang Revisionen

11

30

25

4

Erledigung Revisionen

10

31

23

3

Pendente Revisionen Ende Jahr

1

­

2

3

Eingang Rückweisungen BGer

­

1

2

1

Erledigung Rückweisungen BGer

­

1

2

0

Pendente Rückweisungen Ende Jahr

­

­

Total Eingänge

46

54

54

22

Totel Erledigungen

26

54

43

15

Total Pendenzen

20

20

31

38

1

Legende: Im Zeitraum von 2019 bis Mitte 2022 wurden etwas mehr als die Hälfte der Urteile der Strafkammer mit Berufung an die Berufungskammer weitergezogen. Im Jahr 2020 konnten die Strafkammer und die Berufungskammer wegen Corona weniger Verhandlungen durchführen. Die Pendenzen nahmen über die Zeit deutlich zu, insbesondere bei den Berufungen, die den Hauptteil der Arbeit der Berufungskammer ausmachen.

54

Zahlen aus den Geschäftsberichten 2019­2021, für das Jahr 2022 ergänzt durch das BStGer.

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Entwicklung der Erledigungsdauer in der Berufungskammer 2019 bis Mitte 202255

mittlere Erledigungsdauer Berufungen

2019 (in Tagen)

2020 (in Tagen)

2021 (in Tagen)

2022 (30.6.)

(in Tagen)

50

251

301

207

maximale Dauer von übertragenen Berufungen per Ende Jahr

108

434

633

814

mittlere Erledigungsdauer Revisionen gegen Entscheide der der SK*

132

164

48

128

mittlere Erledigungsdauer Revisionen gegen Entscheide der BK**

16

47

62

49

mittlere Erledigungsdauer Rückweisungen BGer Berufungen

­

­

192

­

mittlere Erledigungsdauer Rückweisungen BGer Revisionen

­

20

­

­

*Strafkammer; **Beschwerdekammer.

Legende: besondere bei den Berufungen.

Die Erledigungsdauer nimmt deutlich zu, ins-

Der Präsident der Berufungskammer sprach anlässlich seiner Anhörung durch die Subkommissionen am 30. Juni 2022 von einer «Explosion» der Verfahrensdauer.

Auch die Rückweisungen von Fällen durch das BGer verursache einen beträchtlichen Aufwand. Deshalb lege die Berufungskammer besonderen Wert auf Sorgfalt bei seiner Arbeit, was wiederum selbst seinen Preis habe. Dies mache sich jedoch durch eine verhältnismässig kleine Zahl von Rückweisungen durch das BGer bezahlt.

2.2.3

Retrospektive Sicht der Gerichte auf ihre damalige Beurteilung

2.2.3.1

Rückblick des damaligen Präsidenten des BStGer

Rückblickend weist der damalige Präsident des BStGer auf den seinerzeitigen Kontext und die Entstehungsgeschichte des BStGer und der Vereinheitlichung des Strafprozessrechts in der Strafprozessordnung (StPO) für Bund und Kantone hin.56 Das BStGer sei seit seiner Schaffung 2004 der Auffassung gewesen, dass mit der Vereinheitlichung des Prozessrechts auch auf Bundesebene eine Berufungsinstanz geschaffen werden müsste.57 Das Gericht habe selbstverständlich erwartet, dass spätestens auf Inkrafttreten der StPO im Jahr 2011, welche für alle erstinstanzlichen Strafurteile 55 56 57

Zahlen aus den Geschäftsberichten 2019­2021, für das Jahr 2022 ergänzt durch das BStGer.

Protokoll der Subkommissionen vom 30. Juni 2022, S. 10; Stellungnahme vom 5. Juli 2022 (beides nicht öffentlich).

Dies war auch die Meinung des Bundesrats, vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085, hier S. 1126.

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eine Berufungsmöglichkeit vorsieht, auf Ebene der Bundesstrafverfahren eine organisatorisch und prozessual «saubere» Berufungslösung geschaffen würde.

Doch als die Inkraftsetzung der StPO näher rückte, habe sich gezeigt, dass weder der Bundesrat noch das Parlament willens gewesen seien, auf Bundesebene eine Berufungsinstanz zu schaffen, obwohl die StPO dies vorsieht. Weder Regierung noch Parlament hätten sich mit der Sache befassen wollen. Man habe das Problem für marginal gehalten und sei nicht bereit gewesen, ein Gesetzgebungsprojekt auf den Weg zu bringen und weiteres Geld auszugeben. Auch das BGer habe sich mit der Sache nicht befassen mögen.

Erst mit der Motion Janiak habe sich 2013 und 2014 ein Fenster der Opportunität geöffnet. Allerdings sei der Vorschlag Janiak von den Gerichten einhellig als völlig ungeeignet angesehen worden. Zudem sei dem Gericht von verschiedener Seite bestätigt worden, dass das Parlament zur Schaffung eines selbständigen Berufungsgerichts nicht willens sei und auch nicht sein werde. Vor diesem Hintergrund habe das BStGer zusammen mit dem BGer vorgeschlagen, eine Berufungskammer am BStGer zu schaffen. Damit habe man eine organisatorisch hinkende Lösung der prozessual hinkenden Lösung Janiak vorgezogen, um überhaupt eine Berufung zu erhalten. Regierung und Parlament hätten der Justiz nur die Wahl zwischen zwei imperfekten Lösungen gelassen. Eine organisatorisch und prozessual saubere Lösung habe nie ernsthaft zur Diskussion gestanden. Die informellen Vorgaben der Politik für das Projekt seien gewesen: Keine selbständige Organisation, keine unnötigen Ressourcen, minimale bauliche Massnahmen und Funktionsfähigkeit in drei Sprachen.

Auch wenn man aus heutiger Sicht wisse, dass der eine oder andere Faktor nicht berücksichtigt worden sei und sich die Geschäftslast später anders entwickelt hat, halte er die damaligen Schätzungen für den Anfang auch heute noch für vertretbar. Institutionen liessen sich nachhaltiger aufbauen, wenn sie klein beginnen und dann wachsen würden.

Auf die Frage, weshalb seine diversen Stellungnahmen nicht formell durch die VK BStGer, sondern durch ihn selbst oder Ad-hoc-Gruppen erfolgten, sagte der damalige Präsident des BStGer, er sei der Meinung gewesen, dass es dazu keine formellen Beschlüsse gebraucht habe. So habe er die Stellungnahme vom
12. Februar 2014 seiner Meinung nach präsidialiter erledigen können, da es sich lediglich um eine Meinungsäusserung an den Präsidenten des BGer gehandelt habe. Das habe er der VK auch so mitgeteilt und niemand habe dagegen Einspruch erhoben. Er habe das ganze Geschäft so weit wie möglich partizipativ mit allen Richterinnen und Richtern durchgezogen.

