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Schweizerisches Bundesblatt.

4l. Jahrgang. III.

Nr. 29.

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6. Juli 1889.

Bericht der

ständeräthlichen Kommission betreffend die gegenseitigen Hülfsgesellschaften und insbesondere die Eisenbahnpensionskassen.

(Vom 11. Juni 1889.)

Tit.

Die Motiom C u r t i und Genossen, wie sie nach der Modifikation des Herrn Bundesrath D r o z unterm 15. Juni 1886 erheblich erklärt wurde, befaßt sich in sehr verschiedenen Richtungen mit dem ungemein reichgestaltigen Gebiete der schweizerischen Hülfskassen. Was diesbezüglich der Geist der Solidarität und weiser Für- und Vorsorge in unserm treuherzigen und intelligenten Volke wirkt, das verurkundet Dr. K i n k e l i n ' s in versicherungstechnischer Beziehung epochemachendes Werk : ,,Die gegenseitigen Hülfsgesellschaften der Schweiz im Jahre 1880" Es zeigt sich, daß damals 209,920 Personen versichert waren, daß das reine Vermögen der bestehenden 1085 Gesellschaften Fr. 16,652,939 betragen hat, und daß deren Jahreseinnahme auf Fr. 3,858,963 und deren Jahresausgabe auf Fr. 2,940,481 sich bezifferte. Seither haben diese Krankenkassen noch in großartigem Maßstab zugenommen.

Nachdem die alten organischen Gliederungen der Gesellschaft nach Ständen, Zünften und Innungen verschwunden sind, und nachdem auch die Kraft des Familienbewußtseins und des kommunalen, ortsbürgerlichen Zusammengehörigkeitsgefühls durch die moderne Gesetzgebung und Lebensweise, sowie durch die modernen Verkehrsmittel sich eminent gelockert hat, liegt, es im Triebe der Bundesblatt. 41. Jahrg. Bd. III.

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sozialen Selbsterhaltung und, wir möchten sagen, im psychologischen Volksbedürfniß, daß sich neue, freithätige, auf Sparsamkeit und Gemeinsinn beruhende Organisationen bilden. Und wenn sich diese tröstliche Zeiterscheinung ringsum auch in den monarchischen Staaten offenbart, so ist sie bei uns auf sozialem Boden eine Manifestation des eidgenössischen Gedankens, die schweizerische Devise : ,JEiner für Alle und Alle für Einen !a realisirt sich in ebenso werkthätiger als edler Weise, und es wird hiedurch der Atomisirung der Gesellschaft, dem Gefühl der Vereinzelung und der Ohnmacht im harten Kampfe unTs Dasein ab Seiten des gemeinen Mannes gegenüber der verbündeten Großmacht des Kapitals und der Maschine vorgebeugt. Wer ein Feind des zerstörenden, freiheitswidrigen Sozialismus ist, der m u ß diesen praktischen und lebenskräftigen sozialen Sinn mit höchster Befriedigung begrüßen.

Die Frage ist nun an unsere Nachbarstaaten wie auch an unsere Schweiz herangetreten, ob und inwieweit diese Hülfsverbände einer staatlichen Kontrole und Organisation zu unterwerfen seien. Das deutsche Reich, Großbritannien und Frankreich stellten in Gesetzesform Normalstatuten auf, in deren Rahmen die Hülfskassen sich bewegen müssen. Die schweizerischen Kantone haben diesbezüglich sehr wenig vorgesorgt, und mit Ausnahme von Beamten- und Lehrerpensionskassen sowie von Gesellenkrankeukassen,, welch' letztere im Interesse der Armenverwaltungen vielfach obligatorisch sind, interveniren die kantonalen Behörden nur sehr ausnahmsweise in den Haushalt dieser Hülfsverbände.

O

Auf eidgenössischem Boden kam die Frage zur Sprache beim Erlasse des Versicherungsgesetzes. Der Bundesrath wollte grundsätzlich auch die örtlich beschränkten Hülfskassen der Herrschaft des Bundesgesetzes unterstellen, er wollte dann aber im Gesetze sich die Kompetenz gewähren lassen, Krankenkassen, Sterbevereine u . s . w . auf d e r e n a u s d r ü c k l i c h e s Ve r l a n g en von der Bundesaufsicht zu befreien. Die Bundesversammlung beschloß aber mit Einmuth, daß die örtlich beschränkten Geschäftsbetriebe grundsätzlich nicht dem Gesetze unterstellt sein sollen. Die Bundesversammlung ging dabei vom Gedanken aus, Art. 34 der Verfassung spreche eben nur vom G e s c h ä f t s b e t r i e b der P r i v a t u n t e r n e h m u n g e n im Gebiete des Versicherungswesens. Darunter können aber ganz entschieden mehr nur jene großeu in- und ausländischen Versicherungsgesellschaften verstanden werden, welche im Privatiuteresse ihrer Aktionäre die Versicherung als ein Ges c h ä f t betreiben und welche dem einzelnen Versicherten für seine vitalen Interessen als eine unkontrolirbare, mysteriöse Macht entgegenstunden. Die Uebermacht der zumeist fremden Privatspekulation

781 hat auf d i e s e m Gebiete die staatliche Aufsicht gebieterisch herausgefordert, denn der Zusammenbruch einer einzigen Lebensversicherungsgesellschaft hätte viele tausend berechtigte Interessen schweizerischer Familien im höchsten Grad geschädigt. Ein ganz anderes Bewenden aber hat es mit den k l e i n e n , auf Gegenseitigkeit und absoluter Freiwilligkeit beruhenden Hülfsverbänden. Diese bewegen sich in leicht übersichtlichen, geographisch engen Kreisen, und sie beruhen auch auf dem republikanischen Grundsatze des selfgovernment. Unser Schweizervolk ist eifersüchtig auf sein selbstständiges Schalten und Walten in den ihm zunächst heimischen Gebieten ; es ist für ihn ein Postulat des gesunden Menschenverstandes und währschafter Ueberlieferung, daß es Herr im eig'nen Haushalt bleiben will, die Freiheit ist ihm nicht nur ein Ideal, das aus den Sternen herunterschimmert, sondern sie ist seinem praktischen Sinnen und Denken ein sehr konkretes Gut, und sein Opfersinn für's Vaterland beruht eben darauf, daß es sich selbstbewußt und frei im eig'nen Haus und freien Vaterlande fühlt. Unser Volk ist allerdings ein ordnungsliebendes Volk, aber seinem Freisinn ist nichts so autipathisch, als schulmeisterlich büreaukratische Vielregiererei.

Leider kann darüber kein berechtigter Zweifel walten, daß eine Masse von Hülfsvereiiien auf versicherungstechnisch äußerst schwachen Füßen steht, und Dr. K i n k el in hat das eminente Verdienst, daß er diese Achillesferse nicht nur mit mathematischer Gewißheit aufdeckte, sondern daß er bahnbrechend die einzig solide und einzig richtige Berechnungsweise für das nothwendige Deckungskapital der Krankenkassen aufstellte. Es ist unbestreitbare Thalsache, daß eine Masse von Hülfsvereinen auf Statuten beruht, die ganz zweifellos zu Defiziten führen, daß man sehr manchen Orts die Ansammlung eines bescheidenen Reservefonds in verhängnißvollem Irrthum als ein hinlängliches Deckungskapital betrachtete, und daß man nicht daran dachte, wie die Verhältnisse mit dem steigenden Durchschnittsalter der Mitglieder vom Standpunkte der Morbilität und der Mortalität unerbittlich viel schlimmer sich gestalten. Aber diesen vielseitigen Mißrechnungen könnte man nicht durch ein Bundesgesetz in allgemeinen Grundzügen vorbeugen, sondern es bedürfte bei der mikroskopischen Verschiedenheit in der
Organisation der schweizerischen Hülfskassen einer in alles Detail hineingehenden, minutiösen Bundeskontrole. Alle Statuten, Mitgliederverzeichnisse, Jahresrechnungen und Bilanzen jedes Hülfsvereins müßten unter die versicherungstechnische Loupe genommen werden, und das bedürfte nicht nur einer ganz bedeutenden Vermehrung des eidgenössischen Beamtenpersonals, sondern wir hätten eine

782 direkte eidgenössische Obervormundschaft in des Wortes verwegenster Bedeutung, und die Folge dürfte vielfach die Lähmung des freithätigen Solidaritätsgefühles im Schweizervolke sein. Ein wesentlicher und sehr ehrenvoller Theil der Jahreseinnahmen unserer Hülfsverbände besteht in den Geschenken der Ehrenmitglieder und in großem Vergabungen und Legaten : diese aber dürften großentheils versiegen, wenn Alles von Oben herunter reglementirt und mathematisch abgezirkelt wäre. Der Sprechende perhorreszirt keineswegs den energischen Einfluß der Staatsautorität zur Steuer der sozialen Noth, aber man soll auch mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit das wichtigste politische Gut und die edelste Waffe für die Verteidigung des Vaterlandes schonen, ich meine den Geist der Freiheit. In unserer Gebirgswelt findet sich nebst allen Wundern der Schönheit und Erhabenheit gar Vieles, was dem volkswirtschaftlichen Kulturauge keineswegs gefällt, aber die Zeit, in welcher die pedantisch abgezirkelten Gartenanlagen des französischen Rococcostyls besser gefielen als die frische, freie Gottesnatur in den Schweizerbergen, war eben auch nicht die Epoche einer selbstbewußten, starken Volksfreiheit. Die edelsten und gereiftesten Denker sind darin einig, daß die Selbstverwaltung die Schule der Freiheit ist.

