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22.065 Botschaft zum Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts vom 12. Oktober 2022

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf des Bundesgesetzes über das Verbot der Verhüllung des Gesichts.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

12. Oktober 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2022-3280

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Übersicht Das Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts konkretisiert Artikel 10a der Bundesverfassung. Es dient der landesweit einheitlichen Umsetzung des Verbots der Verhüllung des eigenen Gesichts und stellt insbesondere sicher, dass Gesichtsverhüllungen zur Wahrung persönlicher Schutzbedürfnisse weiterhin erlaubt sind.

Ausgangslage Am 7. März 2021 nahmen Volk und Stände die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» an. Damit wurden die Artikel 10a und 197 Ziffer 12 neu in die Bundesverfassung aufgenommen. Artikel 10a der Bundesverfassung verbietet die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum und an Orten, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden.

Die Verfassungsbestimmung ist aber nicht unmittelbar anwendbar. Sie muss auf Gesetzesstufe umgesetzt werden.

Inhalt der Vorlage Der Bundesrat unterbreitet dem Parlament eine Umsetzungsvorlage in Form des eigenständigen Bundesgesetzes über das Verbot der Verhüllung des Gesichts (BVVG).

Er stützt sich dabei auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Gebiet des Strafrechts nach Artikel 123 Absatz 1 der Bundesverfassung.

Keine Anwendung findet das Gesetz an Bord von zivilen Luftfahrzeugen im In- und Ausland sowie in Räumlichkeiten, die dem diplomatischen und konsularischen Verkehr dienen oder von institutionellen Begünstigten nach Artikel 2 Absatz 1 des Gaststaatsgesetzes vom 22. Juni 2007 (SR 192.12) für dienstliche Zwecke benutzt werden (Art. 1 Abs. 2 Bst. a und b BVVG).

Das Verbot ist als Übertretungstatbestand definiert (Art. 2 Abs. 1 BVVG). Ausnahmen gelten für Gesichtsverhüllungen: ­

in Sakralstätten (Art. 2 Abs. 2 Bst. a BVVG);

­

für den Schutz und die Wiederherstellung der eigenen Gesundheit oder der Gesundheit von Dritten (Art. 2 Abs. 2 Bst. b BVVG);

­

für die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit (Art. 2 Abs. 2 Bst. c BVVG);

­

für den Schutz vor klimatischen Bedingungen (Art. 2 Abs. 2 Bst. d BVVG);

­

für die Pflege des einheimischen Brauchtums (Art. 2 Abs. 2 Bst. e BVVG);

­

für künstlerische und unterhaltende Darbietungen (Art. 2 Abs. 2 Bst. f BVVG);

­

für Werbezwecke (Art. 2 Abs. 2 Bst. g BVVG);

Sofern die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigt werden, kann die zuständige Behörde Gesichtsverhüllungen an öffentlichen Orten bewilligen, wenn sie zur Ausübung der Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit

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notwendig sind oder wenn es sich dabei um eine bildliche Meinungsäusserung handelt (Art. 2 Abs. 3 BVVG).

Artikel 3 BVVG sieht einen maximalen Strafrahmen von 1000 Franken Busse vor. Die Strafverfolgung obliegt den Kantonen. Mit Artikel 4 BVVG wird das Ordnungsbussenverfahren eingeführt. Es ermöglicht eine einfache und rasche Erledigung von Verstössen gegen das Gesichtsverhüllungsverbot und reduziert den Vollzugsaufwand für die Kantone. In der Ordnungsbussenverordnung vom 16. Januar 2019 (SR 314.11), die der Bundesrat auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des BVVG anpassen wird, soll ein Bussenbetrag von 200 Franken vorgesehen werden. Damit kann auch dem eher geringen Unrechtsgehalt eines Verstosses gegen das Gesichtsverhüllungsverbot Rechnung getragen werden.

Mit der Vorlage werden die zwei grundlegenden Ziele von Artikel 10a der Bundesverfassung landesweit einheitlich umgesetzt. Zum einen sollen sich die Menschen im öffentlichen Raum und an Orten, die der Allgemeinheit zur Nutzung offenstehen, mit offenem Gesicht begegnen. Zum anderen soll das Verbot dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienen, indem Vermummungen an Auftritten und Versammlungen im öffentlichen Raum nicht missbraucht werden können, um anonym Straftaten zu begehen oder sich der Strafverfolgung zu entziehen. Der detaillierte Ausnahmekatalog in Artikel 2 BVVG stellt aber auch sicher, dass Gesichtsverhüllungen zur Wahrung persönlicher Schutzbedürfnisse weiterhin erlaubt sind. Artikel 10a der Bundesverfassung und seine Umsetzung dürfen nämlich nicht isoliert von anderen Verfassungsnormen, namentlich den Grundrechtsgarantien, betrachtet werden.

Das BVVG regelt die Strafbarkeit der Gesichtsverhüllung an öffentlichen oder privaten Orten, die der Allgemeinheit zur Nutzung offenstehen, umfassend. Stehen kantonale Regelungen im Widerspruch zur Bundesregelung, geht das Bundesrecht aufgrund seiner derogatorischen Kraft vor. Das gilt namentlich für kantonale Regelungen des Vermummungsverbots.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

Ausgangslage 1.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.2 Umsetzung durch den Bund 1.3 Ziele des Gesichtsverhüllungsverbots 1.3.1 Begegnung mit offenem Gesicht 1.3.2 Vermummungsverbot 1.4 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

7 7 7 8 9 10

2

Vernehmlassungsverfahren

11

3

Rechtsvergleich 3.1 Frankreich 3.2 Belgien 3.3 Österreich 3.4 Dänemark

12 12 13 13 14

4

Grundzüge der Vorlage 4.1 Beantragte Regelung 4.2 Kompetenzgrundlage 4.3 Umsetzung in einem eigenständigen Gesetz 4.4 Anwendungsbereich des Gesichtsverhüllungsverbots

14 14 15 17 19

5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln 5.1 Gegenstand und Geltungsbereich des Gesichtsverhüllungsverbots (Art. 1 BVVG) 5.1.1 Keine Anwendung an Bord von zivilen Luftfahrzeugen (Art. 1 Abs. 2 Bst. a BVVG) 5.1.2 Keine Anwendung in diplomatischen und konsularischen Räumlichkeiten und Räumlichkeiten gemäss GSG (Art. 1 Abs. 2 Bst. b BVVG) 5.2 Definition der Gesichtsverhüllung 5.3 Zugänglichkeit für die Allgemeinheit (Art. 2 Abs. 1 BVVG) 5.3.1 Nicht vom Verbot erfasst: privater Raum 5.3.2 Fahrzeuge und Transport 5.3.2.1 Öffentlicher Verkehr 5.3.2.2 Allgemein nutzbare private Transportmittel 5.3.2.3 Privat genutzte Fahrzeuge 5.3.2.4 Fahrzeuge des Langsamverkehrs oder der Freizeitgestaltung 5.3.3 Nicht vom Verbot erfasst: virtuelle Räume und Medien

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5.4

5.5 5.6

Ausnahmen vom Gesichtsverhüllungsverbot (Art. 2 Absätze 2 und 3 BVVG) 5.4.1 Auslegungsgrundsätze 5.4.2 Sakralstätten (Art. 2 Abs. 2 Bst. a BVVG) 5.4.3 Schutz und Wiederherstellung der Gesundheit (Art. 2 Abs.

2 Bst. b BVVG) 5.4.4 Gewährleistung der persönlichen Sicherheit (Art. 2 Abs. 2 Bst. c BVVG) 5.4.5 Schutz vor klimatischen Bedingungen (Art. 2 Abs. 2 Bst.

d BVVG) 5.4.6 Pflege des einheimischen Brauchtums (Art. 2 Abs. 2 Bst.

e BVVG) 5.4.7 Künstlerische und unterhaltende Darbietungen (Art. 2 Abs. 2 Bst. f BVVG) 5.4.8 Werbezwecke (Art. 2 Abs. 2 Bst. g BVVG) 5.4.9 Ausübung der Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit an öffentlichen Orten (Art. 2 Abs. 3 BVVG) 5.4.9.1 Vermummungsverbot: Ausdehnung auf die ganze Schweiz 5.4.9.2 Rechtsprechung zu kantonalen Vermummungsverboten 5.4.9.3 Beurteilung aus der Sicht von EMRK und UNOPakt II 5.4.9.4 Situation nach der Aufnahme von Artikel 10a in die Bundesverfassung 5.4.9.5 Beurteilung in der Vernehmlassung und Anpassung der Ausnahmebestimmung 5.4.9.6 Erläuterungen zu Art. 2 Abs. 3 Bst. a und b BVVG Strafbarkeit und Zuständigkeit zur Strafverfolgung (Art. 3 BVVG) Einführung des Ordnungsbussenverfahrens (Änderung von Art. 1 Abs. 1 Bst. a Ziff. 18 des Ordnungsbussengesetzes, Art. 4 BVVG)

28 28 31 31 32 32 33 33 34 35 36 36 37 39 39 40 42 42

6

Auswirkungen 6.1 Auswirkungen auf den Bund 6.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden 6.3 Volkswirtschaftliche Auswirkungen

43 43 43 44

7

Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungsmässigkeit 7.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 7.3 Erlassform

44 44 44 45

Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts (BVVG) (Entwurf)

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Handlungsbedarf und Ziele

Am 7. März 2021 nahmen Volk und Stände die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» an. Damit wurden die Artikel 10a und 197 Ziffer 12 neu in die Bundesverfassung1 (BV) aufgenommen.

Die Bestimmungen lauten wie folgt: Art. 10a

Verbot der Verhüllung des eigenen Gesichts

Niemand darf sein Gesicht im öffentlichen Raum und an Orten verhüllen, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden; das Verbot gilt nicht für Sakralstätten.

1

Niemand darf eine Person zwingen, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen.

2

Das Gesetz sieht Ausnahmen vor. Diese umfassen ausschliesslich Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums.

3

Art. 197 Ziff. 12 12. Übergangsbestimmung zu Art. 10a (Verbot der Verhüllung des eigenen Gesichts) Die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 10a ist innert zweier Jahre nach dessen Annahme durch Volk und Stände zu erarbeiten.

Artikel 10a BV verbietet die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum und an den in Absatz 1 der Bestimmung genannten weiteren Orten in der Schweiz. Die Verfassungsbestimmung ist jedoch nicht unmittelbar anwendbar, sondern muss auf Gesetzesstufe umgesetzt werden. Sie äussert sich nicht dazu, wer für die Umsetzung zuständig ist.

Auch die Übergangsbestimmung von Artikel 197 Ziffer 12 BV hält lediglich die Umsetzungsfrist von zwei Jahren ab Inkrafttreten der Verfassungsbestimmung, das heisst ab dem Tag der Gutheissung durch Volk und Stände, fest.

1.2

Umsetzung durch den Bund

Die Regelung der Ordnung im öffentlichen Raum liegt im originären Kompetenzbereich der Kantone. Im Rahmen ihrer polizeirechtlichen Zuständigkeiten legen die

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Kantone die Voraussetzungen der Nutzung des öffentlichen Raums fest (z. B. für Demonstrationen). Der Bund seinerseits ist für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts (Art. 123 Abs. 1 BV) zuständig und verfügt in einem beschränkten Rahmen über eine Gesetzgebungskompetenz im Bereich der inneren Sicherheit.

An seiner Sitzung vom 12. März 2021 setzte sich der Vorstand der Konferenz der Kantonalen Polizei- und Justizdirektorinnen und -direktoren (KKJPD) mit der Frage der Umsetzung des Gesichtsverhüllungsverbots auseinander. Ohne die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung in Frage zu stellen, brachte der Vorstand seine Überzeugung zum Ausdruck, dass es den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern explizit darum gehe, die unterschiedlichen kantonalen Regelungen im Bereich der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum mit einer nationalen Gesetzgebung zu übersteuern und damit für eine einheitliche Regelung zu sorgen. Eine solche wäre nach Ansicht des KKJPD-Vorstands mit kantonalen Umsetzungserlassen nicht zu erreichen. Auch könne mit kantonalen Erlassen die zweijährige Frist für die Umsetzung kaum eingehalten werden. Nach der Konsultation aller Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren sowie des Präsidenten und des Generalsekretärs der Konferenz der Kantonsregierungen teilte der KKJPD-Vorstand der Vorsteherin des Eidgenössischen Justizund Polizeidepartements (EJPD) im Schreiben vom 24. März 2021 mit, dass die Kantone eine Umsetzung von Artikel 10a BV durch den Bund als zweckmässig erachten würden.

Der Bundesrat respektiert die föderalistische Ordnung und die Zuständigkeiten der Kantone. Gleichzeitig misst er aber dem Willen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger hohe Bedeutung bei. Namentlich will er, dass die Ausführungsgesetzgebung zur Initiative innerhalb der festgelegten Frist von zwei Jahren erarbeitet werden kann.

Im Rahmen einer am 26. März 2021 abgehaltenen Sitzung des Kontaktorgans EJPDKKJPD bestätigte die Vorsteherin des EJPD deshalb, dem Bundesrat eine Vorlage für eine bundesrechtliche Umsetzung des Gesichtsverhüllungsverbots zu unterbreiten.

Das EJPD erarbeitete in der Folge eine Vernehmlassungsvorlage, die eine Ergänzung des Strafgesetzbuches2 (StGB) mit einem neuen Artikel 332a vorsah. Erläuterungen zu den Rechtsgrundlagen sind unter Ziffer 4 «Grundzüge der Vorlage» zu finden.

1.3

Ziele des Gesichtsverhüllungsverbots

Das Gesichtsverhüllungsverbot von Artikel 10a BV verfolgt zwei grundlegende Ziele: Zum einen sollen sich die Menschen im öffentlichen Raum mit offenem Gesicht begegnen. Zum anderen soll das Verbot dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienen, indem Vermummungen nicht missbraucht werden können, um Straftaten anonym zu begehen oder sich der Strafverfolgung zu entziehen.3 Ein zusätzliches Ziel ist es, den Zwang zur Gesichtsverhüllung zu verbieten (Art. 10a Abs. 2 BV). Es ist nicht tolerierbar, wenn eine Person zur Verhüllung ihres Gesichts 2 3

SR 311 Zu den Zielen, die die Initiantinnen und Initianten der angenommenen Volksinitiative nannten, siehe Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» und zum indirekten Gegenvorschlag (Bundesgesetz über die Gesichtsverhüllung), BBl 2019 2913, Ziff. 3.1.

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gezwungen wird. In Anwendung von Artikel 181 StGB (Nötigung) macht sich bereits heute strafbar, wer jemanden zwingt, sein Gesicht zu verhüllen. Aus diesem Grund ist es nicht nötig, eine neue Norm zu schaffen, die den Zwang zur Gesichtsverhüllung aufgrund des Geschlechts spezifisch unter Strafe stellt. Artikel 10a Absatz 2 BV ist im StGB bereits umgesetzt.

1.3.1

Begegnung mit offenem Gesicht

Der Wortlaut von Artikel 10a BV lehnt sich weitgehend an ein 2010 in Frankreich verabschiedetes Gesetz an, das das Tragen einer Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum untersagt.4 Das französische Gesetz galt auch als Inspiration für Artikel 9a der Verfassung des Kantons Tessin, der nach einer erfolgreichen Volksabstimmung am 1. Juli 2016 in Kraft trat.5 Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überprüfte die Rechtmässigkeit des französischen Gesetzes im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 19506 (EMRK) in einem Urteil von 2014.7 Die französische Regierung argumentierte damals, das Gesetz wolle neben dem Schutz der öffentlichen Sicherheit «die Achtung der Mindestanforderungen für das Leben in der Gesellschaft», das heisst für das «Zusammenleben» («vivre ensemble») sicherstellen. Bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der vom Gesetz vorgesehenen Massnahmen gelangte der Gerichtshof zur Einschätzung, dass der Schutz des «Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft» ein solches Verbot rechtfertigen könne.8 Der Gerichtshof folgte der französischen Regierung mit der Einschätzung, dass dieses Ziel des Schutzes des Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft mit dem «Schutz der Rechte und Freiheiten anderer» im Sinne der Artikel 8 Absatz 2 und 9 Absatz 2 EMRK verknüpft werden könne. Motive, die auf die Rechtsgleichheit zwischen Frauen und Männern und die Achtung der Menschenwürde abstellen, erachtete der Gerichtshof hingegen nicht als ausreichend für ein Gesichtsverhüllungsverbot im öffentlichen Raum.9 Auch die von Frankreich angeführten Gründe im Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit würden kein generelles Verbot rechtfertigen können.10

4 5

6 7 8

9 10

Loi no 2010­1192 du 11 octobre 2010 interdisant la dissimulation du visage dans l'espace public, abrufbar unter www.legifrance.gouv.fr.

Diese Bestimmung untersagt die Verhüllung des eigenen Gesichts im öffentlichen Raum sowie an Orten, die für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind, vgl. dazu Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», BBl 2019 2913, Ziff. 2.3.2.1.

