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Bericht der

ständeräthlichen Kommission über den Rekurs der katholischen Schulgemeinde Lichtensteig.

(Vom 5. März 1889.)

Tit.

Die Kommission hat sich in eine Mehrheit (Berthoud, Haberstich, Mercier) und in eine Minderheit (Reichlin, Schmid) getheilt.

Die Anträge der Minderheit werden in einer zweiten Abtheilung dieses Berichtes nachfolgen.

Die Mehrheit, indem sie die Darstellung der thatsächlichen Verhältnisse und weitere Ergänzungen mündlicher Auseinandersetzung vorbehält, gebt von folgenden Erwägungen aus.

I.

Es handelt sich um Interpretation des vielbestrittenen Art. 27 der Bundesverfassung (des bekannten Schulartikels). Derselbe ist das Ergebniß widerspruchsvoller Diskussionen. Eine gewissenhafte Auslegung dieses Artikels verlangt, L Daß diejenigen Vorschriften, welche derselbe enthält, zur Anerkennung gelangen; II. Daß in den Artikel 27 nicht etwas hineingelegt wird, was nicht darin enthalten ist, aber vielleicht ungern vermißt wird.

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II.

In Artikel 27 sind, von Bestimmungen, die im gegebenen Falle nicht in Frage kommen, abgesehen, folgende Vorschriften enthalten : 1) Der Primarunterricht soll ,, a u s s c h l i e ß l i c h u n t e r s t a a t l i c h e r L e i t u n g " stehen (Absatz 2 des Art. 27); 2) Die öffentlichen Schulen sollen a . v o n d e n A n g e h ö r i g e n a l l e r B e k e n n t n i s s e bes u c h t w e r d e n k ö n n e n , und es soll dies b. von ihnen geschehen können ohne B e e i n t r ä c h t i g u n g i h r e r G l a u b e n s - u n d G e w i s s e n s f r e i h e i t (Art. 2 7 , dritter Absatz).

Mit diesen Vorschriften stehen die Verfassung des Kantons St. Gallen und die Schuleinrichtuagen, deren Beibehaltung die Rekurrenten, gestützt auf ihre Kantonsverfassung, verlangen, in offenbarem Widerspruch.

A. Nach Mitgabe der Verfassung des Kantons St. Gallen, welche die k o n f e s s i o n e l l e Schule garantirt, und den von den Rekurrenten verfochtenen Ideen soll diejenige Schulbehörde, welche der Schule am nächsten steht und welcher auch der größte Einfluß auf die Leitung der Schule zukommt, der Schulrath, n u r aus Mitgliedern bestellt werden können, welche, je nach dem konfessionellen Charakter der Schule, entweder dem reformirten oder katholischen Glaubensbekenntniß angehören. Von a u s s c h l i e ß l i c h s t a a t l i c h e r L e i t u n g kann unter einer solchen Voraussetzung nicht die Rede sein. Es ist keine staatliche, sondern eine k o n f e s s i o n e l l e Leitung der Schule, wenn die Angehörigkeit zu einer besondern Konfession die B e d i n g u n g bildet, um Mitglied einer Schulbehörde sein zu können. Daß dies bei den o ber n Schulbehörden im Kauton St. Gallen anders ist, ändert an der bundesverfassungswidrigen Zusammensetzung der Schulbehörden in Lichtensteig nichts.

B. Die Schuleinrichtung, welche die Rekurrenten geschützt wünschen, steht auch im Widerspruch mit dem dritten Absatz des Art. 27.

Die konfessionell getrennten Schulen in Lichtensteig können nicht von den A n g e h ö r i g e n a l l e r B e k e n n t n i s s e besucht werden, wie es der Art. 27, Absatz 3, vorschreibt. Die katholischen Kinder werden in die katholische, die reformirten in die reformirte Schule gewiesen. Das katholische Kind d a r f n i c h t die nächstgelegene reformirte Schule besuchen, sondern es muß weiter wandern, bis es eine katholische Schule findet, und umgekehrt.

