BBl 2022 www.bundesrecht.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit vom 9. November 2022

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir informieren Sie gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 über unsere Beurteilung der Bedrohungslage.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. November 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2022-3586

BBl 2022 2745

BBl 2022 2745

Beurteilung der Bedrohungslage 1

Ausgangslage

Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 20151 (NDG) beurteilt der Bundesrat jährlich die Bedrohungslage der Schweiz und informiert die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit. Die Beurteilung bezieht sich auf die im NDG genannten Bedrohungen sowie auf sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland.

Eine umfassendere Lagedarstellung aus nachrichtendienstlicher Perspektive findet sich im jährlichen Lagebericht des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) «Sicherheit Schweiz»2. Die Prüfung der Frage, ob und inwieweit bei der Sicherheitspolitik und ihren Instrumenten wegen Lageveränderungen Anpassungsbedarf besteht, und die Festlegung von Prioritäten bleibt Aufgabe der regelmässigen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz.

2

Übersicht

Der neue sicherheitspolitische Bericht wurde am 24. November 20213 vom Bundesrat verabschiedet und veröffentlicht. Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) hat hierzu am 7. September 20224 einen Zusatzbericht vorgelegt, der aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine die Lage erneut beurteilt und die Folgen der daraus resultierenden schwerwiegenden Krise der europäischen Sicherheitsordnung benannt hat. Entsprechend konzentriert sich der vorliegende Bericht weitgehend auf die Bedrohungen gemäss dem NDG sowie auf die grossen Linien im strategischen Umfeld der Schweiz.

Der Zusatzbericht bestätigt im Wesentlichen die Lageeinschätzung im sicherheitspolitischen Bericht. Er hält bezogen auf die jüngsten Entwicklungen fest, dass Russland mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine die Grundlagen für eine regelbasierte Friedensordnung in Europa zerstört hat. Er stellt vielfältige, weitreichende und globale Auswirkungen in verschiedenen Politikbereichen fest, vor allem aber nachhaltige Auswirkungen auf die Sicherheit und die internationale Kooperation in Europa, die Beziehungen zwischen westlichen Staaten und Russland sowie auf die globale Ordnung und den Multilateralismus ­ und somit auch auf die Schweiz. Neben der massiven Erschütterung Europas hält er eine stärkere Spaltung zwischen den west-

1 2 3 4

SR 121 Abrufbar unter: www.vbs.admin.ch Über uns Organisation Verwaltungseinheiten Nachrichtendienst Dokumente Sicherheit Schweiz.

BBl 2021 2895 Abrufbar unter: www.vbs.admin.ch Sicherheit Sicherheitspolitik Sicherheitspolitische Berichte 2021 Dokumente 7.9.2022 / Zusatzbericht des Bundesrates zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine (provisorische Fassung).

2 / 10

BBl 2022 2745

lichen Staaten auf der einen sowie China und Russland auf der anderen Seite für absehbar und folgert, dass auch Handelsbeziehungen bei Technologie und Energie immer mehr der sicherheitspolitischen Logik einer Blockbildung folgen. Der Zusatzbericht kommt zum Schluss, dass sich als Folge des Kriegs das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz nachhaltig verschlechtert hat und volatil bleibt und dass sich die internationale sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation in Europa intensiviert hat und für die Sicherheit und Stabilität der Schweiz noch wichtiger werden wird.

3

Sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland

Russland verfolgt in der Ukraine in erster Linie imperialistische Ziele. Der russische Eroberungswille steht dabei über den ökonomischen Interessen Russlands. Darüber hinaus verfolgt Präsident Putin den Plan, die sowjetische Einflusssphäre in Osteuropa wieder zu errichten. Diese auf Maximalziele ausgerichtete Strategie ist Bestandteil einer als historisch empfundenen Mission, die trotz militärischen Rückschlägen in der Ukraine weiterverfolgt wird.