SR 0.101 S.A.S. gegen Frankreich vom 1. Juli 2014, Beschwerde Nr. 43835/11.

S.A.S. gegen Frankreich, Rz. 140-159. Aus den gleichen Gründen hielt der EGMR auch ein belgisches Gesichtsverhüllungsverbot für zulässig. In Bezug auf die Verhältnismässigkeit der vorgesehenen Sanktionen wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Bussen niedrig seien und eine Inhaftierung nur im Wiederholungsfall erfolge, Belcacemi und Oussar gegen Belgien vom 11. Dezember 2017, Beschwerde Nr. 37798/13, Rz. 17.

S.A.S. gegen Frankreich, Rz. 118­120.

S.A.S. gegen Frankreich, Rz. 139.

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Auch für das Initiativkomitee, das die erfolgreiche Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» lancierte, war die Begegnung mit offenem Gesicht eines der Hauptargumente für das nun in Artikel 10a BV verankerte Verbot. Die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum stehe im Konflikt mit dem Zusammenleben in einer freiheitlichen Gesellschaft.11 Auf die Bedeutung, die das Zeigen des eigenen Gesichts für den gesellschaftlichen Austausch in der Schweiz hat, wies auch der Bundesrat in seiner Botschaft zur Volksinitiative hin.12 Der EGMR anerkennt das «vivre ensemble» als mögliches schützenswertes Interesse und Basis für ein Gesichtsverhüllungsverbot im öffentlichen Raum. Dies verdeutlicht, dass eine strafrechtliche Verbotsnorm nicht zum Ziel haben kann, der Allgemeinheit, bestimmten Gruppen oder gar einzelnen Personen den Anblick vollverhüllter Personen zu ersparen. Der Schutzzweck des Verbots ist das Zusammenleben in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, das nicht nur von der verbalen Kommunikation, sondern auch von visuellen Botschaften und Eindrücken geprägt wird.

Ein individueller Anspruch, mit Frauen, die ihr Gesicht verhüllen, niemals konfrontiert zu werden, lässt sich dagegen aus dem Verbot nicht ableiten. Ein generelles, strafbewehrtes Gesichtsverhüllungsverbot im öffentlichen Raum lässt sich nur unter dem Vorbehalt bestimmter Ausnahmen rechtfertigen. Bei diesen gehen individuelle, sich aus den Grundrechten ergebende Interessen an einer Bedeckung des Gesichts dem allgemeinen Interesse, einander mit offenem Gesicht zu begegnen, vor.

1.3.2

Vermummungsverbot

Ein wesentliches Argument für das Gesichtsverhüllungsverbot, mit dem sich Befürworter und Gegner im Vorfeld der Abstimmung auseinandersetzten, war auch die Unterbindung von Vermummungen zwecks anonymer Begehung von Straftaten. Das Initiativkomitee argumentierte, die Volksinitiative richte sich auch «gegen jene Verhüllung, der kriminelle und zerstörerische Motive zugrunde liegen». Ein landesweit geltendes Gesichtsverhüllungsverbot gebe den Sicherheitsorganen Rückenwind und erteile ihnen «den Auftrag, gegen vermummte Straftäter konsequent vorzugehen».13 Der Bundesrat vertrat ebenfalls die Ansicht, ein Gesichtsverhüllungsverbot könne vor allem im Rahmen von Kundgebungen «zum Schutz der Rechtspflege beitragen».14 Eine generalpräventive Wirkung hinsichtlich der Begehung von Straftaten sei dagegen zweifelhaft. Der Bundesrat gab zu bedenken, dass viele Kantone Vermummungsverbote bei Kundgebungen und vereinzelt auch bei Sportanlässen kennen,

11 12 13 14

Erläuterungen des Bundesrats zu den Abstimmungen vom 7. März 2021, Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», S. 10 ff., Argumente des Initiativkomitees, S. 14.

Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», BBl 2019 2913, Ziff. 4.1.1 Erläuterungen des Bundesrats zu den Abstimmungen vom 7. März 2021, Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», S. 10 ff., Argumente des Initiativkomitees, S. 14.

Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», BBl 2019 2913, Ziff. 4.1.2

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diese aus polizeitaktischen Gründen aber häufig nicht konsequent durchsetzen würden.15 Das Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung manifestiert sich typischerweise an grösseren Kundgebungen und Sportanlässen.

1.4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 29. Januar 202016 zur Legislaturplanung 2019­2023 noch im Bundesbeschluss vom 21. September 202017 über die Legislaturplanung 2019­2023 angekündigt.

2

Vernehmlassungsverfahren

Am 20. Oktober 2021 eröffnete der Bundesrat die Vernehmlassung zum vorgeschlagenen Artikel 332a StGB. Sie dauerte bis zum 4. Februar 2022. Für die Details der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens wird auf den Ergebnisbericht18 verwiesen.

Insgesamt gingen 55 Stellungnahmen ein. Alle 26 Kantone, fünf in der Bundesversammlung vertretene Parteien und eine weitere Partei sowie 23 Organisationen und andere Teilnehmende reichten Beiträge ein. Vier Organisationen verzichteten ausdrücklich auf eine Stellungnahme.

Die Vorlage stösst grossmehrheitlich auf Zustimmung. Grundsätzlich zustimmend äussern sich 39 Vernehmlassungsteilnehmende. Ablehnend äussern sich ein Kanton, eine Partei sowie sechs Organisationen und Private. In den positiven Stellungnahmen wird oft die einheitliche Umsetzung im Bund begrüsst. In den ablehnenden Stellungnahmen wird zum Teil die Umsetzung im Bund kritisiert. Andere lehnen eine Lösung im Strafgesetzbuch ab und befürworten stattdessen ein autonomes Bundesgesetz.

Inhaltlich halten es einige Vernehmlassungsteilnehmende für inakzeptabel, dass gemeinschaftlich genutzte Räume in Miethäusern nicht vom Gesichtsverhüllungsverbot erfasst werden. Verschiedene Teilnehmende fordern dagegen die Aufnahme weiterer Ausnahmen, namentlich im Bereich der Grundrechte.

Viele Stellungnahmen befassen sich mit der Ausnahme vom Gesichtsverhüllungsverbot bei Einzelauftritten und Versammlungen im öffentlichen Raum. 12 Teilnehmende 15

16 17 18

Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», BBl 2019 2913, Ziff. 4.1.2. Vgl. zu den Kantonen, die ein Vermummungsverbot kennen (Stand 7.3.2021) auch die tabellarische Übersicht in den Erläuterungen des Bundesrats zu den Abstimmungen vom 7. März 2021, Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», S. 11.

BBl 2020 1777 BBl 2020 8385 Abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD.

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möchten strikter werden, indem diese Ausnahme gestrichen oder überarbeitet wird.

Fraglich finden weitere 10 Teilnehmende, ob die Lösung praktikabel ist. Einzelne Teilnehmende bringen eine Bewilligungspflicht ins Spiel. Mit dem Ziel, die Umsetzbarkeit für die Polizei zu verbessern, könne die Ausnahme an die vorgängige Erteilung einer Bewilligung geknüpft werden.

Verschiedene Vernehmlassungsteilnehmende wollen eine deutliche Senkung des vorgeschlagenen Strafrahmens von maximal 10 000 Franken, wie sie das Strafgesetzbuch für Übertretungen vorsieht. Einige verlangen, die Busse müsse ihrer Höhe nach symbolisch sein. Etliche Vernehmlassungsteilnehmende wollen eine Umsetzung im Ordnungsbussenverfahren. Dieses verursache weniger Aufwand für die Kantone.

Auf wesentliche Vorbehalte und Änderungsvorschläge, namentlich mit Blick auf den Regelungsort, die Ausnahmen vom Gesichtsverhüllungsverbot, das Sanktionsverfahren und den Strafrahmen, wird nachfolgend unter Ziffer 4 «Grundzüge der Vorlage» und Ziffer 5 «Erläuterungen zu einzelnen Artikeln» eingegangen.

3

Rechtsvergleich

Gesichtsverhüllungsverbote im öffentlichen Raum, die einen ähnlichen Geltungsbereich wie das in Artikel 10a BV verankerte Verbot haben, kennen Frankreich, Belgien, Österreich und Dänemark.

3.1

Frankreich

Frankreich kennt verschiedene Bestimmungen im allgemeinen Strafrecht, die die Gesichtsverhüllung verbieten. 2010 wurde ein Gesetz verabschiedet, das das Tragen einer gesichtsverhüllenden Kleidung im öffentlichen Raum («espace public») untersagt.

Darunter fallen öffentliche Räume wie zum Beispiel Strassen, Wälder, Strände, aber auch Orte, die dem Publikum zugänglich sind wie Geschäfte, Restaurants, Kinos, und Orte, die für eine öffentliche Dienstleistung bestimmt sind (z. B. Schulen, Verwaltungen, Bahnhöfe, öffentlicher Verkehr).19 Ausnahmen sind vorgesehen, wenn die Gesichtsverhüllung durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften vorgeschrieben oder erlaubt ist, wenn sie aus gesundheitlichen oder beruflichen Gründen gerechtfertigt ist oder wenn das Gesicht im Rahmen einer sportlichen Betätigung oder von festlichen, künstlerischen oder traditionellen Anlässen verhüllt wird. Keine Anwendung findet das Verbot überdies in Sakralstätten. Ein Verstoss gegen das Verbot wird mit einer Busse von höchstens 150 Euro bestraft.

Die Gesichtsverhüllung an Kundgebungen im öffentlichen Raum («manifestation sur la voie publique») wird in zwei Strafbestimmungen speziell geregelt. Mit einer Busse von 1500 Euro werden Gesichtsverhüllungen bestraft, die an oder in unmittelbarer

19

Circulaire du 2 mars 2011 relative à la mise en oeuvre de la loi no 2010-1192 du 11 octobre 2010 interdisant la dissimulation du visage dans l'espace public. Abrufbar unter www.legifrance.gouv.fr.

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Nähe von Kundgebungen («au sein ou aux abords immédiats») mit dem Zweck vorgenommen werden, eine Identifizierung zu verhindern, wenn die Umstände Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung befürchten lassen.20 Gar mit einem Jahr Gefängnis und 15 000 Euro Busse wird bestraft, wer an solchen Kundgebungen sein Gesicht ohne legitimen Grund («motif légitime») willentlich verhüllt, wenn es während oder am Ende der Kundgebung zu Aufruhr gegen die öffentliche Ordnung kommt oder solcher Aufruhr droht.21

3.2

Belgien

Belgien verankerte 2011 ein Gesichtsverhüllungsverbot in Artikel 563bis des Strafgesetzbuchs. Vorgesehen sind Bussen von 120 bis 200 Euro und/oder eine Freiheitsstrafe von einem bis sieben Tagen für Personen, die ihr Gesicht an öffentlich zugänglichen Orten vollständig oder teilweise verhüllen, sodass sie nicht identifiziert werden können.22 Freiheitsstrafen können allerdings nur im Wiederholungsfall ausgesprochen werden. Das Verbot gilt nicht, wenn die Gesichtsverhüllung arbeitsrechtlich vorgeschrieben oder an festlichen Anlässen («manifestations festives») polizeirechtlich erlaubt ist.

3.3

Österreich

In Österreich trat am 1. Oktober 2017 das Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit23 (Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz, AGesVG) in Kraft. Ziele des Gesetzes sind «die Förderung von Integration ... und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens». Zu diesem Zweck wird das Verhüllen oder Verbergen der Gesichtszüge an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden als Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro geahndet. Kein Verstoss gegen das Verhüllungsverbot liegt vor, «wenn die Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung erfolgt oder gesundheitliche oder berufliche Gründe hat.» Die österreichische Rechtsprechung stellte fest, dass das Gesichtsverhüllungsverbot nicht nur auf religiös motivierte Verhüllungen Anwendung findet, sondern auch auf andere Formen der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit, etwa wenn Personen im Rahmen körperlicher Auseinandersetzungen bei Sportveranstaltungen Vermummungen tragen, um die Feststellung ihrer Identität zu verhindern.

20 21 22

23

Artikel R645-14 des Strafgesetzbuchs (Code pénal), abrufbar unter www.legifrance.gouv.fr.

Artikel 431-9-1 des Strafgesetzbuchs (Code pénal), abrufbar unter www.legifrance.gouv.fr.

Artikel 563bis des Strafgesetzbuchs (Code penal), abrufbar unter www.ejustice.just.fgov.be. Vgl. auch EGMR-Urteil Belcacemi und Oussar gegen Belgien vom 11. Dezember 2017, Beschwerde Nr. 37798/13, Rz.17.

Bundesgesetzblatt (BGBl) I Nr. 68/2017, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at.

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Mit Blick auf die Umsetzung von Artikel 10a BV besonders interessant ist das Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 26. Februar 2021, das festhält, dass die gesetzlich aufgezählten Ausnahmen nicht abschliessend sind. So müsse im Rahmen der freien Meinungsäusserung zusätzlich auch «die Verwendung eines Stilmittels» (im konkreten Fall eine Tiermaske) erlaubt sein, vorbehältlich einschränkender Befugnisse der Sicherheitsorgane. Entsprechend sei das Tragen einer Kuhmaske (und eines Kuhkostüms), um im Umfeld einer Veranstaltung der Milchwirtschaft auf Produktionsbedingungen in der Milchwirtschaft aufmerksam zu machen, von der Ausnahmebestimmung ebenfalls gedeckt.24

3.4

Dänemark

In Dänemark trat am 31. Mai 2018 eine Ergänzung des Strafgesetzbuchs in Kraft, die Gesichtsverhüllungen an öffentlichen Orten («offentligt sted», inoffizielle englische Übersetzung: «in a public place») verbietet.25 Der Geltungsbereich erstreckt sich auf Räumlichkeiten, die dem Publikum zugänglich sind wie Strassen, Plätze, Parks, Bahnhöfe, den öffentlichen Verkehr und öffentliche Dienststellen. Ausnahmen gelten, wenn die Gesichtsverhüllung einem «verdienstvollen Zweck» («anerkendelsesværdigt formål», inoffizielle englische Übersetzung: «meritorious purpose») dient. Bussen belaufen sich auf 1000 Dänische Kronen (ca. 130 Euro) bis 10 000 Dänische Kronen (ca. 1300 Euro) ab dem vierten Wiederholungsfall. Als «verdienstvolle Zwecke» und damit als Ausnahmen vom Verbot werden zum Beispiel Gesichtsverhüllungen aus Gründen der Sicherheit (Schutzmasken, Sportbekleidung), des Schutzes vor Kälte, aber auch am Karneval oder bei Anlässen wie Maskenbällen betrachtet. Ebenfalls ausgenommen sind Verhüllungen im Rahmen religiöser Zeremonien wie Heiraten oder Beerdigungen.

4

Grundzüge der Vorlage

4.1

Beantragte Regelung

Gestützt auf den Vorentwurf und die Auswertung des Vernehmlassungsverfahrens beantragt der Bundesrat die folgende Umsetzung von Artikel 10a BV:

24 25

­

Umsetzung im Bund mittels eines eigenständigen Gesetzes, das sich auf Artikel 123 Absatz 1 BV stützt: Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts (BVVG);

­

Ausnahmen für die Zivilluftfahrt (Art. 1 Abs. 2 Bst. a BVVG) und für Räumlichkeiten, die dem diplomatischen und konsularischen Verkehr dienen oder

Entscheid 4697/2019, abrufbar unter www.vfgh.gv.at.

Gesetz vom 31. Mai 2018 betreffend Änderung des Strafgesetzbuchs, Lov 2018-06-08 Nr. 717, abrufbar unter www.retsinformation.dk.

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von institutionellen Begünstigten nach Artikel 2 Absatz 1 des Gaststaatgesetzes vom 22. Juni 200726 (GSG) für dienstliche Zwecke benutzt werden (Art. 1 Abs. 2 Bst. b BVVG); ­

als Übertretungstatbestand definiertes Verbot der Gesichtsverhüllung (Art. 2 Abs. 1 BVVG);

­

Ausnahmen vom Verbot (Art. 2 Abs. 2 BVVG): Sakralstätten (Bst. a); Schutz und Wiederherstellung der Gesundheit (Bst. b); Gewährleistung der persönlichen Sicherheit (Bst. c); Schutz vor klimatischen Bedingungen (Bst. d); Pflege des einheimischen Brauchtums (Bst. e), künstlerische und unterhaltende Darbietungen (Bst. f); Werbezwecke (Bst. g);

­

sofern die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigt werden, kann die zuständige Behörde Gesichtsverhüllungen an öffentlichen Orten bewilligen, wenn sie zur Ausübung der Grundrechte der Meinungsfreiheit oder der Versammlungsfreiheit für den eigenen Schutz notwendig sind oder weil es sich um bildliche Meinungsäusserungen handelt (Art. 2 Abs. 3 BVVG).

