BBl 2022 www.bundesrecht.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

zu 18.475 Parlamentarische Initiative Beschleunigung des Verfahrens bei der Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarf des Vermieters oder seiner Familienangehörigen Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 18. August 2022 Stellungnahme des Bundesrates vom 19. Oktober 2022

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 18. August 20221 betreffend die parlamentarische Initiative 18.475 «Beschleunigung des Verfahrens bei der Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarf des Vermieters oder seiner Familienangehörigen» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

19. Oktober 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

1

BBl 2022 2102

2022-3371

BBl 2022 2623

BBl 2022 2623

Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 12. Dezember 2018 reichte der damalige Nationalrat Giovanni Merlini die parlamentarische Initiative 18.475 «Beschleunigung des Verfahrens bei der Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarf des Vermieters oder seiner Familienangehörigen» ein. Mit der parlamentarischen Initiative wurde die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfes zur Änderung des Obligationenrechts (OR)2 und/oder der Zivilprozessordnung (ZPO)3 gefordert. Dadurch soll die durchschnittliche Verfahrensdauer bei der Kündigung des Mietverhältnisses gestützt auf die Geltendmachung von Eigenbedarf gemäss den Artikeln 261 Absatz 2 Buchstabe a, 271a Absatz 3 Buchstabe a und 272 Absatz 2 Buchstabe d OR im Vergleich zur heutigen Situation in signifikanter Weise reduziert werden. Erstens soll der Gesetzesentwurf die von der Rechtsprechung angewandten Voraussetzungen für die Anerkennung der Dringlichkeit des Eigenbedarfs im Sinne der erwähnten OR-Bestimmungen lockern. Zweitens soll der Gesetzesentwurf bei der Kündigung des Mietverhältnisses ein summarisches Verfahren vorsehen.

Dessen Fristen sollen die Erledigung von zivilrechtlichen Streitigkeiten innerhalb eines angemessen kurzen Zeitraums sicherstellen. Dies kann nach der Auffassung des Urhebers auch durch eine Begrenzung der Rechtsmittel realisiert werden.

Die parlamentarische Initiative wurde am 5. Dezember 2019 von Nationalrätin Christa Markwalder übernommen.

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) hat der parlamentarischen Initiative am 14. November 2019 mit 18 zu 6 Stimmen Folge gegeben. Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S) stimmte diesem Beschluss am 10. August 2020 mit 8 zu 5 Stimmen zu.

Die RK-N hat die Arbeiten an der Umsetzung der parlamentarischen Initiative sowie drei weiterer parlamentarischer Initiativen (15.455 Egloff «Missbräuchliche Untermiete vermeiden», 16.458 Vogler «Keine unnötigen Formulare bei gestaffelten Mietzinserhöhungen» und 16.459 Feller «Mietvertragsrecht. Auf mechanischem Wege nachgebildete Unterschriften für zulässig erklären») an ihrer Sitzung vom 5. Februar 2021 aufgenommen. Dabei hat sie entschieden, die vier parlamentarischen Initiativen in einem einzigen Verfahren umzusetzen, aber in drei Entwürfen. Zu den Vorlagen betreffend die Kündigung wegen Eigenbedarfs und die Untermiete gab es mehrere Minderheitsanträge.
Damit war die Grundlage geschaffen, um eine Vernehmlassung zu drei separaten Vorentwürfen durchführen zu können. Am 6. September 2021 eröffnete die RK-N die Vernehmlassung zu den Vorentwürfen in Umsetzung der vier parlamentarischen Initiativen. Bis zum Ablauf der Vernehmlassungsfrist am 6. Dezember 2021 sind insgesamt 64 Antworten eingegangen, wovon 60 eine inhaltliche Stellungnahme enthielten.

Zur Vorlage betreffend die Kündigung wegen Eigenbedarfs haben sich insgesamt 49 Vernehmlassungsteilnehmer geäussert. 16 Stellungnahmen enthielten positive 2 3

2/6

SR 220 SR 272

BBl 2022 2623

Äusserungen, in drei Antworten wurde eine neutrale Haltung ausgedrückt und in 30 Rückmeldungen wurde die Ablehnung mitgeteilt.

Zu Artikel 261 Absatz 2 Buchstabe a OR («Wechsel des Eigentümers ­ Veräusserung der Sache») sind insgesamt fünfzehn Stellungnahmen eingegangen. Zwölf Antworten enthielten positive Würdigungen, während in drei Rückmeldungen eine ablehnende Einschätzung zum Ausdruck gebracht wurde. Zum Minderheitsantrag haben sich insgesamt zwölf Vernehmlassungsteilnehmer geäussert. Zehn Stellungnahmen enthielten eine Ablehnung und zwei eine Zustimmung.