Die erwähnte Erschütterung der Friedensordnung Europas schwächt auch Institutionen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder den Europarat. Gleichzeitig hat Russland mit seinem Vorgehen aber auch die Geschlossenheit des westlich-freiheitlichen Lagers gestärkt, die schon mit der Covid-19Pandemie als Reaktion auf China in Gang gesetzt wurde. Die USA spielen auf Seiten der westlichen Staaten in dieser Entwicklung eine zentrale Rolle; sie bleiben für die Sicherheit Europas weiterhin unabdingbar.

Die USA sehen sich unter Präsident Biden wieder in ihrer globalen Führungsrolle im strategischen Wettbewerb des westlich-freiheitlichen, demokratischen Lagers gegen die autokratischen Mächte und fokussieren dabei stark auf den asiatisch-pazifischen Raum. Sie suchen hier die Zusammenarbeit mit Alliierten und Partnern ­ so insbesondere mit Japan, Australien und Indien im Rahmen des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs oder in der Sicherheitspartnerschaft mit Australien und Grossbritannien (AUKUS). Die USA sind unter Präsident Biden gleichzeitig auch transatlantisch ausgerichtet. Die transatlantische Ausrichtung der USA ist zwar über die Amtszeit Bidens hinaus nicht gesichert; es gibt im amerikanischen Kongress aber eine starke überparteiliche Unterstützung für die Nordatlantikvertrags-Organisation (Nato).

Die Nato konzentriert sich infolge des Kriegs in der Ukraine wieder prioritär auf ihre ursprüngliche Hauptaufgabe ­ die Abschreckung und Abwehr Russlands, wobei das Nato-Territorium vollständig verteidigt werden soll. Der russische Angriff auf die Ukraine führte dazu, dass Finnland und Schweden entschieden, der Nato beizutreten. Bei Redaktionsschluss hatten alle bis auf zwei Mitgliedstaaten die Nato-Norderweiterung bereits ratifiziert. Die beiden nordischen Staaten würden die Glaubwürdigkeit, Legitimität und Attraktivität der Nato
als Allianz westlicher Demokratien stärken und militärisch eine zentrale Rolle in der Verteidigung des Ostseeraums inklusive des Baltikums spielen. Das neue strategische Konzept dient der Nato als Richtlinie für die nächsten zehn Jahre. Ein neues Streitkräftemodell soll die westliche Militärpräsenz an 3 / 10

BBl 2022 2745

der Ostflanke signifikant stärken. Erstmals werden amerikanische Truppen permanent in einem östlichen Mitgliedstaat (Polen) stationiert, und die Anzahl schnell einsatzbereiter Truppen soll von 40 000 auf 300 000 erhöht werden.

Die Europäische Union (EU) hat in Absprache mit ihren internationalen Partnern als Reaktion auf die Aggression Russlands umfassende Sanktionen gegen Russland verhängt, hohe Summen zur Finanzierung von Waffenhilfe an die Ukraine gesprochen und teils auch schwere Waffen für deren Verteidigung geliefert. Ferner hat die EU ein Teilembargo russischer Erdölimporte beschlossen und erstmalig eine Richtlinie aktiviert, um Geflüchteten rasch vorläufigen Schutz zu gewähren. Zudem haben die Stabilisierungsmissionen der EU und der Nato im Westbalkan angesichts russischer Drohungen an Relevanz gewonnen. Mit dem Strategischen Kompass signalisiert die EU Ambitionen für mehr verteidigungspolitische Verantwortung innerhalb der westlichen Sicherheitsgemeinschaft. Die EU-Mitgliedstaaten wollen ihre Verteidigungsbudgets nachhaltig substanziell erhöhen und könnten so im Rahmen der Nato oder komplementär zur Nato mehr militärische Verantwortung im Umgang mit Russland übernehmen.