Wir verneinen also mit dem Bundesrathe die Opportunità!

einer allumfassenden Bundeskontrole über die kleinen lokalen Hülfsverbände. Wir gelangen nun zur Spezaalfrage, ob der Bund bezüglich der Anlage der Gelder dieser Hülfskassen ein Mitspracherecht sich vindiziren soll. Und das halten wir im-Allgemeinen deßhalb nicht für nothwendig, weil eine solide Anlage dieser Gelder etwas viel Einfacheres ist, als ein richtiger und solider Ausgleich zwischen den thatsächlichen Aktiven und Passiven, d. h. zwischen den einzubezahlenden Prämien und den Wohlthaten des Vereins, also als die äußerst wichtige Ausrechnung des nothwendigen Deckungskapitals. Bei diesen kleinen lokalen Hülfsverbänden gilt die Vereinslade den Vereinsgenossen als eine Art Bundeslade, und sie wachen mit ängstlichem und klugem Blick, daß der zumeist von ihrem sauer ersparten Arbeitslohn zusammengesparte Reservefond in sichern Händen liegt, und bei soliden Instituten oder in soliden Werthpapieren veranlagt wird. Uebrigens bestehen in fast allen Gemeinden des Schweizerlandes
Waisenladen, und diese Vereine können also ihre Wertpapiere dortseits in sichern Verwahr abgeben.

Wohl in allen Kantonen bestehen Gesetzesvorschriften über Anlage und Sicherung des Pupillarvermögens, mit welchem die Kapitalsubstanz milder Stiftungen meistens gleich behandelt wird. Nichts behindert nun die Kantone, diese Bestimmungen auf den Reservefond der kantonalen Hülfsverbände auszudehnen. Ueberhaupt haben

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wir es hier mit ö r t l i c h e n Verhältnissen zu thun, welche verfassungs- und naturgemäß viel richtiger k o r p o r a t i v und k a n t o n a l behandelt werden, und welche auch mit Rücksicht auf die Vermögensanlage manchen Orts bereits kantonal behandelt sind.

Gar zu viel Arbeitsdetail dürfen wir absolut nicht mehr unserer sonst überlasteten Bundesverwaltung zuführen, sonst sieht man auf eidgenössischem Boden vor lauter Bäumen den Wald uicht mehr, und sonst würden wir je länger je mehr eine polypenartige Bundesbüreaukratie und je länger je weniger eine gut orientirte, auf freier Warte stehende Bundesregierung haben.

4 Ein anderes Bewenden hat es dagegen mit den Krankenkassen der F a b r i k a r b e i t e r . Diesbezüglich wünschte der Berichterstatter -- er spricht da theilweise individuell -- eine erweiterte Bundeskompetenz. Hier fällt eine ganz abhängige und wichtige Kategorie unseres Volkes in Betracht. Der Arbeiter muß, zumal als Familienvater, vermöge des eisernen Gesetzes von Angebot und Nachfrage, vermöge dieser wirtschaftlichen Taxation der Arbeit als Marktwaare, sowie vermöge des vielfachen, chronischen Darniederliegens der heimischen Industrie, von der Hand in den Mund leben, und wenn diesem Arbeiter nicht wenigstens durch eine solide, auf liberalen Grundlagen beruhende Krankenkasse der düstere Ausblick in die Zukunft etwas erheitert wird, so degradili ihn diese himtneltraurige Lebenslage zum gewissenlos leichtsinnigen All tags mensch en, es treibt ihn dies der sozialistischen Verführung in die Arme, und es führt dies in ungerechtester Weise zu äußerst schwerer Belastung der kommunalen Armenkassen. Die Bundesverfassung sorgt für die Sicherheit und Gesundheit des Arbeiters, sie hat aber viel weniger ao die Tage seiner Arbeitsunfähigkeit und seiner bittersten Noth gedacht, und darum haben auch bei der Ausarbeitung des Fabrikgesetzes Bundesrath und Bundesversammlung mit konstitutioneller Aengstlichkeit die Krankenkassen als ein noli me längere betrachtet. Das Fabrikgesetz sagt lediglich in Art. 7, die Bußen der Fabrikarbeiter sollen im Interesse der Arbeiter, namentlich für Unterstützungskassen, Verwendung finden, und darum erstreckt sich auch die Kontrole der Fabrikinspektoren nur ganz nebensächlich auf diese Unterstützungskassen. Der Bundesrath hat, im Gefühle seiner Inkompetenz,
mittels vorjährigen Kreisschreibens die Kantonsregierungen eingeladen, von sich aus für sichere Anlage der betreffenden Gelder besorgt zu sein, die Regierung von Zürich ist diesbezüglich mit mustergültigem Beispiel vorangegangen, aber nachdem das Fabrikwesen im Weitern eidgenössisch geordnet ist, und nachdem Industrie und Arbeiterfrage wenn nicht einen kosmopolitischen, doch immerhin keinen kanto\

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nalistischen Charakter haben, so ist es äußerst logisch und naturgemäß, wenn ü b e r d i e F a b r i k k r a n k e n k a s s e n e i n e energ i s c h e B u n d e s a u f s i c h t w a l t e t . Nicht nur die Eisenhahnen und nicht nur die Aktiengesellschaften, sondern auch die Großindustriellen stehen den kantonalen Administrationen vielfach übermächtig gegenüber, und darum m u ß der starke Arm des Bundes das Pekulium und den ganz nothwendigen Sparpfennig des armen Mannes sichern. Wir wissen schon, daß eine große Zahl der schweizerischen Industriellen alle berechtigten Interessen der Arbeiter ia großherzigster Weise unterstützt, aber es gibt sporadisch auch Leute unter ihnen von eisenbepanzertem Herzen und von hartem Stahl, und darum muß der Bund nicht nur für sichere Anlage dieser Gelder, sondern auch für eine billige und ausgiebige Alimentation der Kassen und für eine richtige Organisation ihrer Verwaltung mit angemessenem Mitspracherecht des Arbeitgebers und der Versicherten besorgt sein. Allerdings sieht das Konkursgesetz ein Privileg für diese Krankenkassen vor, aber mitunter ist auch das Vorrecht irn Konkurse illusorisch, und dann wird hiemit eben nur dem unnatürlichen Verhältniß die gesetzgeberische Sanktion verliehen, daß diese Kassen im Gewahrsam des Pabrikherrn bleiben sollen. Wenn nun aber aus Mangel an gesetzgeberischer Vorsorge solche Kassen im Konkurse verloren gehen, so würde das natürliche Mitleid im Volke gegen die Vernachläßigung einer humanitären Staatspflicht sich empören. Die Kommission verzichtet auf ein ausdrückliches Postulat, weil sie weiß, daß das Departement redlich seine Pflicht thut, und weil die Revision von Art. 35 der Bundesverfassung, d. h. des Fabrikartikels, mit Rücksicht auf die obligatorische Unfallversicherung und auf die Ausdehnung der Bundeskompetenzen im Gebiete des Gewerbewesens sonst auf der Tagesordnung der eidgenössischen Behörden steht. Die Kommission begnügt sich also m i t t l e r w e i l e n mit dem zutrauensvollen, aber n a c h d r u c k s a m e n Wunsche, d a ß d i e O r g a n e d e s B u n d e s bezüglich der F a b r i k k r a n k e n k a s s e n eine t h u n l i c h s t e n e r g i s c h e A u f s i c h t w a l t e n l a s s e a. Dieser sehr entschiedene Wunsch soll in's Protokoll des Ständerathes fallen und dem Bundesrathe zu offizieller
Mittheilung gelangen.

Ein drittes Postulat der Motionssteller war die staatliche Anbahnung der F r e i z ü g i g k e i t zwischen den Hülfskassen. Das hat aber ohne die gesetzliche Organisation dieser Hülfskassen die größten Schwierigkeiten. Die Eintrittsbedingungen und die Leistungen der einzelnen Kassen sind viel zu reichgestaltig, so daß es einer Expropriation ohne Entschädigung gleichsehen würde, wenn man besser organisirte Hulfsverbände zur bedingungslosen Freizügigkeit

785 mit schlecht geordneten und schlecht fundamentirten Vereinen zwingen würde. Der Staat hat die Pflicht, die solide Grundlage und die ökonomische Lebenskraft dieser Hülfskassen zu fördern, er würde aber das schnurgerade Gegeotheil bewirken, er würde die Gedankenlosigkeit und den Leichtsinn prämiren, wenn er die soliden Hülfskassen mit den unsoliden amalgamiren würde. Jede Hülfskasse ist bis auf Weiteres eine selbstständige, äußerlich abgeschlossene juristische Person, darum hat, der Staat kein Recht, ihr die Aufnahme neuer Mitglieder gegen ihren Willen zu diktiren. Man denke nur an die sehr verschiedene Karenzzeit, man denke nur au die mannigfaltige Abstufung der zum Eintritt erforderlichen Altersgrenze, man denke nur an die ungemeine Differenz bezüglich des DeckuQgskapitals, man denke nur daran, wie Leute in sehr verschiedenen Lebensaltern, mit sehr verschiedener Lebensführung und mit sehr verschiedenen gesundheitlichen Garantien an einem Orte zusammenkommen und zu einem Verbände sich organisiren, je nachdem dieser Ort ein industrielles Centrum oder eine Bauerngemeinde ist, und es kann vom Standpunkte der Billigkeit, ganz abgesehen vom Mangel aller verfassungsgemäßen Anhaltspunkte, von einer gesetzgeberischen Vorschrift für unentgeltliche Gewährung der Freizügigkeit nicht die Rede sein. Es ist allerdings ein sehr empfehlenswerthes Beispiel, wenn Vereine auf große kantonale Territorien oder gar über die ganze Eidgenossenschaft sich ausdehnen, aber h i e r haben wir es alsdann mit E i n e m Vermögenssubjekte, mit E i n e r juristischen Person zu thun, die Ortsverbände sind dann bloße Sektionen, ihre Kassen sind dann bloße Filialen der Centra Ikasse und die Interessensolidarität zwischen diesen Sektionen ist etwas Grundverschiedenes gegenüber der Freizügigkeit zwischen selbstständigen Verbänden. Die ganz nothwendige Vorbedingung, das unerläßliche Korrelat der Freizügigkeit wäre das Obligatorium ; ohne das Obligatorium könnten ja die gesunden Mitglieder eines Vereines dem ändern fernbleiben, während ein paar oktroirter kränklicher und älterer Mitglieder einen kleinen Verband zu Grunde richten könnten. Entweder, oder -- entweder Zwang zum Eintritt oder -- dann auch Freiheit der Aufnahme.

