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22.071 Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Jugendstrafgesetzes (Massnahmenpaket Sanktionenvollzug) vom 2. November 2022

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Jugendstrafgesetzes (Massnahmenpaket Sanktionenvollzug).

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2016

M 11.3767

Keine Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte (N 23.9.2013, Rickli; S 14.6.2016)

2016

M 16.3002

Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern (N 3.3.2016, Kommission für Rechtsfragen NR; S 29.9.2016)

2016

M 16.3142

Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen (S 2.6.2016, Caroni; N 27.9.2016)

2018

M 17.3572

Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung (N 29.9.2017, Guhl; S 28.2.2018)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

2. November 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2022-3546

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Übersicht Das Massnahmenpaket Sanktionenvollzug beinhaltet verschiedene neue Massnahmen. Die Massnahmen betreffen Änderungen des Strafgesetzbuches und Änderungen des Jugendstrafgesetzes.

1. Änderung des Strafgesetzbuches Mit diesem Teil der Vorlage werden die Motionen 11.3767 Rickli «Keine Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte», 16.3002 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats «Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern» und 17.3572 Guhl «Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung» umgesetzt.

Ausgangslage Die vom Ständerat abgeänderte Motion 11.3767 verlangt, dass unbegleitete Urlaube für Verwahrte ausgeschlossen werden. Urlaube dürfen heute nur dann gewährt werden, wenn das Verhalten des Täters oder der Täterin dem nicht entgegensteht und keine Gefahr besteht, dass er oder sie flieht oder weitere Straftaten begeht.

Mit der Motion 16.3002 wurde der Bundesrat beauftragt, in Zusammenarbeit mit den Kantonen und unter Berücksichtigung der Konkordate Kriterien und Mindeststandards für einen einheitlichen Vollzug der Strafen von gefährlichen Tätern und Täterinnen festzulegen. Der Justizvollzug ist eine kantonale Aufgabe und der Bundesgesetzgeber gibt lediglich die Leitlinien vor. Aus diesem Grund findet in diesem Bereich ein reger Austausch zwischen Bund, Kantonen und Konkordaten statt.

Die Motion 17.3572 beauftragt den Bundesrat, das Strafgesetzbuch so anzupassen, dass die zuständige Behörde erst wieder nach drei Jahren oder auf begründeten Antrag eine bedingte Entlassung zu prüfen hat, wenn bei einem verwahrten Täter oder einer verwahrten Täterin die jährliche Prüfung der bedingten Entlassung dreimal in Folge negativ ausgefallen ist.

Inhalt der Vorlage Der Vorschlag des Bundesrates zur Umsetzung der Motion 11.3767 soll sicherstellen, dass Straftäter und Straftäterinnen, die sich im geschlossenen Vollzug der Verwahrung oder der vorangehenden Freiheitsstrafe befinden, nicht unbegleitet in Urlaube entlassen werden.

Für die Umsetzung der Motion 16.3002 hat das Bundesamt für Justiz in Zusammenarbeit mit den Kantonen einen Bericht erstellt, in dem die Ausgangslage und der Handlungsbedarf analysiert worden sind. Basierend auf diesem Bericht hat der Bundesrat verschiedene Vorschläge in die Vernehmlassung geschickt. Diese sind überwiegend negativ
aufgenommen worden. In den daraufhin mit den Kantonen und den Konkordaten geführten Gesprächen zeigte sich, dass der Handlungsspielraum für einen Ausbau von Bewährungshilfe und Weisungen klein ist. Da das Bundesgericht unterdessen offene Fragen zum Fristenlauf geklärt hat und die Kantone organisatorische Belange (Zuständigkeiten von Vollzugsbehörde oder kantonalen Gerichten) 2 / 78

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weitestgehend selber regeln können, ist auch der Handlungsbedarf für den Bundesgesetzgeber fraglich. Der Bundesrat beschränkt sich deshalb auf Anpassungen bei der Zusammensetzung der Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit und der Definition der Gefährlichkeit. Zudem sieht er neu ein Beschwerderecht der Vollzugsbehörde im kantonalen Verfahren und im Verfahren vor Bundesgericht vor. Weitere Anpassungen betreffen die Isolation von verwahrten Personen und das Amtsgeheimnis von Personen, die in der Bewährungshilfe tätig sind.

Die Umsetzung der Motion 17.3572 soll den administrativen Aufwand verringern, der durch die jährliche Überprüfung der Verwahrung entsteht: Die Verwahrung soll nur noch alle drei Jahre von Amtes wegen überprüft werden, wenn die bedingte Entlassung vorher dreimal in Folge abgelehnt worden ist.

2. Änderung des Jugendstrafgesetzes Mit diesem Teil der Vorlage wird die Motion 16.3142 Caroni «Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen» umgesetzt.

Ausgangslage Jugendliche Täter und Täterinnen, die nicht oder nicht mehr erzogen oder behandelt werden können, müssen aus dem Vollzug einer Schutzmassnahme ­ allenfalls nach Verbüssung einer Reststrafe ­ entlassen werden, auch wenn sie für Dritte eine Gefahr darstellen. Das Jugendstrafgesetz sieht keine reine Sicherheitsmassnahme zum Schutz Dritter vor. Die fürsorgerische Unterbringung nach dem Zivilgesetzbuch, die im Anschluss an eine jugendstrafrechtliche Schutzmassnahme beantragt werden kann, ist nicht als Sicherheitsmassnahme für nicht erziehbare und nicht behandelbare Personen, die für Dritte eine schwerwiegende Gefahr darstellen, konzipiert.

Inhalt der Vorlage Es ist selten, dass ein jugendlicher Straftäter oder eine jugendliche Straftäterin durch alle Netze des Jugendstrafrechts fällt und als «gefährlicher Straftäter» beziehungsweise «gefährliche Straftäterin» aus einer Sanktion des Jugendstrafgesetzes entlassen werden muss. Das geltende Jugendstrafrecht soll daher nicht grundsätzlich geändert, sondern es sollen lediglich gewisse Lücken geschlossen werden. Die geplante Regelung ist sehr eng gefasst, damit sie die Grundsätze des Jugendstrafrechts möglichst nicht in Frage stellt.

Nach Prüfung der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten wird eine Regelung vorgeschlagen, die es erlaubt, bei Personen, die das 18. Altersjahr
vollendet haben, im Anschluss an die jugendstrafrechtliche Sanktion eine Verwahrung anzuordnen. Diese Regelung ist aufgrund der in der Vernehmlassung von Fachkreisen geäusserten Bedenken sehr restriktiv gefasst, und soll nur bei Personen zur Anwendung kommen, die nach Vollendung des 16. Altersjahres einen Mord begangen haben und bei denen am Ende der jugendstrafrechtlichen Sanktion die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie wiederum eine solche Straftat begehen werden.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

2

1

7 7 7

Ausgangslage 1.1 Änderung des StGB 1.1.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.1.1.1 Motion 11.3767 Rickli «Keine Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte» 1.1.1.2 Motion 16.3002 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats «Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern» 1.1.1.3 Motion 17.3572 Guhl «Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung» 1.1.2 Geltendes Recht 1.1.2.1 Das Sanktionensystem des StGB und der Justizvollzug in der Schweiz 1.1.2.1 Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen 1.1.2.2 Überprüfung der Verwahrung 1.1.2.3 Kernpunkte des Berichts des BJ zu Motion 16.3002 1.1.3 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung 1.1.3.1 Motion 11.3767 Rickli «Keine Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte» 1.1.3.2 Motion 16.3002 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats «Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern» 1.1.3.3 Motion 17.3572 Guhl «Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung» 1.2 Änderung des Jugendstrafgesetzes 1.2.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.2.1.1 Die Motion 16.3142 Caroni 1.2.1.2 Geltendes Recht 1.2.1.3 Gesetzeslücke 1.2.1.4 Minderjährige, die sehr schwere Straftaten begangen haben 1.2.1.5 Anhörung von Experten und Expertinnen 1.2.2 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung 1.2.2.1 Ausdehnung des Anwendungsbereichs der fürsorgerischen Unterbringung nach Artikel 426 ZGB 1.2.2.2 Neue polizeirechtliche Massnahme 1.2.2.3 Neue jugendstrafrechtliche Sicherheitsmassnahme

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7 7 8 8 8 11 12 12 14 14 14 21 22 22 22 23 27 28 29 30 30 30 32

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1.2.2.4

1.3 1.4

«Ablösung» der jugendstrafrechtlichen Sanktion durch eine Massnahme des Erwachsenenstrafrechts Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates Erledigung parlamentarischer Vorstösse

33 35 35

2

Vernehmlassungsverfahren 2.1 Änderung des StGB 2.1.1 Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2.1.2 Rücksprachen zur Umsetzung der Motion 16.3002 2.2 Änderung des JStG 2.2.1 Vorentwurf 2.2.2 Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

36 36 36 38 38 38 39

3

Grundzüge der Vorlage 3.1 Änderung des StGB 3.1.1 Die beantragte Neuregelung 3.1.1.1 Unbegleitete Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen im geschlossenen Vollzug ausschliessen 3.1.1.2 Änderung des Intervalls zur Überprüfung der Verwahrung 3.1.1.3 Zusammensetzung der Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit; Definition der Gefährlichkeit 3.1.1.4 Beschwerderecht der Vollzugsbehörde 3.1.1.5 Weitere Änderungen 3.2 Änderung des JStG 3.2.1 Die beantragte Neuregelung 3.2.1.1 Zusammenfassung 3.2.1.2 Anlasstaten 3.2.1.3 Die Verwahrung als einzige Anschlussmassnahme 3.2.1.4 Verwahrung im Anschluss an die geschlossene Unterbringung 3.2.1.5 Verwahrung im Anschluss an den Freiheitsentzug 3.2.1.6 Negative Prognose bei der Beantragung und Anordnung der Verwahrung 3.2.1.7 Altersuntergrenze von 16 Jahren 3.2.1.8 Zuständigkeit zur Anordnung der Verwahrung 3.2.1.9 Fürsorgerische Unterbringung 3.2.1.10 Vollzug der Massnahme 3.2.1.11 Prozessrecht 3.2.1.12 Strafregisterrecht

40 40 40 40 41 41 42 42 43 43 43 44 45 45 46 48 48 48 48 49 50 50 5 / 78

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3.2.1.13 Zusätzliche Änderungen Begründung und Bewertung der vorgeschlagenen Lösung

51 51

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln 4.1 Änderung des StGB 4.1.1 Unbegleitete Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen im geschlossenen Vollzug ausschliessen 4.1.2 Änderung des Intervalls zur Überprüfung der Verwahrung 4.1.3 Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit 4.1.4 Beschwerderecht der Vollzugsbehörde 4.1.5 Weitere Änderungen 4.2 Änderung des JStG

52 52

5

Auswirkungen 5.1 Auswirkungen auf den Bund 5.1.1 Änderung des StGB 5.1.2 Änderung des JStG 5.2 Auswirkungen auf die Kantone 5.2.1 Änderungen des StGB 5.2.2 Änderungen des JStG

70 70 70 70 71 71 71

6

Rechtliche Aspekte 6.1 Verfassungsmässigkeit 6.1.1 Gesetzgebungskompetenz 6.1.2 Änderung des StGB 6.1.3 Änderung des JStG 6.1.3.1 Grundrechtskonformität 6.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 6.2.1 Änderung des StGB 6.2.2 Änderung des JStG 6.2.2.1 EMRK und KRK 6.2.2.2 Artikel 5 EMRK: Recht auf Freiheit und Sicherheit 6.2.2.3 Art. 6 EMRK: Anspruch auf ein unabhängiges Gericht 6.2.2.4 Art. 37 KRK

71 71 71 72 72 72 74 74 74 74

3.2.2 4

52 53 53 58 59 60

74 76 77

Schweizerisches Strafgesetzbuch (Massnahmenpaket Sanktionenvollzug) (Entwurf)

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Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG) (Massnahmenpaket Sanktionenvollzug) (Entwurf)

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Änderung des StGB

1.1.1

Handlungsbedarf und Ziele

1.1.1.1

Motion 11.3767 Rickli «Keine Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte»

Die Motion 11.3767 wollte «Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte» generell ausschliessen. Sie wurde vom Ständerat am 15. Dezember 2015 dahingehend abgeändert, dass unbegleitete Urlaube ausgeschlossen sein sollen. Der Nationalrat stimmte der geänderten Fassung am 14. Juni 2016 zu.