Insgesamt sechzehn Vernehmlassungsteilnehmer haben eine Stellungnahme zu Artikel 271a Absatz 3 Buchstabe a OR betreffend die Anfechtbarkeit der durch den Vermieter ausgesprochenen Kündigung eingereicht. Zwölf Antworten haben sich positiv geäussert, während in vier Rückmeldungen eine ablehnende Haltung ausgedrückt wurde. Von den insgesamt zwölf Antworten zum Minderheitsantrag enthielten elf eine Ablehnung, eine die Zustimmung.

Insgesamt 19 Vernehmlassungsteilnehmer haben sich zu Artikel 272 Absatz 2 Buchstabe d OR betreffend die Erstreckung des Mietverhältnisses geäussert. Elf Stellungnahmen enthielten eine positive Würdigung, während acht Antworten eine ablehnende Einschätzung zum Ausdruck brachten. Zum Minderheitsantrag sind insgesamt dreizehn Rückmeldungen eingegangen. In zwölf Fällen wurde eine ablehnende Meinung und in einem Fall eine zustimmende Auffassung mitgeteilt.

An ihrer Sitzung vom 8. April 2022 nahm die RK-N die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis und veröffentlichte den Bericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung. Nach der Detailberatung der Artikel 261 Absatz 2 Buchstabe a, 271a Absatz 3 Buchstabe a und 272 Absatz 2 Buchstabe d OR am 23. Juni 2022 verabschiedete die RK-N die Vorlage zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative ohne Änderungen mit 14 zu 9 Stimmen zuhanden des Rates. Eine Minderheit4 beantragt ihrem Rat Nichteintreten. Zu den Artikeln 261 Absatz 2 Buchstabe a, 271a Absatz 3 Buchstabe a und 272 Absatz 2 Buchstabe d OR beantragt eine Minderheit5, die Voraussetzungen, unter denen sich die Vermietenden bei der Kündigung des Mietverhältnisses über Wohn- und Geschäftsräume und im Zusammenhang mit der Interessensabwägung bei der Erstreckung auf den Eigenbedarf stützen können, strenger zu formulieren.
In der Folge hat die RK-N an der Sitzung vom 18. August 2022 den vorliegenden Erlassentwurf und Bericht6 verabschiedet. Gestützt auf Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20027 wurden Erlassentwurf und Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme überwiesen.

4 5 6 7

Dandrès, Arslan, Brenzikofer, Fehlmann Rielle, Funiciello, Hurni, Mahaim, Marti Min Li, Walder.

Minderheit betreffend alle drei Bestimmungen: Dandrès, Arslan, Brenzikofer, Fehlmann Rielle, Funiciello, Hurni, Mahaim, Marti Min Li, Walder.

BBl 2022 2102 SR 171.10

3/6

BBl 2022 2623

2

Stellungnahme des Bundesrates

Die parlamentarische Initiative 18.475 sieht Probleme im Zusammenhang mit den Anforderungen für die erfolgreiche Geltendmachung des dringenden Eigenbedarfs durch die Vermieterinnen und Vermieter sowie mit der durch die gewährten Rechtsmittel verlängerten Dauer bis zur Auflösung des Mietverhältnisses. Vor diesem Hintergrund sollen mit der vorliegenden Revsion die Durchsetzung von Kündigungen wegen Eigenbedarfs erleichtert und die Interessenabwägung bei der Erstreckung geändert werden.

Die Kündigung wegen Eigenbedarfs steht vor dem Hintergrund der in Artikel 26 der Bundesverfassung (BV)8 verankerten Eigentumsgarantie. Gleichzeitig erlässt der Bund gestützt auf Artikel 109 Absatz 1 BV unter anderem Vorschriften über die Anfechtbarkeit missbräuchlicher Kündigungen und die befristete Erstreckung von Mietverhältnissen. Die parlamentarische Initiative und der Erlassentwurf verlangen Anpassungen unter anderem im Bereich der Anfechtbarkeit der Kündigungen und der Erstreckung des Mietverhältnisses. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Thematik der Durchsetzung des Eigenbedarfs kein gesetzgeberisches Eingreifen rechtfertigt beziehungsweise ein solches unverhältnismässig wäre. Der Erlassentwurf verbessert zwar die Position der Vermieterinnen und Vermieter, enthält aber gleichzeitig einen Eingriff in die Rechte der Mieterinnen und Mieter. Mit Blick auf die verfassungsmässigen Grundlagen und das mietrechtliche System erscheint dieser Eingriff nicht gerechtfertigt. Der Bundesrat sieht aber auch keinen Anlass für ein gesetzgeberisches Tätigwerden im Sinne der Minderheiten zu den Artikeln 261 Absatz 2 Buchstabe a, 271a Absatz 3 Buchstabe a und 272 Absatz 2 Buchstabe d OR.

Ausgangspunkt für die Auslegung der Artikel 261 Absatz 2 Buchstabe a und 271a Absatz 3 Buchstabe a OR durch die Praxis ist die Formulierung des dringenden Eigenbedarfs. Das Bundesgericht hat zum Wortlaut des dringenden Eigenbedarfs eine Praxis entwickelt, welche seit mehreren Jahren besteht. Bereits im Urteil BGE 118 II 50 vom 21. Januar 1992 wurde festgehalten, dass das Erfordernis der Dringlichkeit nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern auch sachlich zu verstehen ist (E. 3. d) S. 55).