Irrtum oder einzelne Fehler vorbehalten, habe er alle immer über die wesentlichen Schritte informiert, sei es an Plenarsitzungen oder via Mail.

In Bezug auf die Ressourcenfrage räumte er ein, man hätte vielleicht noch einmal darüber diskutieren können, doch sei niemand aus dem Plenum oder der Arbeitsgruppe je darauf zurückgekommen, obwohl transparent gewesen sei, wie man weitergehen wolle. Das Modell sei für den Anfang gedacht gewesen. Sein Vorgänger im Amt habe einmal zu ihm gesagt, wir würden in drei oder vier Jahren eine vollständige

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Berufungskammer mit fünf oder sechs hauptamtlichen Richterinnen und Richtern haben. Diese Einschätzung habe er zwar nicht geteilt, aber dass es drei oder vier sein könnten, sei ihm auch klar erschienen.58

2.2.3.2

Stellungnahmen von weiteren Richterinnen und Richtern des Bundesstrafgerichts

Der damalige Vizepräsident des BStGer führte vor den Subkommissionen aus, der Präsident habe das Projekt Berufungskammer im 2014 als seine persönliche Angelegenheit betrachtet, sowie auch dessen Vorgänger im Amt, der die ersten Diskussionen über eine mögliche Berufungskammer im Rahmen seiner persönlichen Beziehung zum Präsidenten des BGer geführt habe. Die VK und das Plenum seien formell nicht eingeladen worden, die Entwürfe des BJ zu diskutieren. Er glaube nicht, dass damit eine böse Absicht verbunden war. Es sei darum gegangen, effizient vorzugehen und das Projekt so leicht und so kostengünstig wie möglich darzustellen, um sicherzustellen, dass es vom Parlament akzeptiert werden würde, und auch, im Sinne des BGer zu handeln, welches die volle Kognition nicht bei sich haben wollte. Ihm selbst sei klar gewesen, dass die geplanten Ressourcen nicht ausreichen würden. Er habe es im Übrigen völlig falsch gefunden, bei den Richterpersonen sparen zu wollen, da das BStGer dem Bund durch Beschlagnahmungen und Einziehungen mehr einbringe als es koste.59 Das Mitglied der Beschwerdekammer, welches 2014 die Arbeitsgruppe leitete (vgl.

Ziff. 2.1.2.2), erklärte gegenüber den Subkommissionen, es habe damals relativ rasch geheissen, ein unabhängiges Gericht sei politisch nicht realisierbar, vor allem aus Kostengründen. Das Risiko, keine Berufung zu bekommen, sei schlimmer gewesen, als der Kompromiss, den man dann eingegangen sei. Die Arbeitsgruppe habe sich damals mehr mit der Organisationsstruktur befasst. In Bezug auf die Ressourcenfrage habe er sich auf die Kolleginnen und Kollegen der Strafkammer verlassen. Angesprochen auf die heutige Regelung und die Pläne für eine Reorganisation, wies das Mitglied darauf hin, dass die Beschwerdekammer heute sowohl der Strafkammer als auch der Berufungskammer aushelfen müsse, was ein Problem darstelle. Küftig würden in beiden heute diskutierten Varianten (soft und clear cut, vgl. Ziff. 2.2.4.1) die Beschwerde- und die Berufungskammer zusammen eine Rechtsmittelinstanz bilden, womit eine klare Trennung von der Strafkammer vollzogen werde.60 Ein anderes Mitglied der Beschwerdekammer konnte sich anlässlich seiner Anhörung durch die Subkommissionen nicht daran erinnern, weshalb die Vorschläge der Arbeitsgruppe von 2014 nicht weiter verfolgt wurden. Seiner Meinung nach hätte man
sie weiterverfolgen können. Jedenfalls sei die Idee, die Beschwerdekammer mit der Berufungskammer zu fusionieren, jetzt wieder aufgenommen worden und habe die Zustimmung der Mehrheit der Richterinnen und Richter gefunden.61

58 59 60 61

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 20­21 (nicht öffentlich).

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 8 ff. (nicht öffentlich).

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 12 ff. (nicht öffentlich).

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 16 (nicht öffentlich).

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2.2.3.3

Rückblickende Sicht des Bundesgerichts

Anlässlich der Anhörung der VK BGer durch die Subkommissionen stellte die Bundesgerichtspräsidentin rückblickend fest, dass die Zahl von elf Fällen, die seinerzeit genannt wurde, offensichtlich zu tief gewesen sei. Wie man genau auf diese Zahl gekommen sei, lasse sich heute nicht mehr nachvollziehen. Heute gehe man von etwa 55 Eingängen bei der Berufungskammer pro Jahr aus. Man hätte wohl von rund 50 Prozent der Fälle der Strafkammer ausgehen müssen. 2016 hätte man demnach eher mit 25 bis 30 Fällen rechnen sollen. Das lasse sich aber im Nachhinein natürlich einfacher beurteilen. Seit 2016 hätten zudem die Fälle vor der Strafkammer zugenommen, was sich ebenfalls auf die Berufungskammer auswirke. Zur Frage, ob in diesem Geschäft die VK BStGer oder die VK BGer zuständig gewesen sei, erklärte die Bundesgerichtspräsidentin, die Gründung einer neuen Abteilung sei etwas Einmaliges gewesen. Niemand habe festgelegt, wer was machen müsse. Die Organaufsicht des BGer über die erstinstanzlichen Gerichte sei eher eine nachträgliche Aufsicht. Man greife nur ein, wenn nötig, und müsse auch die Organisationsautonomie der erstinstanzlichen Gerichte beachten.62 Der damalige Bundesgerichtspräsident führte gegenüber den Subkommissionen aus, als die Motion Janiak das BGer zur Appellationsinstanz machen wollte, hätten er und der Präsident des BStGer nach einer besseren Lösung gesucht, da der Vorschlag der Motion Janiak für beide Gerichte negativ gewesen wäre. Man habe verschiedene Varianten geprüft, die alle das Problem hatten, dass ­ aus damaliger Sicht ­ ein Berufungsgericht für die Fälle der Strafkammer zu klein gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund sei man auf den Vorschlag gekommen, die Berufung in das BStGer zu integrieren. Ab dem Moment, als das Parlament die Idee aufgegriffen hatte, sei das BGer nur noch in zweiter Linie aktiv gewesen, weil das BStGer und seine Organisation betroffen waren. Deshalb habe man den Lead dem BStGer überlassen, das die Details mit dem BJ besprochen habe. Das BGer sei aber informiert worden und habe Stellung nehmen können. Es wäre wohl auch nicht gut angekommen, wenn die Aufsicht dem BStGer Vorschriften gemacht hätte. Die Aufsichtsbeziehung sei ja anfänglich schwierig gewesen. Die Aufsicht habe deshalb versucht, die Eigenständigkeit und die Kompetenzen der erstinstanzlichen Gerichte zu
respektieren und nicht hineinzureden, wenn es nicht nötig war.