Die EU-Mitglieder könnten zudem so die USA, die sich langfristig strategisch auf China und Asien ausrichten möchten, entlasten. Die neue Strategie der Nato bezeichnet China erstmals als strategische Herausforderung auch für die euroatlantische Sicherheit. Insgesamt haben sich auch die Chinapolitiken der USA und vieler europäischer Staaten angenähert. Die EU hat im September 2021 ihre erste Strategie für den asiatisch-pazifischen Raum verabschiedet, ihre Mitgliedstaaten Frankreich, Deutschland und die Niederlande haben ihrerseits erste nationale Strategiedokumente für den asiatisch-pazifischen Raum erstellt. Weiterhin hat die EU das Potenzial, global Einfluss zu nehmen. Die Militärausgaben sind in fast allen EU-Mitgliedstaaten weiter gestiegen und die Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung wird stetig ausgebaut. Die EU schöpft indessen ihr Potenzial als globale, auch militärische Ordnungsmacht bei Weitem nicht aus, ist aber mit der Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestrebt, die europäische Rüstungs- und Verteidigungsfähigkeit zu stärken.

Südlich von Europa bilden die Sahara,
die Sahelzone bis zum Horn von Afrika und die Länder von Syrien bis Afghanistan einen grossen instabilen Raum. Zudem sind internationale Akteure mit militärischen und privaten Sicherheitsorganisationen auf dem afrikanischen Kontinent als Beeinflussungsinstrument der Regierungen von Bedeutung. Viele der betroffenen Staaten versuchen, im Konflikt zwischen Russland und den westlichen Staaten eine pragmatische, auf die eigenen Interessen ausgerichtete Politik zu verfolgen. Dabei spielen die aktuelle Einflussnahme von aussen wie alte Bindungen eine Rolle: Es kann nicht automatisch auf eine Solidarisierung mit den westlichen Staaten gezählt werden. Das Scheitern politischer Übergangsprozesse in Afrika könnte zu erhöhtem Migrationsdruck Richtung Europa führen. Auf globaler Ebene könnte die Instabilität Gross- und Regionalmächten wie Russland, China, der Türkei oder den Golfstaaten den Weg ebnen, ihren Einfluss in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten weiter zu verstärken. Der Einfluss ausländischer Mächte auf die natürlichen Ressourcen Afrikas (Öl, Gas, Erze) ist eine mögliche Bedrohung für die

4 / 10

BBl 2022 2745

Versorgung Europas mit Energie und der Industrie mit Rohstoffen. Die USA versuchen mit einer neuen Afrikastrategie wieder mehr Präsenz zu zeigen, während Frankreichs Position vor allem durch den russischen Einfluss unter Druck gerät.

Der Krieg in der Ukraine hat zu teils drastischen Lieferengpässen und Preiserhöhungen bei Lebensmitteln und Energieträgern geführt. Zahlreiche Staaten in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten sind stark abhängig von Weizen- und Energieimporten aus der Ukraine und Russland, gewisse Länder zu 80 bis 90 Prozent. Weizenimporte aus Russland unterliegen zwar bisher keinen westlichen Sanktionen. Trotzdem ist es für Importeure schwierig geworden, Weizen aus Russland zu erwerben, weil finanzielle Transaktionen an russische Firmen komplizierter geworden sind und viele Reedereien Russland boykottieren. Einige Länder in der Region leiden auch wirtschaftlich aufgrund des Preisanstiegs für Öl und Gas. Dies könnte zu sozialen Unruhen, Konflikten und verstärkter Migration führen.

China und Russland verbindet eine strategische Partnerschaft. China hat auch deswegen den russischen Angriff auf die Ukraine nicht verurteilt. Es wird sich wahrscheinlich auch künftig nicht von Russland abwenden. Damit und mit seinem Verhalten in der Pandemie hat China selbst dazu beigetragen, dass sein Aufstieg in den westlichen Staaten einhelliger und kritischer betrachtet wird. Es zeigt sich in seinen territorialen Ansprüchen gegenüber Indien, Japan und den Anrainerstaaten im Südchinesischen Meer offensiv und kompromisslos. Gegenüber Taiwan verstärkt es seine militärischen Drohungen. Auch an seinen sonstigen ambitionierten wirtschaftlichen, technologischen, politischen und militärischen Zielen, die es mit Blick auf das hundertjährige Bestehen der Volksrepublik 2049 verfolgt, hält es unbeirrt fest.