Der Bundesrat ist damit beauftragt, dem Parlament eine entsprechende Änderung des Strafgesetzbuches (StGB)1 vorzulegen.

1.1.1.2

Motion 16.3002 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats «Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern»

Am 3. März 2016 beziehungsweise 29. September 2016 haben National- und Ständerat die Motion 16.3002 angenommen.

Mit der Motion wurde der Bundesrat aufgefordert, in Zusammenarbeit mit den Kantonen und unter Berücksichtigung der Konkordate Kriterien und Mindeststandards für einen einheitlichen Vollzug der Strafen von gefährlichen Tätern und Täterinnen festzulegen.

Für die Umsetzung der Motion hat das Bundesamt für Justiz (BJ) in Zusammenarbeit mit einer Delegation der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der Strafvollzugskonkordate und der kantonalen Straf- und Massnahmenvollzugsbehörden, einen Bericht2 verfasst, der am 20. November 2018 veröffentlicht worden ist.

Der Bericht des BJ skizziert die allfällige Schaffung eines Instruments, das es ermöglicht, gefährliche Täter und Täterinnen am Ende der Sanktion zu betreuen bzw. zu überwachen, eine Vereinfachung des Verfahrens bei der Zuteilung der Zuständigkei-

1 2

SR 311.0 Bericht des BJ vom 20. November 2018 zur Motion 16.3002 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vom 22. Januar 2016 «Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern» (hiernach: Bericht des BJ zur Motion 16.3002), www.ejpd.admin.ch/dam/data/bj/aktuell/news/2018/2018-11-20/ber-straftaeter-d.pdf (Stand: 10. August 2022).

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ten zwischen den Verwaltungs- und Justizbehörden, eine klare Regelung zur Massnahmendauer, und die Zusammensetzung und Anrufung der Fachkommission zur Beurteilung gefährlicher Straftäter und Straftäterinnen.

1.1.1.3

Motion 17.3572 Guhl «Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung»

Die Motion 17.3572 wurde vom Nationalrat am 29. September 2017 und vom Ständerat am 28. Februar 2018 angenommen.

Der Bundesrat wird beauftragt, Artikel 64b StGB dahingehend anzupassen, dass die zuständige Behörde erst wieder nach drei Jahren oder auf begründeten Antrag eine bedingte Entlassung zu prüfen hat, wenn bei einem verwahrten Täter oder einer verwahrten Täterin der Entscheid zur Prüfung der bedingten Entlassung dreimal in Folge negativ ausgefallen ist.

1.1.2

Geltendes Recht

1.1.2.1

Das Sanktionensystem des StGB und der Justizvollzug in der Schweiz

Das schweizerische StGB unterscheidet zwischen Strafen und Massnahmen. Das Sanktionensystem ist dualistisch-vikariierend konzipiert. Das bedeutet, dass die rechtsanwendenden Behörden Strafen und Massnahmen nebeneinander aussprechen können bzw. müssen3, aber den wegen einer Massnahme erlittenen Freiheitsentzug an die zu verbüssende Freiheitsstrafe anrechnen müssen.4 Für den Vollzug gilt der Grundsatz «Massnahme vor Strafe» (Art. 57 Abs. 2 StGB).

Das Sanktionensystem zeichnet sich seit der Revision im Jahr 2007 durch grosse Flexibilität aus.5 Es ist möglich, bei einem Täter oder einer Täterin im Vollzug einer Freiheitsstrafe nachträglich eine ambulante oder eine stationäre therapeutische Massnahme anzuordnen (Art. 65 Abs. 1 StGB).6 Das Massnahmenrecht erlaubt es zudem, nachträglich eine Verwahrung anzuordnen, wenn z. B. eine stationäre therapeutische Massnahme (Art. 59 StGB) erfolglos geblieben ist (Art. 62c Abs. 4 StGB).7 Bei einem Täter oder einer Täterin im Vollzug einer Freiheitsstrafe, der oder die die Voraussetzungen für eine stationäre therapeutische Massnahme nicht erfüllt, kann nach Artikel 65 Absatz 2 StGB eine Verwahrung nachträglich angeordnet werden.

3 4 5 6

7

Dualismus, Art. 57 Abs. 1 StGB.

Vikarismus, Art. 57 Abs. 3, Art. 62b Abs. 3 und Art. 63b Abs. 1 StGB.

BGE 145 IV 167 E. 1.7.

Zur nachträglichen Anordnung einer ambulanten Massnahme siehe Urteil des Bundesgerichts 6B_82/2019 vom 1. Juli 2019 E. 2.3.5 und 2.3.8. Zur nachträglichen Anordnung einer stationären Massnahme nach Art. 65 Abs. 1 StGB siehe EGMR, Kadusic/Schweiz, Urteil vom 9. Januar 2018, Nr. 43977/13 und Urteil des Bundesgerichts 6F_8/2018 vom 22. Mai 2018 E. 2.2.3.

Urteil des Bundesgerichts 6B_81/2011 vom 16. Mai 2011 E. 4; grundsätzlich mit Blick auf die EMRK-Konformität: BGE 145 IV 167 E. 1.7 f.

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Diese Bestimmung wurde anlässlich der Revision der allgemeinen Bestimmungen des StGB im Jahr 2005 (Korrekturen am Sanktions- und Strafregisterrecht) eingehend diskutiert und eingeführt.8 Weil eine solche Anordnung die Abänderung des ursprünglichen Urteils bedeutet, ist dies nur nach den strengen Regeln der Revision möglich («Revision zu Ungunsten der verurteilten Person»). Ein rechtlicher Spielraum für eine Absenkung der Voraussetzungen bei Artikel 65 Absatz 2 StGB ist nicht ersichtlich, zumal schon die geltende Regelung in der Literatur praktisch einhellig kritisiert wird.9 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte die deutsche Regelung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung für konventionswidrig erklärt.10 In einem Fall aus der Schweiz zur nachträglichen Verwahrung nach Artikel 65 Absatz 2 StGB hat der EGMR eine Verletzung der Konvention festgestellt.11 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das geltende Sanktionenrecht ein flexibles und relativ geschlossenes System darstellt, das es erlaubt, gefährliche Straftäter und Straftäterinnen wiedereinzugliedern oder ­ falls dies nicht möglich ist ­ solange von der Gesellschaft fernzuhalten, als dies zur Verhinderung von schweren Straftaten notwendig ist.

8 9

10 11

Zusammenfassung der Debatten unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curiavista/geschaeft?AffairId=20050060#tab-panel-acc-9 (Stand: 10. August 2022).

Nachweise bei HEER MARIANNE, in: Niggli Marcel A./ Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch und Jugendstrafgesetz, Band I, 4. Aufl., Basel 2019, Art. 65 N 58 ff.

EGMR, M./ Deutschland, Urteil vom 17. Dezember 2009, Nr. 19359/04.

EGMR, W.A./ Schweiz, Urteil vom 2. November 2021, Nr. 38958/16 (angefochten wurde das Urteil des Bundesgerichts 6B_896/2014 vom 16. Dezember 2015).

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Schema Änderung der Sanktion im StGB12

12

Die Möglichkeiten zur Anordnung von ambulanten Massnahmen und der stufenweise Vollzug bei der bedingten Entlassung (Anordnung von Bewährungshilfe, Erteilen von Weisungen, Rückversetzung) sind hier weggelassen.

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Der Straf- und Massnahmenvollzug liegt in der Zuständigkeit der Kantone, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht (Art. 123 Abs. 2 der Bundesverfassung [BV]13 und Art. 372 StGB). Die Kantone sind verpflichtet, die notwendige Infrastruktur bereitzustellen. Dazu gehören Vollzugsbehörden, Bewährungshilfe und Institutionen des Freiheitsentzugs.

Die Kantone haben sich zwecks gemeinsamer Aufgabenerfüllung zu drei regionalen Strafvollzugskonkordaten zusammengeschlossen. Diese tragen wesentlich zur Harmonisierung der kantonalen Vollzugspraxis und zur effizienten Anstaltsplanung bei.

Die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) hat mit der Verabschiedung von gemeinsamen Grundlagen für den schweizerischen Sanktionenvollzug und mit der Schaffung des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug (SKJV) wichtige Schritte zur Harmonisierung des Straf- und Massnahmenvollzug eingeleitet.

Der Bundesrat hat in seinem Bericht zur Erfüllung des Postulats 11.4072 Amherd zur Überprüfung des Straf- und Massnahmenvollzuges in der Schweiz die Aufgaben des Justizvollzuges ausführlich dargestellt, weshalb hier nur ein kurzer Überblick erfolgt.

Die Aufgaben der Behörden und Institutionen des Justizvollzugs sind umfassend. Sie reichen vom Vollzug der Haft im Vorfeld einer rechtskräftigen Verurteilung bis zur Durchführung der Bewährungshilfe nach der bedingten Entlassung. Der Fokus des behördlichen Handelns liegt dabei stets auf dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und der wirksamen Resozialisierung der straffällig gewordenen Person.

Die Vollzugsbehörden orientieren sich am gesetzlich vorgegebenen Resozialisierungs- und Rückfallpräventionsauftrag. Gemäss dem Vollzugsziel von Artikel 75 Absatz 1 StGB hat der Strafvollzug das soziale Verhalten des oder der Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben. Rückfälle in die Kriminalität sollen verhindert und damit die Gesellschaft geschützt werden. Mit den Prinzipien der positiven Spezialprävention soll der Vollzug strafrechtlicher Sanktionen die Reintegration straffällig gewordener Menschen nachhaltig unterstützen und damit wesentlich zum Schutz der öffentlichen Sicherheit beitragen.

Um diese Aufgaben zu erfüllen, stehen den kantonalen Vollzugsbehörden spezialisierte Institutionen zur Verfügung wie
offene oder geschlossene Justizvollzugsanstalten, Massnahmenvollzugseinrichtungen, Einrichtungen für weibliche Eingewiesene und Einrichtungen für junge Erwachsene.

1.1.2.2

Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen

Im geltenden Recht sind Vollzugsöffnungen für lebenslänglich verwahrte Personen (Art. 64 Abs. 1bis StGB) ausnahmslos ausgeschlossen (Art. 123a Abs. 1 BV sowie Art. 84 Abs. 6bis und 90 Abs. 4ter StGB).

Für ordentlich verwahrte Personen (Art. 64 Abs. 1 StGB) sind Vollzugsöffnungen ­ und damit unbegleitete oder begleitete Urlaube ­ nicht ausgeschlossen (Art. 84 Abs. 6 13

SR 101

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i. V. m. Art. 90 Abs. 2bis und 4 StGB). Sie dürfen somit dann gewährt werden, wenn das Verhalten des Täters oder der Täterin dem nicht entgegensteht und keine Gefahr besteht, dass er oder sie flieht oder weitere Straftaten begeht.

Beim Entscheid über die Gewährung von Vollzugsöffnungen ist bei einem Täter oder einer Täterin, der oder die ein Delikt nach Artikel 64 Absatz 1 StGB begangen hat, zu prüfen, ob er oder sie die Voraussetzungen der Gemeingefahr gemäss Artikel 75a Absatz 3 StGB erfüllt.

Gemäss der Motion 11.3767 soll das StGB so ergänzt werden, dass unbegleitete Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte generell ausgeschlossen sind.

1.1.2.3

Überprüfung der Verwahrung

Nach Artikel 64b Absatz 1 Buchstabe a StGB prüft die zuständige Behörde auf Gesuch hin oder von Amtes wegen mindestens einmal jährlich und erstmals nach Ablauf von zwei Jahren, ob der Täter oder die Täterin aus der Verwahrung bedingt entlassen werden kann.

Die jährliche Überprüfung der bedingten Entlassung verursacht einen hohen administrativen Aufwand. Innerhalb dieser Zeitspanne verringert sich bei verwahrten Tätern und Täterinnen das Rückfallrisiko kaum in einem solchen Mass, dass diese Vollzugsöffnung realistisch wäre. Die Überprüfungskadenz soll deshalb angepasst werden.