Den Bericht der Arbeitsgruppe (vgl. Ziff. 2.1.2.2) habe der Bundesgerichtspräsident damals zur Kenntnis genommen. Der Unterschied zu den bisherigen Vorschlägen des BGer und des BStGer sei ihm aber nicht sehr gross erschienen. Da aber der frühere Vorschlag bereits in Bern angekommen war, habe man nicht etwas Anderes vorschlagen wollen.

Eine eigentliche Projektorganisation habe es nicht gegeben. Die Diskussionen seien im Wesentlichen zwischen den Präsidenten der beiden Gerichte gelaufen, nach den jeweiligen internen Diskussionen in beiden Institutionen.63

62 63

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 26 ff. (nicht öffentlich).

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 27 ff. (nicht öffentlich).

33 / 48

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2.2.4

Pläne für den weiteren Aufbau der Berufungskammer

2.2.4.1

Ressourcenbedarf und Reorganisationspläne

Wenn die zweite Richterperson französischer Sprache im Laufe dieses Jahres gewählt wird und ihr Amt antritt (siehe Ziff. 2.2.2.2), werden sich fünf Richterinnen und Richter in 400 Stellenprozente teilen: zwei deutscher Sprache (170 Prozent), zwei französischer Sprache (180 Prozent) und ein Richter italienischer Sprache (50 Prozent).

Insgesamt schätzte der Präsident der Berufungskammer anlässlich seiner Anhörung vom 30. Juni 2022, dass die Berufungskammer immer noch unterdotiert sei. Idealerweise würde die Berufungskammer sechs vollzeitliche Richterstellen benötigen. In Bezug auf die nebenamtlichen Richterinnen und Richter äusserte er Verständnis dafür, dass man in der Planung diese für die Erreichung der notwendigen Flexibilität vorgesehen habe, doch sei es in der Realität oft sehr schwierig, in nützlicher Frist Termine für Verhandlungen zu finden, weil sie in ihrem Hauptberuf stark engagiert seien.

Aufgrund der Erfahrung, dass es zwei Jahre dauern könne, bis mit einer Änderung der Richterstellenverordnung neue Richterstellen geschaffen werden und die Gewählten ihre Arbeit aufnehmen, werde man nun kurzfristig mehr Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber einstellen, um die Pendenzen abzubauen.64 Inzwischen prüft eine Arbeitsgruppe «Trennung der Instanzen» am BStGer, bestehend aus den drei Kammerpräsidenten und einem Gerichtsschreiber, wie mit einer Reorganisation der Strukturen des BStGer zwei getrennte Instanzen geschaffen werden könnten. Die Arbeitsgruppe wurde gemäss einem Beschluss der VK BStGer an ihrer Sitzung vom 7. Juli 2021 ins Leben gerufen. An der Plenarsitzung vom 25. Januar 2022 legte die Arbeitsgruppe zwei Varianten vor, die vertieft werden sollten: 1.

Variante «clear cut» mit zwei getrennten, unabhängigen Gerichten, ein erstinstanzliches Strafgericht und ein zweitinstanzliches Rechtsmittelgericht,

2.

Variante «soft» mit der Beibehaltung des Bundesstrafgerichts mit zwei Abteilungen, einer Abteilung als erste Instanz und einer Abteilung als zweite Instanz, welche die zwei heutigen Kammern zweiter Instanz (Beschwerdekammer und Berufungskammer) umfasst.

Mit 14 zu 1 Stimme beschloss das Gericht den Grundsatz, dass am geltenden Status quo mit den drei Kammern Strafkammer, Beschwerdekammer und Berufungskammer nicht festgehalten und eine Neuorganisation des Gerichts mit Trennung der zwei Instanzen gesucht werden soll. Die Arbeitsgruppe wurde beauftragt, die Varianten zu vertiefen.65

64 65

Protokoll der Subkommissionen vom 30. Juni 2022, S. 17 ff. (nicht öffentlich).

Protokoll der Plenarsitzung des BStGer vom 25. Januar 2022; Protokoll der Subkommissionen vom 30. Juni 2022, S. 21 (beide nicht öffentlich).

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2.2.4.2

Pläne für den Umzug der Berufungskammer in den «Pretorio»

Bereits im Jahr 2006 hat die Schweizerische Eidgenossenschaft mit dem Kanton Tessin eine Grundsatz-Vereinbarung abgeschlossen, wonach sie nach Renovation des «Pretorio»-Gebäudes, das dem Kanton Tessin gehört und sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum BStGer befindet, Räume für das BStGer mieten kann.66 Beim Sanierungs- und Umbauprojekt des Kantons Tessin zur Unterbringung seiner eigenen Verwaltung (Kantonspolizei, Regional- und Kantonsgericht) kam es jedoch aus verschiedenen Gründen zu Verzögerungen. Im Mai 2019 entschied der Kanton Tessin, das Kantonsgericht nicht, wie ursprünglich geplant, von Lugano in den «Pretorio» in Bellinzona zu verlegen. In der Folge entstand für die Eidgenossenschaft die Aussicht, dereinst etwas mehr Raum mieten zu können als ursprünglich angenommen.67 Seit 2018 ging die VK des BStGer grundsätzlich davon aus, dass es die Berufungskammer sein würde, die nach Abschluss der Renovation in den «Pretorio» verlegt werden soll. Die Gerichtskommission (GK) hatte in einem Schreiben vom 19. September 2018 an den Kanton Tessin darauf verwiesen, dass die Vereinigung von erster und zweiter Instanz des BStGer unter einem Dach mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht vereinbar sei und deshalb keine dauerhafte Lösung darstellen könne. Zudem hatte die GPK mit Schreiben vom 2. April 2019 zur Wahrung der Unabhängigkeit der Berufungskammer auf deren räumliche Trennung gedrängt (vgl. Ziff. 2.2.2.1).