Auch das Präsidium des Grütlivereins sagt in seiner Eingabe an den Bundesrath : ,,Ein Gesetz über die Freizügigkeit
würde nur den Zeitpunkt hiuaussehieben, auf den die obligatorische Versicherung auf möglichst breiter Grundlage allseitig erhofft wird."

Die Freizügigkeit, deren hohen Werth wir im Interesse der allseitigen Bewegungsfreiheit und der freien Niederlassung unseres Volkes in keiner Weise unterschätzen, ist mit logischer Nothwendigkeit keineswegs das Fundament, sondern der Abschluß und die Krone der staatlichen Organisation unserer Hülfsverbände. Der

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bisherige schweizerische Freizügigkeitsverband hatte aus den angegebenen Motiven nur geringe Resultate aufzuweisen, und wir trösten uns mit der Hoffnung, daß die Anregung dieser Frage nur das Zustandekommen einer schweizerischen obligatorischen Versicherung befördern wird. D i e s e allein kann auf rationeller Grundlage, und nach den zuvefläßigen Elementarprinzipien des Gesetzes der großen Zahlen, sowie unter liberaler Mithülfe von Bund, Gemeinde und · Arbeitsherren das gesammte arbeitende Schweizervolk zu E i n e m sozialen Hülfsverein organisiren, und d a n n reichen eben die Grenzlinien seiner Freizügigkeit soweit als die Grenzen des schweizerischen Vaterlandes. Eine Bundessubvention an diejenigen Vereine, welche Freizügigkeit gewähren, wie dies der Grütliverein will, würde der Verfassungsmäßigkeit entbehren, könnte zum Protektionismus führen, und würde denjenigen Volkskreisen durchaus nicht entsprechen, welche wegen grundsätzlicher Verschiedenheit ihrer Anschauungen dem unterstützten Vereine nicht beitreten könnten.

Der richtige Weg zur Freizügigkeit liegt in einer gerecht bemessenen Auszahlung einer procentualeu Quote des einbezahlten Deckungskapitals an das ausscheidende Vereinsmitglied, er liegt mit ändern Worten in der Auszahlung dieser Quote an den Verein des neuen Domizils. D a s kann aber bis auf Weiteres nur auf dem Wege der Freiwilligkeit geregelt werden, und wir schließen den ersten Theil unserer Berichterstattung mit dem doppelten Wunsche, daß gemeinnützige Männer und die berufenen Organe der vaterländischen Presse nach Maßgabe der mathematisch approfondirten Rathschläge berühmter Fachmänner, wie eines K i n k e l in und K u m m e r , unsere Ortsverbände in höchst nothwendiger Weise über ihre vitalen Interessen aufklären, und daß unsere Eidgenossenschaft in thunlichst naher Zeit den Ruhm der Initiative einer wohlorganisirten obligatorischen Versicherung und damit einer werkthätig familiären Vereinigung der gesammten Volksgemeinschaft sich erwerbe. -- Wir gelangen nun zu unserm Hauptthema, zur O r g a n i s a t i o n d e r H i i lfskassen f ü r d i e B e a m t e n u n d A n g e s t e l l t e n der E i s e n b a h n g e s e l l s c h a f t e n . Hier ist es höchst nothwendig, daß Ordnung geschaffen w i r d , wenn die Eisenbahnangestellten und ihre Familien nicht um ihren Spar- und
Nothpfennig getäuscht sein sollen. Es ist fürwahr traurig genug, daß von einer großen schweizerischen Bahngesellschaft die bereits verfallenen Wittwenpensionen auf dem Wege einer eigenmächtigen Statutenrevision um einen guten Drittel, d. h. auf das sehr knapp gehaltene Existenzminimum von jährlich Fr. 400 reduzirt wurden. Die

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Eisenbahngesellschaften erklären, das Gesetz dürfe nicht rückwirkend gemacht werden, d. h. man dürfe sie nicht zwingen, das dermalen mangelnde Deckungskapital für die bestehenden Kassen einzuzahlen.

Ihre Kommission will keine Bahngesellschaft zu Gründung solcher Kassen zwingen,. sie will, aus konstitutionellen Rücksichten, den Ansporn hiezu dem zwingenden Interesse der Bahngesellschaft selber überlassen ; aber nach Art. 34, Abs. 2 der Bundesverfassung hat sie Pflicht und Recht, zu sorgen, daß die bestehenden Hülfskassen rationell eingerichtet sind, keine trügerischen Hoffnungen erwecken und überhaupt einer versicherungstechnisch soliden Unterlage sich erfreuen. Der Entwurf zwingt die Bahnen nicht zu freiwilligen Zuschüssen, aber er sorgt pflichtgemäß für Sicherung des Deckungskapitals. Der Entwurf sorgt lediglich dafür, daß die zwangsweise zurückgehaltene Quote, des sonst in der Regel knappen Lohnes die verheißene, vertragsgemäße Anwartschaft realisire. Und da es sich hiebei um Tage der Noth und der Erwerbsunfähigkeit, um Wittwen und Waisen meistens sozial abhängiger Leute handelt, so erfüllt der Staat hiermit, nur eine fundamentale, ethische Rechtspflicht.

Die Eisenbahngesellschaften sind übrigens, wie keine ändern Aktiengesellschaften, mit den eingreifendsten staatlichen Privilegien ausgestattet. Sie allein besitzen das Enteignungsrecht, sie sind meistens steuerfrei, sie monopolisiren im Interesse des an sich keineswegs patriotischen, sehr wanderlustigen Coupon den Verkehr, und als die Heerstraßen der Gegenwart erfüllen sie einen mehr s t a a t l i c h e n Beruf. Dei' Staat hat die ernste Pflicht, für die Sicherheit des Eisenbahnverkehrs zu sorse«. Dazu gehört, aber vor Allem ein bewährtes und solides Personal, und hiezu ist absolut notwendige Vorbedingung, daß dieses Personal hinlänglich besoldet und daß zumal auch für die Tage der Invalidität und für die hinterlassenen Familien angemessene Vorsorge getroffen ist. Ohne diesen pflichtgetreuen Ausblick in die Zukunft lassen sich gewissenhafte und verständige Männer einfach zum Eisenbahndienste nicht herbei.

Die Eisenbahnkonzessionen sind auch kein eigentlich privatrechtlicher Vertrag, sie sind vielmehr ein staatsrechtliches Privileg, in welchem die jeweilige staatliche Gesetzgebung ausdrücklich vorbehalten wurde. Dann fällt vorn Standpunkte
allseitiger vermögensrechtlicher Pflichterfüllung und solider Vermögensgeba.hrung das Rückkaufsrecht, des Staates und die gesetzlich präzisirte Pflicht zur Rechnungsstellung gegenüber den Eisenbahnen in Betracht. Die Eisenbahnen haben bei ihren Angestellten statutarisch und vertragsgemäß Hoffnungen erweckt, welche sie um so mehr zu erfüllen verpflichtet sind, weil der Eintritt in den Hülfskassaverband o b l i g a t o r i s c h ist. Es wäre, wie gesagt, eine schreiende Ungerechtig-

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keit, wenn der Arbeiter einen Theil seines bescheidenen Lohnes zurückbelassen m ü ß t e , ohne daß dann jene Versprechungen erfüllt würden, welche ihm von seinem Brodherrn auf dem Wege eines Zwangsvertrages oder vielmehr eines Diktates als Gegenrecht verheißen wurden. Die Bahngesellschaften haben diese Kassen allerdings in löblicher Weise, aber in ihrem eigensten Interesse angelegt. Sie verschaffen sich dadurch nicht nur billigere Arbeit, sondern der Angestellte wird hiedurch an die betreffende Bahn gefesselt, er verliert zu höchst wesentlichem Theile seine Freiheit, und es liegt, dies im höchsten Interesse des Dienstes, denn es m u ß eine gewisse Stabilität im Personal sein, es m u ß ein stehendes Cadre da sein, und zumal beim Zugs- und Maschinenpersonal, überhaupt da, wo des Dienstes unerbittlich strenge Uhr stets die gleichen Manipulationen fordert und wo von der einzelnen Manipulation in der richtigen Minute manches Menschenleben abhängt, da ist ein gewöhntes, zuverlässiges Personal das unerläßlichste Bedürfniß.

Auch die monarchischen Staaten fesseln in ihren Dienst auf gleiche Weise ein großes Kapital von Wissen und Erfahrung. Durch das Pensionssystem wird die Freizügigkeit und die freie Konkurrenz gelähmt. Der Beamte verläßt sich auf die verheißene Pension, er arbeitet um ein verhältnißmäßig bescheideneres Honorar und trägt weniger Vorsorge für Alter und Familie. Wer soll übrigens der keineswegs leichten Aufgabe einer richtigen versicherungstechnischen Berechnung gewachsen sein, -- die Bahngesellschaft mit ihrer sonst in alles Detail künstlich ausgebildeten Komptabilität, oder der ungebildete, vom Mechanismus seines Dienstes am Sonn- und Werktag vollauf beanspruchte Arbeiter?