1.1.2.4

Kernpunkte des Berichts des BJ zu Motion 16.3002

Im Bericht des BJ zur Motion 16.3002 sind die folgenden Punkte geprüft worden:

14 15 16

­

Berechnung der Dauer von freiheitsentziehenden therapeutischen Massnahmen: Im geltenden Recht fehlt eine Bestimmung zur Berechnung der Dauer von freiheitsentziehenden Massnahmen. In der Zwischenzeit hat das Bundesgericht mehrere Urteile zu dieser Frage gefällt.14

­

Zuständigkeiten bei Aufhebung, Änderung oder Verlängerung einer therapeutischen Massnahme: Die Zuständigkeiten bei der Aufhebung einer bestehenden Massnahme und der Anordnung einer neuen Massnahme sind im geltenden StGB zweigeteilt: Für die Aufhebung ist die Vollzugsbehörde zuständig und für die Änderung oder Verlängerung das Gericht. Weil zwischen beiden Entscheiden ein enger Zusammenhang besteht, können die Kantone die Kompetenz zur Aufhebung ebenfalls dem Gericht zuweisen.15 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts16 muss die gemäss kantonalem Recht zuständige Vollzugsbehörde die laufende Massnahme zuerst aufgehoben haben, bevor Ziff. 1.1.3.2 > Berechnung der Dauer von freiheitsentziehenden therapeutischen Massnahmen.

BGE 145 IV 167 E. 1.5.

BGE 134 IV 246 E. 3.4 und BGE 141 IV 49 E. 2.4 f.

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das Gericht in einem selbstständigen nachträglichen Entscheid gemäss Artikel 363 ff. der Strafprozessordnung (StPO)17 eine andere Massnahme anordnen kann. Es wurde eine andere Verteilung der Zuständigkeiten sowie die Möglichkeit diskutiert, der Vollzugsbehörde die Beschwerdelegitimation an das Bundesgericht zu verleihen.

17 18

19

­

Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit: Die in Artikel 62d Absatz 2 StGB vorgesehene fachübergreifende Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit hat die Aufgabe, die Gefährlichkeit von Straftätern und Straftäterinnen zu beurteilen und eine Stellungnahme zuhanden der Vollzugsbehörde abzugeben, wenn diese über Vollzugsöffnungen zu entscheiden hat.

Verschiedene Bestimmungen regeln den Beizug der Kommission (Art. 62d Abs. 2, 64b Abs. 2 Bst. c und 75a Abs. 1 i. V. m. Art. 90 Abs. 4bis StGB). Die Zusammensetzung der Kommission ist in den Grundzügen in Artikel 62d Absatz 2 StGB geregelt. Die Kantone haben die Organisation, Funktionsweise und Zusammensetzung ihrer jeweiligen Kommission unterschiedlich geregelt.18 Das geltende Recht regelt die Fälle der Anrufung der Fachkommission und ihre Zusammensetzung wenig detailliert, was zu unterschiedlicher Praxis in den Kantonen führt.

­

Bewährungshilfe und Weisungen: Im geltenden Recht werden Bewährungshilfe und Weisungen nach den Artikeln 93 und 94 StGB19 bei bedingten oder teilbedingten Strafen (Art. 44 Abs. 2 StGB) für die Dauer der Probezeit nach bedingter Entlassung (Art. 62 Abs. 3, 64a Abs. 1 und 87 Abs. 2) sowie im Rahmen des Vollzugs gewisser Massnahmen (Art. 63 Abs. 2, 67 Abs. 6, 67b Abs. 4 und 67c Abs. 7bis) angeordnet. Es ist möglich, bei verwahrten, bedingt entlassenen Tätern und Täterinnen die Probezeit (und damit die Möglichkeit der Anordnung von Bewährungshilfe und der Erteilung von Weisungen) solange zu verlängern, als es notwendig erscheint (Art. 64a Abs. 2 StGB). Dasselbe gilt für Täter und Täterinnen, die zwar eine Tat nach Artikel 64 Absatz 1 begangen haben, aber nicht verwahrt worden sind (Art. 87 Abs. 3 StGB). Das geltende Recht sieht aber keine Möglichkeit vor, Bewährungshilfe und Weisungen auf unbestimmte Zeit hin zu verlängern. Das bestehende Sanktionensystem ist sehr flexibel und hat sich beim Vollzug von Sanktionen wegen schwerer Straftaten als relativ geschlossen erwiesen. Auch bei weniger schweren Straftaten gibt es Möglichkeiten. So hat das Bundesgericht beispielsweise anerkannt, dass es möglich ist, eine ambulante Massnahme, Bewährungshilfe und Weisungen anzuordnen, wenn die stationäre therapeutische Massnahme (Art. 59 StGB) wegen Erfolglosigkeit aufgehoben und die Freiheitsstrafe vollständig verbüsst wurde und es angebracht erscheint, den Täter oder die Täterin SR 312.0 ZERMATTEN AIMÉE H./ FREYTAG THOMAS, Commission de dangerosité, in: Brägger Benjamin F./ Vuille Joëlle (Hrsg.), Lexique pénitentiaire suisse ­ De l'arrestation provisoire à la libération conditionnelle, Basel 2016, S. 84 ff.; Bericht des BJ zur Motion 16.3002 (Fn. 2), Ziff. 5.3.3.

Bis zum Inkrafttreten der revidierten allgemeinen Bestimmungen des StGB im Jahr 2007 sah das StGB Kontroll- und Begleitmassnahmen unter dem Titel «Schutzaufsicht» vor, s. Art. 47 aStGB. Dazu HAFTER ERNST, Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts ­ Allgemeiner Teil, Bern 1946, S. 290 f.

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nicht einfach freizulassen, sondern ihn oder sie weiterhin zu betreuen.20 In diesem Urteil hat das Bundesgericht darauf hingewiesen, dass das Recht auf Massnahmen flexibel sein muss. Wie bei jeder Person, die eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellt, ist der Rückgriff auf zivil- oder polizeirechtliche Massnahmen nicht ausgeschlossen.

1.1.3

Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

1.1.3.1

Motion 11.3767 Rickli «Keine Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte»

Es wurden keine Alternativen geprüft. Die Motion wird in der vom Ständerat abgeänderten Fassung konsequent umgesetzt.

1.1.3.2

Motion 16.3002 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats «Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern»

Im Rahmen der Motion 16.3002 wurden die folgenden Alternativen geprüft: Verwahrung ausdehnen Falls ein Täter oder eine Täterin nicht therapierbar ist und die Voraussetzungen der Gefährlichkeit für eine Verwahrung nicht erfüllt sind, könnte man prima vista einfach den Anwendungsbereich der Verwahrung ausdehnen. Sie würde damit auch Täter und Täterinnen erfassen, deren Gefährlichkeit unterhalb der Schwelle liegt, die das geltende Recht für eine Verwahrung festlegt. Der Bundesrat sah bereits im Vorentwurf aus folgenden Gründen davon ab: Die Verwahrung ist ein zeitlich unbefristeter Freiheitsentzug und damit ­ zusammen mit der (potenziell) lebenslangen Freiheitsstrafe ­ die schwerste Sanktion, die das geltende StGB kennt. Sie ist deshalb das letzte Mittel («ultima ratio», siehe Art. 56 Abs. 2 und 56a Abs. 1 StGB).21 Der Gesetzgeber bezweckte mit der Neuregelung der Verwahrung in der Revision der allgemeinen Bestimmungen des StGB 2002, dass eine Straftat, die allein das Rechtsgut «Vermögen» verletzt, keine Verwahrung mehr als Rechtsfolge haben kann. Die Angriffe auf die in Artikel 64 Absatz 1 StGB aufgeführten Individualrechtsgüter sollen zudem eine schwere Beeinträchtigung zur Folge haben und deshalb einen Straftatbestand erfüllen, der eine Höchststrafe von fünf oder mehr Jahren Freiheitsstrafe androht. Die Verwahrung kann gegebenenfalls lebenslang dauern. Die Ausdehnung dieser freiheitsentziehenden Sicherheitsmassnahme auf geringfügige Verletzungen

20 21

Urteil des Bundesgerichts 6B_82/2019 vom 1. Juli 2019 E. 2.3.5 und 2.3.8.

BGE 139 IV 57 E. 1.3.3.

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von Individualrechtsgütern oder auf Vermögensdelikte ist aus Gründen der Verhältnismässigkeit abzulehnen. Dies würde im Ergebnis einer Wiedereinführung der Regelung über die altrechtliche Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern entsprechen.

Die Ausdehnung der Verwahrung auf die Verletzung von Kollektivrechtsgütern ­ wie insbesondere das unscharfe Rechtsgut der öffentlichen Sicherheit ­ würde zu weit gehen. Damit würde die Verwahrung an Stelle einer Präventivhaft treten, die durch die Hintertür des Strafrechts eingeführt würde. Eine Präventivhaft ist jedoch polizeirechtlicher Natur und nur in sehr engen sachlichen und zeitlichen Grenzen zulässig, so zur Abwendung einer konkreten und zeitlich naheliegenden Gefahr. In einem liberalen Rechtsstaat sind solche Instrumente nur mit grosser Zurückhaltung vorzusehen.

Weil mit tieferen Hürden für die Verwahrung auch mehr Straftäter und Straftäterinnen verwahrt würden, müsste man die Zahl der angemessen ausgestatteten Vollzugsplätze entsprechend ausbauen.

Sinken die Voraussetzungen für die Anordnung einer Verwahrung, müsste man auch die Voraussetzungen für die Entlassung aus der Verwahrung senken. Die heutige, generell strenge Praxis zur Entlassung aus der Verwahrung ­ es werden praktisch keine Täter und Täterinnen mehr bedingt entlassen22 ­ liesse sich bei einer Weiterung des Täterprofils kaum mehr aufrechterhalten.

In der Vernehmlassung ist die Ausdehnung der Verwahrung nicht gefordert worden.

Neue Aufsichtsmassnahme Im Bericht des BJ zur Motion 16.3002 wird eine neue Aufsichtsmassnahme zur Diskussion gestellt.23 Der Bundesrat sieht aus folgenden Gründen davon ab: Eine solche Massnahme wäre nicht als freiheitsentziehende Sanktion, sondern als freiheitsbeschränkende Massnahme ausgestaltet. Da die Massnahme nach Ende des Vollzugs einer Sanktion zum Tragen käme, bestehen inhaltlich und zeitlich enge Verbindungen zur Bewährungshilfe und den Weisungen nach den Artikeln 93 und 94 StGB.

Eine neue, eigenständige Massnahme stünde deshalb in einem schwierigen Verhältnis zur heute geltenden Regelung der Bewährungshilfe und der Weisungen: Es wäre jedenfalls aufwändig, inhaltliche, prozedurale und organisatorische Doppelspurigkeiten zu vermeiden. Die Anwendung des Massnahmenrechts würde damit noch anspruchsvoller. Die neuen Schnittstellen könnten zu neuen
Sicherheitsproblemen führen.

Eine neue Aufsichtsmassnahme würde zusätzlich Kosten für aufwändige Anpassungen des Strafregisters (VOSTRA) erfordern.

In der Vernehmlassung ist keine neue Aufsichtsmassnahme gefordert worden.

22

23

Dazu FREYTAG THOMAS/ ZERMATTEN AIMÉE H., Bedingte Entlassung aus dem Strafversus Massnahmenvollzug: Sind die Praktiken gleich?, in: Fink et al (Hrsg.), Kriminalität, Strafrecht und Föderalismus, Bern 2019, S. 219 ff., 234 f.

Beispielsweise nach Vorbild der Führungsaufsicht im deutschen Strafrecht (§ 68 ff.

d-StGB), siehe Bericht des BJ zur Motion 16.3002 (Fn. 2), Ziff. 7.1.1.

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Verschärfung der Sanktionierung der Missachtung von Bewährungshilfe oder Weisungen Wer sich der angeordneten Bewährungshilfe entzieht oder die erteilten Weisungen missachtet, kann nach Artikel 295 StGB mit Busse bestraft werden. Es wurde vereinzelt vorgebracht, die Verschärfung der Strafdrohung sei notwendig, um den entlassenen Täter oder die entlassene Täterin zur Einhaltung der Anordnungen und Weisungen zu zwingen. Der Bundesrat sieht aus folgenden Gründen davon ab: Artikel 295 StGB wurde ­ zusammen mit der Änderung von Artikel 294 StGB (Missachtung eines Tätigkeitsverbots oder eines Kontakt- und Rayonverbots) ­ im Rahmen des indirekten Gegenvorschlages zur Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» eingeführt24 und ist seit 2015 in Kraft. In der Botschaft wurde die Notwendigkeit dieser Bestimmung damit begründet, dass es Fälle gebe, in denen insbesondere die Rückversetzung nicht möglich sei und eine allfällige Verletzung der Pflichten ohne einschneidende Konsequenzen bliebe: Diese Lücke werde mit der neuen Strafbestimmung geschlossen.25 Statistische Aussagen zur Praxis zu Artikel 295 StGB sind nicht möglich, denn Verurteilungen wegen Übertretungen werden grundsätzlich nicht in VOSTRA erfasst. Ein Blick auf die im Zusammenhang stehende Strafnorm von Artikel 294 StGB zeigt, dass in den Jahren 200626 bis 2014 keine Verurteilung wegen Widerhandlung gegen das Berufsverbot nach Artikel 294 aStGB erfolgte.27 Zwischen 2015 und 2018 gab es 13 Verurteilungen28, bei seit 2007 insgesamt 200 ausgesprochenen Berufs- bzw. Tätigkeits-, Kontakt- oder Rayonverboten29.