Diese Praxis hatte Bestand.9 Die höchstrichterliche Rechtsprechung sah damit bisher keinen Anlass für eine Praxisänderung. Die rechtlichen Grundlagen vor
dem Inkrafttreten des heute geltenden Mietrechts enthielten den Begriff des Eigenbedarfs nur im Zusammenhang mit der Erstreckung.10 Der Eigenbedarf fand im Rahmen der parlamentarischen Beratungen Eingang in den Wortlaut der Artikel 261 Absatz 2 und 271a Absatz 3 OR.11 Diskussionen gab es im Zusammenhang mit der Frage, ob der Eigenbedarf als solcher genügen sollte oder ob ein dringender Eigenbedarf verlangt werden sollte.12 Das geltende Recht basiert auf einer im Rahmen einer grösseren Revision erfolgten Abwägung der Interessen von Vermietenden und Mietenden. Die Beratungen zur Frage der Dringlichkeit zeigen die Anstrengungen, eine Lösung zu finden,

8 9 10 11 12

4/6

SR 101 Vgl. z. B. die Urteile des Bundesgerichts 4A_16/2016 vom 26. Aug. 2016 E. 2.4.1 und BGE 142 III 336 E. 5.2.3 S. 341.

BGE 118 II 50 E. 3. b) S. 54.

Vgl. z. B. AB 1988 S 175; AB 1989 N 539.

AB 1989 N 539 Votum Gysin.

BBl 2022 2623

welche sämtliche Anliegen wahrt. Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass im Rahmen einer punktuellen Revision nicht zulasten einer Vertragspartei in das diffizile Gleichgewicht eingegriffen werden sollte. Die Interessen der Vermietenden sind im Rahmen einer Abwägung nicht in einer Weise als schwerwiegender zu gewichten als die Interessen der Mietenden.

Nach dem früheren Recht war der Eigenbedarf ein absoluter Ausschlussgrund für eine Erstreckung des Mietverhältnisses.13 Artikel 272 Absatz 2 Buchstabe d OR ist ebenfalls als Ergebnis einer Interessensabwägung zu verstehen. Der Bundesrat sieht keinen Anlass, um in das Gleichgewicht einzugreifen.

Neben dem legitimen Interesse der Vermietenden, ihr Eigentum bei dringendem Eigenbedarf rasch wieder nutzen zu können, sind auch die Interessen der Mietenden von Wohn- und Geschäftsräumen zu berücksichtigen. Die Kündigung des Mietverhältnisses stellt einen Eingriff mit zum Teil schwerwiegenden Auswirkungen dar. Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt, dass die Mietenden insbesondere bei Zweifeln an der Rechtmässigkeit der Kündigung Rechtsmittel zur Verfügung haben. Bereits im Zeitpunkt der Mietrechtsrevision wurde anerkannt, dass der Eigenbedarf in gewissen Fällen vorgeschoben werden kann. Vor diesem Hintergrund wurde der Eigenbedarf in Artikel 272 OR nicht mehr als absoluter Ausschlussgrund verstanden.14 Der Bundesrat kann Regelungen, welche die Position der Mietenden wieder schwächen, nicht zustimmen.

In der Vernehmlassung war die Vorlage umstritten. Insgesamt kann den Stellungnahmen entnommen werden, dass die vorgeschlagenen Regelungen entweder zu wenig weit gehen oder zu weit gehen.15 Den Bedenken der Vernehmlassungsteilnehmer ist Rechnung zu tragen, auch wenn der Bundesrat nicht sämtliche geäusserten Einschätzungen teilt. Die Polarisierung in der Vernehmlassung spricht gegen eine Anpassung der Regelungen zum Eigenbedarf.

Die bereits im Bericht der RK-N vom 18. August 2022 erwähnte hohe Einigungsquote vor den Schlichtungsbehörden bei ordentlichen Vertragskündigungen, ausserordentlichen Vertragskündigungen und Verfahren zur Erstreckung des Mietverhältnisses lässt auch die Schlussfolgerung zu, dass die geltenden Bestimmungen ausreichend Raum für Lösungen bieten, welche von beiden Vertragsparteien getragen werden. Vor diesem Hintergrund sollte nicht ohne Not eine Änderung des geltenden Rechts herbeigeführt werden.

3

Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt Nichteintreten auf den Erlassentwurf der RK-N.

13 14 15

BGE 118 II 50 E. 3. b) S. 54.

AB 1989 N 539 Votum BR Koller.

Der Bericht vom 8. April 2022 über Ergebnisse der Vernehmlassung ist abrufbar unter www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > Vernehmlassung 2021/91 > Ergebnisbericht.

5/6

BBl 2022 2623

6/6