Im Oktober 2022 wurde Präsident Xi Jinping erneut zum Parteivorsitzenden gewählt und wird wohl Anfang 2023 wiederum zum Staatschef ernannt werden. Trotz steigendem Einfluss im Ausland steht Xi im Inland vor schwierigen Herausforderungen. Das Bevölkerungswachstum sinkt auf ein historisch tiefes Niveau und die Überalterung der Gesellschaft nimmt stetig zu. Mit sinkendem Wirtschaftswachstum steigt die Gesamtverschuldung. Liquiditätskrisen im chinesischen Immobiliensektor verdeutlichen strukturelle Ungleichgewichte
der chinesischen Wirtschaft. Die strikte Null-CovidStrategie bremste im zweiten Quartal das sich ohnehin verlangsamende Wirtschaftswachstum. Eine Wiedereinführung der strikten Beschränkungen dürfte die Industrieproduktion weiter schrumpfen lassen, den Konsum weiter senken und die Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen. Ferner werden Chinas repressive Massnahmen zur Kontrolle Hongkongs und der Minderheiten in Tibet und Xinjiang die diplomatischen Spannungen mit den USA und anderen westlichen Staaten verstärken. China will aber den Bruch mit den westlichen Staaten vermeiden. Die westlichen Staaten ihrerseits wollen einen Bruch auch aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeiten vermeiden, da dieser auf beiden Seiten zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen würde. Präsident Xi Jinping will Chinas Aufstieg zur wirtschaftlichen und technologischen Weltmacht um jeden Preis sichern.

Die Türkei arbeitet weiter daran, sich als unumgängliche Regionalmacht zu etablieren. Präsident Erdogan wird aber seine Politik darauf ausrichten, im Amt zu bleiben.

Wahlen stehen, sollten sie nicht vorgezogen werden, im Jahr 2023 an, in dem die Republik auch ihr hundertjähriges Bestehen feiern wird. Die Türkei wird an der Verbesserung ihrer Beziehungen zu den westlichen Staaten und der EU arbeiten, während 5 / 10

BBl 2022 2745

sie weiterhin gute Beziehungen zu Russland und China pflegt. Gleichzeitig hält die Türkei ihre Beziehungen auch zur Ukraine aufrecht. Sie versucht, eine Mediationsrolle zwischen Russland und der Ukraine zu spielen. Es ist wahrscheinlich, dass die Türkei im Zug des Beitrittsprozesses Schwedens und Finnlands zur Nato deren Zusicherungen kritisch prüfen wird. Das Konfliktpotenzial zwischen der Türkei und den anderen Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers besteht weiter.

4

Die Bedrohungen im Einzelnen

4.1

Terrorismus

Die Terrorbedrohung in der Schweiz ist weiterhin erhöht. Sie wird nach wie vor von der dschihadistischen Bewegung geprägt, deren wichtigste Exponenten der «Islamische Staat» und die Al-Qaïda bleiben. Der Terroranschlag in Oslo im Juni 2022 war in Europa der erste dschihadistisch motivierte Anschlag mit Schusswaffen seit demjenigen in Wien im November 2020. Insgesamt ist die Terrorbedrohung in Europa und auch in der Schweiz diffuser geworden. Der Krieg in der Ukraine hatte bisher keine unmittelbaren Auswirkungen auf sie.

Der «Islamische Staat» und die Al-Qaïda sind gegenwärtig kaum in der Lage, selbst Anschläge in Europa vorzubereiten oder zu verüben. Weltweit sind andere Staaten exponierter als die Schweiz. Dennoch können die Schweiz, ihre Interessen im Ausland oder ausländische Interessen in der Schweiz Ziel eines dschihadistisch motivierten Anschlags werden. Anschläge mit geringem logistischem und organisatorischem Aufwand, verübt von Einzeltäterinnen und -tätern oder Kleingruppen, bleiben die wahrscheinlichste Bedrohung und dürften am ehesten sogenannt weichen Zielen gelten.

Insbesondere die Online-Propaganda des «Islamischen Staats» spielt als Inspirationsquelle für potenzielle Gewalttäterinnen und -täter weiter eine wichtige Rolle.