Es klingt wie der bitterste Hohn, wenn man den Versicherlen sagt, sie sollen ihre Kasse liquidiren. Es würde sich fast überall ein gewaltiges versicherungstechnisches Defizit herausstellen. Die Versicherten würden ihre einbezahlten Beträge bei Weitem nicht zurückerhalten, und am schwersten würden Jene getroffen werden, die im Alter stark vorgerückt sind, und die sich darum in keiner ändern Kasse mehr versichern können. Am allerschwersten würden die Invaliden, die Wittwen und Waisen getroffen werden, die nun großenteils bettelarm dastehen würden, während sie auch mit den durch die Statuten ihnen zugesicherten Pensionsgeldern
nur ein sehr kümmerliches Dasein fristen können. Wie stünde aber eine Eisenbahngesellsehaft in der öffentlichen Meinung da, wie wäre ihr Ansehen und ihr Kredit in's Fundament hinein erschüttert, wenn sie die von ihr geweckten und unterschriftlich verurkundeten und d a r u m b e r e c h t i g t e n Hoffnungen ihrer Angestellten so treulos zu Schanden werden ließe?

789 Es ist fürwahr betrübend genug, daß durch wiederholte Statutenrevisionen die Beiträge der Versicherten auf das möglichste Maß gesteigert und ihre Ansprüche an die Kasse in empfindsamster Weise vermindert werden mußten. Diese Kassen können denn doch so wenig wie die Eisenbahnen als rein privatrechtliche Institute angesehen werden. Der Staat m u ß vom Standpunkte des sozialen Ausgleichs und er d a r f vermöge seines Hoheitsrechtes über die privilegirten Eisenbahngesellschaften mit mächtigem und gerechtem Arm einschreiten. Die Eidgenossenschaft thut diesbezüglich gar nichts anderes, als was die großen Nachbarstaaten thaten. Es handelt sich schließlich um den Lidlohn des gemeinen Mannes, und für d i e s e n zu sorgen, ist tiefernste Pflicht des christlichen und humanen Staates.

Und es handelt sich keineswegs um einseitige und willkürliche Belastung der Bahnen, es handelt sich nur um ihre Mitbelastung für eingegangene Verpflichtungen in i h r e m Interesse. Eine Behörde, in welcher letztinstanzlich die Bahn selbst zum dritten Theil Mitspracherecht besitzt, soll gewissenhaft abwägen, w i e w e i t nach Recht und Billigkeit zum Ersätze des fehlenden Deckungskapitals die verschiedenen interessirten Faktoren belastet werden können.

Und es handelt sich auch nur darum, was die meisten Bahnen bereits größtenteils aus freiem Willen thaten. Die Mehrheit der Bahnen hat also zum Vornherein als billig anerkannt, was der Entwurf verlangt.

Rechtlich maßgebend aber ist als Ausfluß von Art. 34 der Bundesverfassung das Versicherungsgesetz. Die Hülfskassen der Eisenbahnen, welche manchmal durch 5--6 Kantonsgebiete gehen, sind keineswegs ohne Weiteres von dei- Herrschaft des Versicherungsgesetzes ausgeschlossen. Nach dem Vei-sicherungsgesetze, wie nach gemeinem Rechte, ist aber der Versicherer für alle Verpflichtungen haftbar, welche er durch den Versicherungsvertrag eingegangen hat.

Bestehende Verträge können überhaupt nicht durch einseitige Statutenrevision abgeändert werden. Die ganze Organisation und Verwaltung dieser Kassen lag und liegt in der Hand der Eisenbahngesellschaften, sie haben ihren Arbeitern die Versichei-ungsbedingungen o k t r o i r t , und darum hat die Rechtsvermuthung viel für sich, daß der Richter die Bahngesellschaft für die durch Vertrag und Statuten stipulirten Verpflichtungen haftbar
erklären würde.

Uebrigens ist bezüglich der sogenannten Rückwirkung ein Präjudiz geschaffen. Die Versicherungsgesellschaften wurden auch für alle bestehenden Verträge unter das Versicherungsgesetz gestellt, und sie haben für all' diese Verträge der Eidgenossenschaft Rechnung und Deckung aufzuweisen.

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Die Eisenbahngesellschaften können übrigens herzlich froh sein, daß sie diesbezüglich unter ein Spezialgesetz gestellt werden. Sie haben sich seiner Zeit auch bitterlich über den Entwurf zum Rechnungskontrolgesetz beklagt. Jetzt sehen sie schon lange ein, daß sie durch dieses Gesetz viel angemessener und milder behandelt werden, als durch das Obligationenrecht.

Am meisten müßten sie sich beklagen, wenn sie unter das Versicherungsgesetz gestellt würden. Die dort vorgesehene Rechnungsstellung wäre für diese Kassen viel zu komplizirt, und im Fall einer nach Maßgabe des Versicherungsgesetzes unvermeidlichen Liquidation hätten sie für das Defizit zweifellos aufzukommen, während unser Entwurf eine billige Vertheilung desselben und eine allmälige Amortisation vorsieht.

Der Kardinalfehler bei Anlage dieser Kassen, wie der Krankenkassen überhaupt, bestund darin, daß das Gesetz der großen Zahlen, die erfahrungsgemäße Morbilitäts- und Mortalitätsberechnung ihnen nicht zur Unterlage diente. Man lebte viel zu leichtfertig in den Tag hinein. Man dachte viel zu wenig daran, daß die ersten Jahre mit vielen jungen Mitgliedern ein verhältnismäßig günstiges Rechnungsresultat ergeben, daß aber mit dem Altern der Mitglieder naturnothwendig viel ungünstigere Jahresbilanzen sich herausstellen.

Ein Jeder, der sich auf die Krankheit, «uf das Alter oder den Tod versichert, muß bei einer soliden Versicherungsgesellschaft in den jungen Jahren für die altern Jahre vorzahlen. Das fällt in die Waagschale für Zins und Zinseszins; das ist angezeigt wegen der großem Erwerbsund Zahlungsfähigkeit der Jüngern Mannesjahre; das ist nothwendig, weil von Jahr zu Jahr die Wahrscheinlichkeit von Krankheit und Tod tiefere, dunklere Schatten wirft. Darin liegt eben der weise, ehrenwerthe Grundgedanke des Versicherungsgeschäftes, daß die rüstige Jugend für die Tage des Alters sorgt. Und wo dies nicht in hinlänglichem Maße geschieht, da wird Seitens einer Hülf'skasse mit den Versicherten ein leichtsinniges und frevles Spiel getrieben. -- Wie kommt überhaupt eine Vermögensbilanz zu Stande? Etwa nur durch die Kassarechnung? Das wäre gerade so oberflächlich und so grundverkehrt, wie wenn für die Vermögensberechnung einer Versicherungsgesellschaft nur der Reservefond in Betracht gezogen würde. Nein, meine Vermögensbilanz wird dadurch gezogen,
daß ich einerseits als ,,Soll11 alle meine Verpflichtungen zusammenrechne, deren Erfüllung rnir heute oder in spätem Terminen obliegt, und daß ich anderseits als ,,Haben" alle Verrnögensobjekte aufzähle, die ich rechtlich besitze oder die mir zu leisten, beziehungsweise einzuzahlen sind. Der Ueberschuß des ,,Haben" über das ,,Sollu ist das Vermögen, der Ueberschuß des ,,Soll" über das

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,,Haben1* ist das Defizit. Ganz identisch verhält es sich mit den Hiilfs- und Pensionskassen, überhaupt mit dem Vermögen einer Versicherungsgesellschaft. Der auf den heutigen Tag zurückdiskontirte ,,Baarwerth" aller nach versicherungstechnisehei- Wahrscheinlichkeitsberechnung noch zu erwartenden Jahresbeiträge ist neben dem sonst effektiv vorhandenen Vermögensbestande das ,,Haben", der Baarwerth aller vertraglich und statutarisch auszurichtenden Anwartschaftsbeträge ist das ,,Soll" der Kasse. Was eine Kasse voraussichtlich mehr bezahlen muß, als sie von ihren dermaligen Mitgliedern voraussichtlich noch erheben wird, das repräsentirt, unter Zuschlag der Verwaltungskosten, die Ziffer des nothwendigen Deckungskapitals, und soweit dasselbe nicht im Reservefond, überhaupt im einbezahlten reinen Vermögen der Gesellschaft liegt, soweit haben wir es mit einem versicherungstechnischen Defizit zu thun. Das nothwendige Gesammt-Deckungskapital einer Versicherungskasse ist aber selbstverständlich nichts anderes als die Addition der bei jedem Vertragsabschlüsse höchst nothwendig s o l i d zu büdgetirenden Deckungskapitalien für jeden einzelnen Versicherten. Bine Kasse, die unbekümmert um Deckungskapital und Defizit in den .Tag hinein fortkutschirt, ist einem Irrlicht gleich, das in den Abgrund führt. Eine solche Kasse m u ß , nach Analogie der prodigi, unter staatliche Kuratel genommen werden. Eine solche Kasse verliert nicht ihr Vermögen.

Auch die deutschen Eisenbahnhülfskassen lebten in den Tag hinein, bis W i e g a n d ihnen die Binde von den Augen riß. Der Basler Dr. K i n k e l i n wurde bereits von einigen unserer wichtigsten Bahngesellschaften mit der Ausrechnung des versicherungstechnischen Defizits betraut, und es muß sämmtlichen Bahngesellschaften zu hoher Beruhigung gereichen, wenn sie diesbezüglich eine amtlich verurkundete Bilanz erhalten.

Die schweizerischen Eisenbahnen mußten zufolge des Rechnuugsgesetzes ihren gesammten Vermögensetat bereinigen, warum soll nun einzig jener Bestandtheil oder vielmehr jenes geheiligte Depositum hievon ausgenommen sein, welches ein Sparpfennig für die in ihrem Dienst ergrauten Beamten und Angestellten ist?

Ihre Kommission hat eine höchst wesentliche Erweiterung des Gesetzes vorgenommen, und sie beantragt darum auch im Gegensatze zum ursprünglichen Entwurfe des
Bundesrathes nicht eine Ergänzung des Rechnungsgesetzes, sondern den Erlaß eines Spezialgesetzes.