Am 21. September 2021 hiess das Kantonsparlament des Kantons Tessin die Renovation des «Pretorio» für 43,5 Millionen Franken gut.68 Der Bezug des «Pretorio» ist für Januar 2026 vorgesehen.69 Im Zusammenhang mit der im Sommer 2021 eingesetzten Arbeitsgruppe zur Planung einer Reorganisation der Berufungskammer (vgl. Ziff. 2.2.4.1) stellte man sich intern die Frage, ob die räumliche Trennung nicht besser zwischen der 1. und der 2. Instanz (also Strafkammer einerseits und Beschwerdekammer und Berufungskammer andererseits) stattfinden sollte, anstatt, wie bisher vorgesehen, zwischen Berufungskammer einerseits und Straf- sowie Beschwerdekammer andererseits. An der Aufsichtssitzung vom 21. September 2021 nahm die VK BGer von diesen Überlegungen Kenntnis. Dem Protokoll ist zu entnehmen, es sei noch offen, welche Kammer umziehen werde. Diesbezüglich finde am BStGer gegenwärtig ein Umdenken
statt; die räumliche Trennung könnte so aussehen, dass die Strafkammer auszieht und die Beschwerdekammer und die Berufungskammer im heutigen Gebäude bleiben.70 Im Rahmen seiner Anhörung vom 12. August 2022 teilte der Präsident des BStGer den Subkommissionen mit, dass vorgesehen sei, dass die Berufungskammer in den 66 67 68 69 70

Grundsatz-Vereinbarung zwischen der Schweiz. Eidgenossenschaft und dem Kanton Tessin betreffend Bundesstrafgericht in Bellinzona vom 30. November 2006.

Schreiben des BBL an die GPK vom 10. August 2020 (nicht öffentlich).

Mitteilung des Kantons Tessin an das BBL vom 21. September 2021; laRegione online, 21. September 2021.

Protokoll der Besprechung zwischen Vertretern des BBL und des BStGer vom 28. Mai 2021 (nicht öffentlich).

Aufsichtsprotokoll vom 21. September 2021 (nicht öffentlich).

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«Pretorio» umziehen werde, da dort für eine andere Lösung nicht genügend Platz vorhanden wäre.71

3

Beurteilung, Schlussfolgerungen und Empfehlungen

3.1

Zuständigkeiten bei den Gerichten

Die Planung und der Aufbau der Berufungskammer war eine ausserordentliche Aufgabe der Gerichte, die nicht zum Gerichtsalltag gehörte. Der Sache nach war sie beim BStGer im Bereich der Gerichtsverwaltung anzusiedeln. Für die Gerichtsverwaltung ist gemäss Artikel 54 Absatz 4 StBOG die VK BStGer zuständig. Nebst den im Gesetz ausdrücklich aufgeführten Aufgaben hat die VK BStGer sämtliche weiteren Verwaltungsgeschäfte zu tätigen, die nicht in die Zuständigkeit des Gesamtgerichts fallen.

Das Gesamtgericht seinerseits ist für die Vernehmlassung zu Erlassentwürfen zuständig (Art. 53 Abs. 2 Bst. h StBOG). Die VK BStGer kann gemäss dem Organisationsreglement des BStGer72 die Erledigung von Geschäften an das Präsidium oder an das Generalsekretariat übertragen (Art. 5 Abs. 3). Eine solche Aufgabenübertragung an den Präsidenten des BStGer hat laut den Protokollen der VK BStGer nicht stattgefunden.

Was die Zuständigkeiten des BGer betrifft, so übt dieses die administrative Aufsicht über die Geschäftsführung des BStGer aus (Art. 34 Abs. 1 StBOG). Innerhalb des BGer ist es die VK BGer, die für die Aufsicht über das BStGer zuständig ist (Art. 17 Abs. 4 Bst. g BGG). Bei der Aufsicht des BGer handelt es sich um eine Organaufsicht, die im Gesetz nur sehr allgemein geregelt ist. Gemäss ihrer Praxis greift die VK BGer im Rahmen ihrer Aufsicht nur zurückhaltend ein und respektiert die Organisationsautonomie der erstinstanzlichen Gerichte.

Für die Bereitstellung, die Bewirtschaftung und den Unterhalt der vom BStGer benutzten Gebäude ist das EFD zuständig (Art. 62 Abs. 1 StBOG). Innerhalb des Departements nimmt das BBL diese Aufgaben wahr.

3.2

Falsche Einschätzung des Personalbedarfs

Bei der Planung der Berufungskammer wurden die Fallzahlen und der Bedarf an Richterinnen und Richtern von Anfang an deutlich unterschätzt. Die Schätzung, dass jährlich mit durchschnittlich elf Berufungen zu rechnen sei, tauchte erstmals in der Botschaft des Bundesrates vom 4. September 2013 auf (vgl. Ziff. 2.1.1). Sie basierte auf den seit 2004 beim BGer eingegangenen Beschwerden gegen Urteile der Strafkammer des BStGer. Die Zusatzbotschaft des Bundesrates vom 17. Juni 2016 ging immer noch von der gleichen Zahl aus (vgl. Ziff. 2.1.5). Allerdings zeigt die Statistik, dass seit dem Jahr 2006 regelmässig mehr als elf Beschwerden an das Bundesgericht gingen (die Strafkammer hatte ihre Tätigkeit im Jahr 2004 aufgenommen und befand sich 71 72

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 8 (nicht öffentlich).

Organisationsreglement für das BStGer (Organisationsreglement BStGer, BStGerOR), SR 173.713.161.

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seither im Aufbau). Im Jahr 2013 waren es bereits 22 Beschwerden, die ans Bundesgericht gelangten. Doch wurde die Planung im Hinblick auf die Schaffung der Berufungskammer bis zum Jahr 2018 nicht angepasst. Allerdings fragte das BJ bei der Vorbereitung der Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016 nochmals explizit beim BStGer als Fachbehörde in dieser Frage nach, wie hoch dieses den Bedarf an Personalressourcen einschätze (vgl. Ziff. 2.1.5). Dass sich der Bundesrat und das Parlament in der Folge auf diese Angaben abstützten, ist nachvollziehbar.

Die Überlegungen des damaligen Präsidenten des BStGer in seinem Schreiben vom 12. Februar 2014 an den Präsidenten des BGer, wonach der Bedarf an Juristinnen und Juristen (Richterpersonen und Gerichtsschreiber) etwa einem Viertel der Bestände in der Strafkammer entsprechen würde, erwiesen sich als falsch, weil sie von den Erfahrungen in den Kantonen ausgingen, wo es viele kleine Straffälle und Massengeschäfte gibt, während auf Bundesebene mit grossen und komplexen Fällen zu rechnen war.