­

Strafrahmen: maximal Fr. 1000.­ Busse (Art. 3 BVVG);

­

Einführung des Ordnungsbussenverfahrens: Aufnahme des Übertretungstatbestands in das Ordnungsbussengesetz vom 18. März 201627 (OBG) (Art. 4 BVVG).

Die hauptsächlichen Änderungen gegenüber dem Vorentwurf sind die Umsetzung in einem eigenständigen Gesetz (Vorentwurf: StGB), die Ergänzung von Art. 2 Abs. 3 (Gesichtsverhüllungen an öffentlichen Orten) mit einer Bewilligungspflicht, die Herabsetzung des Strafrahmens auf maximal 1000 Franken (Vorentwurf: Fr. 10 000.­) und die Einführung des Ordnungsbussenverfahrens.

4.2

Kompetenzgrundlage

Artikel 10a BV lässt offen, wie das Gesichtsverhüllungsverbot umzusetzen ist. Der Bundesrat beantragt gestützt auf Artikel 123 Absatz 1 BV eine Umsetzung auf Bundesebene (vgl. auch Ziff. 1.2).

Artikel 123 Absatz 1 BV räumt dem Bund eine umfassende, konkurrierende Gesetzgebungskompetenz mit nachträglich derogatorischer Wirkung auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts ein.28 Macht der Bund von seiner Kompetenz Gebrauch, sind kantonale Regelungen im gleichen Sachbereich ausgeschlossen. Gemäss herrschender Lehre ist der Bund, gestützt auf Artikel 123 Absatz 1 BV, zuständig, das Strafrecht insoweit zu regeln, als es sich herkömmlicherweise in einem Strafgesetzbuch findet.29 In diesem sogenannten Kernstrafrecht hat der Bund seine Kompetenz grundsätzlich 26 27 28 29

SR 192.12 SR 314.1 Giovanni Biaggini, BV-Kommentar. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 123 BV, Rz 2.

Hans Vest, Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, Art. 123 BV, Rz 2 (S. 2224).

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ausgeschöpft. Den Kantonen verbleibt die Gesetzgebung betreffend Übertretungsstrafrecht, «soweit das eidgenössische Recht den Angriff auf ein Rechtsgut nicht durch ein geschlossenes System von Normen erfasst» (Art. 335 Abs. 1 StGB).30 Eine strafrechtliche Regelung des Gesichtsverhüllungsverbots auf Bundesebene wird in der Lehre zum Teil mit der Begründung abgelehnt, die Bundeszuständigkeit zur Regelung des Kernstrafrechts beschränke sich auf diejenigen Strafbestimmungen, «die nach gefestigtem allgemeinem Rechtsbewusstsein zur Wahrung des öffentlichen Friedens notwendig sind». Das Gesichtsverhüllungsverbot sei schwerlich dem Kernstrafrecht zuzurechnen. Dessen Grenzen seien aufgrund des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 BV) und des föderalistischen Gebots der schonenden Kompetenzausübung durch den Bund im Zweifel eng auszulegen.31 Das Gesichtsverhüllungsverbot regle das Auftreten im öffentlichen Raum. Die Regelung des öffentlichen Raums sei grundsätzlich Sache der Kantone.32 Artikel 10a BV belasse etwa beim lokalen Brauchtum gesetzgeberische Spielräume, die typische Aspekte des kantonalen Rechts darstellten.33 Der Bundesrat teilt diese Haltung nicht. Aus seiner Sicht lässt sich die gesetzliche Umsetzung des Gesichtsverhüllungsverbots auf die Strafrechtskompetenz des Bundes (Art. 123 Abs. 1 BV) stützen. Zwar äusserte sich der Bundesrat in der Botschaft zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» durchaus kritisch zu einer solchen Abstützung.34 Im Fokus stand damals jedoch eine Umsetzung im StGB, nicht in einem eigenständigen Gesetz. Die Aufnahme des Gesichtsverhüllungsverbots in Artikel 10a BV wird als Ausdruck des Willens von Volk und Ständen verstanden, die unterschiedlichen rechtlichen Situationen in den Kantonen zu vereinheitlichen. Sie reichen von umfassenden Verboten im öffentlichen Raum bis zur völligen Abwesenheit von Regelungen.35 Die Annahme, die Verbotsnorm wolle den Kantonen gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit bei der Umsetzung einräumen, überzeugt nicht. Die Ausnahme des «einheimischen Brauchtums» deckt lokal oder national verbreitete Bräuche aller Art ab, bei denen die Gesichtsverhüllung üblich ist. Die kantonalen Behörden sind gut in der Lage, diese Ausnahme zweckmässig zu interpretieren.36 Eine nach Kanton unterschiedliche Sanktionierung des bundesweit geltenden Gesichtsverhüllungsverbots,
das Volk und Stände auf die höchste rechtliche Ebene des Landes gehoben haben, macht in der kleinräumigen Schweiz ebenfalls wenig Sinn. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schränkt den zulässigen Strafrahmen ohnehin stark ein, indem 30 31

32 33 34

35

36

Giovanni Biaggini, BV-Kommentar. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 123 BV, Rz 4.

Benedict Vischer, Wer ist zuständig für die Umsetzung des Verhüllungsverbots? Art. 10a BV im Kontext der bundesstaatlichen Kompetenzordnung, Jusletter 22. November 2021, Rz. 24 und 25.

Vischer, Jusletter 22. November 2021, Rz 13.

Vischer, Jusletter 22. November 2021, Rz 11.

Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», BBl 2019 2913, Ziff. 4.2.2. Der Bundesrat führte damals aus, mit einem Straftatbestand im StGB würde «ein Verhalten für strafbar erklärt, das an sich kein Rechtsgut konkret bedroht oder verletzt», was den Grundsätzen des Strafrechts zuwiderlaufen würde.

In diesem Sinne auch Kaspar Ehrenzeller / Christina Müller / Benjamin Schindler, Ausgestaltung des Verhüllungsverbots durch den Bundesgesetzgeber, Jusletter 28. März 2022, Rz 25.

So auch Ehrenzeller/Müller/Schindler, Jusletter 28. März 2022, Rz 29.

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er bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit eines solchen Verbots besonderes Gewicht auf die moderate Höhe einer maximal drohenden Strafe legt (vgl. Ziff. 5.5). Viel Spielraum für unterschiedliche Sanktionsregelungen bliebe den Kantonen somit nicht.

Dass das Gesichtsverhüllungsverbot nicht zum Kernstrafrecht gehört, ist kaum bestritten. Allerdings enthält zum Beispiel das StGB verschiedene Tatbestände, die man auch nicht dem Kernstrafrecht zurechnen muss, wie etwa den Landfriedensbruch (Art. 260 StGB), die Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit (Art. 261 StGB) oder die Störung des Totenfriedens (Art. 262 StGB). Es ist zwar richtig, dass die Kantone für die Regelung der Nutzung des öffentlichen Raums zuständig sind und das Polizeirecht, das heisst die Sanktionierung von Verstössen gegen die öffentliche Ordnung, primär ihre Domäne ist. Das Gesichtsverhüllungsverbot erfasst aber zu einem wesentlichen Teil auch Orte, die nicht zum öffentlichen Raum gehören: Es gilt auch an privaten Orten, «die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden» (Art. 10a Abs. 1 BV). An diesen Orten, etwa in Geschäften, Restaurants, Sportzentren oder Kinos, greift das Gesichtsverhüllungsverbot in die von der Bundesverfassung gewährleisteten Grundrechte der Eigentumsgarantie (Art. 26 BV) und der Wirtschaftsfreiheit (Art. 27) ein.

Die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung, die vor allem im Vermummungsverbot bei Kundgebungen zum Ausdruck kommt, ist denn auch nur eines von zwei grundlegenden Zielen des Gesichtsverhüllungsverbots. Dieses beansprucht auch, die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu schützen, indem sich Menschen in Räumen, die der Allgemeinheit zugänglich sind, mit offenem Gesicht begegnen. Aus diesen Gründen soll Artikel 10a BV gestützt auf die strafrechtliche Regelungskompetenz von Artikel 123 Absatz 1 BV im Bundesrecht umgesetzt werden.37

4.3

Umsetzung in einem eigenständigen Gesetz

Die Vernehmlassungsvorlage sah eine Umsetzung des Gesichtsverhüllungsverbots im StGB vor.38 Aufgrund der Ergebnisse der Vernehmlassung und zusätzlicher Überlegungen unterbreitet der Bundesrat dem Parlament nun einen Umsetzungsentwurf in Form eines eigenständigen Gesetzes.

Im erläuternden Bericht zur Vernehmlassung begründete der Bundesrat ausführlich, warum eine Umsetzung des Gesichtsverhüllungsverbots im Bundesgesetz vom 21. März 199739 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) nicht 37

38

39

Die in die Bundesverfassung aufgenommene Verbotsmaterie und ihre strafrechtliche Umsetzung hängen eng zusammen, und beim Strafrahmen gibt es kaum Spielraum. In solchen Fällen kommt der Gedanke Walther Burckhardts zum Tragen, wonach sich eine folgerichtige Ordnung nicht durchführen lässt, «wenn man die materielle Norm und die Strafnorm, die notwendig zusammengehören, auseinanderreisst und verschiedenen Instanzen zur Ordnung übergibt» Walther Burckhardt, Kommentar der Schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, 3. Aufl., Bern 1931, Art. 64bis, S. 594.

Umsetzung des Verbots zur Gesichtsverhüllung (Art. 10a BV): Änderung des Strafgesetzbuches. Erläuternder Bericht vom 20. Oktober 2021 zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, abrufbar unter www.bj.admin.ch > Bundesamt für Justiz > Gesellschaft > Laufende Gesetzgebungsprojekte > Verhüllungsverbot. Ziff. 1.2.3 SR 120

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sachgerecht wäre. Zum einen würde eine BWIS-Lösung die sehr beschränkte Koordinationskompetenz des Bundes im Polizeirecht (Art. 57 Abs. 2 BV) überdehnen.

Zum anderen werde mit der neuen Bestimmung keineswegs nur das Ziel verfolgt, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, sondern vor allem auch das «vivre ensemble» zu schützen (Ziff. 1.3.1). Diese Zielsetzung gehe deutlich über den Anwendungsbereich des BWIS der frühzeitigen Abwehr von Gefährdungen der inneren Sicherheit (Art. 2 Abs. 1 BWIS) hinaus.40 Obwohl der Bundesrat eine StGB-Lösung in die Vernehmlassung schickte, machte er im erläuternden Bericht genaue Angaben zu Problemen, die mit einer solchen Umsetzung entstehen würden. Es sei schwierig, die Schutzzwecke der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung und der Kultur, sich mit offenem Gesicht zu begegnen, einem bestimmten Rechtsgut zuzuordnen. Allenfalls könne man von «ordre public» sprechen. Weiter habe der Ausnahmekatalog von Artikel 10a Absatz 3 BV eine herausragende Bedeutung für die Umschreibung der strafbaren Handlung. Das StGB beschränke sich demgegenüber in aller Regel darauf, schlichte Verbote aufzustellen, ohne die strafbare Handlung mit zahlreichen Ausnahmen von der Strafbarkeit zu regeln. Schliesslich sei eine einfache Ahndung zentral für ein Bagatelldelikt wie die Missachtung des Gesichtsverhüllungsverbots. Ein im StGB verankertes Verbot könne nach derzeitiger Rechtslage allerdings nicht ohne weiteres im Ordnungsbussenverfahren geahndet werden. Das OBG müsste erweitert werden.41 Es würden jedoch schwerwiegende rechtsstaatliche Bedenken gegen eine Ausdehnung des Ordnungsbussenverfahrens auf StGB-Delikte sprechen. Es bestünde die Gefahr, Tür und Tor zu öffnen für den Einbezug anderer Straftaten, etwa von Tätlichkeiten, Sachbeschädigungen oder der sexuellen Belästigung. Deshalb wolle der Bundesrat auf eine Erweiterung des OBG-Bussenkatalogs verzichten.42 Verschiedene Vernehmlassungsteilnehmende sprachen sich für eine Umsetzung in einem eigenen Bundesgesetz aus. Weitere wünschten die Einführung eines Ordnungsbussenverfahrens, um den Aufwand für die Vollzugsbehörden zu verringern. Mit dem Argument der Verhältnismässigkeit wurde auch eine verwaltungsrechtliche Umsetzung des Verbots verlangt.43 Der Bundesrat nimmt diese Wünsche auf und legt einen Umsetzungsentwurf in Form eines eigenständigen Gesetzes, des BVVG, vor. Für ihn ausschlaggebend sind folgende Gründe: ­

40

41 42

43

Eine Umsetzung in einem eigenständigen Gesetz trägt den Schutzzwecken der Verbotsnorm, der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Umsetzung des Verbots zur Gesichtsverhüllung (Art. 10a BV): Änderung des Strafgesetzbuches. Erläuternder Bericht vom 20. Oktober 2021 zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, abrufbar unter www.bj.admin.ch > Bundesamt für Justiz > Gesellschaft > Laufende Gesetzgebungsprojekte > Verhüllungsverbot, Ziff. 1.2.2.2 und 1.2.3 Die Liste in Artikel 1 Absatz 1 des OBG zählt die Gesetze auf, die Übertretungen enthalten, die im Ordnungsbussenverfahren geregelt werden können.

Umsetzung des Verbots zur Gesichtsverhüllung (Art. 10a BV): Änderung des Strafgesetzbuches. Erläuternder Bericht vom 20. Oktober 2021 zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, abrufbar unter www.bj.admin.ch > Bundesamt für Justiz > Gesellschaft > Laufende Gesetzgebungsprojekte > Verhüllungsverbot, Ziff. 1.2.2.1 Ziff. 2 (Einleitung) und Ziff. 2.2.4 des Ergebnisberichts, abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD

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und dem Schutz der Kultur der Begegnung mit offenem Gesicht im öffentlichen Raum und an allgemein zugänglichen Orten, besser Rechnung als eine Umsetzung im StGB. Das Verbot der Gesichtsverhüllung gehört nicht zum Kernstrafrecht, das im StGB geregelt ist. Zum Kernstrafrecht gehören Verletzungen von Rechtsgütern wie Leib und Leben, Eigentum und Vermögen, Ehre, Privatsphäre, aber auch gravierende Verstösse gegen die Rechtsordnung und fundamentale Staatsinteressen oder gegen die völkerrechtliche Friedensordnung.

­

Ein eigenständiges Gesetz passt besser zum umfangreichen Ausnahmekatalog der Verbotsnorm. Im StGB sind solche Ausnahmeregelungen unüblich. Das hat auch damit zu tun, dass Verstösse gegen Normen des Kernstrafrechts regelmässig gravierende Rechtsbrüche darstellen, bei denen eine Rechtfertigung aufgrund privater Interessen höchstens in eng begrenzten Situationen grosser zeitlicher und materieller Dringlichkeit in Frage kommt. Eine Ausnahmeregelung wie diejenige in Artikel 2 Absatz 3 BVVG, die die Möglichkeit einer Bewilligung von Gesichtsverhüllungen an öffentlichen Orten definiert und damit einen Bereich regelt, der heute von kantonalen Vermummungsverboten erfasst wird, ist in einem eigenständigen Gesetz besser aufgehoben als im StGB.

­

Im Rahmen eines eigenständigen Gesetzes lässt sich das Ordnungsbussenverfahren, das der Bundesrat befürwortet, wesentlich einfacher einführen als im StGB. Inkohärenzen lassen sich so vermeiden.

­

Ein eigenständiges Gesetz erleichtert es auch, den Strafrahmen deutlich zu senken, wie es in der Vernehmlassung zum Teil verlangt wurde und wie es die internationale Rechtsprechung mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip nahelegt. Artikel 106 Absatz 1 StGB sieht für Bussen bei Übertretungen einen Höchstbetrag von 10 000 Franken vor. Im StGB wäre es nicht leicht begründbar, in einem Einzelfall von dieser generellen Regelung abzuweichen.

4.4

Anwendungsbereich des Gesichtsverhüllungsverbots

Gemäss Artikel 10a Absatz 1 BV erstreckt sich das Gesichtsverhüllungsverbot auf den «öffentlichen Raum» sowie auf «Orte ..., die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden». Im Zentrum steht die Zugänglichkeit für die Allgemeinheit. Diese kann ganz generell vorliegen (öffentlicher Raum). Sie kann sich aber auch aus der Zweckbestimmung einer Örtlichkeit ableiten, etwa wenn dort Angebote grundsätzlich allen oder einer Vielzahl von Personen, die nicht von vornherein genau definiert ist, offenstehen.

Auf die Eigentumsverhältnisse allein kommt es dabei nicht an: Privater Grund, den die Allgemeinheit nutzen darf (z. B. ein Wanderweg auf einer privaten Alp), wird vom Gesichtsverhüllungsverbot genauso erfasst wie private Geschäfte oder Betriebe, in denen das Publikum Waren oder Dienstleistungen entgeltlich oder unentgeltlich erwerben kann.