604 Wenn auf dem Gnadenwege Ausnahmen zugestanden werden, so sind das blos Ausnahmen, welche den st. gallischen G r u n d s a t z , daß die Kinder die Schulen i h r e s B e k e n n t n i s s e s zu besuchen haben, nicht aufheben. Dieser Grundsatz ist aber bundesverfassungswidrig, weil die Schulen von den Angehörigen a l l e r B e k e n n t n i s s e sollen besucht werden dürfen und man das protestantische Kind nicht aus der katholischen Schule wegweisen darf, weil es protestantisch ist, mit dem Tröste, es solle die nächstgelegene protestantische Schule aufsuchen.

Diese Betrachtungen rechtfertigen den Antrag, dem Nationalrathe zuzustimmen, d. h. den Rekurs abzuweisen. Es kann dagegen nicht eingewendet werden, man müsse zuerst den Kanton St. Gallen ersuchen, seine Verfassung zu ändern und mit der Bundesverfassungin Einklang zu bringen ; denn der Art. 2 der Uebergangsbestimmungen zur Bundesverfassung erklärt diejenigen Vorschriften d e r k a n t o n a l e n V e r f a s s u n g e n und G e s e t z e , welche mit der neuen Bundesverfassung im W i d e r s p r u c h s t e h e n , a u"ß e r Kraft.

III.

Die Mehrheit der Kommission hält dafür, daß die soeben entwickelten Gründe, welche sie zum Antrage auf Abweisung des Rekurses bestimmen, u n a n f e c h t b a r u n d z w i n g e n d seien.

Insofern bietet es kein aktuelles Interesse, den Art. 27 der Bundesverfassung noch in weitere Erörterung zu ziehen und sich darüber auszusprechen, welche von den oft gehörten Postulaten in Betreff der Schule darin nicht enthalten sind. Dennoch sind einige, den konkreten Fall nicht berührende Prägen von der Kommission in Erörterung gezogen worden. Indem sie derselben erwähnt, ist die Kommission im Falle, zwei Reserven anzubringen : Die eine besteht in der Bemerkung, daß von diesen Betrachtuugen das Schicksal des Rekurses nicht abhängen kann, weil dasselbe durch eine geschlossene und nach Ansicht der Mehrheit unzweifelhafte Argumentation entschieden ist; die andere darin, daß die Kommission dabei nur persönliche Anschauungen ausspricht.

Die Kommission hat in Untersuchung gezogen, ob der Art. 27 die k o n f e s s i o n e l l e Schule überhaupt untersage?

Bei Besprechung dieser Frage hat sich das Bedürfniß herausgestellt, sich z u e r s t über die Begriffsbestimmung zu verständigen.

Was versteht man unter k o n f e s s i o n e l l e r , was unter k o n f e s s i o n s l o s e r Schule?

605 Die Erscheinungen, in wel.chen sich der konfessionelle Charakter einer Schule offenbart, können ä u ß e r l i c h e oder i n n e r e sein, in der O r g a n i s a t i o n der Schule, oder in dem G e i s t e (der Tendenz) liegen, welcher in derselben waltet.

Die in der Organisation der Schule zu Tage tretenden konfessionellen Erscheinungen geben sich in den Postulaten kund, welche an das L e h r a m t , die S e h u l b e h örd en und das R e c h t und die P f l i c h t des S c h u l b e s u c h e s gestellt werden. Von diesem Gesichtspunkte der Organisation aus muß eine Schule als k o n f e s s i o n e l l bezeichnet werden, wenn für den Lehrer oder die Schulbehörden oder das Recht zum Schulbesuche ein besonderes Glaubensbekenntniß verlangt wird.

Eine öffentliche Schule, die sich in dieser Weise als eine k o n f e s s i o n e l l e kundgibt, ist mit Art. 27 der Bundesverfassung unverträglich, denn es geht ihr die Eigenschaft ab, daß sie a u s s c h l i e ß l i c h u n t e r s t a a t l i c h e r Leitung steht und, soweit es den Schulbesuch betrifft, daß sie von den Angehörigen a l l e r K o n fessionen b e s u c h t werden kann.