Es wäre auch aus den folgenden Gründen nicht angezeigt, Artikel 295 StGB zu verschärfen: ­

24

25 26

27

28

29

Erstens pönalisiert Artikel 295 StGB das blosse Nichtbefolgen von Auflagen und Weisungen, die höchst unterschiedliche Inhalte aufweisen können: Sie reichen von einfachen Meldepflichten über die Pflicht, eine bestimmte Ausbildung zu absolvieren, bis hin zur Pflicht, sich einer vom Gericht festgelegten medizinischen Behandlung zu unterziehen. Artikel 295 StGB ist somit ­ wie Artikel 292 StGB (Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen) ­ eine Botschaft vom 10. Oktober 2012 zur Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» sowie zum Bundesgesetz über das Tätigkeitsverbot und das Kontakt- und Rayonverbot (Änderung des Strafgesetzbuchs, des Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes) als indirektem Gegenvorschlag, BBl 2012 8819.

Botschaft (Fn. 24), BBl 2012 8819 S. 8867.

Vor der Revision der allgemeinen Bestimmungen des StGB 2002 war Art. 294 aStGB (die Vorgängernorm der heutigen erweiterten) eine Übertretung, die grundsätzlich nicht in VOSTRA eingetragen worden ist.

Bundesamt für Statistik (BFS), Strafurteilsstatistik, Tabelle «Erwachsene: Verurteilungen für ein Vergehen oder Verbrechen nach Artikeln des Strafgesetzbuches (StGB)», Stand 20.Mai 2019.

Bundesamt für Statistik (BFS), Strafurteilsstatistik, Tabelle «Erwachsene und Jugendliche: Verurteilungen und Verurteilte für ein Vergehen oder Verbrechen nach den Artikeln des Strafgesetzbuches (StGB)», Stand 20.Mai 2019.

Bundesamt für Statistik (BFS), Strafurteilsstatistik, Tabelle «Erwachsene: Verurteilungen aufgrund eines Vergehens oder Verbrechens mit Tätigkeitsverbot und/oder Kontakt- oder Rayonverbot», Stand 20.Mai 2019.

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Blankettstrafnorm, die erst durch die Anordnung des Gerichts konkretisiert wird. Zur Begründung der Strafbarkeit muss jedenfalls kein Individualrechtsgut (nicht einmal mittelbar) angegriffen oder gefährdet worden sein. Diese Norm hebt sich somit von der spezifischeren Strafbestimmung nach Artikel 294 StGB (Missachtung eines Tätigkeitsverbots oder eines Kontakt- und Rayonverbots) ab. Mit solchen strafrechtlichen Disziplinierungssanktionen werden jedenfalls keine Individualrechtsgüter geschützt.

Die Argumentation, dass mit Rücksicht auf das Gefährlichkeitspotenzial des Täters oder der Täterin ein Freiheitsentzug und damit eine Freiheitsstrafe notwendig sei, vermischt die strafbare Missachtung der Pflicht, eine Weisung zu befolgen (Meldepflicht usw.), mit der eigentlichen Anlasstat (Sexual- bzw.

Gewaltdelikt), welche allein die Gefährlichkeit des betreffenden Täters oder der betreffenden Täterin zu begründen vermag. Wenn diesbezüglich eine schwere Gewalttat zu befürchten wäre, könnte nach den Regeln der StPO gegebenenfalls eine Sicherheitshaft oder ein kantonaler polizeilicher Sicherheitsgewahrsam angeordnet werden. Auf jeden Fall darf aus der Missachtung einer Weisung usw. nicht ohne Weiteres auf eine besondere Gefährlichkeit geschlossen werden.

Die Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe wegen blossen Ungehorsams müsste sich der Kritik stellen, verdeckte Anliegen zu verfolgen: Der Täter oder die Täterin würde nicht primär deswegen mit einer Freiheitsstrafe belegt, weil er oder sie eine Meldepflicht oder eine andere Weisung verletzt hat. Die Straftat wäre vielmehr der verdeckte Anknüpfungspunkt, um ihn oder sie mittels Freiheitsentzug von der Begehung (möglicherweise noch unbestimmter) zukünftiger Straftaten abzuhalten. Im Ergebnis würde damit über die Pönalisierung von blossem Ungehorsam gegenüber behördlichen Anordnungen eine Präventivhaft eingeführt. Das erscheint mit Blick auf das Schuldprinzip nicht mehr angemessen. Aber auch die strengen Voraussetzungen zur Anordnung von Sicherheitshaft gemäss Artikel 221 Absatz 1 Buchstabe c StPO wären mit einer solchen Strafnorm nur schwer in Einklang zu bringen: Gemäss StPO ist insbesondere der dringende Verdacht erforderlich, dass die beschuldigte Person ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat,30 und dass durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit Dritter gefährdet ist.31 Es würde sich mithin die Frage stellen, ob die Vorgaben der Konvention

30

31

Gemäss der revidierten StPO soll bei einer schweren Gefahr auf das Vortaterfordernis ausnahmsweise verzichtet werden können, siehe Entwurf 1 der revidierten StPO, BBl 2022 1560 und dazu Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung (Umsetzung der Motion 14.3383, Kommission für Rechtsfragen des Ständerats, Anpassung der Strafprozessordnung), BBl 2019 6697 S. 6717 und 6712 sowie 6742 ff.

(Erläuterungen zu Art. 221 E-StPO).

Eingehend zur «zumindest teilweise polizeirechtlich motivierten Untersuchungs- und Sicherheitshaft sowie Friedensbürgschaft» im Strafrecht des Bundes vgl. DONATSCH ANDREAS, Umgang mit gefährlichen Personen. Mögliche gesetzgeberische Lösungen auf Stufe Bund und Kantone, Gutachten vom 4. April 2019 (erstattet zuhanden der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren [KKJPD] und des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements [EJPD]), RN 8 ff. (abrufbar auf der Website der KKJPD, Stand: 8. Oktober 2019), Rn. 8 ff.

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zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)32 zur Präventivhaft33 nicht unter dem Deckmantel einer in der Sache disziplinarrechtlichen (und das Schuldprinzip verletzenden) Strafbestimmung umgangen würden.

Der Bundesrat erachtet die Präventivhaft nur in besonders schweren Fällen und in engen Grenzen als angemessenes Instrument. Er hat jüngst bei seinem Entwurf zu einem Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus darauf verzichtet, dem Parlament eine Präventivhaft in Form einer sog. gesicherten Unterbringung vorzuschlagen.34 ­

Zweitens ist unklar, inwiefern eine solche Strafnorm tatsächlich wirken könnte. Mit Blick auf den disziplinierenden Charakter und das durch die Strafnorm geschützte Rechtsgut könnte in Anwendung von Artikel 41 StGB wohl kaum in jedem Fall eine (kurze) Freiheitsstrafe ausgesprochen werden. Es wäre unbillig, hier gemäss Artikel 42 Absatz 2 StGB immer eine unbedingte Freiheitsstrafe auszusprechen.

­

Drittens steht die Pönalisierung von Pflichtverstössen gegen Bewährungshilfe und Weisungen in einem Spannungsverhältnis zum Privileg der Selbstbegünstigung. Es ist ungereimt, den Verstoss gegen eine Weisung zu bestrafen, während die Gefangenenselbstbefreiung (siehe Art. 310 StGB) und die Flucht vor dem Vollzug einer Strafe oder Massnahme (siehe Art. 305 StGB) nicht strafbar sind.

In der Vernehmlassung ist die Verschärfung von Artikel 295 StGB nicht gefordert worden.

Berechnung der Dauer von freiheitsentziehenden therapeutischen Massnahmen Der Vorentwurf enthielt eine Regelung zur Berechnung der Dauer von freiheitsentziehenden therapeutischen Massnahmen.

In der Vernehmlassung sind die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen positiv aufgenommen worden. In der Zwischenzeit hat das Bundesgericht jedoch mehrere Entscheidungen zu diesem Thema gefällt, und eine Kodifizierung würde lediglich diese Rechtsprechung bestätigen. In BGE 142 IV 105 hat das Bundesgericht entschieden, dass der Zeitpunkt des Beginns der Fünfjahresfrist einer stationären therapeutischen Massnahme (Art. 59 Abs. 4 StGB) in zwei Konstellationen wie folgt anzusetzen ist.35 Befindet sich eine Person, bei welcher eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet wurde, in Haft, so beginnt die Fünfjahresfrist ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft und Vollstreckbarkeit des Urteils zu laufen. Wenn eine Person die Massnahme aus der Freiheit heraus antritt, so gilt der Eintritt in die Massnahmenvollzugseinrichtung als massgeblicher Zeitpunkt des Beginns der Fünfjahresfrist. Diese 32 33

34 35

SR 0.101 Zur Verhältnismässigkeit der Anordnung sicherheitspolizeilichen Gewahrsams im Anschluss an den Straf- oder Massnahmenvollzug und zur Vereinbarkeit insb. mit der EMRK siehe DONATSCH (Fn. 31), Rn. 31 ff. (insb. 45 und 47 f.) und 76 ff.

Botschaft vom 22. Mai 2019 zum Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, BBl 2019 4751, S. 4768 ff.

BGE 142 IV 105 E 5.6 und 5.9; ebenso BGE 145 IV 65 E. 2.7.1. und BGE 147 IV 205 E. 2.4.2.

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Rechtsprechung entspricht der Regelung, die im Vorentwurf enthalten war. Daher erscheint es nicht notwendig, in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig zu werden.

Zuständigkeit bei Aufhebung, Änderung oder Verlängerung einer therapeutischen Massnahme Der Vorentwurf enthielt eine Regelung zur Zuständigkeit bei Aufhebung, Änderung oder Verlängerung einer therapeutischen Massnahme.

Indem der Bund bestimmte Zuständigkeiten, die in einer Mehrheit der Kantone derzeit bei einer Verwaltungsbehörde liegen, einer Justizbehörde überträgt, würde er punktuell in die Gerichtsorganisation der Kantone eingreifen. Vier Kantone (GE, TI, VD, VS) haben Gerichte eingesetzt, die für Entscheide zum Straf- und Massnahmenvollzug zuständig sind, und deren Zuständigkeiten sind teilweise so ausgestaltet, wie es der Vorentwurf vorsieht. Diese Kantone befürchten Rechtsunsicherheit (in Bezug auf die Frage der zuständigen Behörde und der Beschwerdelegitimation), wenn der Bundesgesetzgeber in bestimmten Punkten eingreifen würde. Darüber hinaus ist der im Vorentwurf formulierte Vorschlag teilweise umstritten, insbesondere mit der Begründung, dass er zu längeren, schwerfälligeren und kostspieligeren Verfahren führen würde. Aus diesen Gründen erscheint es sinnvoll, auf die Übertragung gewisser Kompetenzen von den Vollzugsbehörden auf die Gerichte zu verzichten und stattdessen im Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 200536 (BGG) und im StGB eine Bestimmung zu schaffen, welche die Beschwerdelegitimation in Strafsachen der Vollzugsbehörde überträgt (siehe Ziff. 3.1.1.4).

Ausbau von Bewährungshilfe und Weisungen Der Vorentwurf enthielt eine Regelung zum Ausbau von Bewährungshilfe und Weisungen.