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Als «öffentlicher Raum» lässt sich der Raum bezeichnen, der dem Publikum frei zugänglich ist oder diesem dient.44 In der Regel, aber keineswegs zwingend, steht er im Eigentum eines Gemeinwesens oder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft.45 Eine allgemeingültige, rechtliche Definition des öffentlichen Raums kann es nicht geben, da diese immer funktionsbezogen, das heisst mit Blick auf den Schutzgedanken der sich auf den öffentlichen Raum beziehenden Norm, erfolgen muss. Artikel 43a Absatz 4 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 200046 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts lässt die Observation versicherter Personen zur Aufdeckung von Leistungsmissbrauch zu, wenn sich diese an «einem allgemein zugänglichen Ort» oder an einem von dort aus frei einsehbaren Ort befinden. Im Kontext dieser Bestimmung, die auf die allgemeine Zugänglichkeit abstellt, zählte das Bundesgericht «namentlich Strassen, Plätze, Bahnhöfe, Flughäfen, öffentliche Verkehrsmittel, Parkgaragen, Kulturhäuser (Theater, Kinos, Konzerthallen), Sportplätze, Stadien, Einkaufszentren, Warenhäuser, Restaurants» zum öffentlichen Raum.47 Artikel 10a Absatz 1 BV differenziert zwischen «öffentlichem Raum», «Orten, die öffentlich zugänglich sind» und Orten, «an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden.» Im Grundsatz geht es aber stets um die Zugänglichkeit für eine breite Öffentlichkeit48.

Der «öffentliche Raum» im Sinne von Artikel 10a BV ist ohne Weiteres für alle zugänglich. Dazu gehören zum Beispiel Strassen, Trottoirs und öffentlich nutzbare Plätze, öffentlich begehbare Wege, Wiesen, Felder und Wälder, die Berge, aber auch der öffentlichen Nutzung zugängliche Gewässer und Uferräume sowie der Luftraum.

Die Abgrenzung der «öffentlich zugänglichen Orte» gegenüber dem «öffentlichen Raum» ist nicht ganz scharf. Das ist aber unproblematisch. Schliesslich geht es sowohl in Artikel 10a Absatz 1 BV als auch in der darauf gestützten Ausführungsgesetzgebung darum, der breiten Öffentlichkeit offenstehende Räume von privaten Räumlichkeiten, die nur einem bestimmten, geschlossenen Kreis zugänglich sind, abzugrenzen. Als öffentlich zugängliche Orte im Sinne von Artikel 10a BV können Anlagen und Einrichtungen bezeichnet werden, die einem bestimmten Zweck gewidmet sind, dabei aber allen weitgehend
ohne Einschränkung und in der Regel auch gratis zur Verfügung stehen. Dazu gehören zum Beispiel offene Badeanlagen an Seen und Flüssen, öffentliche Spielplätze, Fussballfelder, Eisfelder, Streetwork- und Skateboardanlagen, Vita-Parcours-Einrichtungen, öffentlich nutzbare Kneipp-Einrichtungen, Kletterpfade, Skipisten und Schlittelwege.49 44

45

46 47 48 49

Beim «Dienen» ist z. B. an den Luftraum über öffentlichen Flächen oder an Räume unter der Erdoberfläche, die für öffentliche Zwecke genutzt werden (Kanalisations- und Leitungsschächte) zu denken.

So auch das Bundesgericht im Entscheid 8C_837/2018 vom 15. Mai 2019, E. 5.1, der die Observation einer Person zwecks Abklärung der Anspruchsberechtigung für eine Invalidenrente betraf.

SR 830.1 Entscheid 8C_837/2018 vom 15. Mai 2019, E. 5.1, mit Verweisen auf die Literatur, namentlich zu Artikel 282 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), SR 312.0.

Formulierung des Bundesgerichts im Entscheid 8C_837/2018 vom 15. Mai 2019, E. 5.1.

Einschränkungen zur Sicherstellung der Nacht- oder Sonntagsruhe ändern an dieser Einordnung nichts. Vergleichbare Vorschriften können auch für Aktivitäten an rein privaten Orten gelten.

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Zu den in Artikel 10a Absatz 1 BV genannten Orten mit «grundsätzlich von jedermann beanspruchbaren Dienstleistungen» gehören Orte, an denen Leistungen des Service public erbracht werden, so zum Beispiel der öffentliche Verkehr (Bus, Tram, Bahn, Kursschiffe) inklusive Schalterhallen, Warteräume, Billettverkaufsstellen, die Post, aber auch für das Publikum offene Amtsstellen, Gerichte und Parlamente.50 Dazu gehören auch Orte wie Schulen, Universitäten, Tagesbetreuungseinrichtungen, Alters- und Pflegeheime oder Spitäler, die in erster Linie einem bestimmten Personenkreis, zum Beispiel Studierenden, Schülerinnen und Schülern, Betagten oder Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen offenstehen. All dies gilt nicht für alle Räumlichkeiten, sondern nur soweit diese öffentlich zugänglich sind. Nicht öffentlich sind zum Beispiel Büros der Verwaltungsangestellten oder interne Sitzungszimmer und Lagerräume. Auch bei sonstigen Verwaltungsgebäuden kann sich das Verbot lediglich auf die öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten beziehen.

Unter dieser Kategorie werden aber auch Orte erfasst, an denen öffentliche oder private Anbieter einer breiten Öffentlichkeit Waren und Dienstleistungen entgeltlich oder unentgeltlich zur Verfügung stellen (vgl. dazu Ziff. 5.3).

5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

Artikel 10a BV wird im BVVG umgesetzt. In diesem Gesetz geregelt werden: ­

Gegenstand und Geltungsbereich der verbotenen Gesichtsverhüllung (Art. 1 BVVG);

­

Definition des verbotenen Verhaltens (Art. 2 Abs. 1 BVVG)

­

Ausnahmen vom Verbot (Art. 2 Abs. 2 und 3 BVVG);

­

Strafrahmen und Zuständigkeit zur Strafverfolgung (Art. 3 BVVG);

Die Einführung des Ordnungsbussenverfahrens erfordert zudem eine Anpassung des OBG (Art. 4 BVVG).

5.1

Gegenstand und Geltungsbereich des Gesichtsverhüllungsverbots (Art. 1 BVVG)

Artikel 1 BVVG definiert den Gegenstand und den Geltungsbereich des Gesichtsverhüllungsverbots. Geregelt wird die Umsetzung des in Artikel 10a BV aufgenommenen Verbots der Verhüllung des eigenen Gesichts (Abs. 1).

Keine Anwendung findet das Verbot an Bord von zivilen Luftfahrzeugen im In- und Ausland (Abs. 2 Bst. a) und in Räumlichkeiten, die dem diplomatischen und konsularischen Verkehr dienen oder von institutionellen Begünstigten nach Artikel 2 Absatz 1 GSG51 für dienstliche Zwecke benutzt werden. (Abs. 2 Bst. b).

50 51

Tagende Gerichte und Parlamente stehen Besucherinnen und Besuchern in der Regel offen. Geschlossene Beratungen sind Ausnahmen.

SR 192.12

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5.1.1

Keine Anwendung an Bord von zivilen Luftfahrzeugen (Art. 1 Abs. 2 Bst. a BVVG)

Vom Geltungsbereich des Gesetzes ausgenommen sind Personen an Bord von zivilen Luftfahrzeugen im In- und Ausland.

Die internationale Zivilluftfahrt wird durch das sogenannte Chicagoer Abkommen, das Übereinkommen vom 7. Dezember 194452 über die internationale Zivilluftfahrt, geregelt. Artikel 1 dieses Abkommens bestimmt, dass jeder Staat im Luftraum über seinem Hoheitsgebiet (Landgebiete und Hoheitsgewässer) die «volle und ausschliessliche Lufthoheit besitzt». Bei Flugzeugen im internationalen Luftraum (über der hohen See), in welchem kein Staat Hoheitsrechte geltend machen kann, kommt das Recht des Flaggenstaates zur Anwendung. Damit kann ein Staat sein Recht an Bord jedes in- und ausländischen Zivilflugzeugs zur Anwendung bringen, welches sein Territorium überfliegt. Diesen Grundsatz hält das Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 194853 (LFG) in Artikel 11 Absatz 1 fest: «Im Luftraum über der Schweiz gilt das schweizerische Recht.»54 Das LFG führt weiter aus, dass Schweizer Recht auch an Bord schweizerischer Luftfahrzeuge im Ausland gelte, «soweit nicht das Recht des Staates, in oder über welchem sie sich befinden, zwingend anzuwenden ist» (Art. 11 Abs. 3 LFG). Aufgrund dieser Rechtslage könnte der Bund ein Gesichtsverhüllungsverbot im Schweizer Luftraum für schweizerische und ausländische Flugzeuge durchsetzen, sofern er für letztere nicht abweichende Vereinbarungen mit anderen Staaten gemäss Artikel 11 Absatz 4 LFG getroffen hat. Durchgesetzt werden könnte das Verbot auch in schweizerischen Flugzeugen im internationalen Luftraum. Im Hoheitsbereich anderer Staaten könnte es dagegen nur Anwendung finden, wenn diese auf die Durchsetzung ihres eigenen Rechts verzichten.

Nimmt man die Definition von Artikel 10a Absatz 1 BV, so handelt es sich bei der Zivilluftfahrt um eine «grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistung».

Ein Schutzzweck des Gesichtsverhüllungsverbots ist allerdings das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft, in der man sich mit offenem Gesicht begegnet (vgl. Ziff. 1.3.1.). Diesbezüglich unterscheidet sich die Situation in der Zivilluftfahrt wesentlich von derjenigen im öffentlichen Verkehr. Der öffentliche Verkehr findet fast ausschliesslich auf schweizerischem Staatsgebiet statt, und in den Fahrzeugen treffen viele Leute aufeinander, die sich dort frei bewegen
und jederzeit zu- und aussteigen. Im Flugverkehr dagegen spielen Binnenflüge auf schweizerischem Gebiet eine untergeordnete Rolle. Oft handelt es sich um Zubringer- oder Anschlussverbindungen für internationale Flüge. Flüge in die Schweiz und aus der Schweiz durchqueren in kurzer Zeit die Hoheitsgebiete zahlreicher Staaten mit unterschiedlichen Rechtsordnungen, auch was die Gesichtsverhüllung betrifft. Dazu kommt, dass sich 52 53 54

SR 0.748.0. Das Abkommen findet nur auf Privatluftfahrzeuge, nicht auf staatliche Luftfahrzeuge Anwendung (Art. 3 Bst. a des Abkommens).

SR 748.0 Der Staat, der die Lufthoheit hat, kann aber auf die Anwendung seines Rechts an Bord fremder Luftfahrzeuge verzichten: Artikel 11 Absatz 2 LFG ermächtigt den Bundesrat dazu: «Für ausländische Luftfahrzeuge kann der Bundesrat Ausnahmen zulassen, soweit dadurch die Vorschriften dieses Gesetzes über die Haftpflicht und die Strafbestimmungen nicht berührt werden».

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die Flugpassagiere überwiegend auf ihren Sitzen aufhalten, die ihnen persönlich zugewiesen sind, was die Kontakte zu anderen Passagieren eher verringert. Ein wichtiges Ziel des Gesichtsverhüllungsverbots ist es, eine einheitliche und praktikable Regelung zu schaffen. Unter diesen Umständen erscheint es richtig, das Gesichtsverhüllungsverbot nicht auf Personen an Bord von zivilen Luftfahrzeugen anzuwenden.55 Anders verhält es sich mit der dem Publikum offenstehenden Seeschifffahrt. Das Seeschifffahrtsgesetz vom 23. September 195356 bestimmt in Artikel 4 Absatz 1: «Auf hoher See gilt an Bord schweizerischer Seeschiffe ausschliesslich schweizerisches Bundesrecht. In Territorialgewässern gilt an Bord schweizerischer Seeschiffe schweizerisches Bundesrecht, soweit nicht der Uferstaat sein Recht zwingend anwendbar erklärt». Falls Kreuzfahrtschiffe unter Schweizer Flagge fahren, liegt zweifellos eine grundsätzlich von allen Personen nutzbare Dienstleistung vor. An Bord solcher Schiffe bewegen, begegnen und unterhalten sich die Gäste über eine lange Zeit hinweg; es geht nicht nur um einen Transport von A nach B. Im Unterschied zum Flugverkehr werden auch nicht in kürzester Zeit unterschiedliche Hoheitsgebiete tangiert.

Deshalb muss hier das Gesichtsverhüllungsverbot an allgemein zugänglichen Orten (nicht jedoch im Arbeitsbereich der Crew) Anwendung finden.

5.1.2

Keine Anwendung in diplomatischen und konsularischen Räumlichkeiten und Räumlichkeiten gemäss GSG (Art. 1 Abs. 2 Bst. b BVVG)

Dem Geltungsbereich des Gesetzes entzogen sind Räumlichkeiten, die dem diplomatischen und konsularischen Verkehr dienen oder von institutionellen Begünstigten nach Artikel 2 Absatz 1 GSG57 für dienstliche Zwecke benutzt werden.58 Solche Räumlichkeiten dienen der bilateralen und multilateralen Beziehungspflege mit anderen Staaten, internationalen Organisationen sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Die Anwendung des Gesichtsverhüllungsverbots in solchen Räumlichkeiten würde dem Ziel von Artikel 10a BV, gesellschaftliche Begegnungen zu ermöglichen, diametral zuwiderlaufen. Personen, mit denen das diplomatische und konsularische Personal zu tun hat, geniessen überdies häufig den Status der Immunität. Hinzu kommt, dass der Zutritt zu diplomatischen und konsularischen Räumlichkeiten meist nur auf persönliche Einladung hin möglich ist, womit das Kriterium des allgemein zugänglichen Ortes, an welches das Gesichtsverhüllungsverbot geknüpft ist 55

56 57 58

Anwendung finden muss das Gesichtsverhüllungsverbot aber in den Transitbereichen von Schweizer Flughäfen. Zwar halten sich Transitpassagiere in der Regel nur für eine kurze Zeit in einem separaten Bereich des Flughafens auf. Sie reisen nicht in die Schweiz ein, sondern warten auf ihren Anschlussflug. Allerdings ist der Transitbereich schweizerisches Hoheitsgebiet. Die Argumentation, die den Flugverkehr vom Geltungsbereich des Verbots ausnimmt (wechselnde staatliche Hoheitsbereiche), greift hier nicht. Für Personen im Transitbereich, die ihr Gesicht verhüllen wollen, können Flughafenbetreiber allenfalls abgetrennte Lounges vorsehen.

SR 747.30 SR 192.12 Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961, SR 0.191.01; Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963, SR 0.191.02.

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(Ziff. 5.3), nicht erfüllt ist. Das Personal diplomatischer und konsularischer Vertretungen darf jedoch weiterhin die Enthüllung des Gesichts zu verlangen, wenn es zur Erfüllung seiner Aufgaben (z. B. Visaerteilung, Ausstellung von Pässen und Identitätskarten) erforderlich ist.

5.2

Definition der Gesichtsverhüllung

Zunächst stellt sich die Frage, wann eine Gesichtsverhüllung vorliegt, die unter das Verbot fällt. Welche Teile des Kopfs sind dem Gesicht zuzurechnen, das nicht verhüllt werden darf? Der Schutzzweck des Verbots legt nahe, dass die Gesichtszüge entscheidend sind. Sie prägen die Individualität der Personen, die sich in allgemein zugänglichen Räumen mit offenem Gesicht begegnen sollen. Artikel 2 Absatz 1 BVVG orientiert sich an der Formulierung des österreichischen Anti-Gesichtsverhüllungsgesetzes.59 Verboten ist es, das «Gesicht ... zu verhüllen oder zu verbergen, so dass die Gesichtszüge nicht erkennbar sind.» Das «Verhüllen» bezieht sich auf Kleidungsstücke oder Tücher, während das «Verbergen» eine Unkenntlichmachung durch Gegenstände erfasst.60 In den französischen und italienischen Gesetzestexten wird nur ein Verb («dissimuler») verwendet, das den Sinn der beiden deutschen Verben erfasst.

Unter «Gesichtszügen» sind die für die Mimik einer Person entscheidenden Gesichtspartien (Augen, Nase und Mund) zu verstehen. Die Person muss in ihrer Individualität erkennbar sein, sonst ist von einer Gesichtsverhüllung auszugehen.

5.3

Zugänglichkeit für die Allgemeinheit (Art. 2 Abs. 1 BVVG)

Die in Artikel 10a Absatz 1 BV genannten Konstellationen, in denen das Gesichtsverhüllungsverbot Anwendung findet, überlappen sich zum Teil. Ihnen gemeinsam ist der Aspekt der Zugänglichkeit für die Allgemeinheit. Artikel 2 Absatz 1 BVVG stellt darauf ab und erfasst die Kategorien von Artikel 10a Absatz 1 BV in folgendem Übertretungstatbestand: «Es ist verboten, das Gesicht an öffentlichen oder privaten Orten, die der Allgemeinheit zur entgeltlichen oder unentgeltlichen Nutzung offenstehen, so zu verhüllen oder zu verbergen, dass die Gesichtszüge nicht erkennbar sind».