Eine Einschaltung in das Rechnungsgesetz wäre unlogisch und würde zu einem formalen Anachronismus führen, indem dann die

792 größere Partie des Rechnungsgesetzes von den Pensionskassen der Angestellten handeln würde. Und diese Pensionskasse darf man ja in keiner Weise mit dem Vermögen der Bahn amalgamiren.

Durch eine bloße Novelle zum Rechnungsgesetz würde auch der Verdacht erweckt, daß man das fiskalische Interesse, d. h. die Eventualität des Rückkaufes zu vorwiegend in's Auge fassen wolle.

Es handelt sich hier auch keineswegs nur um eine richtige Buchführung, es handelt sich vielmehr um eine allseitige Sanirung der Hülfskassen. Es handelt sich auch nicht nur um eine einmalige Bereinigung der diesbezüglichen Komptabilität, sondern um bleibend richtige Verwaltungsgrundsätze in einem Gebiete, welches viel weniger das Rechnungsverhältniß zwischen Bund und Bahn als zwischen Arbeitgeber und Arbeiter, überhaupt grundsätzlich ein hochwichtiges soziales Gebiet beschlägt. Eine auch nur sehr umrißliche gesetzgeberische Sicherung und Organisation dieser Kassen läßt sich darum unmöglich in den Rahmen einer Novelle zum Rechnungsgesetz einfügen.

Ihre Kommission hat das Gesetz gegenüber dem Bundesrat^e hauptsächlich nach folgenden Richtungen hin erweitert: 1) Sie präzisirt im Interesse der materiellen Billigkeit thunlichst die Grundlagen, auf welchen die Organisation dieser Kassen beruhen muß.

2) Sie versucht, die rechtlichen Interessen der aus dem Bahndienst austretenden Versicherten zu wahren.

3) Sie gewährleistet und organisirt einen thunlichst unparteiischen Instanzenzug.

4) Sie wahrt die Rechte der Versicherten für den Fall a. einer Handänderung an der Bahn und b. einer Liquidation der Hülfskasse.

5) Sie trägt auch dafür Sorge, daß die Gelder der Hülfskasse in solider Weise angelegt sein sollen.

Ihre Kommission ist mit ernster Gewissenhaftigkeit und mit Vorliebe an ihre Aufgabe herangetreten und sie hatte darum eine schwierigere Arbeit, weil sie für die Umrahmung ihres Gesetzes in anderwärtigeu Gesetzgebungen keine Anhaltspunkte fand. Dem Chef des Eisenbahndepartements und dem Vorstand des Versicherungsamtes ist sie für ihre gründliche Mitarbeit zu warmem Dank verpflichtet.

Wenn wir nun die einzelnen Artikel näher in's Auge fassen, so kennt Art. l keinen Unterschied zwischen den bestehenden und künftigen Hülfsverbänden. Die Statuten a l l e r Eisenbahn-Hülfs-

793 kassen sind dem Bundesrathe zur Genehmigung vorzulegen. Die K r a n k e n kassen prüft er nach freiem Ermessen, und er wird daran auch nicht einen so strengen Maßstab legen, wie an die Kassen für Invalidität«- oder Alters- und Todesversicherung. Letztere greifen eben viel tiefer in die vitalen Interessen der Beamten und Angestellten ein, sie sorgen für eine f e r n e Zukunft, die Krankenkassen aber sind weniger berechnet für die ständigen Angestellten als für die im Taglohn befindlichen Arbeiter und für t r a n s i t o r i s c h e Bedürfnisse, auch haben sie vielmehr Wahlverwandtschaft mit jener Masse örtlicher Hülfsverbände, die sonst überall im Schweizerlande existiren. Bindende, a l l g e m e i n z u t r e f f e n d e Normen wären auch bezüglich der K r a n k e n kassen viel schwieriger zum V o r n h e r e i n zu statuiren. Die Verhältnisse sind beim stets wechselnden Mitgliederverzeicliniß dieser Kranken verbände viel zu mannigfaltig.

Bezüglich jener v i e l w i c h t i g e r n Kassen, deren statutarische Grundlagen hier näher normirt sein sollen, haben wir vorab zu betonen, daß keine Bahngesellschaft zu Gründung einer solchen Kasse gesetzgeberisch gezwungen wird. Es fehlen uns, wie schon gesagt, zu einem solchen Zwang die verfassungsgemäßen Anhaltspunkte, 0 übrigens wird, wie schon erwähnt, das wohlverstandene Interesse der Bahn an einem erfahrenen und soliden Personal den gesetzgeberischen Zwang ersetzen. Es darf und muß überhin betont werden, daß die Bahngesellschaften zu keinen Beiträgen gesetzgeberisch verhalten werden, außer zum Ersätze des durch i h r e Mißrechnung fehlenden Deckungskapitals.

Der Entwurf will nur bewirken, daß den Versicherten das statutarisch und vertraglich gegebene Wort gehalten wird, und daß diese Kassen für die Versicherten keine Schädigung und keine Illusion, sondern eine wohlverdiente Wohlthat sind. W a s die Eisenbahnen über das Deckungskapital hinaus an diese Kassen beitragen, das verdient Dank und Anerkennung, das gewinnen sie aber wieder auf dem Lohnverhältniß und durch die Zuverläßigkeit der Arbeit. Zwischen alten und neuen Kassen kann man bezüglich der gesetzgeberischen Organisation unmöglich unterscheiden, indem man Gleichheit vor dem Gesetze schaffen muß, indem das Gesetz sonst größtenteils seinen praktischen -Werth verlieren würde, und indem alle
bestehenden Kassen in hohem Maß der Remedur bedürfen. Sämmtliche Eingaben der Eisenbahngesellschaften haben übrigens verlangt, daß man das Maximum ihrer Leistungen im Gegensatze zu denjenigen der Versicherten gesetzlich feststelle.

Wir gehen nicht so weit, es wäre dies eine Reglementirerei, welche absolut nicht für alle Fälle passen würde. Wir wollen die Bahngesellschaften unter keinen Umständen zu einer für sie unbilligen

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Leistuüg zwingen, sondera wir wollen durch Aufstellung vernünftiger Grundsätze lediglich bewirken, daß diese Hülfskassen, im I n t e r esse d e r B a h n e n , auf einer s o l i d e n und h u m a n e n Unterlage ruhen. Die Detail-Anwendung dieser Grundsätze ist dann zunächst Sache gewiegter und unparteiischer Experten.

Und dießbezüglich will Lemma i bewirken, daß die zwangsweise Versicherung für den Angestellten einen reellen Werth hat und nicht eine Zersplitterung seines ohnehin äußerst bescheidenen Einkommens ohne einen t h a t s ä c h l i c h en, 5 g0 e s i c h e r t e n Erfolg O darstellt. Dieser kategorische Imperativ des Gesetzes ist hauptsächlich gegenüber der v i e l s e i t i g an Tag getretenen Tendenz nothwendig, die Beseitigung des Hülfskassadefizits durch eine vertragswidrige Reduktion der versprochenen Leistungen zu erzielen.

Man muß eben bedenken, daß man es hier mit o b l i g a t o r i s c h e n Verhältnissen zu thun hat, welche das Lohuminimum sehr wesentlich beeinflussen. Auch darf hier nicht nur die Versicherung gegen I n v a l i d i t ä t oder A l t e r in's Auge gefaßt werden, wodurch der Geselisehift die Entlassung ausgedienter Beamten erleichtert wird, sondern mindestens ebenso wichtig ist die Lebensversicherung, wobei eben auch der die Gesellschaft belastende und die Familie sehr betrübende Fall eines f r ü h e n Todes in gerechten Betracht zu ziehen ist.

Lemma 2 soll einerseits vorbeugen, daß wegen unsolider Berechnungen die Bahngesellschaft durch notwendigen Ersatz des Deckungska,pitals zu Schaden kommt, und anderseits soll hiermit dafür Sorge getragen sein, daß die Versicherung eine r a t i o n e l l e ist und daß die den Versicherten gegebenen Versprechungen r e a l i si r t werden und nicht als eine frevelhafte Täuschung sich herausstellen. Durch dieses Lemma soll die S o l i d i t ä t dieser Hulfskassen eine keineswegs überflüssige Garantie erhalten.

Lemma 3 will dafür sorgen, daß nicht die eine Kategorie oder Altersklasse der Versicherten zu Gunsten der ändern über Gebühr belastet wird. Es soll auf keinen Fall von einzelnen Versicherten eine größere Leistung verlangt werden als der Baarwerth der endgültig zugesicherten Gegenleistung, wie derselbe nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und der Versicherungstechnik sich beziffert. Die staatliche Aufsichtsbehörde
hat Recht und Pflicht, zu verlangen, daß nicht die jünger Eintretenden auf Kosten der älter Eintretenden über Gebühr belastet werden. Und nachdem im Weitern keine speziellen Beiträge von den Bahngesellschaften gefordert werden, sollen die Gesellschaften durch ihre Statuten entweder a l l e Versicherungsklassen v e r h ä l t n i ß m ä ß i g g l e i c h

795 belasten, oder wo sie die älter Eintretenden durch arithmetische Gleichbehandlung mit den Jüngern begünstigen, da sollen sie es auf eigene Kosten thun ; mit ändern Worten, die allfälligen Beiträge der Eisenbahngesellschaft an die Hülfskasse dürfen alsdann in erster Linie nicht als ein Kollektivgeschenk für Alle, sondern als nothwendiger Ausgleich der Prämien für verschiedene Risiko's betrachtet werden. Uebrigens ist es auch Sache des Bundesrathes, bei Prüfung der Statuten dafür zu sorgen, daß für den Einzelnen und die Einzelklasse ein billiges Ebenmaß zwischen Leistung und präsumtiver Gegenleistung stattfinde. D a n n e r s t sind die Vergabungen an die Kasse f ü r A l l e eine Wohlthat.