Auch wurde dem Umstand zu wenig Rechnung getragen, dass man es mit Prozessparteien zu tun haben würde, die über viel Finanzen verfügen und wenn immer möglich Rekursmöglichkeiten ausnützen würden. Man hätte damit rechnen müssen, dass die Möglichkeit, mit der Berufung eine zweite Instanz mit voller Sachverhaltskontrolle zu erhalten, die Prozessparteien vermehrt zum Weiterzug von Urteilen motivieren würde. Ebenfalls nicht zutreffend war die Annahme, die Fälle bei der Berufungskammer würden weniger zeitaufwändig sein als in der Strafkammer. Nicht in die Berechnung miteinbezogen wurden zudem die Revisionsgesuche sowie die Rückweisungen von Fällen durch das BGer.

Gleichzeitig gab es am BStGer eine Arbeitsgruppe, die in ihrem Bericht vom 10. März 2014 den Bedarf an juristischem Personal auf mindestens doppelt so hoch schätzte wie der Präsident des Gerichts. Ihre damaligen Prognosen kommen dem heutigen Personalbestand nahe. Doch wurde ihre Arbeit nicht weiterverfolgt und dem für die legislative Arbeit zuständigen Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und den parlamentarischen Kommissionen auch nicht zur Kenntnis gebracht. Der damalige Präsident des BGer unterband mit deutlichen Worten alle weiteren Projektarbeiten, weil er der Meinung war, alle anderen Vorschläge als jene,
die das BGer zusammen mit dem BStGer in die Botschaft vom 4. September 2013 eingebracht hatten, würden jede Chance, eine andere als die Lösung Janiak zu bekommen, zerstören (vgl.

Ziff. 2.1.2.3).

Der Präsident des BStGer teilte diese Meinung und gab die Vorgabe des Präsidenten des BGer an die Richterinnen und Richter des Gerichts weiter, indem er vor der Weitergabe von Informationen, insbesondere über den Bericht der Arbeitsgruppe warnte (Ziff. 2.1.2.2 und 2.1.2.3). Er war überdies überzeugt, der Bundesrat und das Parlament würden nur einer Minimalvariante mit möglichst wenig Aufwand zustimmen.

Bei der folgenden Zusammenarbeit mit dem BJ zur Vorbereitung der Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016 war der Präsident des BStGer stets bemüht, den Ressourcenbedarf so gering wie möglich darzustellen. Die tiefgestapelten Prognosen hatten somit System und entsprachen einem politischen Kalkül; sie waren nicht bloss das Resultat von falschen Einschätzungen.

Die Fehleinschätzung der Fallzahlen und der zu niedrig veranschlagte Bedarf an Richterinnen und Richtern hatte entscheidende Konsequenzen im Hinblick auf die Planung der Organisation der Berufungsinstanz sowie auch im Hinblick auf den Raumbedarf.

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Seit den ersten Überlegungen, wie man auf Bundesebene eine Berufungsinstanz gemäss den Vorgaben der StPO schaffen könnte, waren die erwarteten niedrigen Fallzahlen sowohl vom Bundesrat73 als auch vom BGer und vom BStGer74 als Hindernis für eine rechtlich einwandfreie und erwünschte Lösung eingestuft worden, nämlich die Schaffung eines eigenständigen Berufungs- oder Rechtsmittelgerichts zweiter Instanz (vgl. Ziff. 2.1.1 und Ziff. 2.1.3.2). Auch die Beschaffung von zusätzlichen Räumlichkeiten wurde erst als dringlich erkannt, als man 2018 in der VK BStGer die bisherige Unterschätzung des Ressourcenbedarfs realisierte (vgl. Ziff. 2.2.1).

Hier stellt sich eine Grundsatzfrage: Wie sollen der Bundesrat und das Parlament gute und tragfähige Gesetze ausarbeiten, wenn ihnen von den sachlich zuständigen Fachstellen nicht möglichst sorgfältige und realistische und von politischen Überlegungen unbeeinflusste Entscheidgrundlagen unterbreitet werden? Die GPK sind dezidiert der Meinung, dass auch von den Gerichtsverwaltungen erwartet werden darf, dass sie den Entscheidbehörden fachkundige und realistische Grundlagen mit wahrheitsgetreuen Angaben und aktuellen Zahlen ohne jedes politische Kalkül vorlegen.

Empfehlung 1:

Sorgfalt der Gerichtsverwaltungen bei der Ressourcenplanung

Die für die Verwaltung zuständigen Organe der Eidgenössischen Gerichte stellen künftig sicher, dass sie den Entscheidbehörden bei der Ressourcenplanung beim Aufbau von Gerichtsorganisationen sorgfältige und realistische Entscheidgrundlagen ohne politisches Kalkül vorlegen.

3.3

Mangelhafter Einbezug der Organe des Bundesstrafgerichts

Für die ersten Überlegungen, wie man am BStGer eine Berufungsinstanz schaffen könnte, die der Präsident des BStGer am 12. Februar 2014 dem Präsidenten des BGer auf dessen Anordnung übermittelte, wollte der Präsident des BStGer keine VKSitzung einberufen. Schliesslich fand am 5. Februar 2014 eine Besprechung von vier der fünf Mitglieder der VK statt. Was diskutiert und beschlossen wurde, ist nicht dokumentiert. Das Schreiben vom 12. Februar 2014 wurde zwar allen Gerichtsmitgliedern zur Kenntnis zugestellt, doch war es nie Gegenstand einer Besprechung in einem Organ des BStGer.

Der erste Gesetzesentwurf des BJ vom 29. August 2014, der in organisatorischer Hinsicht den früheren Vorschlägen des BGer und des BStGer entsprochen hätte, wurde nie in der VK BStGer oder im Plenum inhaltlich traktandiert oder diskutiert. Stattdessen wurde er in einer Ad-hoc-Gruppe am 5. September 2014 besprochen. Was diskutiert und beschlossen wurde, ist nicht dokumentiert.

73 74

Siehe Botschaft zum StBOG vom 10. September 2008 und Zusatzbotschaft von 17. Juni 2016.

Siehe Botschaft vom 4. September 2013.