Dabei kann die «Allgemeinheit» ein unbegrenztes Publikum sein, wenn es zum Beispiel um die alltägliche Nutzung des öffentlichen Raums geht. Vom Begriff erfasst 59

60

Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit (AntiGesichtsverhüllungsgesetz ­ AGesVG), Bundesgesetzblatt der Republik Österreich 2017, Nr. 68 vom 08.06.2017, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at., §2 Abs. 1 AGesVG umschreibt die Gesichtsverhüllung wie folgt: «Wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind ...ist mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro zu bestrafen».

Unter den Begriff «Verbergen» kann auch die Unkenntlichmachung durch die Hände subsumiert werden. Ein Verstoss gegen das Verbot liegt aber nur vor, wenn die Hände systematisch, d. h. über eine längere Zeit hinweg, zur Verdeckung des Gesichts benutzt werden. Ein kurzes Hochziehen der Hände genügt nicht.

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wird aber auch ein nicht quantifiziertes Teilpublikum, das Lokalitäten nutzt, die einem bestimmten Zweck gewidmet sind. Dazu gehören zum Beispiel Gerichte, Schulen, Spitäler, der öffentliche Verkehr sowie Einkaufs- und Dienstleistungsbetriebe wie zum Beispiel Restaurants, Bars, Detailhandelsgeschäfte, Einkaufscenter, Kinos, Fussballstadien, Fitnesscenter, Tennisplätze, Schwimmbäder, Kletterhallen, Kunsteisbahnen, Coiffeure, Kosmetiksalons, Banken, Kurslokale, Arztpraxen und Apotheken.

5.3.1

Nicht vom Verbot erfasst: privater Raum

Nicht vom Gesichtsverhüllungsverbot erfasst wird der private Raum, soweit dort keine grundsätzlich von allen beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden (Art. 10a Abs. 1 BV). Privat genutzte Bauten, Wohnungen, Balkone, Gärten, Höfe, Vorplätze, aber auch Wiesen oder private Wälder, die dem Publikum nicht für den Durchgang offenstehen, fallen somit nicht in den Anwendungsbereich des Verbots.

Ob eine verhüllte Person von öffentlichem oder privatem Grund aus sichtbar ist oder nicht, ist irrelevant, wenn der Raum, in dem sie sich aufhält, nicht für die Nutzung durch die Allgemeinheit zur Verfügung steht. Nicht unter das Verbot fallen auch Räumlichkeiten, die ausschliesslich einer geschlossenen Gesellschaft für Anlässe zur Verfügung gestellt werden (z. B. Vermietung von Festsälen oder Tagungslokalen).

Bewegen sich Personen in allgemein zugänglichen Räumen, so gilt das Verbot.

Als private Räume, die vom Verbot nicht betroffen sind, müssen auch dem Publikum nicht zugängliche Büroräumlichkeiten in Firmen oder die in Ziffer 5 bereits genannten, nicht öffentlich zugänglichen Räume in Verwaltungsgebäuden sowie gemeinsame Räume in Mehrfamilienhäusern (Treppenhäuser, Waschküchen, Aufenthaltsräume, gemeinsame Garagen, Spielplätze, Gärten) gelten. Sie fallen nicht unter Artikel 10a Absatz 1 BV. Da es sich um Räume handelt, die privat genutzt werden, spielt auch hier eine allfällig bestehende Einsehbarkeit von aussen keine Rolle. Eine Firma, die in ihrem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Arbeitsbereich verhüllte Frauen beschäftigt, darf dies ebenso tun wie eine Hauseigentümerin oder ein Hauseigentümer verhüllten Frauen die entgeltliche oder unentgeltliche Nutzung einer Liegenschaft zu Wohnzwecken einräumen darf. Der Umstand, dass auch fremde Personen verhüllten Frauen begegnen können (z. B. Mitarbeitende der Post, Handwerkerinnen und Handwerker, Pizzalieferdienste, Spitex-Angestellte), ändert am privaten Charakter dieser Räumlichkeiten, die dem Publikum nicht zugänglich sind, nichts. 61 Aus diesen Gründen nimmt der Bundesrat die von einigen Teilnehmenden in der Vernehmlassung eingebrachte Forderung, auch gemeinsam genutzte Räumlichkeiten in

61

Umgekehrt können Unternehmen die Gesichtsverhüllung auch in Räumlichkeiten ausschliessen, die dem Publikum nicht zugänglich sind. Zu denken ist etwa an Fälle, in denen eine Verhüllung wegen erhöhter Sicherheitsanforderungen, aus hygienischen oder arbeitstechnischen Gründen unzweckmässig ist. Beispiele sind der sogenannte «Airside-Perimeter» in Flughäfen, in dem strikte Zugangsbeschränkungen und Sicherheitsvorschriften gelten, aber auch Operationssäle an Spitälern oder Kundenschalter.

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Mehrfamilienhäusern dem Geltungsbereich des Gesichtsverhüllungsverbots zu unterstellen, nicht auf.62 Artikel 10a BV verbietet die Gesichtsverhüllung an allgemein zugänglichen Orten, begründet aber keinen Anspruch, verhüllten Personen, die private Räume nutzen, nie begegnen zu müssen.

5.3.2

Fahrzeuge und Transport

5.3.2.1

Öffentlicher Verkehr

Bei den Fahrzeugen ist zu differenzieren. Der öffentliche Verkehr, zu dem neben den im Staatseigentum stehenden Betrieben auch konzessionierte private Transportunternehmen zählen, bietet Dienstleistungen an, die grundsätzlich alle Personen nutzen können. Im öffentlichen Verkehr kommt es zu ungeplanten Begegnungen zahlreicher fremder Leute auf engem Raum. Das Gesichtsverhüllungsverbot findet hier Anwendung. Zum öffentlichen Verkehr zählen Bahnen, Trams, Busbetriebe, Postautos, Kursschiffe, aber auch Seilbahnen.

5.3.2.2

Allgemein nutzbare private Transportmittel

Gleich wie der öffentliche Verkehr zu behandeln sind privat betriebene Seilbahnen, Standseilbahnen, Sessellifte, Ausflugsschiffe, Fähren oder Kutschen, die Passagiere transportieren. Dazu gehören auch Dienstleister, die im öffentlichen Raum Passagiere aufnehmen, wie zum Beispiel Taxiunternehmen oder Firmen, die mittels Apps Fahrerinnen oder Fahrern Passagiere zuhalten. Auch deren Angebote stehen grundsätzlich allen Personen entgeltlich oder unentgeltlich zur Nutzung offen. Vom Verbot ausgenommen sind im Voraus bestellte Fahrten von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel.

Hier ist die Analogie zu privat genutzten Fahrzeugen (vgl. Ziff. 5.3.2.3) überzeugender als diejenige zum öffentlichen Verkehr.

5.3.2.3

Privat genutzte Fahrzeuge

Als private Räume, die vom Gesichtsverhüllungsverbot nicht erfasst werden, müssen Fahrzeuge gelten, die privat genutzt werden, selbst wenn sie sich auf öffentlichem Grund bewegen oder dort abgestellt sind. Verhüllte Personen in Privatautos, privaten Kutschen, aber auch Segeljachten oder Motorbooten fallen somit nicht unter das Verhüllungsverbot, unabhängig davon, ob die Verhüllung von aussen her sichtbar ist (Cabrios, geöffnete Fenster, offenes Deck) oder nicht. Keine Rolle spielen die Eigentumsverhältnisse an privat genutzten Fahrzeugen. Gekaufte Fahrzeuge sind ebenso vom Verbot ausgenommen wie geleaste, gemietete oder geliehene Fahrzeuge oder

62

Ziff. 2.2.1 des Ergebnisberichts, abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD

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auch Fahrzeuge, deren Nutzung im Rahmen eines Car-Sharing-Pools erfolgt.63 Aus Gründen der Verkehrssicherheit verboten ist die Gesichtsverhüllung aber nach geltendem Recht immer für Fahrzeuglenkerinnen und Fahrzeuglenker.64 Begründen lässt sich die Nichtanwendung des Verhüllungsverbots in diesen Fällen mit deutlichen Unterschieden zu den Dienstleistungen des öffentlichen Verkehrs oder vergleichbarer privater Transportangebote, die grundsätzlich allen Personen zur Nutzung offenstehen (vgl. Ziff. 5.3.2.1 und 5.3.2.2). Privatautos werden von Personen genutzt, die einander kennen oder willentlich Fahrgemeinschaften eingehen. Der Grundgedanke des Gesichtsverhüllungsverbots, der Schutz des Zusammenlebens in einer offenen Gesellschaft, wird hier nicht in Frage gestellt.65 Das Gesichtsverhüllungsverbot begründet keinen Anspruch, verhüllte Frauen nie sehen zu müssen (vgl.

Ziff. 5.3.1).

5.3.2.4

Fahrzeuge des Langsamverkehrs oder der Freizeitgestaltung

Auf Fahrzeuge und Fortbewegungsmittel des Langsamverkehrs oder der Freizeitgestaltung (z. B. Fahrräder, E-Bikes, Rikschas, Trottinette, Skatebords, Inlineskates usw.) findet das Gesichtsverhüllungsverbot Anwendung. Im Gegensatz zu Autos, selbst solchen mit offenen Verdecken, sind diese Fortbewegungsmittel räumlich nicht wirklich umgrenzt. Ein gewisser Kontakt zum Publikum ist bei diesen Fortbewegungsmitteln, die meist innerorts genutzt werden, normal. Die Analogie zu Fussgängerinnen und Fussgängern ist hier naheliegend.

5.3.3

Nicht vom Verbot erfasst: virtuelle Räume und Medien

Das Gesichtsverhüllungsverbot erfasst nur reale, nicht aber virtuelle Räume. Der öffentliche Raum beziehungsweise Orte, die öffentlich zugänglich sind, sind physisch zu verstehen. Wohl gibt es Straftatbestände, die die Öffentlichkeit auch auf den virtuellen Raum ausdehnen: so namentlich Artikel 261bis StGB (Rassendiskriminierung),

63

64

65

Zwar bieten auch Autoverleihfirmen oder Car-Sharing-Pools Dienstleistungen an, die grundsätzlich allen Personen offenstehen. Angeboten wird aber nur das Fahrzeug, nicht der Transport. Über die Nutzung solcher Fahrzeuge entscheiden Private ebenso frei, wie wenn es sich um ein Privatfahrzeug handeln würde.

Artikel 31 Absatz 1 des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 1958 (SVG, SR 741.01) verlangt, dass Fahrzeuglenkerinnen und -lenker das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass sie ihren Vorsichtspflichten nachkommen können. Mit dem äusserst eingeschränkten Gesichtsfeld, das eine Gesichtsverhüllung mit sich bringt, wäre dies nicht mehr möglich, weshalb in solchen Fällen eine Fahrunfähigkeit nach Artikel 31 Absatz 2 SVG anzunehmen wäre. Ausnahmen gelten allenfalls für Blaulichtorganisationen, Militär und Zivilschutz, wenn Masken aus Sicherheitsgründen (z. B. Schutz vor giftigen Gasen) auch am Steuer notwendig sind.

Dies gilt umso mehr, als sich die Fahrzeuge auf den Strassen in der Regel zügig bewegen und Publikumskontakte somit kaum je stattfinden.

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der öffentliche Aufrufe zu Hass oder Diskriminierung sowie gegen die Menschenwürde verstossende, öffentliche Herabsetzungen für strafbar erklärt, wenn sich diese Verhaltensweisen aus Gründen der Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen richten.66 Bei der Vergehensstrafnorm von Artikel 261bis StGB geht es darum, zutiefst diskriminierende, entwürdigende und abstossende Verhaltensweisen, die auch Gewaltakte gegen die Betroffenen stimulieren oder begünstigen können, zu sanktionieren. Dem Gesichtsverhüllungsverbot liegt ein anderer Schutzzweck zugrunde: die Begegnung mit offenem Gesicht als Voraussetzung des Zusammenlebens in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft (Ziff. 1.3.1). Im virtuellen Raum können alle jederzeit selber entscheiden, was sie sehen und welchen Angeboten sie folgen möchten.

Das Gesichtsverhüllungsverbot betrifft physische Personen und regelt einen Teilaspekt der öffentlichen Ordnung (vgl. Ziff. 1.3, einleitender Absatz). In den Bereich der Medien greift es nicht ein. Solche Einschränkungen forderte denn auch niemand im Vorfeld der Abstimmung. Sie wären mit Blick auf die in der Bundesverfassung verankerten Grundrechte der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV) sowie der Medienfreiheit (Art. 17 BV) unhaltbar. Nicht zum Tragen kommt das Gesichtsverhüllungsverbot somit in den Printmedien, in den sozialen Medien, aber auch im Fernsehen. Das gilt nicht nur für die Berichterstattung aus dem In- und Ausland, sondern zum Beispiel auch für Diskussionsrunden im Studio, in denen die Verhüllung oder Vermummung das Thema ist. In solchen Fällen sollen die verantwortlichen Redaktionen die Möglichkeit haben, auch verhüllte Frauen einzuladen, damit sich das Publikum frei eine eigene Meinung bilden kann, wie es das Radio- und Fernsehgesetz bei der Umschreibung des Programmauftrags der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) verlangt.67

5.4

Ausnahmen vom Gesichtsverhüllungsverbot (Art. 2 Absätze 2 und 3 BVVG)

5.4.1

Auslegungsgrundsätze

Die Absätze 1 und 3 von Artikel 10a BV halten Ausnahmen vom Gesichtsverhüllungsverbot fest. Keine Geltung hat das Verbot in Sakralstätten (Art. 10a Abs. 1 BV).

Das Gesetz soll zudem Ausnahmen aus Gründen «der Gesundheit, der Sicherheit, der

66

67

Das Bundesgericht setzte sich im Entscheid 126 IV 176, E.2, intensiv mit dem Begriff der Öffentlichkeit einer Äusserung nach Artikel 261bis StGB auseinander. Öffentlich sei eine Äusserung nach allgemeiner Auffassung dann, «wenn sie von unbestimmt vielen Personen oder von einem grösseren, nicht durch persönliche Beziehungen zusammenhängenden Personenkreis wahrgenommen werden kann» (vgl. S. 178).

So Artikel 24 Absatz 4 Buchstabe a des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG, SR 784.40): «Die SRG trägt bei zur ... freien Meinungsbildung des Publikums durch umfassende, vielfältige und sachgerechte Information insbesondere über politische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge». Anwendbar ist das Gesichtsverhüllungsverbot dagegen z. B. bei Führungen durch Fernsehstudios oder Medienräumlichkeiten. Es handelt sich hier um Dienstleistungen, die der Allgemeinheit zur Nutzung offenstehen.

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klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums» vorsehen (Art. 10a Abs. 3 BV).

Die in der Verfassung genannten Ausnahmen werden zwar abschliessend aufgezählt («ausschliesslich»). Die Verfassungsbestimmung ordnet sich aber in die Bundesverfassung als Ganzes ein. Sie ist im Rahmen des geltenden Methodenpluralismus68 auszulegen und steht nicht über anderen Verfassungsnormen. Überdies ist die Bundesverfassung mit Blick auf ihre Einheit zu interpretieren (verfassungsharmonisierende Auslegung): «Dabei gilt in der harmonisierenden Auslegung der Verfassung der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Verfassungsnormen, wobei dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz besondere Bedeutung zukommt.»69 Der Gesetzgeber muss bei der Umsetzung einer Verfassungsnorm «alle von der Sache berührten Verfassungsanliegen» mitbedenken, um sicherzustellen, dass die Rechtsordnung möglichst widerspruchsfrei bleibt.70 Dies ist bei der Festlegung der Gesichtsverhüllungen, die von der Strafbarkeit ausgenommen sind, zu beachten. Der Wunsch der Initiantinnen und Initianten nach einer neuen Verfassungsnorm ist nicht ausschlaggebend. Er kann allerdings im Rahmen der Entstehungsgeschichte einer Norm (historische Auslegung) berücksichtigt werden.71 In Beiträgen der Lehre, die nach der Annahme der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» verfasst wurden, wird diese Haltung, die der Bundesrat schon im erläuternden Bericht zur Vernehmlassung des Vorentwurfs vertrat, zum Teil kritisiert. Eine solche Auslegung, die andere Verfassungsbestimmungen einbeziehe, trage dem «oppositionellen Charakter» der Initiative und der ihr zugrundeliegenden «hemmenden Steuerungsabsicht» zu wenig Rechnung.72 68

69 70

71

72

Zum vom Bundesgericht angewendeten Methodenpluralismus bei der Auslegung von Rechtstexten, vgl. BGE 145 IV 364 E. 3.3 S. 367: «Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, d. h. nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrundeliegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode. ... Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis (BGE 142 IV 105, E. 5.1 S. 110; BGE 143 IV 122 E. 3.2.3 S. 125). Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen.» Die Auslegung des Verfassungsrechts folgt grundsätzlich denselben methodischen Regeln, wie sie für die Auslegung von Gesetzes- und Verordnungsrecht gelten, vgl. dazu die Analyse vom 8. April 2014 des Bundesamtes für Justiz über die Auslegung der Artikel 121a und 197 Ziffer 9 der Bundesverfassung zuhanden der Arbeitsgruppe «Auswirkungen der Masseneinwanderungsinitiative auf die völkerrechtlichen Verträge der Schweiz», Ziff. 2.1 S. 4, www.sem.admin.ch > fza > auslegung-bv-d.