Lemma 4 sorgt ganz allgemein dafür, daß die den Bahndienst verlassenden und damit aus dem Hülfskassaverband austretenden Mitglieder eine Abgangsentschädigung erhalten. Weil hiebei ihre Einlagen und der von der Hülfskasse getragene Risiko in vorwiegende Berücksichtigung gezogen werden sollen, so wird allerdings diese Entschädigung für die enorme Mehrzahl der bisherigen Mitglieder sich auf ein mikroskopisches Minimum beschränken. Dem Berichterstatter würde es vom Standpunkte der Billigkeit und der Humanität viel besser gefallen, wenn auch die Alimentation der Kasse durch die Gesellschaft bis auf einen gewissen Betrag zu Gunsten dieser Abgangsentschädigung in Betracht gezogen würde.

Allerdings wollte die Bahngesellschaft durch iKre Vergabungen an die Kasse ihre Angestellten an den Bahndienst fesseln, und das unliebsame Vorkommniß eines vorzeitigen Austrittes soll billigerweise auch in Erwägung fallen, aber anderseits drückt die Anwartschaft auf die Wohlthaten der Hülfskasse den Lohn herunter, und, m a t e r i e l l gesprochen, soll der t h a t s ä c h l i c h verheißene Lidlohn in k e i n e r F o r m und unter keinen Umständen vorenthalten werden. Die Ausbezahlungsquote wird so wie so klein genug ausfallen, indem eben der Risiko für die ganze Zeit der Versicherung in Abzug fällt. Dieser Abzug ist gerechtfertigt, denn es kann ja auch nicht Jemand, der aus einer Feuerversicherungsgesellschaft austritt, darum die einbezahlten Prämien zurückverlangen, weil er die Gesellschaft nie in Anspruch nahm. Die Gesellschaft würde ihm mit allem Recht antworten, daß sie den Abgebrannten nur darum volle Entschädigung bezahlen
konnte, weil sie außer den von ihnen bezahlten Prämien die von den übrigen Versicherten bezahlten auch verwenden konnte. Ueber diesen bereits getragenen Risiko hinaus hat aber das austretende Mitglied einen durchaus berechtigten Anspruch auf seinen Antheil des Deckungskapitals; bei der Invaliditäts- und Lebensversicherung wächst zudem noch der Risiko von Jahr zu Jahr, und wenn die Kasse nicht für den Bandesblatt. 41. Jahrg. Bd. III.

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k ü n f t i g e n Risiko eine angemessene Quote rückbezahlt, so erhält sie um so mehr eine absolut ungerechtfertigte Bereicherung, weil, abgesehen vom Eintrittsgeld, die Jugend für das Alter zahlte.

Vom s o z i a l e n Gesichtspunkte fallen aber für eine h i n l ä n g l i c h e Rückzahlung zwei schwer wiegende Motive in Betracht.

Wenn die Kasse nichts oder fast nichts zurückzahlt, so begründet man für die Bisenbahn-Angestellten einen Zustand halber Hörigkeit, denn entweder verlieren sie und ihre Familien alle Ansprüche auf die Pensionen oder sie sind an den Dienst der betreffenden Eisenbahngesellschaft mit eisernen Banden angekettet. Dieser Zustand absoluter Unfreiheit darf aber in einem Freistaat um so weniger geduldet werden, weil es ja sehr ehrenwerthe und zwingende Gründe, wie gesundheitliche oder familiäre Verhältnisse, zum Wohnorts- oder Berufswechsel, überhaupt zum Austritt aus dem Bahndienst geben kann. Dann muß mau aber auch bedenken, daß der Eintritt in eine andere Hülfskasse mit der Zunahme des Alters oder bei eintretender Invalidität, wenn nicht gar verunmöglicht, doch an viel härtere Bedingungen gebunden ist, und darum m u ß der Rückzahlungsbetrag als eine wenigstens theilweise Kompensation und als eine durchaus nicht überflüssige Erleichterung der Freizügigkeit von Ort zu Ort, von Hülfskasse zu Hülfskasse angesehen werden. Diese Rückzahlungspflicht wird auch von Dr. K i n k e l in sehr betont, und dadurch, daß.man bisher alle Rückzahlung ver weigerte, wurde zu Gunsten der Kassen, d. h. zu G u n s t e n d e r E i s e n b a h n e n , durch den Rückbehalt des verdienten Lohnes für die Angestellten eine unwürdige und ungerechte Zwangssituation geschaffen.

Durch Lemma 5 im Zusammenhalte mit Art. 2 wird indirekt das von der Eisenbahngesellschaft zu tragende Defizit bestimmt.

Die eidgenössische Aufsichtsbehörde kann nicht zugeben, daß ein Versicherungsuuternehmen, und zumal ein obligatorisches, einfach das gedankenlose Umlageverfahren anwendet, d. h. die einzuzahlenden Prämien beliebig, nach dem Jahresbedürfniß der betreffenden Altersklasse abstuft. Die Folge dieses durchaus verkehrten Systems wäre die, daß z. B. für die Todesversicherung der Mitglieder im Alter von 20--30 Jahren eine Prämie von l °/o der Versicherungssumme genügen könnte, daß jedoch mit zunehmendem Alter diese Prämie
auf 2, 4, 8, 10, 20 °/o und mehr gesteigert werden müßte. Das schwache Alter müßte für die rüstige Jugend zahlen. Eine rationelle Lebensversicherung stellt, schon mit Rücksicht auf den Zinszuwachs, von Anfang an für jedes Mitglied je nach seinem Eintrittsalter die Prämie so, daß sie später nicht mehr gesteigert werden muß. Wo der bisherige Irrthum ganz offenbar den Versicherten zu Gute kam,

797 da wird der Bundesrath eine b i l l i g e Mehrbelastung derselben oder eine b i l l i g e Herabsetzung ihrer Anwartschaft nicht verweigern. Aber es muß dies seine Grenzen haben. Diese Grenzen lassen sich nicht arithmetisch im Gesetz feststellen. Aber die alten Mitglieder sollen nicht mehr belastet werden dürfen, als die neuen, und für die Zukunft m ü s s e n eben a l l e Statuten auf einer r a t i o n e l l e n und g e r e c h t en Unterlage ruhen. Mehr als die neuen Mitglieder vermögen aber die alten Mitglieder nicht zu tragen. Weil sie bisher irn Verhältniß zu ihrer Anwartschaft zu wenig zahlten, so resultirt daraus für die verwaltungstechnische Bilanz allerdings ein Manco im Deckungskapital. Es ist dies aber ein thatsächlich heute schon bestehendes Defizit. Die dermalen versicherten Mitglieder haben hieraus viel weniger Gewinn gezogen als die f r ü h e r n Mitglieder und i h r e Familien, das Defizit wurde verschuldet durch die Mißrechnung der B ah n, sie hat eine unsolid konstruirte Hülfskasse ihren Angestellten oktroirt, sie hat auf dem Wege des Obligatoriums und keineswegs nur aus Gemeinsinn dieses Defizit und diesen versicherungstechnischen Anachronismus selbst verschuldet, und darum soll sie auch in i h r e m Interesse, und um das vertraglich gegebene Wort einzulösen, für die Rekonstruktion aufkommen.

D e r g e s t a l t kommen wir rasch aus ungesunden Verhältnissen auf eine gute und solide Basis.

lu Art. 2. Eine solide Versicherungsgesellschaft sichert sich bei ihrer Gründung wenigstens so viel an Einnahmen, als sie für die Versicherten auszugeben hat. Im Verlauf der Jahre werden die künftigen Einnahmen, auf ihren Baarwerth berechnet, mehr und mehr hinter dem Baarwerthe der künftigen Ausgaben zurückbleiben. Aus den anfänglichen Mehr-Einnahmen muß darum eine Prämien-Reserve (das Deckungskapital) gebildet werden, welche die künftigen Mehrausgaben ausgleicht. Deckungskapital und Baarwerth der künftigen Einnahmen müssen also allerwenigstens dem Baarwerthe der künftigen Ausgaben gleichkommen. Ohne dieses v o l l e Aequivalent haben wir die finanzielle Déroute, das Defizit.

Vom Standpunkte eines soliden Haushaltes sollte aber ein Ueberschuß des Einnahmebüdget, beziehungsweise der versicherungstechnischen Aktiven sich herausstellen. Notorisch ist nun aber bei fast allen Eisenbahn-Hülfskassen
ein Defizit vorhanden. Dessen Größe hängt ab von den Leistungen, welche die Kasse einhalten muß, im Gegensatze zu den Prämien und anderweitigen Beiträgen, welche sie den Versicherten und Bahngesellschaften zumuthet. In Art. l ist nun aber definitiv gesagt, daß den Versicherten nicht ungebührliche Leistungen zugemuthet werden dürfen. Den Rest der Last, d. h. des vorhandenen Defizits, trägt die Unternehmerin, die Eisen-

798 bahngesellschaft. D a s ist der Hauptinhalt des Avt. 2. Er will s o f o r t , d. h. bei der Statutengenehmigung, rechnerisch eine k l a r e Situation schaffen und mit der bodenlosen Wirthschaft der Defizite aufräumen. Wenn das grundsätzlich geschehen ist und wenn hiemit das Seh u Id verbal tniß der Bahn konstatirt ist, so soll sie dann nicht über ihre jeweiligen Finanzkräfte hinaus zum s o f o r t i g e n und e i n m a l i g e n Ersatz des Defizits verhalten werden. Es ist dies um so weniger nothwendig, weil ja das versicherungstechnische Defizit ein Ausgaben-Ueberschuß der Z u k u n f t ist, und weil für die künftige Zahlungsfähigkeit der Bahn eine Garantie in der Bundeskontrole über ihr Rechnungswesen liegt. Es soll also bezüglich d i e s e s Defizits gegenüber der Bahngesellschaft ganz analog verfahren werden, wie dies das Rechnungsgesetz bezüglich des successiven Ersatzes ihrer übrigen Scheinwerthe vorsieht, d. h.

ein A m o r t i s a t i o n s p l a n wird feststellen, in welchen Fristen und in welchen Raten der Ersatz erfolgen soll.