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In dieser Stellungnahme, die er als Präsident und ohne Zweitunterschrift der Generalsekretärin unterzeichnete, brachte der Präsident eine neue Variante ein, wonach die Berufungskammer als dritte Kammer neben den bestehenden Kammern (Strafkammer und Beschwerdekammer) geschaffen werden sollte. Diese Variante stand im Widerspruch zu den ursprünglich vom BGer zusammen mit dem BStGer in die Botschaft vom 4. September 2013 eingebrachten zwei Varianten sowie auch zu den organisatorischen Vorschlägen des Berichts der Arbeitsgruppe vom 10. März 2014. Alle Überlegungen waren stets von einer Zusammenlegung der Beschwerdekammer mit der Berufungskammer ausgegangen (vgl. Ziff. 2.1.3.4, 2.1.1 und 2.1.2.2).

Für Vernehmlassungen zu Gesetzesentwürfen ist das Gesamtgericht zuständig (Art. 53 Abs. 2 Bst. h StBOG). In dieser Vorphase der Erarbeitung des Gesetzes dürfte es sich allerdings nicht um eine formelle Vernehmlassung gehandelt haben. In der VK BStGer, die für die Verwaltungsgeschäfte des Gerichts zuständig ist (Art. 54 StBOG) wurde der Entwurf nicht behandelt. Allerdings handelte es sich um eine Vorlage von grundlegender Bedeutung für das gesamte Gericht. Eine formelle Traktandierung und Diskussion innerhalb des Gerichts wäre somit angezeigt gewesen.

In der Folge wurde der Präsident ins BJ eingeladen. Dies führte zum zweiten Gesetzesentwurf des BJ vom 31. Oktober 2014, der die neue Organisationsvariante aufgenommen hatte. Dieser Entwurf ging beim BStGer am 5. November 2014 ein; dort blieb er bis zum August 2015 liegen, ohne dass ihn die Gerichtsmitglieder erhalten hätten. Erst als das BJ dem Präsidenten des BStGer am 12. August 2015 den Entwurf vom 31. Oktober 2014 zur Stellungnahme zukommen liess, stellte dieser ihn den Gerichtsmitgliedern zu und stellte in Aussicht, das Geschäft im Plenum zu traktandieren.

Doch an der Plenarsitzung vom 29. September 2015 wurde nicht der Gesetzesentwurf diskutiert, sondern eine allgemeine Diskussion über die Schaffung einer Berufungskammer versus die Vorlage des Bundesrates gemäss der Motion Janiak diskutiert, die zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr zur Diskussion stand, da das Parlament die Vorlage bereits im Mai 2015 an den Bundesrat zurückgewiesen hatte, mit dem Auftrag eine Vorlage zur Schaffung einer Berufungskammer vorzulegen.

Aufgrund der ihr vorliegenden
Informationen kommen die GPK zum Schluss, dass das Schreiben des Präsidenten vom 12. Februar 2014, der Bericht der Arbeitsgruppe vom 10. März 2014, die zwei Entwürfe des BJ vom 19. August 2014 und vom 31.

Oktober 2014 sowie die Stellungnahme des Präsidenten vom 15. September 2014 zum Gesetzesentwurf weder in der VK noch im Plenum des BStGer je traktandiert oder besprochen wurden, obwohl die VK BStGer gemäss Gesetz zuständig war. Da der Bundesrat vor der Verabschiedung der Zusatzbotschaft vom 17. Juni 2016 keine formelle Vernehmlassung mehr durchführte, wurde die Vorlage schlussendlich nie in einem Organ des BStger diskutiert.

Die GPK kommen weiter zum Schluss, dass der damalige Präsident des BStGer sich zwar persönlich sehr für die Schaffung einer Berufungskammer eingesetzt hat, das Gericht jedoch mindestens unzureichend in die Enstehung der Vorlage einbezogen und die zuständige VK BStGer aussen vor gelassen hat. Dies ist umso störender als die Meinungen innerhalb des Gerichts zur Organisation der Berufungskammer nicht einhellig waren und auf diese Weise die heutige Organisationsform entstanden ist, welche das Gericht heute fast einstimmig als unbefriedigend und revisionsbedürftig

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betrachtet. Die gesetzliche Kompetenzordnung wurde im vorliegenden Fall nicht rechtzeitig geklärt und unzureichend eingehalten.

Empfehlung 2:

Wahrung der Zuständigkeiten der Organe des Bundesstrafgerichts

Die Gerichtsleitung des BStGer stellt künftig sicher, dass das Gericht bei der Entwicklung ihrer Gerichtsorganisation gebührend einbezogen wird und die Zuständigkeiten seiner Organe (VK BStGer, Plenum) rechtzeitig geklärt und gewahrt werden.

Die VK BGer als Aufsichtsbehörde bzw. der Bundesgerichtspräsident haben ihrerseits zu dieser Fehlentwicklung beigetragen. Ihnen war vor allem wichtig, die erweiterte Kognition des BGer gemäss der Vorlage zur Umsetzung der Motion Janiak, die das BGer weiter belastet hätte, abzuwehren. Indem sie die Arbeit der Arbeitsgruppe von 2014 abblockten, nahmen sie in Kauf, dass dem Bundesrat und dem Parlament unterschätzte Fallprognosen zugeleitet wurden. Nachdem die erweiterte Kognition des BGer vom Tisch war, überliessen sie die weiteren Details dem BStGer, da es nunmehr um die Schaffung einer Berufungskammer am BStGer und deren Organisationsform ging. Mit Blick auf die vom BGer geübte Zurückhaltung, wenn es um die Organisationsautonomie der erstinstanzlichen Gerichte geht, ist dies nachvollziehbar. Doch als es später um die sich anbahnende Überlastung und die Frage der Unabhängigkeit der Berufungskammer sowie die Probleme der provisorischen Raumbeschaffung ging, wäre eine aktivere Unterstützung durch die Aufsicht angezeigt gewesen.

In der späteren Phase der Umsetzung der Gesetzesvorlage seit 2018 wurde der Stand der Vorbereitungen, sowohl was die Logistik, das Personal und die Raumfragen betrifft, regelmässig in der VK BStGer besprochen. In Bezug auf die Raumfragen gab es regelmässige Besprechungen mit dem BBL, die protokolliert wurden. Für die Teilbereiche der Vorbereitungen wurden auch verschiedene Arbeitsgruppen eingesetzt.