BGE 145 IV 364 E. 3.3 S. 367.

Analyse vom 8. April 2014 des Bundesamtes für Justiz über die Auslegung der Artikel 121a und 197 Ziffer 9 der Bundesverfassung zuhanden der Arbeitsgruppe «Auswirkungen der Masseneinwanderungsinitiative auf die völkerrechtlichen Verträge der Schweiz», Ziff. 2.2 S. 5, www.sem.admin.ch > fza > auslegung-bv-d.

Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 in Erfüllung des Postulats 07.3764 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. Oktober 2007 und des Postulats 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 20. November 2008, BBl 2010 2263, Ziff. 8.7.1.2.

Ehrenzeller/Müller/Schindler, Jusletter 28. März 2022, Rz 43-51. Deshalb sei auf gesetzliche Ausnahmegründe, die mit Blick auf die Einheitlichkeit der Grundrechtsordnung über in Artikel 10a Absatz 3 BV wörtlich genannten Motive hinausgehen, konsequent zu verzichten, vgl. insb. Rz. 49 f.

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Dem ist entgegenzuhalten, dass es keine Normenhierarchie in der Bundesverfassung gibt. Die Annahme, eine Volksinitiative, die ein materiell eng begrenztes, punktuelles Thema wie jenes der Gesichtsverhüllung aufgreift, stehe in Opposition zu einer Vielzahl zentraler Verfassungsnormen, die weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens prägen und in der Bevölkerung breit abgestützt sind, erscheint zudem wenig plausibel.

Aus der Sicht des Bundesrats gibt es keinen Grund, von den bewährten Auslegungsgrundsätzen abzuweichen, die neue Verfassungsbestimmungen nicht isoliert betrachten, sondern in den Kontext der gesamten Verfassungsordnung stellen.

Verschiedene Vernehmlassungsteilnehmende fordern den Bundesrat auf, im Umsetzungsgesetz zum Gesichtsverhüllungsverbot weitere Ausnahmen aufzunehmen. Genannt werden Ausnahmen in den Bereichen der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Persönlichkeitsrechte, der Gleichstellung von Frau und Mann sowie der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit.73 In der Lehre wird zum Teil kritisiert, die vom Bundesrat im Vorentwurf vorgesehenen Ausnahmen liessen mit Blick auf die Grundrechte und das Prinzip der Verhältnismässigkeit selbst triviale Verhüllungspraktiken zu, während eine Ausnahme für religiöse Gesichtsverhüllungen fehle. Dies sei nur mit dem mutmasslichen Willen der Initiantinnen und Initianten erklärbar, der aber nicht ausschlaggebend sein dürfe.74 Das Verbot sei nahezu ausschliesslich auf islamische Gesichtsschleier anwendbar, was mit Blick auf das Diskriminierungsverbot und die hohen Hürden, die für die Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen gelten, als problematisch betrachtet wird.75 Das Gesichtsverhüllungsverbot schränkt verschiedene durch die Bundesverfassung und die Menschenrechtspakte garantierte Grundrechte ein, wie der Bundesrat schon in der Botschaft zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» kritisch festhielt.76 Namentlich die Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) ist aber gewollt. Das zeigt der Text von Artikel 10a BV, der in Absatz 1 eine Abweichung vom Verbot lediglich für «Sakralstätten» vorsieht. Artikel 10a BV stellt weder bei der Umschreibung des Geltungsbereichs des Gesichtsverhüllungsverbots (Abs. 1) noch bei den Ausnahmen (Abs. 3) auf ideelle Motive wie die politische, religiöse oder weltanschauliche Überzeugung
von Personen ab, die ihr Gesicht verhüllen wollen ­ mit der einzigen Ausnahme der «Sakralstätten». Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Gesichtsverhüllung an Orten, die für Zusammenkünfte religiöser Gemeinschaften und die Ausübung religiöser Handlungen bestimmt sind, erlaubt sein soll, während sie an andern, allgemein zugänglichen Orten verboten wird. Das folgt aus der von Volk und Ständen angenommenen Verfassungsnorm selber und nicht aus einem «mutmasslichen Willen» der Initiantinnen und Initianten. Dass das Gesichtsverhüllungsverbot aufgrund der verschiedenen Ausnahmen fast nur noch religiös motivierte

73 74 75 76

Ziff. 2.2.2.1 des Ergebnisberichts, abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD Benedict Vischer, Wie ist das Verhüllungsverbot mit den Grundrechten zu vermitteln?, Jusletter 4. April 2022, Rz. 21 und 29.

Benedikt Vischer, Jusletter 4. April 2022, Rz. 29.

BBl 2019 2913, Ziff. 4.2.3, S. 2339 f. Betroffen sind namentlich das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 13 Abs. 1 BV), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) sowie das Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV), aber auch weitere Rechte wie die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) oder die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV).

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Verschleierungen betreffe, ist nicht richtig. Zahlenmässig dürften vermummte Personen bei Kundgebungen und sportlichen Grossveranstaltungen deutlich mehr ins Gewicht fallen als Personen, die ihr Gesicht aus religiösen Gründen verhüllen.

5.4.2

Sakralstätten (Art. 2 Abs. 2 Bst. a BVVG)

Sakralstätten werden gemäss Artikel 10a Absatz 1 BV nicht vom Gesichtsverhüllungsverbot erfasst. Als Sakralstätten müssen alle Räumlichkeiten gelten, die zur Ausübung einer Religion bestimmt sind oder für eine bestimmte Zeitdauer für die Ausübung einer Religion genutzt werden (z. B. zeitweilige Miete eines Raums, der auch für andere Zwecke verwendet wird). Der Begriff ist nicht auf eine bestimmte Religion beschränkt. Sakralstätten sind Moscheen und muslimische Gebetsräume, aber zum Beispiel auch Kirchen, Synagogen, buddhistische Tempel und Friedhöfe sowie Gebetsstätten anderer Religionsgemeinschaften. Als Sakralstätten müssen aber auch mit Gebetsstätten verbundene Hofanlagen, Gärten, Krematorien, Speiselokale sowie Unterrichts- und Aufenthaltsräume gelten. Das Hausrecht bleibt bei den Religionsgemeinschaften. Diese entscheiden, ob sie Personen mit verhülltem Gesicht Zutritt zu ihren Räumlichkeiten gewähren wollen oder nicht.77

5.4.3

Schutz und Wiederherstellung der Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Bst. b BVVG)

Nicht strafbar sind Gesichtsverhüllungen zum Schutz und zur Wiederherstellung der eigenen Gesundheit oder der Gesundheit Dritter. Zur Bekämpfung von Epidemien kann das Tragen von Gesichtsmasken im öffentlichen Raum sogar vorgeschrieben sein. Die Gesichtsverhüllung muss für diese Zwecke geeignet sein. Blosse Tücher, die um das Gesicht gewickelt werden, genügen nicht, ausser wenn in einer Notlage, etwa zur Blutstillung, improvisiertes Handeln erforderlich ist. Unter die Ausnahme fallen aber sicher medizinische Verbände sowie Hygiene- oder andere Masken zum Schutz vor Atemwegserkrankungen, Allergien oder Luftschadstoffen, bei Unverträglichkeiten gegen Licht und UV-Strahlen oder zur Zufuhr von Sauerstoff. Darunter können auch Verhüllungen fallen, mit denen eine Person schwere Entstellungen im Gesicht, die sie nicht öffentlich zeigen möchte, abdeckt.78 Es stellt sich die Frage, ob man zur Verhinderung von Missbräuchen in den genannten Fällen ein ärztliches Attest verlangen soll. Ein Attest könnte die Aufgabe der kantonalen Strafverfolgungsbehörden erleichtern. Dennoch sprechen gute Gründe dafür, auf das Erfordernis eines Attests zu verzichten:

77

78

Aus den gleichen Gründen, die dazu führen, Sakralstätten vom Gesichtsverhüllungsverbot auszunehmen, um sich an Versammlungsorten von Religionsgemeinschaften gemäss der eigenen religiösen Überzeugung zu kleiden, müssen Religionsgemeinschaften frei darüber entscheiden können, ob sie verhüllten Personen den Zutritt zu ihren Räumlichkeiten gestatten oder nicht.

In diesem Fall schützt die Gesichtsverhüllung die psychische Gesundheit der betreffenden Person.

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­

Aufwand und Nutzen würden in einem grossen Missverhältnis stehen. Das Gesichtsverhüllungsverbot ist ein Übertretungstatbestand. Die Echtheit und Aussagekraft von Attesten sind nur schwierig überprüfbar, namentlich auch, wenn sie im Fall von Touristinnen im Ausland ausgestellt werden.

­

Hygienemasken sind v. a. im asiatischen Raum weit verbreitet, um sich in Menschenmengen vor Atemwegsinfektionen zu schützen.

­

Beim Schutz vor klimatischen Bedingungen (Art. 2 Abs. 2 Bst. d BVVG; vgl.

Ziff. 5.4.5) kann man auch kein Attest verlangen.

­

Ein Missbrauch ist zumindest dann, wenn unter hygienischen Gesichtspunkten ungeeignete Gesichtsbedeckungen verwendet werden, relativ einfach erkennbar.

5.4.4

Gewährleistung der persönlichen Sicherheit (Art. 2 Abs. 2 Bst. c BVVG)

Nicht strafbar sind Gesichtsverhüllungen zur Gewährleistung der Sicherheit. Gemeint ist dabei die persönliche Sicherheit, nicht die öffentliche Sicherheit. Darunter fallen zum Beispiel Schutzmassnahmen im Verkehr wie die von der Strassenverkehrsverordnung vorgeschriebenen Integralhelme für Lenkerinnen und Lenker von Motorrädern und Mitfahrende sowie Lenkerinnen und Lenker von Motorfahrrädern.79 Ausnahmen gelten auch für Sicherheitsausrüstungen bei der Ausübung von Sport- und anderen Freizeitaktivitäten (z. B. Ausrüstungen beim Fechten, für das Tauchen, Helme im Motorrennsport). Unter diese Bestimmung fallen auch Vorkehrungen zur Sicherheit am Arbeitsplatz wie etwa der Schutz des Gesichts beim Schweissen, gegen Staubentwicklung, bei gefährlichen industriellen Tätigkeiten, beim Hantieren mit Giften oder mit Tieren (z. B. Imkerinnen und Imker) sowie bei Einsätzen im Sicherheitsbereich (z. B. Gas- und Schutzmasken oder Maskierungen zur Gewährleistung der Anonymität, die Polizei, Militär, Feuerwehr oder Sicherheitsdienste rechtmässig verwenden).

5.4.5

Schutz vor klimatischen Bedingungen (Art. 2 Abs. 2 Bst. d BVVG)

Straflos bleibt die Gesichtsverhüllung zum Schutz vor klimatischen Bedingungen, zum Beispiel vor Kälte bei Sport- und Freizeitaktivitäten im Winter oder beim Aufenthalt in grosser Höhe, aber auch bei grosser Hitze, heftigem Regen, Hagel oder Wind. Eine scharfe Abgrenzung etwa nach Temperaturgraden ist unrealistisch und macht keinen Sinn, da Menschen Temperatur unterschiedlich empfinden. Missbräuche dürften sich dennoch in Grenzen halten: So wird sich eine im Gesicht verhüllte Person nicht auf den Schutz vor Kälte berufen können, wenn sie Kleider trägt, die wenig geeignet erscheinen, um Kälte abzuhalten.

79

Artikel 3b der Verkehrsregelnverordnung (VRV) vom 13. November 1962, SR 741.11.

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5.4.6

Pflege des einheimischen Brauchtums (Art. 2 Abs. 2 Bst. e BVVG)

Artikel 10a Absatz 3 BV nimmt das einheimische Brauchtum vom Gesichtsverhüllungsverbot aus. «Einheimisches Brauchtum» erfasst sicher klassische Volksbräuche wie die Fasnacht, das Silvesterchlausen, die Gansabhauet in Sursee usw. Zum Brauchtum sind auch religiös konnotierte Feste und Bräuche zu zählen, wie etwa Prozessionen, aber auch die Tradition, bei Hochzeiten oder Beerdigungen das Gesicht zu verschleiern.80 Ein Brauchtum kann in weiten Teilen des Landes oder nur in einer Gegend oder an einem Ort verbreitet sein.

«Einheimisch» darf nicht rein statisch interpretiert werden. Brauchtum, das aus dem Ausland kommt und sich über eine längere Zeit hinweg gesellschaftlich verbreitet hat, ist ebenfalls in die Ausnahme einzubeziehen. So ist zum Beispiel Halloween ein Brauch, bei dem die Gesichtsverhüllung zulässig sein muss.

5.4.7

Künstlerische und unterhaltende Darbietungen (Art. 2 Abs. 2 Bst. f BVVG)

Nicht ohne weiteres unter den Begriff des «einheimischen Brauchtums» subsumieren lassen sich künstlerische und unterhaltende Aktivitäten, bei denen das Gesicht verhüllt wird. Solche Darbietungen kommen an «öffentlichen oder privaten Orten ..., die der Allgemeinheit zur entgeltlichen oder unentgeltlichen Nutzung offenstehen» (Art. 2 Abs. 1 BVVG) häufig vor. Zu denken ist etwa an Strassenkunst, Auftritte verkleideter Figuren aus der Märchen-, Comic- und Filmwelt, an Anlässe wie die Streetparade, an Cosplay-Veranstaltungen, aber auch an Bachelorpartys und Kindergeburtstage. Wie beim einheimischen Brauchtum handelt es sich um in der Schweiz gängige Aktivitäten, die weder hinsichtlich des Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft (Ziff. 1.3.1) noch des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Ziff. 1.3.2) nennenswerte Probleme aufwerfen.81 Insofern besteht eine inhaltliche Nähe zum Brauchtum. Künstlerische und unterhaltende Darbietungen, die regelmässig auf bestimmten Strassen oder Plätzen stattfinden, können sich auch zu lokalen Traditionen verfestigen.

Zwar zählt Artikel 10a Absatz 3 BV die Ausnahmegründe abschliessend auf. Dass solche Aktivitäten nicht verboten werden sollen, vertrat aber schon das Egerkinger

80

81

Es gibt Traditionen, nach denen eine Braut bei ihrer Hochzeit einen hellen Schleier trägt oder die Trauernde an der Beerdigung einen schwarzen Gesichtsschleier. Die Ausnahme muss auch gelten, wenn der Schleier auf dem Weg an einen solchen Anlass getragen wird.

Aufdringliches oder aggressives Verhalten einzelner verkleideter Personen in Innenstädten können die lokalen Behörden im Rahmen ihrer Zuständigkeit zum Schutz der öffentlichen Ordnung bewältigen.

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Komitee, das die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» lanciert hatte, im Vorfeld der Abstimmung.82 Die Bestimmungen der Bundesverfassung, die alle auf der gleichen Hierarchiestufe stehen, sind mit Blick auf die Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Verfassung auszulegen (verfassungsharmonisierende Auslegung, vgl. Ziff.5.4.1). Künstlerische und unterhaltende Darbietungen fallen in den Schutzbereich verschiedener von internationalen Menschenrechtspakten und der Bundesverfassung garantierter Grundrechte wie die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), die Kunstfreiheit (Art. 21 BV) und die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV). Künstlerische und unterhaltende Darbietungen vereiteln die Schutzzwecke des Gesichtsverhüllungsverbots nicht.83 Sie sind breit akzeptiert und werden gemeinhin sogar als wichtige Ausdrucksformen des Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft betrachtet. In der Vernehmlassung war die Ausnahme solcher Darbietungen vom Gesichtsverhüllungsverbot unbestritten.84

5.4.8

Werbezwecke (Art. 2 Abs. 2 Bst. g BVVG)

Vom Verhüllungsverbot auszunehmen sind auch Gesichtsverhüllungen zu Werbezwecken. Personen, die als Schokolade-Hasen für eine Firma unterwegs sind, die als Murmeltiere, Kühe oder Steinböcke eine Ferienregion promoten, die als Bälle oder Seehunde für einen Fussball- oder Schwimmanlass werben oder als Märchenfiguren für einen Vergnügungspark auftreten, sollen das weiterhin tun dürfen. Dasselbe gilt für Personen, die politische Werbung machen, indem sie sich zum Beispiel an Versammlungen oder Standaktionen ihrer Partei als Parteiemblem verkleiden.85 Wie bei den in Ziffer 5.4.7 genannten Konstellationen erklärte das Initiativkomitee der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» vor der Abstimmung, das Verhüllungsverbot richte sich nicht gegen Werbemaskottchen.86 Eine solche Ausnahme enthielt der Initiativtext allerdings nicht; sie fehlt in Artikel 10a Absatz 3 BV. Auch bei

82

83

84 85 86

Das Initiativkomitee führte aus, dass sich «verkleidete Strassenkünstler» und «Kulturschaffende ... keine Sorgen machen» müssten. Von ihnen gehe «keine Sicherheitsgefährdung aus», und mit solchen Aktivitäten sei» auch keine demokratiefeindliche Botschaft verbunden». Vgl. Egerkinger Komitee, Argumentarium zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», https://verhuellungsverbot.ch > portfolio > klar-definierte-ausnahmen.