Der Vorschlag, die Bewährungshilfe (Art. 93 StGB) und die Bewährungsregeln (Art. 94 StGB) zu stärken, stiess in der Vernehmlassung auf heftige Kritik. Er sollte sicherstellen, dass Straftäterinnen und Straftäter, die rückfallgefährdet sind, nach dem Vollzug der Sanktion nicht ohne Begleitung und ohne Aufsicht in die Freiheit entlassen werden, weil die nachträgliche Verhängung einer Sanktion nicht möglich ist (z. B., weil die stationäre Behandlung von psychischen Störungen nach Art. 59 StGB wegen Erfolglosigkeit eingestellt werden musste, keine Reststrafe mehr zu vollziehen war und die Voraussetzungen für die Anordnung einer Verwahrung nicht erfüllt
waren). Generell wird das Fehlen wirksamer Reaktions- oder Interventionsmöglichkeiten bei Verstössen gegen die Weisungen und die Bewährungshilfe missbilligt. Die mit den vorgeschlagenen Instrumenten verfolgten Ziele werden jedoch als unrealistisch angesehen, da sie nur eine Scheinsicherheit bieten würden. Die Anordnung von Bewährungshilfe und Weisungen am Ende des Strafvollzugs wird als unannehmbarer Eingriff in die persönliche Freiheit der betroffenen Person angesehen und läuft dem Ziel der Resozialisierung zuwider. Die vorgeschlagenen Änderungen der Artikel 93 und 94 StGB ­ insbesondere die Neuformulierung von Artikel 93 Absatz 1 StGB, die vorgeschlagene neue Weisung über einen den Bedürfnissen des Täters oder der Täterin angemessenen Aufenthaltsort (Art. 94 Abs. 2 Bst. a Vorentwurf-StGB [VE-StGB]) 36

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sowie die Notwendigkeit eines psychiatrischen Gutachtens in bestimmten Fällen (Art. 94 Abs. 3 VE-StGB) ­ wurden ebenfalls negativ aufgenommen. Fast alle Kantone haben den Vorschlag des Vorentwurfs abgelehnt, was seine Umsetzung unrealistisch erscheinen lässt. Die Kantone sind für den Vollzug strafrechtlicher Sanktionen zuständig (Art. 123 Abs. 2 BV). Zudem wurde weder in der Vernehmlassung noch in den Gesprächen mit den Kantonen37 ein neuer Vorschlag zur Ausweitung der Bewährungshilfe und der Weisungen unterbreitet, der den Vorentwurf ersetzen könnte.

Terminologische Vereinheitlichung Der Vorentwurf enthielt Vorschläge für eine terminologische Vereinheitlichung.

Da auf die Umsetzung der im Vorentwurf vorgeschlagenen Änderungen zur Zuständigkeit verzichtet wird (siehe oben), ist es nicht mehr angezeigt, eine terminologische Vereinheitlichung der Begriffe «zuständige Behörde» und «Vollzugsbehörde» vorzunehmen. Dies gilt umso mehr, als die Verwendung des Begriffs «Vollzugsbehörde» anstelle des Begriffs «zuständige Behörde» in bestimmten Kantonen (GE, TI, VD, VS), in denen die zuständige Behörde ein Gericht ist, zu Verwirrung führen könnte.

Fazit zur Umsetzung der Motion 16.3002 Die Motion 16.3002 verlangt, dass der Bundesrat in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Konkordaten Kriterien und Mindeststandards für eine einheitliche Regelung des Strafvollzugs bei gefährlichen Straftätern und Straftäterinnen festlegt. Zur Begründung wird angeführt, dass der im März 2014 in Beantwortung des Postulats 11.4072 Amherd «Überprüfung des Straf- und Massnahmenvollzugs in der Schweiz»38 vorgelegte Bericht gewisse Lücken und sehr unterschiedliche Praktiken in den Kantonen und Strafvollzugskonkordaten aufzeige, insbesondere was das Risikomanagement bei gefährlichen Straftätern betreffe.

Bei den Debatten im Parlament im Jahr 201639 wurde deutlich, dass in mehreren Bereichen Lücken bestanden haben, insbesondere weil das Konzept des risikoorientierten Strafvollzugs nicht in allen Kantonen eingeführt worden war oder weil es zu viele Kommissionen für die Beurteilung der Gefährlichkeit gab.40 Es schien daher wichtig, eine gewisse Harmonisierung zwischen den Praktiken der Kantone und der Konkordate zu erreichen.

Seit 2016 kam es zu wichtigen Verbesserungen bei der Harmonisierung und der Zusammenarbeit. Erstens soll der
«Processus latinus d'exécution des sanctions orientés sur le risque et les ressources» (PLESORR), der sich als ein ähnliches Konzept wie ROS (Risikoorientierter Sanktionenvollzug) versteht, in den lateinischen Kantonen implementiert werden. Zweitens hat die Gründung des SKJV die Veröffentlichung mehrerer Dokumente ermöglicht, die auf eine bessere Harmonisierung der Praktiken

37 38

39 40

Vgl. Ziff. 2.1.2.

Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 18. März 2014 in Erfüllung des Postulats 11.4072 Amherd vom 15. Dezember 2011 «Überprüfung des Straf- und Massnahmenvollzuges in der Schweiz», www.bj.admin.ch/dam/data/bj/sicherheit/smv/dokumentation/ber-poamherd-d.pdf (Stand: 27. September 2022).

AB 2016 N 152 f.; AB 2016 S 864 ff.

Für Details zu diesen Punkten: Bericht des BJ zur Motion 16.3002 (Fn 2), Ziff. 2.

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abzielen, insbesondere im Gesundheitsbereich. Darüber hinaus arbeitet das SKJV derzeit an einer Bestandsaufnahme zum Thema «Urlaub im Strafvollzug», in der die gesetzlichen Bestimmungen und die Praxis in den verschiedenen Kantonen analysiert werden. Drittens haben die beiden deutschschweizerischen Konkordate für den Vollzug von strafrechtlichen Sanktionen kürzlich das Projekt «Horizont» lanciert, das ebenfalls auf eine engere Zusammenarbeit untereinander, aber auch mit dem Konkordat der lateinischen Schweiz und dem SKJV abzielt.41 Schliesslich werden im vorliegenden Entwurf punktuelle Verbesserungen vorgeschlagen, insbesondere hinsichtlich der Urlaube von verwahrten Personen und hinsichtlich der Kommission für die Beurteilung der Gefährlichkeit.

In der Vernehmlassung wurden zahlreiche Vorschläge, vor allem jene zur Ausweitung der Bewährungshilfe und der Weisungen sowie zur Anrufung der Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit, insbesondere von den Kantonen negativ aufgenommen. Sie betonten die Professionalisierung des Justizvollzugs in Bezug auf die Risikobeurteilung und das Risikomanagement. Darüber hinaus haben sie jedoch keine Alternativen zu den kritisierten Vorschlägen des Vorentwurfs vorgelegt, insbesondere was die Ausweitung der Bewährungshilfe und der Weisungen anbelangt. Hinsichtlich der Kompetenzverteilung und der kantonalen Unterschiede in diesem Bereich ist daran zu erinnern, dass die Kantone frei darüber entscheiden, ob sie bestimmte Kompetenzen (z. B. die Prüfung der bedingten Entlassung) einer Verwaltungs- oder einer Justizbehörde übertragen. Zudem hat das Bundesgericht in Bezug auf die im Vorentwurf geregelte Berechnung der Dauer von stationären therapeutischen Massnahmen Rechtssicherheit geschaffen, da es in jüngster Zeit mehrere Entscheide zu diesem Thema gefällt hat.42 Folglich wurden mehrere Vorschläge des Vorentwurfs zur Umsetzung der Motion 16.3002 im vorliegenden Entwurf nicht mehr weiterverfolgt. Der Entwurf konzentriert sich auf die folgenden Punkte der Motion 16.3002: ­

Revision der Regelung zur Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit (inkl. Definition der Gefährlichkeit);

­

Beschwerderecht der Vollzugsbehörde.

1.1.3.3

Motion 17.3572 Guhl «Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung»

Im Vorentwurf wurde die Motion 17.3572 wortgetreu umgesetzt. In der Vernehmlassung haben zahlreiche Teilnehmer angeregt, die Änderung der Verwahrung in eine stationäre Massnahme (Art. 65 Abs. 1 StGB) derselben Kadenz zu unterstellen wie die Prüfung der bedingten Entlassung aus der Verwahrung. Dies erscheint sinnvoll.

41 42

https://www.konkordate.ch/projekt-horizont; https://www.osk-web.ch/projekt-horizont/ (Stand: 10. August 2022).

Siehe oben und Fn. 35.

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1.2

Änderung des Jugendstrafgesetzes

1.2.1

Handlungsbedarf und Ziele

1.2.1.1

Die Motion 16.3142 Caroni

Die Motion 16.3142 Caroni «Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen» wurde vom Ständerat am 2. Juni 2016 und vom Nationalrat am 27. September 2016 angenommen. Sie lautet: «Der Bundesrat wird beauftragt, die nötigen Gesetzesänderungen vorzuschlagen, damit gegenüber Jugendlichen, deren jugendstrafrechtliche Schutzmassnahmen wegen Erreichen der Altersgrenze beendet werden müssen (Art. 19 Abs. 2 des Jugendstrafgesetzes, JStG43), die nötigen Massnahmen angeordnet bzw. weitergeführt werden können, wenn dies wegen schwerwiegender Nachteile für die Sicherheit Dritter notwendig ist.» Die Motion wird wie folgt begründet: «Im heutigen Recht der jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen (Art. 12 ff. JStG) klafft bei Tätern, welche die Sicherheit Dritter schwerwiegend bedrohen, eine gefährliche Lücke: Das Jugendstrafrecht sieht Schutzmassnahmen bei jugendlichen Tätern vor. Namentlich kann die Behörde einen Täter in einer geschlossenen Einrichtung unterbringen lassen, wenn dies entweder «für den persönlichen Schutz oder für die Behandlung der psychischen Störung» (Art. 15 Abs. 2 Bst. a JStG) oder «für den Schutz Dritter vor schwerwiegender Gefährdung durch den Jugendlichen» (Art. 15 Abs. 2 Bst. b JStG) notwendig ist.

Sobald aber der nach Jugendstrafrecht Verurteilte das 22. (bzw. nach neuem Recht das 25.) Altersjahr vollendet, enden alle Massnahmen (Art. 19 Abs. 2 JStG).

Zwar kann die Vollzugsbehörde, wenn die Gefährdung fortbesteht, «die Anordnung geeigneter vormundschaftlicher Massnahmen» beantragen (Art. 19 Abs. 3 JStG). Das Problem ist jedoch, dass diese vormundschaftlichen Massnahmen nur für diejenigen Konstellationen geschaffen sind, wo der Täter wegen psychischer Störung bzw. geistiger Behinderung oder schwerer Verwahrlosung persönlich des Schutzes bedarf (Art. 426 Zivilgesetzbuch [ZGB]44). Damit können zwar namentlich Massnahmen, die ursprünglich nach Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe a JStG angeordnet wurden (Selbstgefährdung oder psychische Störung), weitergeführt werden.

Hingegen enden Massnahmen wie namentlich solche nach Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe b JStG (reine Drittgefährdung ohne psychische Störung) zwingend.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes, wonach alleine in der Fremdgefährdung auch ein persönliches Schutzbedürfnis im Sinne von Artikel 426 ZGB gesehen werden könne,45 wurde in der Lehre heftig kritisiert. Zudem lag im erwähnten Fall auch eine psychische Krankheit vor.

43 44 45

SR 311.1 SR 210 Vgl. BGE 138 III 593 E. 5.2.

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Um Dritte rechtsstaatlich korrekt auch in Fällen, wo weder eine psychische Krankheit noch eine Selbstgefährdung vorliegt, vor schwerwiegender Gefährdung zu schützen, soll daher die Möglichkeit eingeführt werden, dass auch nach altersbedingter Beendigung der jugendstrafrechtlichen Massnahmen die notwendigen Massnahmen angeordnet bzw. weitergeführt werden können.

Dieses Konzept ist nicht neu, sondern für das Kontakt- und Rayonverbot (Art. 16a JStG) seit dem 1. Januar 2015 bereits in Kraft (vgl. Art. 19 Abs. 4 JStG). Dieser Ansatz muss umso mehr dort verfolgt werden, wo die Drittgefährdung noch erheblicher ist.»