Der konfessionslose Charakter der Schule, vom Staudpunkte der Organisation aus, schließt es dagegen nach Ansicht der Kommission nicht aus, daß der Lehrer oder die Mitglieder der Schulbehörde einem bestimmten Glaubensbekenntnisse angehören, auch nicht, daß sie geistlichen Standes seien.

Die Angehörigkeit zu einer bestimmten Konfession darf aber nicht als B e d i n g u n g für die Theilnahme an der Leitung der Schule aufgestellt sein, auch nicht als Legitimation dienen, um v o n A m t e s w e g e n der Schulbehörde anzugehören. Das Mandat dazu muß ein s t a a t l i c h e s , aus konfessionell nicht beschränkter Wahl hervorgegangenes sein.

So verhält es sich auch mit dem Lehrer. Wenn aber ein Geistlicher zu einem Lehramt berufen wird, so darf er nicht vergessen, daß er als L e h r e r und nicht als Geistlicher zu funktioniren und die Weisungen und Aufträge, soweit sie die Schule betreffen, nicht etwa von geistlichen Obern, sondern von der s t a a t l i c h e n S c h u l b e h ö r d e entgegen zu nehmen hat.

Dem Orden der Jesuiten und den ihm affiliirten Gesellschaften darf der Lehrer unter keinen Umständen angehören; nicht wegen des Art. 27, sondern wegen Art. 51 der
Bundesverfassung, welcher den Gliedern dieses Ordens jede Wirksamkeit in Kirche u n d S c h u l e untersagt.

Die Schule kann so eingerichtet sein, daß der Vorwurf der Konfessionalität aus der Organisation nicht abzuleiten ist. Dennoch ist

606 es möglich, daß sie mit dem Art. 27 der Bundesverfassung in Widerspruch geräth.

Dies ist dann der Fall, wenn in dem G e i s t e , der in der Schule waltet, in der L e h r m e t h o d e und dem L e h r z w e c k ein besonderes Glaubensbekenntniß in solchem Grade sich Geltung verschafft, daß darin eine Beeinträchtigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Angehörigen eines ändern Bekenntnisses liegt.

O b d äs z u t r e f f e , k a n n n u r v o n Fall z u F a l l e n t s c h i e d e n werden.

Die Schule soll gegenüber den Antipathien und Befehdungen, die aus der eifrigen Beteiligung an einer Konfessionsgenossenschaft hervorgehen, n e u t r a l sein. Sie steht unter der Herrschaft des in Glaubenssachen volle Freiheit gewährendem und Toleranz verlangenden Staates. Sie k a n n neutral sein, denn die Fächer, welche die Primarschule lehrt (der Religionsunterricht ausgenommen), stehen in keiner Beziehung zu den Dogmen der Konfessionen. Es gibt kein besonderes katholisches und protestaatisches A B C . Die Regeln des Rechnens sind für die Protestanten und Katholiken die gleichen. Die Naturkunde fragt nicht nach dem Taufschein. Im Gebiete dès exakten Wissens spielt Überhaupt die Konfession keine Rolle.

Trotz der Neutralität der meisten Lehrgegenstände kann aber die Schule der ethischen Momente "nicht entbehren. Denn es gilt nicht blos, dem Schüler einen gewissen Vorrath von Kenntnissen mitzugeben, sondern die Schule soll in ihm auch Empfindungen und Gesinnungen wecken, die seinen eigenen Lebensgang und sein Verhältnis zu den Nebenmenschen gedeihlich gestalten. Sie soll das Gute und das Edle pflegen.

Das k a n n die Schule, ohne dem Konfessionalismus zu verfallen. Denn die Konfessionen sind keineswegs die einzigen Träger, die patentirten ausschließlichen Inhaber der Gesittung und Kultur.