Der Kanton Tessin, dessen seit dem 1. Juli 2016 in Kraft stehender Artikel 9a der Kantonsverfassung (Costituzione della Repubblica e Cantone Ticino vom 14. Dezember 1997, RS 131.229) die Gesichtsverhüllung verbietet, sieht unter anderem Ausnahmen für Feiern und Darbietungen religiöser, traditioneller, kultureller, künstlerischer und unterhaltender Art sowie Abdankungsanlässe («... feste e manifestazioni religiose, tradizionali, culturali, artistiche, ricreative o commemorative ...») vor. Vgl. Artikel 4 der Legge sulla dissimulazione del volto negli spazi pubblici (LDiss) vom 23. November 2015, RS 550.200.

Ziff. 2.2.2.6 des Ergebnisberichts, abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD Unzulässig ist natürlich Werbung mittels Gesichtsverhüllungen, die im Fokus des Verbots stehen.

Als Werbe-Maskottchen verkleidete Personen seien kein Sicherheitsrisiko und würden die Demokratie nicht in Frage stellen, siehe Egerkinger Komitee, Argumentarium zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», https://verhuellungsverbot.ch/ > portfolio > klar-definierte-ausnahmen.

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diesen Aktivitäten ist jedoch klar, dass sie die Schutzzwecke des Gesichtsverhüllungsverbots (Ziff. 1.3.1 und 1.3.2) in keiner Weise in Frage stellen. In der Vernehmlassung opponierte nur eine Einzelperson aus grundsätzlichen Erwägungen gegen eine Ausnahme für solche Aktivitäten.87 Werbung und Unterhaltung können auch fliessend ineinander übergehen, zum Beispiel in Ferienregionen, in denen Tourismusvereine verkleidete Figuren in Wanderund Skigebiete schicken, um die Kinder- und Familienfreundlichkeit eines Ortes zu betonen. Auch hier kommt die verfassungsharmonisierende Auslegung zum Tragen.

Artikel 10a Absatz 3 BV, das in Artikel 27 BV gewährleistete Grundrecht der Wirtschaftsfreiheit und im Fall der politischen Werbung auch das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV) sind möglichst widerspruchsfrei miteinander in Einklang zu bringen.

Der Einbezug der gesamten Verfassungsordnung bei der Definition der Ausnahmen vom Gesichtsverhüllungsverbot war auch Gegenstand eines Bundesgerichtsurteils zum kantonalen Gesichtsverhüllungsverbot im Kanton Tessin, das seit dem 1. Juli 2016 gilt.88 Als Maskottchen verkleidete Personen, die Werbung für Geschäfte oder Sportanlässe machen würden, würden den freien gesellschaftlichen Austausch («libera interazione sociale») nicht gefährden, befand das Bundesgericht. Solche Aktivitäten seien auch keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Der Kanton Tessin müsse deshalb im Gesetz, das die Verfassungsbestimmung umsetzt, auch Ausnahmen für solche Werbeaktivitäten vorsehen.89

5.4.9

Ausübung der Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit an öffentlichen Orten (Art. 2 Abs. 3 BVVG)

Sofern die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigt werden, kann die zuständige Behörde Gesichtsverhüllungen an öffentlichen Orten bewilligen, wenn die Gesichtsverhüllung zur Ausübung der Grundrechte der Meinungsfreiheit oder der Versammlungsfreiheit für den eigenen Schutz notwendig ist (Bst. a) oder eine Form der bildlichen Meinungsäusserung darstellt (Bst. b). Hier geht es vor allem darum, eine Balance zu finden. Einerseits besteht ein öffentliches Interesse, anonym begangener Straftaten zu vereiteln und zu verfolgen. Andererseits gibt es den individuellen Anspruch, die Grundrechte der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit im öffentlichen Raum ohne unverhältnismässige Einschränkungen wahrnehmen zu können.

87 88 89

Ziff. 2.2.2.7 des Ergebnisberichts, abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD BGE 144 I 281 vom 20. September 2018 BGE 144 I 281 E. 7.3 und 7.4 S. 304 f.

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5.4.9.1

Vermummungsverbot: Ausdehnung auf die ganze Schweiz

Einer der Schutzzwecke des Gesichtsverhüllungsverbots, den auch die Initiantinnen und Initianten der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» im Vorfeld der Abstimmung hervorhoben90, ist der Schutz der öffentlichen Ordnung. Deshalb sollen mit Artikel 10a BV Vermummungen zwecks anonymer Begehung von Straftaten in der ganzen Schweiz unterbunden werden (vgl. dazu Ziff. 1.3.2). Vermummte Personen treten häufig in Gruppen vor allem an Grossanlässen auf (gewalttätige Demonstrierende, Hooligans an Sportanlässen). Fünfzehn Kantone kennen gegenwärtig spezifische Vermummungsverbote für Kundgebungen und/oder Sportanlässe.91

5.4.9.2

Rechtsprechung zu kantonalen Vermummungsverboten

Die Rechtsprechung anerkennt das öffentliche Interesse, durch Verbote der Unkenntlichmachung des Gesichts zu verhindern oder zumindest zu erschweren, «dass es bei grösseren Veranstaltungen auf öffentlichem Grund zu Ausschreitungen kommt und dass die Teilnehmer aus der Anonymität heraus Straftaten begehen und damit die Ermittlungstätigkeit der Polizei erschweren oder vereiteln können.»92 In Entscheiden, die sich mit kantonalen Vermummungsverboten befassen, bestätigte das Bundesgericht die Rechtmässigkeit solcher Verbote und damit verbundener Einschränkungen der Grundrechte der Meinungsfreiheit (Art. 16 BV), der Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV), der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und allenfalls auch des Schutzes der Privatsphäre, wenn: ­

eine genügend konkrete gesetzliche Grundlage besteht;

­

der Eingriff in die genannten Grundrechte verhältnismässig ausfällt, das heisst, wenn das öffentliche Interesse am Vermummungsverbot grösser ist als das individuelle Interesse, eine Gesichtsmaske zu tragen oder das Gesicht unkenntlich zu machen.

Demonstrationen, die sich auf die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit stützen, haben einen hohen Stellenwert in der demokratischen

90 91

92

Z. B. Erläuterungen des Bundesrats zu den Abstimmungen vom 7. März 2021, Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», S. 10 ff., Argumente des Initiativkomitees, S. 14.

Es sind dies die Kantone AG, AR, BE, BS, FR, GE, JU, LU, NE, SH, SO, TG, VD, ZG, ZH. Dazu kommen die Kantone TI und SG, in denen ein generelles Verhüllungsverbot gilt. Vgl. auch Erläuterungen des Bundesrats zu den Abstimmungen vom 7. März 2021, Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», S. 11.

So BGE 117 I 472 E 3 f S. 485 f. In diesem wegweisenden Urteil vom 14. November 1991 hatte das Bundesgericht im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle die Rechtmässigkeit des in das kantonale Übertretungsstrafgesetz aufgenommenen baselstädtischen Vermummungsverbots zu überprüfen. Ebenso: BGE 144 I 281 E. 5.4 .1 bis 5.4.3 S. 296 ff.

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Gesellschaft.93 Demonstrierende können unterschiedliche Mittel wählen, um auf ein bestimmtes Anliegen aufmerksam zu machen. Dazu können auch spezielle Gesichtsmasken dienen. So zum Beispiel, wenn mit Gasmasken für saubere Luft, mit Kuhmasken für eine naturnahe Tierhaltung oder mit personalisierten Masken gegen bekannte Politikerinnen und Politiker demonstriert wird.94 Hier sind die Gesichtsmasken spezifische, bildliche Ausdrucksformen der Meinungsäusserung, die in den Schutzbereich der Meinungs- und Informationsfreiheit von Artikel 16 BV fallen.

Demonstrierende können aber auch aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ein legitimes Interesse daran haben, ihr Gesicht nicht öffentlich zu zeigen, weil sie Diskriminierungen oder gravierende persönliche Nachteile befürchten müssen, wenn sie sich als Sympathisantinnen und Sympathisanten eines bestimmten Anliegens zu erkennen geben.95 Um solchen Fällen Rechnung zu tragen, verlangte das Bundesgericht, dass die kantonalen Regelungen zu Vermummungsverboten Ausnahmen vorsehen.96 Dabei geht es um die Anwendung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes. Das legitime Interesse der Bevölkerung an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung muss in einer Weise umgesetzt werden, die nicht unverhältnismässig in die Grundrechte der Demonstrierenden eingreift. Im Fall des Kantons Tessin überprüfte das Bundesgericht mittels abstrakter Normenkontrolle die Rechtmässigkeit der Ausführungsgesetzgebung zum Gesichtsverhüllungsverbot von Artikel 9a der Kantonsverfassung. Es entschied, dass der kantonale Gesetzgeber mit Blick auf die Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei Demonstrationen explizit Ausnahmen vom Gesichtsverhüllungsverbot vorsehen müsse.97 Daraufhin ergänzte der Kanton seinen gesetzlichen Ausnahmekatalog mit einem Zusatz, der Gesichtsverhüllungen aus Motiven mit politischem Charakter vom Verbot ausnimmt.98

5.4.9.3

Beurteilung aus der Sicht von EMRK und UNO-Pakt II

Ein Vermummungsverbot bei Demonstrationen fällt sowohl in den Anwendungsbereich von Artikel 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäusserung) als auch in denjenigen 93

94 95

96

97 98

Unter der Versammlungsfreiheit geschützt sind «unterschiedlichste Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation mit einem weit verstandenen, gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck», BGE 132 I 256 E. 3 S. 258.

BGE 117 I 472 E. 3 c S. 478 f.

BGE 117 I 472 E 3 g bb S. 486 nennt als Beispiel eine Kundgebung für die Rechte Homosexueller. Zu denken ist auch an Demonstrationen gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen in Drittstaaten, bei denen Personen anonym auftreten, um dort lebende Familienangehörige nicht zu gefährden.

Das Basler Vermummungsverbot ist gemäss Bundesgericht zulässig, weil die statuierte Ausnahmeregelung Gewähr bietet, «dass das Vermummungsverbot in der Praxis eine sinnvolle und den Umständen des Einzelfalls Rechnung tragende Anwendung finden kann», BGE 117 I 472 E. 3h S. 487.

BGE 144 I 281 E. 5.4.4 und 5.4.5 S. 298 f.

Artikel 4 der Legge sulla dissimulazione del volto negli spazi pubblici (LDiss) vom 23. November 2015, RS 550.200

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von Artikel 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit). Spezifische Entscheide des EGMR zu einem solchen Verbot sind nicht bekannt. Artikel 10 EMRK schützt aber auch die Form, in der eine Meinung geäussert wird. Das Recht auf freie Meinungsäusserung umfasst somit das Recht, Ideen durch die Art der Kleidung oder durch ein Verhalten auszudrücken.99 Gemäss der Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt Artikel 10 Absatz 2 EMRK kaum Raum für die Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäusserung im Bereich der politischen Äusserungen und Debatten, da der Garantie in diesem Bereich eine besondere Bedeutung zukommt.100 Im Fall eines Eingriffs in das Recht auf freie Meinungsäusserung prüft der Gerichtshof, ob dieser Eingriff angesichts der gesamten Umstände des Einzelfalls verhältnismässig war und ob die von der Regierung geltend gemachten Rechtfertigungsgründe als begründet und ausreichend erscheinen.101 Die in Artikel 11 EMRK gewährleistete Versammlungsfreiheit schützt unter anderem das Recht, den Zeitpunkt, den Ort und die Modalitäten der Versammlung zu bestimmen. Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit eines Eingriffs in die Versammlungsfreiheit müssen die zulässigen Gründe für eine Einschränkung gemäss Art. 11 Abs. 2 EMRK und die grundlegende Bedeutung einer freien Meinungsäusserung durch Worte, Handlungen oder Schweigen gegeneinander abgewogen werden.102 Gemäss langjähriger Rechtsprechung des Gerichtshofs rechtfertigt der Umstand, dass eine Versammlung illegal durchgeführt wird, nicht unbedingt einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäusserung. Insbesondere wenn keine Gewalt ausgeübt wird, sei es wichtig, dass die Behörden gegenüber friedlichen Demonstrationen eine gewisse Toleranz ausüben würden, damit die Versammlungsfreiheit nicht ihrer Substanz entleert werde.103 Ein Grundrechtseingriff ist zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, eines der in Artikel 10 beziehungsweise 11 EMRK abschliessend aufgezählten öffentlichen Interessen verfolgt und verhältnismässig ist. Als öffentliche Interessen kommen insbesondere der Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie der Schutz der Rechte anderer in Betracht. Die Prüfung der Verhältnismässigkeit würde im Fall einer Beschwerde vor dem EGMR von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängen: Ist die mit einem Vermummungsverbot
verbundene Grundrechtseinschränkung für die Demonstrierenden in der betreffenden Situation zumutbar? Der EGMR nahm bei der Beurteilung anderer Fälle, die Artikel 10 und 11 EMRK betrafen, diverse Abwägungen vor. Sie lassen vermuten, dass ein absolutes Vermummungsverbot, das keine Ausnahmen zulässt, vor dem EGMR nicht standhalten würde.

Einen eher noch strengeren Massstab wendet der UNO-Menschenrechtsausschuss bei der Überprüfung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966104 (UNO-Pakt II) an. Das Demonstrationsrecht fällt unter Artikel 19 Absatz 2 UNO-Pakt II (Recht auf freie Meinungsäusserung) und Artikel 21

99 100 101 102 103 104

Gough gegen das Vereinigte Königreich vom 28. Oktober 2014, Nr. 49327/11, § 149, mit Hinweisen.

Eitim ve Bilim Emekçileri Sendikasi gegen die Türkei vom 25. September 2012, Nr. 20641/05, § 69 f.

Perinçek gegen die Schweiz vom 15. Oktober 2015, Nr. 27510/08, § 196 Kudrevicius und andere gegen Litauen vom 15. Oktober 2015, Nr. 37553/05, § 144 Kudrevicius, a. a. O., § 150 SR 0.103.2

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UNO-Pakt II (Recht, sich friedlich zu versammeln). Einschränkungen sind unter anderem möglich zum Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung (Art. 19 Abs. 3 Bst. b bzw. Art. 22 Abs. 2 UNO-Pakt II). 2020 hielt der UNOMenschenrechtsausschuss fest, Gesichtsverhüllungen könnten «Mittel der Meinungsäusserung an friedlichen Demonstrationen» sein oder als «Schutz vor Repressalien» gegen Demonstrierende dienen. Wegen einer Gesichtsverhüllung dürfe nicht schon per se auf gewalttätige Absichten geschlossen werden.105

5.4.9.4

Situation nach der Aufnahme von Artikel 10a in die Bundesverfassung

Mit der Annahme der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» und der Verankerung des Gesichtsverhüllungsverbots in Artikel 10a BV haben Volk und Stände entschieden, das Vermummungsverbot in der ganzen Schweiz einzuführen.106 Eine spezifische Ausnahme für Demonstrationen oder Versammlungen sieht Artikel 10a Absatz 3 BV nicht vor. Der Schutz der öffentlichen Ordnung, namentlich im Zusammenhang mit anonymer Gewalt an Kundgebungen und Sportanlässen, wurde im Vorfeld der Abstimmung breit thematisiert. Die Volksabstimmung vom 7. März 2021 ist somit auch als Sukkurs für ein einheitliches und griffiges Vermummungsverbot im ganzen Land zu interpretieren. Das ist im Rahmen einer verfassungsharmonisierenden Auslegung zu berücksichtigen.