Zu beachten bleibt, dass sich in europäischen Gefängnissen noch Hunderte Dschihadistinnen und Dschihadisten sowie Personen befinden, die sich in der Haft radikalisiert haben. Zudem stellen Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Dschihadgebieten eine Bedrohung für die Sicherheit der Schweiz dar; diese muss aber im Einzelfall geprüft werden. Die Nutzung von Migrationsbewegungen durch Dschihadistinnen und Dschihadisten, um nach Europa zu gelangen, ist weiterhin eine reale Bedrohung, aber die Anzahl der bisher registrierten Verdachtsfälle ist sehr begrenzt.

Der ethno-nationalistisch motivierte Terrorismus bleibt eine Bedrohung. In Europa, einschliesslich der Schweiz, finden weiterhin damit zusammenhängende Aktivitäten statt: Es wird Propaganda betrieben, Jugendliche werden ideologisiert und in eigens dazu durchgeführten Lagern rekrutiert und ausgebildet. Zudem wird Geld gesammelt.

Die von der libanesischen Hisbollah ausgehende Bedrohung für die Schweiz wird der Bundesrat in einem gesonderten Bericht darlegen.

In den letzten Jahren war in verschiedenen europäischen
Ländern zu beobachten, dass Individuen und Gruppierungen mit links- oder rechtsextremistischem Hintergrund Aktivitäten entwickelten, die in Richtung Terrorismus gehen. In der Schweiz liegt die Ausübung von Gewalt bislang unterhalb der Schwelle des Terrorismus; Hinweise auf eine solche Entwicklung in der Schweiz liegen nur vereinzelt vor.

6 / 10

BBl 2022 2745

4.2

Verbotener Nachrichtendienst

Die verstärkte Konkurrenz der Grossmächte und einiger aufstrebender Regionalmächte wie auch spezifische Kriege und Konflikte führen global zu intensivierten verbotenen nachrichtendienstlichen Tätigkeiten.

Spionageaktivitäten sind permanent zu verzeichnen. Das betrifft die traditionellen Formen von Spionage wie auch die durch Digitalisierung und Vernetzung beschleunigten entsprechenden Aktivitäten im Cyberraum und damit verbundene Phänomene wie Beeinflussungsaktivitäten, Desinformation und Sabotage. Gegen missliebige Personen werden einzelne Staaten weiterhin zu teils tödlicher Gewalt greifen ­ sei es im eigenen Land oder auf fremdem Territorium. Sie könnten dies auch in der Schweiz tun. Ausländische Nachrichtendienste gehen bereits heute in der Schweiz gegen Regimekritikerinnen und -kritiker, Oppositionelle und Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten vor. Sie spionieren diese Personen aus und setzen sie unter Druck, um sie gefügig zu machen.

Im Rahmen ihrer Aufklärungsaktivitäten gegen die Schweiz setzen einige ausländische Nachrichtendienste ihre Mittel in der Schweiz und im Ausland gegen Schweizer Staatsangehörige und schweizerische Interessen ein. Genf bleibt ein Brennpunkt verbotener nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Mehrere europäische Staaten haben auf den Angriffskrieg Russlands auch mit der Ausweisung von russischen Nachrichtendienstoffizieren reagiert. Um zu verhindern, dass diese Kräfte neben anderen Staaten auch in der Schweiz eingesetzt werden, wird die Schweiz verfügbare Instrumente wie zum Beispiel Einreiseverbote ausschöpfen, mit denen die Einreise dieser Nachrichtendienstoffiziere verhindert werden kann.

4.3

NBC-Proliferation5

Ausländische Akteure versuchen weiterhin, in der Schweiz Material für Massenvernichtungswaffenprogramme oder die Herstellung von Trägersystemen zu beschaffen.

Massenvernichtungswaffen und deren Trägermittel gewinnen unter den Grossmächten wieder an Bedeutung. Zum Beispiel entwickeln Russland und China mit extrem schnellen und manövrierfähigen Flugkörpern Technologien, die die Zweitschlagfähigkeit sicherstellen sollen, indem sie Raketenabwehrsysteme unterlaufen können.