Insgesamt hat es bei der Planung und beim Aufbau der Berufungskammer an einem eigentlichen Projektmanagement gefehlt. Die GPK sind der Meinung, dass ein solches Vorhaben als Projekt geführt werden muss mit einer klaren Zuteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Im Weiteren sollten die Gerichte ­ je nach Komplexität eines organisatorischen Projekts ­ auch externes Fachwissen beiziehen. Positiv ist an dieser Stelle anzumerken, dass die VK BStGer im Juli 2021 eine Arbeitsgruppe zur Reorganisation des Gerichts eingesetzt hat (vgl. Ziff. 2.2.4.1), die heutige VK BStGer die Reorganisation des Gerichts als Projekt weiterführt und der Präsident des BStGer persönlich die Projektverantwortung wahrnimmt.75 Empfehlung 3:

Führung von organisatorischen Vorhaben als Projekte

Die Gerichte führen grössere organisatorische Vorhaben als Projekte und ziehen wenn nötig externes Fachwissen bei.

75

Protokoll der Subkommissionen vom 12. August 2022, S. 6 (nicht öffentlich).

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3.4

Mangelhafte Dossierführung

Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung haben die GPK festgestellt, dass teilweise Dokumente, die den Aufbau der Berufungskammer betreffen, nicht zentral abgelegt oder nicht mehr auffindbar waren. Die GPK weisen das BStGer darauf hin, dass auch administrative Geschäfte, die nicht die Haupttätigkeit des Gerichts, d. h. die Rechtsprechung betreffen, gemäss dem Archivierungsgesetz (BGA)76 abgelegt und archiviert werden müssen (Art. 1 Abs. 1 Bst. d BGA).

Empfehlung 4:

Führung der administrativen Dossiers

Das Bundesstrafgericht achtet bei administrativen Geschäften auf eine lückenlose Ablage und Archivierung der Akten.

Die GPK stellten weiter fest, dass Protokolle der VK BStGer und der Plenarsitzungen, zumindest in der Zeit von 2012 bis 2015, nur summarisch erfolgten und teilweise Beschlüsse nicht nachvollzogen werden können. Die GPK haben die Protokollführung der Sitzungen nicht systematisch geprüft. Es handelt sich somit um Zufallsbefunde.

Empfehlung 5:

Protokollführung

Das Bundesstrafgericht achtet darauf, dass die Verhandlungen und Beschlüsse der Sitzungen der Verwaltungskommission und des Plenums hinreichend nachvollziehbar protokolliert werden.

3.5

Weiterentwicklung der Berufungskammer

Im Folgenden ziehen die GPK ihre Schlussfolgerungen und formulieren Empfehlungen und einen Antrag an die RK als zuständige Sachbereichskommissionen im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Berufungskammer. Da die GPK nicht für die gesetzgeberischen Arbeiten im vorliegenden Bereich zuständig sind, fokussieren sie bei ihren Empfehlungen auf jene Elemente, die sich auf die Erkenntnisse aus der vorliegenden Untersuchung abstützen, und beschränken sich auf allgemeine Stossrichtungen für eine künftige Gesetzesrevision.

Im Weiteren begrüssen die GPK die derzeitigen Planungs- und Konzeptarbeiten des BStGer (vgl. Ziff. 2.2.4). Diese werden von den zuständigen Legislativkommissionen und allenfalls vom Bundesrat beizuziehen sein.

76

Bundesgesetz vom 26. Juni 1998 über die Archivierung (Archivierungsgesetz, BGA), SR 152.1.

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3.5.1 1.

Die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts war von Beginn weg personell unterdottiert, was die betroffenen Richterinnen und Richter sowie die übrigen Mitarbeitenden unter erheblichen Druck gesetzt hat. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass auch personelle Unverträglichkeiten und zwischenmenschliche Konflikte die Drucksituation noch verstärkten.77 Allerdings diese zusätzlichen Problemfaktoren heute als bereinigt gelten. Hinzu kommt, dass die Rekrutierung von qualifizierten Richterinnen und Richtern für das Bundesstrafgericht, insbesondere in französischer Sprache, allgemein schwierig ist.

2.

Die Situation der Personalressourcen an der Berufungskammer ist auch nach der Besetzung aller 400 Stellenprozente für Richterinnen und Richter prekär.

Ein mittelfristiger Ausbau scheint unausweichlich zu sein. Als Richtwert sollte von einem Bestand der Richterinnen und Richter ausgegangen werden, der mindestens der Hälfe des Richterbestandes der Strafkammer entspricht (heute arbeiten 11 Richterinnen und Richter in der Strafkammer zu insgesamt 1010 Stellenprozenten78).

3.

Das heutige System basiert auf einer grossen Zahl von nebenamtlichen Richterinnen und Richtern. Was warnende Stimmen bereits früh befürchtet hatten, hat sich bewahrheitet: Das System ist nicht flexibel und schnell genug, da die nebenamtlichen Richterinnen und Richter tendentiell schwer verfügbar sind.

Tendenziell sollte ihr Bestand deshalb zugunsten von zusätzlichen vollamtlichen Richterinnen und Richtern reduziert werden.

4.

Die Berufungskammer will kurzfristig mit zusätzlichen Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreibern arbeiten, um die Pendenzen abzubauen oder zumindest nicht weiter ansteigen zu lassen. Als vorübergehende Lösung erscheint dieser Weg den GPK gangbar.

3.5.2

77 78

Personalsituation

Organisationsmodell

5.

Nach jahrelangen, für die Betroffenen auch schmerzhaften Bemühungen, die heutige Berufungskammer aufzubauen und sie in die Lage zu versetzen, ihre staatspolitisch wichtige Aufgabe in qualifizierter Weise und in nützlicher Frist zu erfüllen, ist es an der Zeit, ihr eine rechtlich einwandfreie Organisationsform zu verleihen, die den Vorgaben der Strafprozessordnung entspricht.

6.

Dem entsprechend ist anzustreben, eine unabhängige Berufungs- bzw.

Rechtsmittelinstanz zu schaffen, die Beschwerden und Berufungen gegen Urteile des erstinstanzlichen Strafgerichts des Bundes beurteilt. Diese 2. Instanz kann Teil des heutigen Bundesstrafgerichts oder ein losgelöstes, allenfalls auch örtlich distanziertes Gericht sein.

Stellungnahme der GPK vom 24. Juni 2020 zum Aufsichtsbericht des BGer vom 5. April 2020, BBl 2020 9439.

Mail des Generalsekretärs BStGer vom 4. August 2022.

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7.

Vor- und Nachteile sind im Rahmen der Konzeptarbeiten und von den zuständigen Entscheidbehörden sorgfältig abzuwägen. Nach Meinung der GPK sollte es bei der Suche nach der besten Lösung keine Tabus geben.

8.