5.4.9.5

Beurteilung in der Vernehmlassung und Anpassung der Ausnahmebestimmung

Die vom Bundesrat in die Vernehmlassung geschickte Ausnahmebestimmung bei Einzelauftritten und Versammlungen im öffentlichen Raum (Art. 332a Abs. 2 Bst. g VE-StGB) rief zahlreiche Reaktionen hervor. Vierzig Prozent der Teilnehmenden (22 von 55) äusserten sich entweder grundsätzlich kritisch im Sinne einer Streichung oder einer Verschärfung der Bestimmung oder bekundeten grosse Bedenken bezüglich der praktischen Umsetzbarkeit der Ausnahme. Wie im Vernehmlassungsentwurf belassen

105

Allgemeine Empfehlung Nr. 37 UNO-Menschenrechtsausschuss vom 17. September 2020, Ziffer 60: «Le port de tenues dissimulant le visage ou de déguisements, comme des capuches ou des masques, par les personnes participant à une réunion, ou le recours à d'autres méthodes pour participer anonymement à une réunion peuvent faire partie des moyens d'expression d'une réunion pacifique ou être le moyen pour les participants d'éviter des représailles ou de protéger leur vie privée, notamment face aux nouvelles technologies de surveillance. ... Le port de déguisements ne devrait pas, en lui-même, être considéré comme étant le signe d'une intention violente.» 106 Zugestimmt haben auch acht von neun Kantonen, die heute noch kein Vermummungsverbot kennen: Ja sagten AI, BL, GL, NW, OW, SZ, VS und knapp auch ZG. Knapp nein sagte der Kanton Graubünden.

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wollten die Bestimmung vier Teilnehmende, zwei weitere wünschten eine grosszügigere Ausnahmeregelung.107 Der Bundesrat nimmt die Kritik an der Praktikabilität der Ausnahme auf. Gestützt auf die Vernehmlassung und weitere Überlegungen führt er eine Bewilligungspflicht ein.

Die zuständige Behörde kann eine Bewilligung erteilen, wenn die Gesichtsverhüllung zur Ausübung der Grundrechte der Meinungsfreiheit oder der Versammlungsfreiheit für den eigenen Schutz notwendig ist oder wenn es sich um eine bildliche Meinungsäusserung handelt.

Unverändert bleibt die Voraussetzung, dass Personen, die ihr Gesicht gestützt auf diese Bestimmung verhüllen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigen dürfen.

5.4.9.6

Erläuterungen zu Art. 2 Abs. 3 Bst. a und b BVVG

Mit der Aufnahme von Artikel 10a in die Bundesverfassung wurde ein Interesse an einem landesweit geltenden Gesichtsverhüllungsverbot bei Auftritten und Kundgebungen an öffentlichen Orten (Vermummungsverbot) manifestiert. Artikel 2 Absatz 3 BVVG soll sicherstellen, dass dieses die Wahrnehmung der Grundrechte der Meinungsäusserungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit nicht in unverhältnismässiger Weise einschränkt. Die Ausnahmebestimmung kommt unter den folgenden Voraussetzungen zum Tragen: ­

die zuständige Behörde bewilligt eine Gesichtsverhüllung;

­

die Bewilligung wird erteilt, weil die Gesichtsverhüllung zur Ausübung der Grundrechte der Meinungsfreiheit oder der Versammlungsfreiheit für den eigenen Schutz notwendig ist oder weil es sich dabei um eine bildliche Meinungsäusserung handelt;

­

die Personen, die ihr Gesicht verhüllen, beeinträchtigen die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht.

Die Ausnahmen erfassen Auftritte oder Versammlungen an öffentlichen Orten. Darunter fallen Aktionen von Einzelpersonen, zu zweit oder in Gruppen. Beispiele sind Einzelproteste, Standaktionen, Platzkundgebungen oder Demonstrationszüge.

Die zuständige Behörde soll Gesichtsverhüllungen bewilligen können, wenn Personen diese zu ihrem Schutz benötigen, um die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit an öffentlichen Orten wahrzunehmen (Bst. a). Zu denken ist an Demonstrierende, die auf Anonymität angewiesen sind, um sich oder die eigene Familie vor Verfolgung oder schwerwiegender Diskriminierung zu schützen. Beispiele sind Kundgebungen gegen autoritäre Regimes, die schwere Menschenrechtsverletzungen begehen, oder der drohende Arbeitsplatzverlust bei Bekanntwerden einer politischen oder weltanschaulichen Haltung, die jenen Werten fundamental widerspricht, für die eine bestimmte Firma oder Organisation steht. Auch anonyme 107

Kritisch äussern sich 14 von 26 Kantone, drei von fünf Parteien und fünf Organisationen, namentlich auch der Schweizerische Städteverband und der Schweizerische Gemeindeverband.

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Alkoholikerinnen und Alkoholiker oder ehemalige Strafgefangene, die im öffentlichen Raum einen Stand betreiben wollen, sind unter Umständen darauf angewiesen, ihr Gesicht zu bedecken, um ihre Grundrechte in zumutbarer Weise wahrnehmen zu können.

Eine Bewilligung soll auch erteilt werden können, wenn die Gesichtsverhüllung eine bildliche Form der Meinungsäusserung ist, die ein Anliegen visuell zum Ausdruck bringt (Bst. b). Solche Fälle stellen die Ziele des Gesichtsverhüllungsverbots, nämlich den Schutz des Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft und den Schutz der öffentlichen Ordnung (Ziff. 1.3.1 und 1.3.2), nicht in Frage. Gesichtsmasken, mit denen visuell auf ein bestimmtes Anliegen aufmerksam gemacht werden soll, können sogar Ausdruck eines besonderen gesellschaftlichen Engagements sein, wenn das Verhalten der Trägerinnen und Träger friedlich bleibt. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu kantonalen Vermummungsverboten (Ziff. 5.4.9.2), die Rechtsprechung in Staaten wie Österreich, das eine mit dem schweizerischen Gesichtsverhüllungsverbot vergleichbare Regelung kennt (vgl. Ziff. 3.3), sowie die strenge Praxis des EGMR zur Meinungsäusserungsfreiheit und zur Versammlungsfreiheit (vgl.

Ziff. 5.4.9.3) zeigen, dass staatliche Sanktionen in solchen Fällen als unverhältnismässige Grundrechtseingriffe betrachtet werden.

Im Unterschied zum Vernehmlassungsentwurf sieht Artikel 2 Absatz 3 BVVG eine Bewilligungspflicht für die zwei Ausnahmekonstellationen vor, in denen eine Gesichtsverhüllung an öffentlichen Orten zwecks Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiterhin möglich sein soll. Die Bewilligungspflicht schränkt die Möglichkeit von spontanen Auftritten und Versammlungen mit verhülltem Gesicht ein.

Eine Bewilligungspflicht wurde von verschiedenen Vernehmlassungsteilnehmenden vorgeschlagen, um den Behörden die Handhabung der Ausnahmen zu erleichtern. In der Tat ist es für die vollziehenden Behörden schwierig, zum Beispiel im Laufe einer Kundgebung festzustellen, ob einer der beiden in Artikel 2 Absatz 3 BVVG genannten Ausnahmegründe vorliegt, die eine Gesichtsverhüllung zulässig machen. Mit einer Bewilligungspflicht können die Behörden zusammen mit den interessierten Kreisen im Vorfeld von Kundgebungen oder Standaktionen besser klären, ob ein Ausnahmefall gegeben ist. Das
Bewilligungsverfahren kann einfach und niederschwellig ausgestaltet werden. Denkbar wären auch Allgemeinverfügungen, die die zuständigen Behörden allenfalls sogar noch vor Ort erteilen könnten. Die Einführung einer Bewilligungspflicht verursacht etwas mehr Aufwand vor einer Veranstaltung. Sie schafft aber mehr Klarheit für die Behörden, die das Gesichtsverhüllungsverbot vor Ort durchsetzen müssen, und sie könnte auch dazu führen, dass der Sanktionierungsaufwand kleiner wird. Es ist an den Kantonen, die Modalitäten der Bewilligungspflicht zu regeln.

Artikel 2 Absatz 3 BVVG schützt von vornherein nur Aktivitäten, die die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht beeinträchtigen. Keinen Schutz finden Gesichtsverhüllungen von Personen oder Personengruppen, die durch ihr Verhalten oder vorgängige Ankündigungen zum Ausdruck bringen, dass sie im Schutz der Anonymität Rechtsverletzungen begehen wollen. Wer die Rechtsordnung missachtet oder entsprechende Vorbereitungen dazu trifft, kann sich nicht auf Ausnahmen berufen. In solchen Fällen

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bleibt die Gesichtsverhüllung strafbar, und die zuständigen Behörden können Bussen aussprechen, auch wenn zuvor eine Bewilligung zur Gesichtsverhüllung erteilt wurde.

5.5

Strafbarkeit und Zuständigkeit zur Strafverfolgung (Art. 3 BVVG)

Da das Gesichtsverhüllungsverbot in einem eigenständigen Gesetz umgesetzt werden soll, muss der Strafrahmen speziell festgelegt werden. Der Vernehmlassungsentwurf, der eine Umsetzung im Strafgesetzbuch vorsah, übernahm den Höchstbetrag von 10 000 Franken für Bussen, der für die im StGB geregelten Übertretungstatbestände gilt (Art. 103 StGB in Verbindung mit Art. 106 Abs. 1 StGB). Einige Vernehmlassungsteilnehmende sprachen sich mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip und den beschränkten Unrechtsgehalt eines Verstosses gegen das Gesichtsverhüllungsverbot für eine deutliche Senkung des Strafrahmens aus.108 Für den EGMR war die Milde der vorgesehenen Sanktion unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit ein entscheidendes Kriterium bei seinem Befund der Rechtmässigkeit von Gesichtsverhüllungsverboten in Frankreich und Belgien.109 Artikel 3 Absatz 1 BVVG legt den Maximalbetrag der Busse bei einem Verstoss gegen das Gesichtsverhüllungsverbot auf 1000 Franken fest. Die Höhe der Busse im Einzelfall bestimmen die kantonalen Gerichte. Dabei ist das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten. Artikel 3 Absatz 2 BVVG hält fest, dass die Strafverfolgung Aufgabe der Kantone ist.

5.6

Einführung des Ordnungsbussenverfahrens (Änderung von Art. 1 Abs. 1 Bst. a Ziff. 18 des Ordnungsbussengesetzes, Art. 4 BVVG)

Artikel 4 BVVG schafft die rechtliche Grundlage für die Einführung des Ordnungsbussenverfahrens. Im auf das StGB abgestützten Vernehmlassungsentwurf verzichtete der Bundesrat noch auf dessen Einführung. Er begründete dies mit schwerwiegenden rechtsstaatlichen Bedenken gegen eine Ausdehnung dieses vereinfachten Verfahrens auf StGB-Delikte. Es bestünde die Gefahr, Tür und Tor zu öffnen für den Einbezug auch anderer Straftaten, etwa von Tätlichkeiten, Sachbeschädigungen oder der sexuellen Belästigung. Der Bundesrat hielt aber schon damals fest, dass eine einfache Ahndung für ein Bagatelldelikt wie das Verhüllungsverbot zentral wäre.110

108

Ziff. 2.2.3 des Ergebnisberichts, abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD 109 S.A.S. gegen Frankreich vom 1. Juli 2014, Beschwerde Nr. 43835/11; Belcacemi und Oussar gegen Belgien vom 11. Dezember 2017, Beschwerde Nr. 37798/13, vgl. auch Ziff. 3.1 und 3.2.

110 Erläuternder Bericht vom 20. Oktober 2021 zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, abrufbar unter www.bj.admin.ch > Bundesamt für Justiz > Gesellschaft > Laufende Gesetzgebungsprojekte > Verhüllungsverbot, Ziff. 1.2.2.1.

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In der Vernehmlassung schlugen etliche Teilnehmende die Einführung des Ordnungsbussenverfahrens vor, weil dieses eine einfache und rasche Erledigung ermögliche und den Umsetzungsaufwand für die Kantone reduziere.111 Im Rahmen des nun vorgesehenen eigenständigen Gesetzes lässt sich dieses vereinfachte Verfahren gut aufnehmen.

Mit dem Ordnungsbussenverfahren kann die Sanktionierung von Übertretungen mit einem geringen Unrechtsgehalt effizient erledigt werden. Mit der Ordnungsbusse gibt die Strafverfolgungsbehörde den Betroffenen die Möglichkeit, die Begehung der Widerhandlung anzuerkennen und die Busse zu bezahlen. Mit dieser Anerkennung verzichten die Betroffenen darauf, dass die Behörden den Fall weiterbearbeiten. Da den Behörden keine weiteren Aufwände entstehen, ist das Verfahren für die Betroffenen im Gegenzug kostenlos.

Artikel 4 BVVG sieht vor, dass die Liste in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a des OBG um eine Ziffer 18 ergänzt wird, die es ermöglicht, Verstösse gegen das Gesichtsverhüllungsverbot im Ordnungsbussenverfahren zu erledigen. Neben der Änderung des OBG braucht es auch eine Änderung der Ordnungsbussenverordnung vom 16. Januar 2019112 (OBV), indem Artikel 1 BVVG in den Anhang 2, Bussenliste 2 aufgenommen wird. Die in der OBV festzulegende Bussenhöhe bei einer Erledigung im Ordnungsbussenverfahren soll 200 Franken betragen. Der Bundesrat wird die Anpassung der OBV auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des BVVG vornehmen.

6

Auswirkungen

6.1

Auswirkungen auf den Bund

Das BVVG führt im Bund zu keinen zusätzlichen Kosten. Neues Personal ist nicht erforderlich.

6.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Die Strafverfolgung und die richterliche Beurteilung sind Sache der Kantone. Bei den Finanzen und beim Personal könnte sich daher ein Mehrbedarf ergeben. Allerdings ist eher mit einer geringen Zahl an einschlägigen Fällen zu rechnen. Mit der Einführung des Ordnungsbussenverfahrens wird der Mehraufwand verglichen mit der im Vernehmlassungsentwurf vorgesehenen Lösung etwas kleiner ausfallen.

Das BVVG regelt die Strafbarkeit der Gesichtsverhüllung an öffentlichen oder privaten Orten, die der Allgemeinheit zur entgeltlichen oder unentgeltlichen Nutzung offenstehen, umfassend. Stehen kantonale Regelungen im Widerspruch zur Bundesregelung, geht das Bundesrecht aufgrund seiner derogatorischen Kraft vor. Das gilt namentlich für kantonale Regelungen des Vermummungsverbots.

111

Ziff. 2.2.4 des Ergebnisberichts, abrufbar unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2021 > EJPD 112 SR 314.11

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6.3

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

Gewisse volkswirtschaftliche Auswirkungen könnte die Umsetzung des Gesichtsverhüllungsverbots in Tourismusregionen haben. Erfahrungen im Kanton Tessin, der ein kantonales Verbot auf den 1. Juli 2016 in Kraft setzte, zeigen allerdings, dass sich Touristinnen aus Staaten, die die Gesichtsverhüllung kennen, auf die neuen Regeln einstellen. Volkswirtschaftliche Vorteile für das Gewerbe in Innenstädten könnten sich aus einer strikten Umsetzung des Vermummungsverbots an Kundgebungen ergeben, wenn Personen, die im Schutz der Gesichtsverhüllung Straftaten begehen wollen, vermehrt abgeschreckt würden.

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Mit der Regelung wird Artikel 10a BV umgesetzt. Sie stützt sich auf die Kompetenz des Bundes, auf dem Gebiet des Strafrechts Gesetze zu erlassen (Art. 123 Abs. 1 BV, vgl. Ziff. 4.2). Artikel 1 BVVG tangiert verschiedene Grundrechte, namentlich die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 13 Abs. 1 BV), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV), die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV), die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Diese Grundrechte können im Rahmen der Bestimmungen von Artikel 36 BV eingeschränkt werden. Verlangt werden eine gesetzliche Grundlage, die Rechtfertigung einer Einschränkung durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz der Grundrechte Dritter, die Verhältnismässigkeit der Einschränkung und die Wahrung des Kerngehalts der Grundrechte. Die Ausnahmebestimmungen in Artikel 2, Absätze 2 und 3 BVVG stellen sicher, dass überwiegende individuelle Interessen bei der Umsetzung von Artikel 10a BV angemessen geschützt werden können.

7.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die Regelung tangiert Garantien der EMRK und des UNO-Pakts II, insbesondere die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK, Art. 18 UNO-Pakt II), die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK, Art. 19 UNO-Pakt II) und die Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK, Art. 21 UNO-Pakt II), aber auch das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK, Art. 17 UNO-Pakt II). Sowohl die EMRK als auch der UNO-Pakt II lassen Einschränkungen dieser Freiheiten zu. Möglich sind namentlich Einschränkungen, die auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und die in einer demokratischen Gesellschaft für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, für den Schutz der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit und Sittlichkeit oder für die Wahrung der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Die in Artikel 2, Absätze 2 und 3 BVVG genannten Ausnahmen von der Strafbarkeit der Gesichtsverhüllung stellen sicher, dass überwiegende individuelle Interessen bei der Umsetzung von Artikel 10a 44 / 46

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BV angemessen geschützt werden können. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die vorgesehene Regelung mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar ist.

7.3

Erlassform

Der Entwurf enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen, die nach den Artikeln 164 Absatz 1 BV und 22 Absatz 1 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002113 in Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssen. Als solches untersteht das Gesetz dem fakultativen Referendum (Art. 141 Abs. 1 Bst. a BV).

113

SR 171.10

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