Die Technologien haben aufgrund ihrer Eigenschaften aber auch das Potenzial, als Erstschlagwaffen zu dienen. Einige Beschaffungsversuche folgen neuen Trends in der Waffenentwicklung. Sie betreffen also zum Beispiel Technologien und Material, die für die Entwicklung solcher Hyperschallwaffen geeignet wären.

5

Weiterverbreitung nuklearer, biologischer oder chemischer Waffen, einschliesslich ihrer Trägersysteme, sowie aller zur Herstellung dieser Waffen notwendigen zivil und militärisch verwendbaren Güter und Technologien.

7 / 10

BBl 2022 2745

Die aufgrund des Kriegs in der Ukraine auferlegten Sanktionen zwingen Russland dazu, die zur Herstellung von Trägermitteln benötigten Produktionsmittel mittels Umgehungsgeschäften zu beschaffen. Die Identifizierung solcher Beschaffungsversuche wird deshalb anspruchsvoller.

Der Iran hat mittlerweile verbesserte Zentrifugen zur Urananreicherung entwickelt und setzt diese ein. Er hat damit einen entscheidenden Punkt des Joint Comprehensive Plan of Action unterlaufen. Dieser irreversible Wissensgewinn ist von weit höherer Bedeutung als die bisherige Anreicherungstätigkeit an sich. Der Iran wird technologisch zum nuklearen Schwellenstaat, dürfte aber in der heutigen Lage den letzten Schritt zum eigentlichen Kernwaffenbau nicht vollziehen. Dieser letzte Schritt gibt den Zeitbedarf vor: Während die Bereitstellung des notwendigen Spaltmaterials für eine erste Bombe innert Wochen möglich wäre, bräuchte die Finalisierung eines einsatzfähigen Waffendesigns wesentlich länger.

Nordkorea hat mittlerweile wohl zwei Waffendesigns entwickelt. Während das erste auf Plutonium basiert und als «Zünder» einer Wasserstoffbombe auf Interkontinentalraketen zum Einsatz kommen könnte, basiert das zweite auf Uran und ist für den Einsatz in der Region konzipiert. Das Land hat 2022 nach mehrjährigem Moratorium mehrere Interkontinentalraketentests durchgeführt und wird wahrscheinlich noch 2022 seinen siebten Kernwaffentest durchführen.

4.4

Angriffe auf kritische Infrastrukturen

Die Digitalisierung hat durch die Massnahmen gegen die Covid-19-Pandemie seit dem Frühjahr 2020 einen zusätzlichen Schub erfahren. Dies ging vielerorts auf Kosten der Sicherheit. Damit hat sich die Angriffsfläche vergrössert, und die Risiken bei der Nutzung digitaler Lösungen haben zugenommen. Dies gilt für die kritischen Infrastrukturen direkt wie auch über die Lieferketten.

Weiter sorgt die systematische Ausnutzung von Schwachstellen in breit eingesetzter Software für eine zusätzliche Gefährdung. Sogenannte Initial-Access-Angebote im kriminellen Umfeld haben zugenommen. Dabei werden bereits angelegte Zugänge zu Netzwerken verkauft, die unter anderem unter Ausnutzung von Schwachstellen bereits infiltriert wurden.

Im Cyberbereich geht die grösste Bedrohung für kritische Infrastrukturen von kriminellen Gruppierungen aus; zu nennen ist insbesondere der starke Anstieg erfolgreicher Angriffe mit Verschlüsselungsschadsoftware in der Schweiz wie international. Die Mittel für einen solchen Angriff können von spezialisierten kriminellen Anbietern erworben werden. Es besteht hier ein Markt konkurrierender Anbieter, die unter Preisdruck stehen und ihr Angebot zum Teil sogar offen bewerben.

Dass meist finanzielle Motive hinter den festgestellten Cyberangriffen stehen, schliesst andere Motive nicht aus. Gewalttätig-extremistische, terroristische, nachrichtendienstliche oder machtpolitische Motive sind auch möglich. Entsprechend verfolgt die Täterschaft damit andere Ziele, die bis hin zu Sabotage reichen können.