Bilanz und Statuten sind miteinander zu bereinigen, indem die revidirten Statuten auf der bereinigten Bilanz basiren müssen. Die Bilanz schließt mit der Vergangenheit ab. Die revidirten Statuten sorgen für die Zukunft. Aber immerhin bedarf es, wie in jedem soliden Haushalt, und hier in erhöhtem Maße wegen der Komplikation des Geschäftes, einer periodischen Neuberechnung der Bilan/.

Während dies bei den großen Lebensversicherungsgesellschaften alljährlich geschehen muß, wird hier, mit Rücksicht auf den geringern Umfang dieser Hülfskassen und auf den größern Mangel an Versicherungstechnikern, als Normalperiode das Lustrum vorgesehen.

Konsequentermaßen hat auch für k ü n f t i g e Defizite die Bahngesellschaft aufzukommen, wobei jedoch eine e r n e u t e Statutenrevision, d. h. eine weitere Inanspruchnahme der Versicherten, zu Vermeidung weitern Schadens, auf allseitig billigen Grundlagen und innert dem Rahmen von Art. l nicht ausgeschlossen ist.

·^ö*Art. 3 setzt den Instanzenzug, beziehungsweise das Verfahren für Wiedererwägung gegenüber dem erstmaligen Entscheide des Bundesrathes fest. Es handelt sich hierbei um jene Fragen, zu deren richtiger Lösung es gründlicher versicherungstechnischer Studien bedarf. Es handelt sich hierbei viel weniger um subtile
Rechtsfragen als um T hat fragen, die nicht durch Richter und Juristen, sondern durch Experten, d. h. durch praktische Mathematiker geregelt werden müssen. Es handelt sich um Bilanz und Statuten und überhaupt darum, was an Hand der versicherungstechnischen Rechnungsresultate billig und gerecht ist. Darum soll materiell abschließlich ein Expertenkollegium entscheiden. Bei der Zwietheilung der Stimmen soll aber derjenige Experte den Ausschlag

799 geben, welcher Vertrauensmann und Repräsentant des Bundesgerichtes ist. Es ist dies allerdings eine neue Art des Verfahrens, aber das Hauptrequisit ist hier eben die Sachkenntniß, es handelt sich, wie gesagt, nicht um juristische Deduktionen und nicht um logische Erörterung von Rechtssätzen, sondern um technische Ausmitteluug komplizirter thatsächlicher Verhältnisse. Der Instanzenzug vom Bundesrath an das Bundesgericht ist an sich auch ein staatsrechtliches Kuriosum, und er ist im Eisenbahnrechnungsgesetze zweifellos hauptsächlich darum vorgesehen worden, weil dort bei Richtigstellung der Jahresbilanzen, mit Rücksicht auf das Rückkaufsrecht des Bundes, auch fiskalische Interessen in Betracht fallen.

In unserm Entwurfe mag zunächst auffallen, daß die Rekurspartei im Expertenkollegium ein Mitspracherecht besitzt. Das wird zu einer gründlichen Würdigung der Rekurs-Motive beitragen. Das Schwergewicht liegt so wie so in der Hand des vom Bundesgerichte erwählten Fachmannes. Das Gegengewicht gegenüber der Rekurspartei übt der Vertreter des Bundesrathes, zumal Derselbe zweifellos schon auf den rekurrirten bundesräthlichen Entscheid einwirkte.

Und überdies ist die Möglichkeit in keiner Weise ausgeschlossen, daß beide Parteien wenigstens eventuell den Rekurs ergreifen, und daß sonach die Vertrauensmänner beider Parteien im Expertenkollegium vertreten sind. Das Letztentscheidungsrecht aber Hegt, nach Würdigung dieses fachmännischen Gutachtens, so wie so in der Hund des Bundesrathes. Für diese f a c h m ä n n i s c h e Instanz spricht zumal der Umstand, daß diese thatsächlich und mathematisch manchmal keineswegs so liquiden Fragen einer allseitig gediegenen Prüfung unterworfen werden, und daß sodann dieser fachmännische Entscheid keineswegs nur Orientirung für den Einzelfall, sondern g r u n d s ä t z l i c h e , p r ä j u d i z i e l l e Wegleitung gewährt. -- Für alle Entscheide, wo es sich mehr um Fragen von Mein und Dein handelt, bleibt selbstverständlich der Richter vorbehalten, wobei nur in Frage kommen kann, ob derselbe ein statutengemäßes Schiedsgericht oder der ordentliche Richter ist. Die außerordentliche Austrägalinstanz wird eben nur vorgesehen für die Anwendung von Art. l und 2, also für mehr allgemeine versicherungstechnische Fragen der Organisation und Rekonstruktion.

Art. 4 handelt von
den einfachen arithmetischen Jahresrechnungen im Gegensatze zu den periodischen versicherungstechnischen Bilanzen. Es sind selbstverständlich auch erstere, infolge des staatlichen Oberaufsichtsrechtes, dem Bundesrathe zur Einsicht und zur Prüfung vorzulegen.

Ein allfälliger Einnahme-Ueberschuß soll in erster Linie dazu dienen, die Reserve (das Deckungskapital) auf der erforderlichen

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Höhe zu erhalten. Es ist hiermit der Bahngesellschaft am besten selbst gedient, welche sonst für das fehlende Deckungskapital aufzukommen hätte. Aus einem weitern Uebersehusse ist eine Speziaireserve für Unvorhergesehenes, also zunächst für Defizite, anzulegen, welche daraus sich ergeben können, daß infolge außerordentlicher Eventualitäten künftige Rechnungsabschlüsse sich ungünstiger gestalten , als eine an sich korrekte Wahrscheinlichkeitsberechnung vorgesehen hatte. Ueberhaupt darf diese Mehreiunahme der Kasse nicht entfremdet u n d m u ß i m k ü n f t i g e n I n t e r e s s e d e r V e r s i c h e r t e n v e r w e n d e t w e r d e n . Sie hatte ja auch zumeist ihren Grund in den Einzahlungen und in den geringen Forderungen der Versicherten, und die wohlverstandenen Interessen der Versicherten sowie der Bahngesellschaft reichen sich so wie so die Hand. Darum darf man auch mit Fug und Recht, bei sonst durchschnittlich normaler Alimentation der Kasse, vermehrte Benefizien für die Versicherten in's Auge fassen. Es dürfte Letzteres sehr oft keineswegs überflüssig sein.

Art. 5 verpflichtet die Bahn zu sicherer Anlage der Kassagelder und macht sie für allfällige Verluste haftbar. Es ist diese Vorschrift nur eine konsequentere und effektvollere Ausführung des Gedankens, welcher dem Gesetze vom 20. Christmonat 1878 zu Grunde lag. Dieses Gesetz verlangt nämlich, daß die Hülfskasseu vom Vermögen der Bahngesellschaft ausgeschieden und getrennt verwaltet werden, eventuell räumt es für sie das Vindikationsrecht im Konkurse der Bahngesellschaft ein. Solchartige Vindikationsrechte sind aber auch bekanntermaßen oftmal illusorisch. Das Gesetz vom Jahre 1878 verleiht den Kassen den Charakter einer juristischen Person, aber sie sind und bleiben, wenn auch rechtlich separirt, unter der Administration der Bahn. Darum- trägt die Bahn mit vollem Fug für die sichere Anlage der Gelder nicht nur die moralische, sondern auch die materielle Haftpflicht. Es ist dieselbe schon ein logischer Ausfluß ihrer Haftpflicht für das fehlende Deckungskapital. Als anvertrautes Gut soll die Geschäftsführerin für den sichern Verwahr und die solide Anlage dieser Gelder die Sorgfalt eines bonus pater familias verwenden, ja, nach Analogie des gemeinen Rechtes, wäre sie vermöge der Natur und Zweckbestimmung dieser Gelder auch für levis
culpa haftbar. In ändern Staaten ist vorgesehen, daß solche Gelder nur wie Pupillengelder angelegt und verwaltet werden dürfen. Wir haben nun über das Pupillengut keine bundesgesetzlichen Bestimmungen, aber es liegt im Wortlaut und in der entschiedenen Tendenz des von uns vorgeschlagenen Artikels, daß es der Richter mit einer g a n z s o l i d e n Anlage und mit der diesbezüglichen Haftpflicht e r n s t nimmt. Wenn

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man bedenkt, daß viele solcher Hiilfskassagelder in Eisenbahnpapieren und verwandten Valoren veranlagt sind, welche heftigen Börsenschwankungen und gefährlichen Velleitäten unterliegen, so kann eine energische gesetzgeberische Vorsorge für dieses in Drittmanns Hand befindliche Pekulium der Arbeit und der Noth keineswegs als überflüssig angesehen werden. Ohne diese rechtliche Verantwortlichkeit der Bahnen wäre aber in Zukunft die eidgenössische Aufsichtsbehörde moralisch verantwortlich, und . da ist denn doch die Haftpflicht des zunächst interessirten Depositars und Verwalters naturrechtlich weit besser motivili.

Zu Art. 6. Gemäß Art. 10 u. 39 des Eisenbahngesetzes vom 22. Christmonat 1872 darf weder eine Konzession in ihrer Gesammtheit noch dürfen einzelne in derselben enthaltene Rechte oder Pflichten in irgend welcher Form an einen Dritten übertragen werden -- ohne ausdrückliche Genehmigung des Bundes, d. h. der Bundesversammlung. Damit hat es die Bundesversammlung allerdings in der Hand, bei einem Betriebs- oder Besitzwechsel der Baiin die Rechte der Versicherten zu wahren. Sie kann aber diesbezüglich keineswegs mit den ganz nothwendigen Details sich befassen.