1.2.1.2

Geltendes Recht

Die geschlossene Unterbringung nach Artikel 15 Absatz 2 JStG Die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung dient in erster Linie der Erziehung und Behandlung des oder der Jugendlichen. Sie wird angeordnet, wenn sie ­ zusätzlich zu den Voraussetzungen nach Artikel 15 Absatz 1 ­ für den persönlichen Schutz oder für die Behandlung der psychischen Störung des oder der Jugendlichen unumgänglich ist (Bst. a) oder wenn sie für den Schutz Dritter vor schwerwiegender Gefährdung durch den Jugendlichen oder die Jugendliche notwendig ist (Bst. b). Die Voraussetzungen nach Absatz 2 Buchstabe b sind dann erfüllt, wenn mit Blick auf die persönlichen Verhältnisse des oder der Jugendlichen und auf die von ihm oder ihr verübten Straftaten zu befürchten ist, er oder sie werde nach einer allfälligen Entweichung aus der Institution erneut schwerwiegende Delikte wie Mord oder Vergewaltigung usw. begehen.

Hat der oder die Jugendliche das 17. Altersjahr vollendet, so kann die Unterbringung auch in einer Einrichtung für junge Erwachsene (Art. 61 StGB) vollzogen oder weitergeführt werden (Art. 16 Abs. 3 JStG). Mit dieser Möglichkeit wird die strenge Trennung jugendlicher Straftäter und Straftäterinnen von volljährigen Straftätern und Straftäterinnen durchbrochen.

Die zuständige Behörde kann in allen Fällen eine nachträgliche Änderung der Massnahme anordnen (Art. 18 JStG).

Die Schutzmassnahmen enden spätestens mit dem zurückgelegten 25. Altersjahr der betroffenen Person.46 Die vollziehende Behörde muss jährlich prüfen, ob und wann die Massnahme aufgehoben werden kann. Sie hebt sie auf, wenn ihr Zweck erreicht ist oder feststeht, dass sie keine erzieherischen oder therapeutischen Wirkungen (mehr) entfaltet (Art. 19 Abs. 1 JStG).

Kann in einem solchen Fall kein restlicher Freiheitsentzug vollzogen werden, so ist die betroffene Person zu entlassen, auch wenn sie noch gefährlich ist. Sie ist im Übrigen auch dann zu entlassen, wenn sie nach dem Vollzug eines allfälligen restlichen Freiheitsentzugs noch gefährlich ist. Diese Regelung wird von jugendlichen Straftätern und Straftäterinnen manchmal auch ausgenutzt. Sie widersetzen sich den erzieherischen oder therapeutischen Bemühungen, um ­ allenfalls nach Verbüssung eines 46

Bis am 30. Juni 2016 galt die Altersgrenze von 22 Jahren.

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kurzen Freiheitsentzugs ­ entlassen zu werden.47 Dadurch wird die Gefahr für die öffentliche Sicherheit noch akzentuiert.

Einen Ausweg bietet in diesen Fällen heute nur die Anordnung einer zivilrechtlichen Massnahme. Ist der Wegfall einer Schutzmassnahme für die betroffene Person selber oder für die Sicherheit Dritter mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden und kann diesen nicht auf andere Weise begegnet werden, so kann die Vollzugsbehörde die Anordnung geeigneter vormundschaftlicher Massnahmen beantragen (Art. 19 Abs. 3 JStG).

Auch auf das Ende eines Freiheitsentzugs hin kann die Jugendstrafbehörde bei der Behörde des Zivilrechts die Anordnung einer geeigneten Massnahme beantragen (Art. 20 Abs. 1 Bst. a JStG).

Die fürsorgerische Unterbringung nach Artikel 426 ZGB Für die Anordnung der fürsorgerischen Unterbringung (FU) werden grundsätzlich ein Schwächezustand und ein Schutzbedürfnis der betroffenen Person vorausgesetzt. Ein Schwächezustand liegt vor, wenn jemand an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist. Das Schutzbedürfnis besteht, wenn dieser Schwächezustand eine Behandlung oder Betreuung notwendig macht, die nicht anders als durch Entzug der Freiheit möglich ist.48 Mit der FU werden die persönliche Fürsorge und Pflege der betroffenen Person gewährleistet. Die Behandlung soll ­ soweit möglich ­ die Entlassung aus der Einrichtung innert nützlicher Frist herbeiführen.

Die FU dient heute in erster Linie dem Schutz der betroffenen Person und nicht dem ihrer Umgebung. Eine Fremdgefährdung ist deswegen weder erforderlich noch hinreichend für eine Unterbringung. In der Botschaft zur Revision des Vormundschaftsrechts49 wird dazu ausgeführt: «Auch der Schutz Dritter darf in die Beurteilung einbezogen werden, kann allerdings für sich allein nicht ausschlaggebend sein. Indessen gehört es letztlich ebenfalls zum Schutzauftrag, etwa eine kranke, verwirrte Person davon abzuhalten, eine schwere Straftat zu begehen».

Das Bundesgericht hat in einem Entscheid, der noch zum alten Vormundschaftsrecht erging, die Anordnung eines (altrechtlichen) Fürsorgerischen Freiheitsentzugs im Anschluss an den Wegfall einer Massnahme des Jugendstrafrechts zugelassen.50 Im zu beurteilenden Fall handelte es sich um einen Täter mit einer psychischen Störung (sexueller Sadismus und Persönlichkeitsstörung vom antisozialen Typus), der somit grundsätzlich die erste Voraussetzung für eine FU ­ den Schwächezustand ­ erfüllte.

47

48

49 50

HUG CHRISTOPH/ SCHLÄFLI PATRICIA/ VALÄR MARTINA, in: Niggli Marcel A./ Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch und Jugendstrafgesetz, Band II, 4. Aufl., Basel 2019, Vor Art. 1 JStG N 35.

GEISER THOMAS/ ETZENSBERGER MARIO, in: Geiser Thomas/ Fountoulakis Christiana (Hrsg.), Basler Kommentar zum Zivilgesetzbuch, Band I, 6. Aufl., Basel 2018, Art. 426 N 7.

Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutzrecht, Personenrecht und Kindesrecht), BBl 2006 7001 Ziff. 2.2.11.

BGE 138 III 593; bestätigt und vertieft in den Urteilen des Bundesgerichts 5A_614/2013 vom 22. November 2013, 5A_500/2014 vom 8. Juli 2014, 5A_692/2015 vom 11. November 2015 und 5A_617/2016 vom 9. Nov. 2016.

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Das Bundesgericht beurteilte sodann in seinem Entscheid die Frage, inwieweit es notwendig ist, diese psychische Störung in einer geschlossenen Einrichtung zu behandeln (d. h. das Vorliegen eines Schutzbedürfnisses). Das Bundesgericht zieht dabei die Drittgefährdung als zusätzlichen Grund für das Vorliegen eines Schutzbedürfnisses heran. Es hält fest: «Tatsächlich ergibt sich aus dem Fremdgefährdungspotential eines Geisteskranken fast zwangsläufig ein Beistands- und Fürsorgebedürfnis: Wer die Sicherheit anderer bedroht, ist persönlich schutzbedürftig» Und: «Nichts anderes ergibt sich grundsätzlich aus Art. 426 ZGB, der ab dem 1. Januar 2013 die Voraussetzungen der FU umschreibt. Auch diese Bestimmung kennt den Einweisungsgrund der Fremdgefährdung nicht. Dennoch darf der Schutz Dritter in die Beurteilung einbezogen werden, zumal es letztlich ebenfalls zum Schutzauftrag gehört, eine kranke bzw. verwirrte Person davon abzuhalten eine schwere Straftat zu begehen.»51 Das Bundesgericht kommt zu folgendem Schluss: «Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass der Beschwerdeführer an einer Geisteskrankheit leidet und bei ihm somit ein Schwächezustand im Sinn von Art. 397a Abs. 1 ZGB gegeben ist. Der Beschwerdeführer bedarf überdies der Fürsorge in Form der Behandlung seiner Krankheit, die ihm aufgrund der konkreten Gefährdungslage nur in einer Anstalt gewährt werden kann.»52 Dieser Entscheid ist in der Lehre sehr umstritten. Die Kritiker und Kritikerinnen gehen davon aus, das Bundesgericht lasse eine Drittgefährdung als alleinige Voraussetzung für einen fürsorgerischen Freiheitsentzug (bzw. eine FU) genügen. Sie warnen vor einer gefährlichen Vermischung von Fürsorge und Drittschutz.53 Der fürsorgerische Freiheitsentzug (heute: FU) werde zweckentfremdet. Er komme so einer stationären Massnahme des Erwachsenenstrafrechts oder einer Verwahrung gleich. Es würden strafrechtliche bzw. polizeirechtliche und nicht zivilrechtliche Zwecke verfolgt. Wäre die betroffene Person volljährig gewesen, so wäre sie nach Artikel 64 StGB verwahrt worden.

Der EGMR kommt im Entscheid T.B. c. Suisse54 zum Schluss, im oben dargestellten Fall sei die betroffene Person ohne gesetzliche Grundlage und nur zu präventiven Zwecken in der Strafanstalt inhaftiert gewesen.55 Der EGMR schickt voraus, dass gemäss der Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt auf Artikel 5 Ziffer 1 Buchstabe e EMRK die Inhaftierung einer Person, die an einer psychischen Störung leidet, nicht 51 52

53

54 55

BGE 138 III 593 E. 5.2.

BGE 138 III 593 E. 9; die Rechtsprechung des Bundesgerichts lässt es somit nicht zu, dass jemand nur aufgrund «seiner Gefahr für Dritte» ­ d. h. nur gestützt auf Artikel 426 Absatz 2 ZGB, ohne Schwächezustand und ohne dass ein Bedürfnis für eine Behandlung besteht ­ fürsorgerisch untergebracht wird.

Vgl. GEISER/ ETZENSBERGER (Fn. 48), Art. 426 N 43a; MEYER LÖHRER BEDA, «Im Ergebnis eine rein polizeilich motivierte Fürsorge», Plädoyer 6/2012, 20 ff.; RÜTSCHE BERNHARD, Verwahrung aus Fürsorge, Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie (SZK) 1/2013, 30 ff.

Es gab allerdings auch zustimmende Reaktionen: AEBI-MÜLLER REGINA, Aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Familienrecht, Jusletter vom 6. Mai 2013, 43 f.; WOLF STEFAN/ THUT DANIEL/ SCHMUCKI DEBORAH, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2012, ZBJV 2013, 670 ff.; HÄBERLI THOMAS/ MEIER PHILIPPE, Übersicht zur Rechtsprechung im Kindes- und Vormundschaftsrecht (Juli bis Oktober 2012), ZKE 2012, 486 ff., 513.

EGMR, T.B./Schweiz, Urteil vom 30. April 2019, Nr. 1760/15.

Gegenstand des Entscheids des EGMR ist das Urteil des Bundesgerichts 5A_500/2014 vom 8. Juli 2014.

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nur dann möglich ist, wenn diese Person eine therapeutische Behandlung benötigt, sondern auch dann, wenn sie überwacht werden muss, um zu verhindern, dass sie sich selber oder Dritten Schaden zufügt.56 Es sei zwar medizinisch belegt, dass die betroffene Person psychische Störungen aufweise und somit die erste Voraussetzung für eine FU (den Schwächezustand) erfülle.57 Im Zusammenhang mit der zweiten Voraussetzung (dem Schutzbedürfnis) stellt der EGMR aber fest, dass in Artikel 426 Absatz 2 ZGB die Aspekte der persönlichen Hilfe und der Sicherheit miteinander vermischt werden. Mit Bezugnahme auf die Botschaft des Bundesrates zur Revision des Vormundschaftsrechts58 und den Grundsatzentscheid des Bundesgerichts59 hält er fest, dass der Schutz Dritter ein zusätzliches Element in der Beurteilung der Situation darstellen könne, jedoch für sich allein nicht ausschlaggebend sei. Er folgert daraus, dass Artikel 426 Absatz 2 ZGB als gesetzliche Grundlage die Inhaftierung der betroffenen Person nicht zu rechtfertigen vermöge60 und stellt aufgrund dieser Elemente fest, dass die betroffene Person ohne gesetzliche Grundlage inhaftiert gewesen sei.

In einem Entscheid aus dem Jahr 2019 hat das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung bestätigt und festgehalten, dass Artikel 426 ZGB keine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung einer FU allein wegen Fremdgefährdung bilde.61 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass gemäss der Botschaft des Bundesrates zur Revision des Vormundschaftsrechts sowie der Rechtsprechung des Bundesgerichts eine FU gestützt auf Artikel 426 Absatz 1 ZGB angeordnet werden kann, wenn die betroffene Person eine psychische Störung aufweist und sie der Fürsorge in Form der Behandlung ihrer Krankheit bedarf, die ihr aufgrund der konkreten Gefährdungslage (Art. 426 Abs. 2 ZGB) nur in einer geeigneten Einrichtung gewährt werden kann.