Die Suche nach qualifizierten Richterinnen und Richtern hat sich ­ einmal mehr ­ als schwierig erwiesen, insbesondere nach französischsprachigen Richterinnen und Richtern. Ein angehörtes Gerichtsmitglied hat sich explizit für eine Verlegung der Berufungskammer in die Deutschschweiz ausgesprochen, da der Pool von qualifizierten Juristen, die bereit sind, nach Bellinzona zu gehen, zu klein sei. Andere angehörte Richter haben diese Möglichkeit als politisch nicht opportun verworfen. Vorgeschlagen wurde zudem, lohnmässige Anreize für einen Umzug nach Bellinzona zu schaffen. Nach Meinung der GPK sollte dieses Problem angegangen werden.

9.

Bezüglich des Umzugs einer Kammer in den «Pretorio» würden es die GPK begrüssen, wenn die mit der aktuellen Reorganisation geplante Trennung der zwei Instanzen auch räumlich sinnvoll nachvollzogen werden könnte.

4

Antrag an die Kommissionen für Rechtsfragen 1.

Die GPK beantragen den RK, eine Gesetzesrevision im Bereich der Organisation des Bundesstrafgerichts im Sinne der vorgenannten Erwägungen an die Hand zu nehmen, mit dem Ziel, ein unabhängiges Berufungs- oder Rechtsmittelgericht als zweite Instanz zu schaffen. Dabei sind die Planungs- und Konzeptarbeiten des BStGer miteinzubeziehen.

2.

Gleichzeitig ist die Anzahl der Richterinnen und Richter entsprechend dem Organisationsmodell und den Fallentwicklungen anzupassen.

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5

Weiteres Vorgehen

Die GPK ersuchen das Bundesgericht, unter Einbezug der Stellungnahme des Bundesstrafgerichts und der Berufungskammer, und den Bundesrat, bis am 31. Dezember 2022 zum vorliegenden Bericht und den Empfehlungen Stellung zu nehmen.

20. September 2022

Im Namen der Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte Die Präsidentin der GPK-N: Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo Der Präsident der GPK-S: Ständerat Matthias Michel Die Präsidentin der Subkommission Gerichte/BA-N: Nationalrätin Manuela Weichelt Der Präsident der Subkommission Gerichte/BA-S: Ständerat Hans Stöckli Die Sekretärin der Geschäftsprüfungskommissionen: Ursina Jud Huwiler Die Sekretärin der Subkommissionen Gerichte/BA: Irene Moser

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Verzeichnis der angehörten Personen Bacher, Jean-Luc

Mitglied der Strafkammer des BStGer

Blum, Andrea

Mitglied der VK BStGer und Vizepräsidentin der Berufungskammer des BStGer

Bomio-Giovanscini, Giorgio

Mitglied der Beschwerdekammer des BStGer

Borel, Marc-Antoine

Generalsekretär des BStGer

Chaix, François

Bundesrichter, Mitglied der VK BGer

Contu Albrizio, Joséphine

Vizepräsidentin des BStGer

Donzallaz, Yves

Bundesgerichtsvizepräsident

Fabbri, Alberto

Präsident des BStGer

Garré, Roy

Präsident der Beschwerdekammer des BStGer

Kipfer Fasciati, Daniel

Mitglied der Beschwerdekammer des BStGer

Kolly, Gilbert

Alt-Bundesrichter

Lüscher, Nicolas

Generalsekretär des BGer

Niquille, Martha

Bundesgerichtspräsidentin

Thormann, Olivier

Präsident der Berufungskammer des BStGer

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Namen und Funktionen von erwähnten Personen Bacher, Jean-Luc

Vizepräsident des Bundesstrafgerichts 2014­2015

Blum, Andrea

Vizepräsidentin der Berufungskammer (seit 2019), Mitglied der VK BStGer 2019 (1.4.­31.12.) und 2022

Borel, Marc-Antoine

Generalsekretär des BStGer seit 2021 (seit Mai 2020 Generalsekretär ad interim)

Fabbri, Alberto

Präsident des BStGer und Vorsitzender der VK BStGer seit 2022

Garré, Roy

Präsident der Beschwerdekammer des BStGer seit 2020

Kipfer Fasciati, Daniel

Mitglied der Beschwerdekammer, Präsident des BStGer und Vorsitzender der VK BStGer 2014­2017

Kolly, Gilbert

Bundesgerichtspräsident und Vorsitzender der VK BGer 2013­2016

Meyer, Ulrich

Bundesgerichtspräsident und Vorsitzender der VK BGer 2017­2020

Muschietti, Giuseppe

Präsident der Strafkammer 2012­2017; Vizepräsident des BStGer 2018

Ponti, Tito

Präsident des Bundesstrafgerichts 2018­2019 (31.3.)

Solcà, Claudia

Präsidentin der Berufungskammer 2019, Mitglied der Berufungskammer 2020­2021

Stupf, Martin

Präsident der Strafkammer des BStGer (seit 2018)

Thormann, Olivier

Präsident der Berufungskammer des BStGer seit 2020 und Mitglied der VK BStGer 2020­2021

Tschümperlin, Paul

Generalsekretär des BGer bis 2021

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Abkürzungsverzeichnis BBL

Bundesamt für Bauten und Logistik

BGA

Bundesgesetz vom 26. Juni 1998 über die Archivierung (Archivierungsgesetz, BGA), SR 152.1

BGer

Bundesgericht

BGerR

Reglement für das Bundesgericht vom 20. November 2006, SR 173.110.131

BGG

Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz), SR 173.110

BStGer

Bundesstrafgericht

BStGerOR

Organisationsreglement für das Bundesstrafgericht vom 31. August 2010 (Organisationsreglement BStGer), SR 173.713.161

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 101

BVers

Bundesversammlung

BVGer

Bundesverwaltungsgericht

EFD

Eidgenössisches Finanzdepartement

EMRK

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, SR 0.101

FK

Finanzkommissionen

FK-N

Finanzkommission des Nationalrates

GK

Gerichtskommission der Vereinigten Bundesversammlung

GPK

Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte

GPK-N

Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats

GPK-S

Geschäftsprüfungskommission des Ständerates

RK

Kommissionen für Rechtsfragen der eidgenössischen Räte

RK-N

Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates

RK-S

Kommission für Rechtsfragen des Ständerates

StBOG

Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes vom 19. März 2010 (Strafbehördenorganisationsgesetz), SR 173.71

StPO

Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Okt. 2007 (Strafprozessordnung, SR 312.0)

VGR

Geschäftsreglement für das Bundesverwaltungsgericht vom 17. April 2008, SR 173.320.1

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VK BGer

Verwaltungskommission des Bundesgerichts

VK BStGer

Verwaltungskommission des Bundesstrafgerichts

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