D a s ist überhaupt Sache des B u n d e s r a t h e s , und d a s wird dem Bundesrathe hier speziell zur Pflicht gemacht. Und es wird seine Pflicht und sein Recht hier um so mehr betont, weil die Behauptung des Bundesrathes, daß bei einem Eigenthums- oder Betriebswechsel der Bahn die Antheilrechte des Dienstpersonals an den Hülfskassen gewahrt sein müssen, seltsamer Weise durch die Präsidialverwaltung der schweizerischen Eisenbahnkonferenz zuschriftlich bestritten worden ist. Wir lebten bisan des naiven Glaubens, daß eine Universalsuccession nicht anders erfolgen könne, als daß der Rechtsnachfolger auch alle, vermögensrechtlichen Verpflichtungen seines Rechtsvorgängers übernehme. Gegenüber den von den Bahngejellschaften ausgesprochenen Ansichten erscheint es überhin auch nothwendig, zu erklären, daß die Versicherten bei Liquidation einer Hülfskasse das Anrecht auf das gemäß Art. 2 unseres Gesetzentwurfes e r g ä n z te Vermögen haben. Dieser vorgängige Ersatz des versicherungstechnischen Defizits ist nach dem ganzen Tenor unserer Gesetzvorlage eben nur ein Debitum der Kasse. Das derart zunächst ergänzte Vermögen ist sodann nach dem
Verhältniß der rechnungsmäßigen Reserve der einzelnen Versicherten unter dieselben zu vertheilen.

Uebrigens liegt es keineswegs im Beruf einer Pensionskasse, daß sie liquidirt werde, und es ist damit in der Regel dem wohlverstandenen Interesse der Versicherten und ihrer Familien sehr schlecht gedient. Darum soll auch eine Hülfskasse nur dann liquidirt werden,

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wenn eine Bahngesellschaft in Konkurs fällt, und wenn sich vorläufig Niemand zu deren Uebernahme meldet. Bei Fortsetzung des Betriebes durch einen Pächter oder Käufer soll der Bundesrath für Aufrechthaltung der in Kraft bestehenden Versicherungsverträge sorgen. -- Da die Versicherung der Angestellten nicht gesetzliche Pflicht einer Bahngesellschaft ist, so kann letztere zwar auch ohne Haadänderung den Beschluß fassen, keine neuen Versicherungsverträge abzuschließen, gegenüber den bereits Versicherten ist sie jedoch zu Erfüllung der Verträge bis zu deren gänzlichem Auslauf verpflichtet, und hievon kann sie sich auch nicht durch Verkauf oder Verpachtung der Bahn befreien, sondern sie m u ß auch in d i e s e m Falle, Hand in Hand mit der Rechtsnachfolgerin, und nach näherer Wegleituug der zuständigen eidgenössischen Organe, für Austragung der bestehenden Verträge aufkommen und hiefür die nothwendige Gewähr leisten. -- Tit! Die Vielgestaltigkeit des zu behandelnden Postulates und die soziale Wichtigkeit der Frage möge die Ausdehnung unseres inhaltlich keineswegs erschöpfenden Berichtes entschuldigen. Es ist ein großes Glück, daß die Eidgenossenschaft in intensiver Weise mit den sozialen Fragen sich befaßt. Es ist dies nicht nur der beste Blitzableiter für die parteipolitischen Leidenschaften, und es öffnet sich hiemit nicht nur das fruchtbarste Feld zu gemeinsamer Arbeit für Volk und Vaterland, sondern es liegt hierin das beste und einzige Mittel, sozialer Unzufriedenheit und sozialen Gefahren vorzubeugen. Wollen wir in That und Wahrheit ein Kulturstaat und ein Freistaat sein, soll überhaupt unsere Volksbildung, unsere Volkssitte und unsere Volksfamilie einen guten Namen und eine reale Unterlage haben, dann m ü s s e n wir mit allen berechtigten Mitteln denjenigen Kreisen unseres Volkes, welchen der physisch mühevollste Theil der nationalen Arbeit obliegt, und welche durchschnittlich mit allem Schweiß für Alter und Familie sich kein Kapital ansammeln können, zu einer möglichst gesicherten, menschenwürdigen Existenz verhelfen. Der Beruf aller gesunden Sozialpolitik liegt in der Versöhnung von Kapital und Arbeit auf dem Boden des materiellen Rechtes durch einen wahrhaft ethischen, christlich humanitären Ausbau der staatlichen Gesellschaft. Alles fördert Wohlfahrt, Freiheit und Ehre von Volk und Vaterland,
was den heidnisch strammen Rechtsbegriff im Sinne des christlichen Ethos und der christlichen Liebe mildert und veredelt, und was damit den Klassenhaß verringert und der Atomisirung der Gesellschaft steuert. Die Assoziation und damit die progressive Machtentwickelung des Kapitals feierte im Guten und Schlimmen ihre größten Triumphe in der von der persönlichen Verantwortlichkeit

803 emanzipirten Aktiengesellschaft, zumal in ihrer Allianz mit den technisch und wissenschaftlich ausgebeuteten Elementarkräften der Natur. Nur Blindheit und Undank verkennen die welthistorischen Fortschritte, welche hiedurch für die Annehmlichkeit und den geistigen Reichthum des Lebens, überhaupt für die Civilisation errungen wurden, sowie die monumentalen und die durch ihr stilles Wirken edlern Werke der Menschenliebe, welche die versöhnenden und schönsten Früchte des Reichthums sind. Nur Blindheit und Undank verkennen aber auch den Ungeheuern Beitrag, welchen der kapitallose Mann zum Ehrentempel der nationalen Arbeit beiträgt. Auch für den mit reifer Intelligenz und tüchtiger Willenskraft begabten Mann ist dies, gemäß dem ehernen Gesetz von Lohn und minimalem Lebensbedürfniß, fast die Arbeit des Sisyphus der alten Mythe, aber dieses enterbte Volk der Arbeit wölbt mit dem Schweiß auf seiner Stirn und mit den Schwielen an seiner Hand Stein auf Stein zum Bau der Landeswohlfahrt und der Landesehre. Gegen sittliche und soziale Verführung und Verlotterung ist neben dem christlichen Gewissen die mächtigste Waffe die redliche, angestrengte, aber auch verständiglohnende Arbeit. Diese Arbeit muß, soll sie nicht Sklavendienst, sondern die würdige Thal des freien Mannes sein, ihren Adelsbrief durch den Hinblick auf das Evangelium erhalten. Das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserm Volke macht sich viel weniger an unscra zahllosen Festanlässen als durch zwei hocherhebende Manifestationen geltend, erstens dadurch, wie bei jeder Landesnoth das gesammte Schweizervolk zu Einern Hülfsvereine sich gestaltet, und zweitens durch die Masse von Hülfsverbänden, welche recht eigentlich im treuen, inittheilsarnen Volksherzen und in der hochverständigen Vorsorge für Tage eigener und familiärer Noth ihr edles Erdreich haben. Diese Reichgestaltigkeit der Hülfsverbände ist aber auch ein urkundlicher Beweis dafür, wie der einzelne gemeine Mann im Kampf urn's Dasein gegenüber der konzentrirten Macht des Kapitals sich ohnmächtig und vereinsamt fühlt. Wenn die Eidgenossenschaft ihrem Namen treu verbleiben will, so m u ß sie dieser g r ö ß e r n Hülfsverbände sich annehmen, und wie aus den mittelalterlichen Handwerkerinnungen in unsern Städten mit der Veredelung der Arbeit und mit dem gesellschaftlichen Kraftbewußtsein die
politische Freiheit emporblühte, so muß in den thunlichst freithätigen aber richtig und gründlich organisirten Hülfsverbänden ein großes Stück sozialer Lebenskraft nothwendigen Schirm und weise Förderung erhalteo. Die Eidgenossenschaft hat aber noch einen besondern Grund, hier einzugreifen, weil- in der Prüfung dieser Fragen die beste praktische Schule für eine ihrer Lebensaufgaben, für die obligatorische Kranken- und Unfallversicherung,

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sich findet. D a s ist dann allerdings, w e i s e und t h u n l i c h s t f r e i h e i t l i c h organisirt, ein sehr energischer nationaler Wehrverband gegen den Pauperismus und gegen sozialistische Gefahren.

Aber alle Staatsweisheit und alle sozialistischen Probleme könnten den Kern aller Zufriedenheit und Opferkraft, die christliche Liebe, ewig nie ersetzen.

Ich schließe mit dem Wunsche, es möge unser Land nicht nur durch seine wohlgeordneten demokratischen Institutionen und durch die Versöhnung der nationalen und politischen Gegensätze, sondern auch dadurch die beste Allianz in der Sympathie der Völker sich bewahren, daß es in Hochhaltung der sittlichen Prinzipien im Volksleben den Respekt vor dem Eigenthum und vor dem redlichen Erwerb mit der thatkräftigsten Vorsorge für die Noth vermählt, und daß überhaupt der verständige Schweizersinn und das treue Schweizerherz durch gründliche Lösung der sozialen Fragen manch' ehrenhaftes Blatt in die Geschichte des Vaterlandes schreibt.

Dann findet unser Schweizervolk in seinem Zusammengehörigkeitsgefühl und in der Achtung der Nationen jene Kraft und jene charakterfeste Ruhe, mit welcher es fest und würdig über jeden Interventionsversuch in seinen freien, souveränen Haushalt zur Tagesordnung schreitet.

B e r n , den 11. Juni 1889.

Im Namen der ständeräthlichen Kommission, -> Der B e r i c h t e r s t a t t e r :

Theodor Wirz.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht der ständeräthlichen Kommission betreffend die gegenseitigen Hülfsgesellschaften und insbesondere die Eisenbahnpensionskassen. (Vom 11. Juni 1889.)

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06.07.1889

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10 014 462

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