Die EMRK lässt einen weitergehenden Freiheitsentzug zu: Gemäss der Rechtsprechung des EGMR ist gestützt auf Artikel 5 Ziffer 1 Buchstabe e EMRK die Inhaftierung einer Person, die an einer psychischen Störung leidet, nicht nur dann möglich, wenn diese Person eine therapeutische Behandlung benötigt, sondern auch dann, wenn sie überwacht werden muss, um zu verhindern, dass sie sich selber oder Dritten Schaden zufügt.

In jedem Fall gilt,62 dass eine FU nicht allein zum Schutz Dritter angeordnet werden kann.

56 57 58 59 60 61 62

EGMR, T.B./Schweiz, (Fn. 54), Ziff. 54.

EGMR, T.B./Schweiz, (Fn.58), Ziff. 59.

BBl 2006 7001 Ziff. 2.2.11.

BGE 138 III 593 E. 5.2.

EGMR, T.B./Schweiz, (Fn. 54), Ziff. 60­63.

Urteil des Bundesgerichts 5A_407/2019 vom 28. Oktober 2019 E. 8.

Sowohl gemäss der Botschaft des Bundesrates zur Revision des Vormundschaftsrechts und der Rechtsprechung des Bundesgerichts als auch gemäss dem Urteil des EGMR, T.B./Schweiz (Fn. 58).

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1.2.1.3

Gesetzeslücke

Jugendliche Täter und Täterinnen, die nicht erzogen oder behandelt werden können, müssen aus dem Vollzug einer Schutzmassnahme (allenfalls nach Verbüssung einer Reststrafe) entlassen werden, auch wenn sie für Dritte eine Gefahr darstellen. Das JStG sieht keine reine Sicherheitsmassnahme zum Schutz Dritter vor.

Die FU nach dem ZGB, die im Anschluss an eine jugendstrafrechtliche Schutzmassnahme beantragt werden kann, ist nicht als Sicherheitsmassnahme für nicht erziehbare und nicht behandelbare Personen, die für Dritte eine schwerwiegende Gefahr darstellen, konzipiert. Sie kann diese Funktion gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR nicht erfüllen.

Der Wortlaut der Motion 16.3142 Caroni umfasst zwar alle Personen, die mit Erreichen der Altersgrenze von 25 Jahren als gefährlich eingeschätzt werden. Aus der Begründung geht jedoch hervor, dass es in erster Linie um diejenigen gefährlichen Personen geht, welche die Kriterien für eine FU des Zivilrechts nach herrschender Lehre nicht erfüllen.

Die Motion geht zudem davon aus, dass ein gefährlicher jugendlicher Straftäter oder eine gefährliche jugendliche Straftäterin in jedem Fall bis zu seinem oder ihrem 25. Altersjahr gestützt auf Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe b JStG in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht werden kann. In der Praxis ist man zwar bemüht, gefährliche Täter und Täterinnen möglichst lange ­ wenn immer möglich bis zum Erreichen der Altersobergrenze ­ in der geschlossenen Unterbringung zu behalten.

Gestützt auf Artikel 19 Absatz 1 JStG ist jedoch ein jugendlicher Straftäter oder eine jugendliche Straftäterin aus der Unterbringung zu entlassen, wenn feststeht, dass diese keine erzieherische oder therapeutische Wirkung mehr entfaltet. D. h. der jugendliche Straftäter oder die jugendliche Straftäterin ist unter Umständen zu entlassen, bevor er oder sie 25 Jahre alt ist, und dies sogar dann, wenn er oder sie in diesem Zeitpunkt eine Gefahr für Dritte darstellt. Bei der Umsetzung der Motion ist auch diesem Aspekt Rechnung zu tragen.

Eine Sicherheitsmassnahme kann sich schliesslich auch im Anschluss an einen Freiheitsentzug als notwendig erweisen. Dabei geht es zum einen um Jugendliche, die als nicht erziehbar oder nicht behandelbar aus der geschlossenen Unterbringung entlassen werden und den Rest eines
Freiheitsentzugs verbüsst haben. Zum anderen geht es um jugendliche Täter und Täterinnen, die im Zeitpunkt des Urteils weder psychisch gestört noch erziehbar oder therapierbar sind und gegen die daher keine jugendstrafrechtliche Unterbringung angeordnet, sondern nur eine Strafe verhängt worden ist.

Es besteht daher eine Gesetzeslücke in Bezug auf jugendstrafrechtlich Verurteilte, die die folgenden Voraussetzungen erfüllen: ­

Sie haben als Minderjährige eine sehr schwere Straftat begangen.

­

Sie stehen vor der Entlassung aus einer Schutzmassnahme oder einer Strafe des Jugendstrafrechts.

­

Sie stellen für Dritte eine schwerwiegende Gefahr dar (d. h., es besteht eine erhebliche Gefahr, dass sie wiederum sehr schwere Straftaten begehen, bei denen Dritte erheblich an Leib und Leben gefährdet oder verletzt werden).

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­

Sie erfüllen die Voraussetzungen für die FU nach Artikel 426 ZGB nicht: Sie weisen keinen Schwächezustand auf ­ d. h., sie leiden nicht an einer psychischen Störung oder einer geistigen Behinderung ­ oder aber sie weisen einen Schwächezustand auf, sind aber im Sinne des ZGB nicht schutzbedürftig.

1.2.1.4

Minderjährige, die sehr schwere Straftaten begangen haben

Minderjährige werden zwar nicht selten wegen sehr schwerer Straftaten verurteilt.63 Das heisst jedoch nicht, dass sie deshalb in jedem Fall als gefährlich eingestuft werden müssen.

Bei Verurteilungen wegen vorsätzlicher Tötung (Art. 111 StGB), Mord (Art. 112 StGB), schwerer Körperverletzung (Art. 122 StGB), qualifiziertem Raub (Art. 140 Ziff. 3 und 4 StGB), qualifizierter sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 3 StGB), qualifizierter Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 3 StGB) oder qualifizierter Brandstiftung (Art. 221 Abs. 2 StGB) wurde in den Jahren 2010­2020 in den meisten Fällen eine offene Unterbringung, eine ambulante Behandlung oder eine persönliche Betreuung ­ allenfalls in Verbindung mit einem Freiheitsentzug ­ angeordnet.

In den Jahren 2010­2020 wurden bei Jugendlichen, die einen Mord begangen haben (12 Fälle), folgende Sanktionen verhängt: ­

in 4 Fällen eine geschlossene Unterbringung (z. T. verbunden mit einer ambulanten Behandlung und einem Freiheitsentzug, in zwei Fällen verbunden mit einem Freiheitsentzug von 4 Jahren);

­

in 2 Fällen eine persönliche Betreuung und eine Aufsicht verbunden mit einem Freiheitsentzug von 3 Jahren;

­

in einem Fall eine ambulante Behandlung verbunden mit einem Freiheitsentzug von 180 Tagen;

­

in einem Fall mit einer offenen Unterbringung (ohne Freiheitsentzug);

­

in 4 Fällen ausschliesslich ein Freiheitsentzug von 3 bis 4 Jahren (d. h., es wurde keine Schutzmassnahme angeordnet).64

Die angeordneten jugendstrafrechtlichen Sanktionen scheinen in den meisten Fällen erfolgreich zu sein, sodass beim grössten Teil dieser Täter und Täterinnen bei ihrer Entlassung keine grosse Gefahr weiterer Taten mehr besteht. In einzelnen Fällen musste jedoch im Anschluss an den Vollzug der jugendstrafrechtlichen Sanktion eine FU nach Artikel 426 ZGB angeordnet werden, die aus Sicherheitsgründen in einer Justizvollzugsanstalt vollzogen wurde.

63

64

In den Jahren 2010­2020 wurden folgende Verurteilungen von Minderjährigen registriert: Vorsätzliche Tötung (Art. 111 StGB): 44; Mord (Art. 112 StGB): 12; alle schweren Körperverletzungen (Art. 122 StGB): 431; qualifizierter Raub (Art. 140 Ziff. 3 und 4 StGB): 200; qualifizierte sexuelle Nötigung (Art. 189 Abs. 3 StGB): 3; qualifizierte Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 3 StGB): 1; qualifizierte Brandstiftung (Art. 221 Abs. 2 StGB): 6 (Quelle: Bundesamt für Statistik).

Quelle: Bundesamt für Statistik.

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1.2.1.5

Anhörung von Experten und Expertinnen

Am 13. November 2017 fand eine vom BJ organisierte Gesprächsrunde zur Umsetzung der Motion 16.3142 Caroni mit Experten und Expertinnen statt.65 Die Gesprächsrunde hat ergeben, dass es heute in der Schweiz eine sehr kleine Anzahl (5­7) minderjähriger Straftäter und Straftäterinnen gibt, die aus dem jugendstrafrechtlichen Straf- und Massnahmenvollzug entlassen werden müssen und bei denen eine anschliessende Sicherheitsmassnahme notwendig ist. In dieser Zahl sind die nach Jugendstrafrecht verurteilten Täter und Täterinnen, die nach Entlassung aus dem Strafvollzug in eine FU eingewiesen werden, eingeschlossen.

Die Meinungen über den gesetzgeberischen Handlungsbedarf und die Art der vorzusehenden Sicherheitsmassnahmen gingen allerdings auseinander.

Einzelne Experten und Expertinnen haben sich dafür ausgesprochen, dass im Anschluss an eine jugendstrafrechtliche Unterbringung, die mit Erreichen des 25. Altersjahrs des oder der Eingewiesenen beendet werden muss, eine Verwahrung nach Erwachsenenstrafrecht angeordnet werden kann. Ein Übergang in die Verwahrung vor dem 25. Altersjahr wurde eher abgelehnt. Es wurde zudem die Meinung vertreten, die Verwahrung müsse bereits im jugendstrafrechtlichen Grundurteil vorbehalten werden.

Von Experten und Expertinnen aus der forensischen Psychiatrie wurde darauf hingewiesen, dass eine Zukunftsprognose bei einer minderjährigen Person praktisch nicht möglich sei. Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Hirnreifung beim Menschen erst mit dem 23. oder 24. Lebensjahr abgeschlossen ist, wobei diese bei Frauen grundsätzlich schneller abgeschlossen ist (ca. mit 21 Jahren). Darum sollten Gutachten bei jugendlichen Straftätern und Straftäterinnen in der Form von Verlaufsgutachten erstellt werden.

In der Expertengruppe wurde zudem der Vorschlag gemacht, als Anlasstat für eine nachträgliche (bzw. eine vorbehaltene) Verwahrung allein den Mord (Art. 112 StGB) vorzusehen.

Ein weiterer Vorschlag war, dass man auch eine Massnahme nach den Artikeln 59 StGB (Behandlung von psychischen Störungen) und 61 StGB (Massnahmen für junge Erwachsene) für die Tätergruppe der psychisch Kranken und Behandelbaren, die jedoch die Voraussetzungen für die fürsorgerische Unterbringung nicht erfüllen, vorsehen könnte.

65

Teilnehmende: Marcel Riesen-Kupper, Leitender Oberjugendanwalt des Kantons Zürich; Fabienne Proz Jeanneret, Jugendrichterin Kanton Genf; Hans Melliger, Leiter Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau; Gregor Tönnissen, Direktor Massnahmenzentrum Uitikon; Alexandre Comby, Leiter Erziehungsanstalt Pramont; Dr. med. Christian Perler, Ärztlicher Bereichsleiter Jugendforensik, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel; Dr. med. Steffen Lau, Leiter Zentrum für Stationäre Forensische Therapie, Stv. Direktor Klinik für forensische Psychiatrie/ Chefarzt Rheinau; Dr. Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt und Stv. Geschäftsleiter Modellstation SOMOSA, sozialpädagogische Heimeinrichtung und jugendpsychiatrische Klinik Winterthur; Prof. Diana Wider, Institut für Sozialarbeit und Recht Hochschule Luzern, Generalsekretärin der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES; Prof. Christof Riedo, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Freiburg.