Es gibt ü b e r und n e b e n den Konfessionen ein edles, menschliches Empfinden. Dieses offenbart sich schon dann wenn der Lehrer, in dem Bestreben, die Wohlfahrt des Kindes zu fördern, dasselbe in nützlichen Kenntnissen unterrichtet. ,,Derjenige, der mir das A B C gelehrt hat," sagte bei gegebenem Anlaße ein noch unter uns lebender Staatsmann, ,,war mein erster Religionslehrer."

Wie die Konfessionen nicht die ausschließlichen Träger der Gesittung sind , so darf ihnen auch nicht ohne Weiteres der Vorwurf gemacht werden, daß sie auf einem der Schule widersprechenden Standpunkte sich bewegen. Religion und Konfessionalismus

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dürfen zwar nicht verwechselt, aber es muß doch zugestanden werden, daß sich die erstere oft nur im Gewände eines besondern Glaubensbekenntnisses zu offenbaren vermag. Dem Lehrer und den Schulbehörden wird häufig das Glaubensbekenntniß, dem sie angehören, der Inbegriff der Religion und der Ethik sein, und dies wird sich in allen ihren Lebensbeziehungen offenbaren. Dann werden der Lehrer iii der Schulführung und die Schulbehörden in der Schulaufsicht ihre Konfession nicht in dem Maße verläugne können, daß sie gar nicht zur Erkenntniß kommt.

Aber es gibt dabei eine G r e n z e und an dieser s c h e i d e t s i c h , was der Art. 27 v e r b i e t e t und was er n i c h t v e r b i e t e t . Konfessionelle Anschauungen dürfen in der Schule nicht in der Weise sich kundgeben, daß sie die Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Angehörigen einer ändern Konfession beeinträchtigen. Wo dies geschieht, hat, auch wenn die Organisation der Schule zur Intervention nicht Grund bietet, der Bund, gestützt auf Art. 27, einzuschreiten.

Aus den Akten ist nicht zu ersehen, daß den Schulen in Lichtensteig nach dieser Richtung ein Vorwurf gemacht werden könne.

Die Minderheit der Kommission will die von ihr vorgeschlagene Schlußnahme -- Gutheißung des Rekurses -- mit Erwägungen ausstatten, welche die von ihr proponirte Erledigung rechtfertigen sollen.

Anträge.

Die M e h r h e i t der Kommission b e an t rag t:

in Zustimmung zur Schlußnahme des Nationalrathes den Rekurs der katholischen Schulgemeinde Lichtensteig abzuweisen.

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Die M i n d e r h e i t der Kommission beantragt: folgende Schlußnahme: Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, in Erwägung: 1) daß die Primarschulverhältnisse in Lichtensteig auf vertragsrechtlicher Grundlage stehen und den Anforderungen der kantonalen Verfassung entsprechen : 2) daß die Bundesversammlung lediglich kompetent ist, die Rekursbeschwerden der katholischen Schulgemeinde von Lichtensteig zu prüfen, soweit dieselben darauf gerichtet sind, in Aufhebung des bundesräthlichen Beschlusses vom 10. Januar 1888, die Uebereinstimmung der Verfassung des Kanton» St. Gallen mit der Bundesverfassung anzuerkennen ; 3) daß die Bestimmungen der Verfassung des Kantons St. Gallen in Art. 7, handelnd vom Untemeli twes en in den öffentlichen Primarschulen, und die darauf bezüglichen Bestimmungen in den Ausführungsgesetzen über das Erziehungswesen mit den Anforderungen der Bundesverfassung in Art. 27 nicht in Widerspruch stehen, beschließt: Der Rekurs der katholischen Schulgemeinde Lichtensteig wird in angegebenem Sinne begründet erklärt.

Hochachtungsvoll A a r a u , den 5. März

1889.

Die Mitglieder der Kommission: Berthoud.

Haberstich, Berichterstatter der Mehrheit.

Mercier.

Reichlin.

Schmid.

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