8 / 10

BBl 2022 2745

Der Krieg in der Ukraine hat bisher bestätigt, dass in bewaffneten Konflikten Cybermittel primär unterstützend eingesetzt werden. Sie sollen die militärischen Fähigkeiten des Gegners einschränken und kritische Infrastrukturen beeinträchtigen. Solche Cyberangriffe können aufgrund internationaler Interdependenzen auch Kollateralschäden bewirken und so indirekt auch Schweizer Einrichtungen treffen.

Bedrohungen für kritische Infrastrukturen gehen nicht allein von Cybermitteln aus.

Auch physische Angriffe aus allen genannten Motiven sind möglich. Zudem sind in einem konventionellen Krieg zwischen Industrienationen zahlreiche kritische Infrastrukturen gefährdet, was potenziell direkte Auswirkungen auf die Schweiz haben kann. Das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine ist hierfür ein Beispiel.

4.5

Gewalttätiger Extremismus

Die gewalttätigen links- und rechtsextremistischen Szenen prägen den gewalttätigen Extremismus in der Schweiz weiterhin. Ein neues Gewaltpotenzial ist mit dem Coronaextremismus entstanden, der sich während der Covid-19-Pandemie und insbesondere als Reaktion auf die behördlichen Pandemiemassnahmen gebildet hat. Der gewalttätige Coronaextremismus umfasst Personen, Gruppen oder Organisationen, die Gewalttaten verüben, fördern oder befürworten. Thematisch zeichnet er sich vor allem durch die Ablehnung der behördlichen Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19Pandemie aus. Mit der Rückkehr in die normale Lage gemäss dem Epidemiengesetz vom 28. September 20126 und der Aufhebung sämtlicher Massnahmen hat sich die Szene zwar beruhigt, bleibt aber aktiv. Es ist zudem eher wahrscheinlich, dass sich einzelne radikalisierte Personen oder Untergruppen neuen Themenfeldern zuwenden und ihre gewalttätigen Aktivitäten mit neuer Motivation weiterführen werden. Zudem wird das Weltgeschehen in den gewalttätig-extremistischen Szenen thematisiert und in die jeweilige Argumentation übernommen. So auch der Krieg in der Ukraine, der bisher aber nur wenig Einfluss auf die gewalttätig-extremistischen Szenen in der Schweiz hat. Es wurde bisher kein Schweizer Exponent einer gewalttätig-extremistischen Szene festgestellt, der im Krieg in der Ukraine für eine der beiden Seiten kämpft.

Gerade die Entwicklungen im Bereich des Coronaextremismus zeigen die Folgen des Trends zu gesellschaftlicher Polarisierung als Reaktion auf wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen auf. Sowohl in der Schweiz als auch im Ausland ist festzustellen, dass mit gesellschaftlicher Fragmentierung und Polarisierung das Risiko von politischer Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus verbunden ist. So können neue Bedrohungen für die innere und äussere Sicherheit und neue Herausforderungen für Politik und Sicherheitsbehörden entstehen.

6

SR 818.101

9 / 10

BBl 2022 2745

5

Auswirkungen auf die Schweiz

Die Lageentwicklung zeigt, dass eine auf Recht und Regeln basierte liberale internationale Ordnung, insbesondere multilaterale Lösungen und die Durchsetzung des Völkerrechts, vor grossen Herausforderungen steht. Da die Schweiz keine Machtmittel zur Verfolgung ihrer Interessen einsetzt, ist sie auf internationale Mechanismen zur friedlichen Konfliktlösung angewiesen.

Der Krieg in der Ukraine unterstreicht die Notwendigkeit, die Kompetenzen zur sicherheitspolitischen Früherkennung und Antizipation weiterzuentwickeln und diese Aufgabe im Verbund verschiedener Bundesstellen noch umfassender und systematischer wahrzunehmen. Dabei sind Interessen und Beiträge verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Stellen zu berücksichtigen und zu integrieren.

Für weitere Konsequenzen des Kriegs in der Ukraine sei auf den eingangs erwähnten Zusatzbericht zum sicherheitspolitischen Bericht vom 7. September 2022 verwiesen.

10 / 10