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1.2.2

Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

1.2.2.1

Ausdehnung des Anwendungsbereichs der fürsorgerischen Unterbringung nach Artikel 426 ZGB

Eine erste gesetzgeberische Lösung könnte darin bestehen, den Anwendungsbereich der FU nach Artikel 426 ZGB auf Personen auszudehnen, die in erster Linie für Dritte gefährlich sind, das heisst auf Personen, bei denen sich unabhängig vom Vorliegen eines Schwächezustands das Schutzbedürfnis daraus ergibt, dass sie für Dritte gefährlich sind.

Für diese Lösung spricht, dass die Jugendstrafbehörden während des Vollzugs einer Strafe oder Massnahme nach JStG eng mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) zusammenarbeiten. Das Jugendstrafrecht, das auf Erziehung und Behandlung ausgerichtet ist, hat grosse Ähnlichkeit mit dem Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Eine Ausdehnung der FU wird daher in der Jugendstrafrechtsliteratur und von Praktikerinnen und Praktikern als geeignete Massnahme angesehen, insbesondere von jenen, die eine jugendstrafrechtliche Verwahrung ablehnen.66 Andererseits dient die FU heute in erster Linie dem Schutz der betroffenen Person, und nicht dem Schutz ihrer Umgebung. Eine Fremdgefährdung ist weder erforderlich noch hinreichend für eine Unterbringung. Die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesgerichts wurde in der Lehre heftig kritisiert,67 und es wurde vor einer gefährlichen Vermischung von Fürsorge und Drittschutz gewarnt.68 Zudem ist fraglich, ob bei gefährlichen Straftätern und Straftäterinnen eine zivilrechtliche Massnahme die logische Weiterführung einer jugendstrafrechtlichen Massnahme darstellt. Dies kann zwar bei Tätern und Täterinnen der Fall sein, die in erster Linie behandlungsbedürftig sind. Eine FU für nicht therapierbare gefährliche Straftäter und Straftäterinnen käme jedoch einer Verwahrung, das heisst einer strafrechtlichen Massnahme, gleich. Eine FU, die bei allen Personen angeordnet werden kann, die für Dritte als gefährlich eingestuft werden, ohne dass sie wegen einer schweren Straftat verurteilt wurden, würde weit über die Anliegen der Motion hinausgehen.

1.2.2.2

Neue polizeirechtliche Massnahme

Eine Sicherheitsmassnahme für gefährliche Täter und Täterinnen, die aus einer Strafe oder Massnahme nach Jugendstrafrecht entlassen werden müssen, dient der Gefahrenabwehr und hat daher auch polizeirechtlichen Charakter. Es stellt sich daher die Frage, ob sie im «Polizeirecht» des Bundes verankert werden könnte.

In seinem Bericht zum Postulat Malama vom 3. März 2010 (10.3045 «Innere Sicherheit. Klärung der Kompetenzen») nimmt der Bundesrat u. a. zur Frage Stellung, 66 67 68

Vgl. Ziff. 1.2.2.3.

Vgl. Ziff. 1.2.1.2.

Vgl. GEISER/ ETZENSBERGER (Fn. 48), Art. 426 N 43a; MEYER LÖHRER (Fn. 53), 20 ff.; RÜTSCHE (Fn. 53), 30 ff.

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welche Rechtsetzungskompetenzen die geltende BV dem Bund im Bereich der inneren Sicherheit einräumt.69 Es gibt im Bundesrecht keine Zuständigkeit zum Erlass von rein polizeirechtlichen Sicherheitsmassnahmen für Personen, die aus einer jugendstrafrechtlichen Strafe oder Massnahme entlassen werden müssen, für Dritte eine Gefahr darstellen und die Voraussetzungen für eine FU nicht erfüllen.

Polizeirechtliche Sicherheitsmassnahmen, die mit einem Freiheitsentzug verbunden sind, stellen zudem in der Regel relativ kurzfristige Interventionen dar. Sie werden aufgrund einer zukünftigen Gefahr, die jemand für Dritte darstellt, ergriffen. Stellen sie auf eine begangene Straftat ab, so sind sie Übergangslösungen bis zur Ausfällung des Strafurteils.

So enthält die StPO zwar mit der Untersuchungshaft, die u. a. bei Wiederholungsgefahr angeordnet werden kann (Art. 221 Abs. 1 StPO), eine Sicherheitsmassnahme.

Diese dient jedoch in erster Linie der Verfahrenssicherung und ist ­ soweit sie der Verhinderung von Straftaten dient ­ nur eine Übergangslösung bis zur Ausfällung des Urteils.

Die StPO enthält zudem eine polizeirechtliche Sicherheitsmassnahme, die es erlaubt, eine Person in Haft zu nehmen, wenn die Gefahr besteht, dass sie ein schweres Verbrechen begeht, mit dem sie gedroht hat (Art. 221 Abs. 2 StPO). Für diese Sicherheitsmassnahme in der StPO fehlt jedoch nach Auffassung der Lehre70 die Verfassungsgrundlage. Sie stellt eine typische polizeirechtliche Sicherheitsmassnahme dar, für welche die Kantone zuständig sind.

Eine polizeirechtliche Sicherheitsmassnahme71 würde Personen erfassen, die allein aufgrund ihres Verhaltens als gefährlich eingestuft werden, ohne dass sie eine konkrete Straftat begangen haben. Eine solche Massnahme würde weit über die Anliegen der Motion hinausgehen. Es fehlt zudem die Verfassungsgrundlage, um eine solche Norm auf Bundesebene zu erlassen.

Es soll allerdings auch nicht den Kantonen überlassen werden, eine Sicherheitsmassnahme im Sinne der Motion 16.3142 zu schaffen. Zum einen wäre dabei in Kauf zu nehmen, dass die Kantone ganz unterschiedliche Lösungskonzepte verfolgen. Zum andern ist zu berücksichtigen, dass ein polizeirechtlicher Freiheitsentzug auch auf kantonaler Ebene nicht auf eine längere Dauer ausgerichtet ist, wie das zur Umsetzung der Motion 16.3142 notwendig wäre.

69 70 71

Bericht des Bundesrates vom 2. März 2012 in Erfüllung des Postulats Malama, BBl 2012 4459.

RUCKSTUHL NIKLAUS / DITTMANN VOLKER / ARNOLD JÖRG, Strafprozessrecht, Zürich 2011, Rz. 680.

D. h. losgelöst von einer konkreten Anlasstat, die im JStG und im StGB für die Anordnung einer Massnahme massgebend ist, sowie losgelöst von einem Schwächezustand und einem Schutzbedürfnis der betroffenen Person, die für die FU nach ZGB verlangt werden.

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1.2.2.3

Neue jugendstrafrechtliche Sicherheitsmassnahme

Bereits vor rund zehn Jahren wurde die Einführung einer Verwahrung bzw. einer Sicherungsmassnahme für Jugendliche diskutiert. Die Meinungen zu einer Verwahrung für Jugendliche lagen weit auseinander.72 In der Literatur und in der Praxis wird die Verwahrung für Jugendliche eher abgelehnt.

Es werden hauptsächlich die folgenden Gründe angeführt:

72

73

74

75 76 77 78 79

­

Eine Verwahrung für Jugendliche widerspreche dem Erziehungs- und Schutzgedanken des Jugendstrafrechts.73

­

Eine zuverlässige Zukunftsprognose sei sehr problematisch.74

­

Eine Anhebung der Altersgrenze von 22 auf 25 Jahre reiche aus. Damit werde den Bedürfnissen des oder der Eingewiesenen als auch dem Schutzbedürfnis der Öffentlichkeit hinreichend Rechnung getragen, ohne dass das Jugendstrafrecht als Täterstrafrecht in unzulässiger Weise aufgeweicht werde.75

­

Die gemäss Jugendstrafrecht für die Erziehung und Behandlung zur Verfügung stehende Zeit sei im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht lang und genüge, um bei einem oder einer Jugendlichen eine Sozialverträglichkeit aufzubauen. Es wird allerdings die Schaffung von Institutionen als notwendig erachtet, die in der Lage sind, die Eingewiesenen an der Flucht zu hindern und mit Gewalt und Renitenz umzugehen.76

­

Stelle der oder die nach Jugendstrafrecht Eingewiesene im Alter von 25 Jahren immer noch eine Gefahr dar, habe man mit dem fürsorgerischen Freiheitsentzug eine geeignete Massnahme.77 Als Alternative zu einer Verwahrung sei ein Ausweichen auf das Zivilrecht vorzuziehen. Dabei müsste allenfalls die «Gefährlichkeit» als Kriterium für die Anordnung der FU geprüft werden.78

­

Wenn jugendstrafrechtlich Eingewiesene nochmals eine Straftat begehen, die eine Verwahrung rechtfertige, seien sie in aller Regel volljährig und für das neue Delikt dem Erwachsenenrecht unterstellt. Eine Verwahrung könne somit im Rahmen des neuen Verfahrens angeordnet werden.79

Vgl. u. a. Der Bund vom 18. August 2009, «Verwahrung auch für Jugendliche».

Der leitende Jugendanwalt der Jugendanwaltschaft BS war einer der wenigen Praktiker, die sich für eine Verwahrung im Jugendstrafrecht aussprachen; vgl. BURKHARD BEAT, Gewalttätige Jugendliche «verwahren» ­ ein Tabu?, SZK 1/2010, 28 ff.

Aussage anlässlich der Gesprächsrunde mit Experten; vgl. Ziff. 1.2.1.5. Vgl. auch HOLDEREGGER NICOLE, Die Schutzmassnahmen des Jugendstrafgesetzes unter besonderer Berücksichtigung der Praxis in den Kantonen Schaffhausen und Zürich, Zürich 2009, Rz. 859.

Aussage anlässlich der Gesprächsrunde mit Experten; vgl. Ziff. 1.2.1.5. Vgl. u. a. auch BURKHARD CHRISTOPH, Verwahrung ­ eine Option im Jugendstrafrecht?, SZK 1/2010, 33 ff.

HOLDEREGGER (Fn. 73), Rz. 859.

BURKHARD (Fn. 74), 33 ff.

HOLDEREGGER (Fn. 73), Rz. 859.

STUDER MICHAEL, Jugendliche Intensivtäter in der Schweiz, Zürich 2013, 271 ff.

BURKHARD (Fn. 74), 33 ff.

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­

Es sei richtig, dass das geltende Recht keine Verwahrung für Jugendliche vorsehe. Es gebe allerdings Fälle, in denen die Entlassung des oder der nach Jugendstrafrecht Eingewiesenen im (damals) 22. Altersjahr verfrüht erscheine.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts, welche eine FU bei Drittgefährdung zulasse, selbst wenn keine Schutzbedürftigkeit bestehe, bedeute im Ergebnis allerdings nichts anderes als eine Verwahrung ohne Anlasstat.80

Eine Sicherheitsmassnahme im JStG könnte darin bestehen, dass der oder die nach Jugendstrafrecht Eingewiesene nicht aus der geschlossenen Unterbringung nach Artikel 15 Absatz 2 JStG entlassen wird, solange er oder sie als gefährlich eingestuft wird. Auch diese jugendstrafrechtliche Sicherheitsmassnahme müsste jedoch einmal beendet werden (z. B. wenn der oder die Eingewiesene 25 oder 30 Jahre alt wird) und wenn nötig durch eine neue Sicherheitsmassnahme abgelöst werden.

1.2.2.4

«Ablösung» der jugendstrafrechtlichen Sanktion durch eine Massnahme des Erwachsenenstrafrechts

Eine Ablösung der jugendstrafrechtlichen Sanktion durch eine Massnahme des Erwachsenenstrafrechts (z. B. einer nachträglichen Verwahrung) steht in einem starken Spannungsverhältnis zu den Prinzipien des Jugendstrafrechts, woraus negative Auswirkungen auf die jugendstrafrechtliche Praxis entstehen könnten. Es könnte z. B. die Motivation des jugendlichen Straftäters oder der jugendlichen Straftäterin, zu seiner Besserung und Heilung beizutragen, darunter leiden, dass das «Damoklesschwert» einer möglichen Verwahrung über ihm schwebt. Aber auch die Arbeit der Vollzugsbehörden könnte durch die Möglichkeit, eine Massnahme des Erwachsenenstrafrechts vorbehalten zu können, dahingehend beeinflusst werden, dass der unmittelbare Druck, einen jugendlichen Straftäter oder eine jugendliche Straftäterin in der zur Verfügung stehenden (kurzen) Zeit zu (re-)sozialisieren, wegfiele.

Die Schwierigkeit oder Herausforderung einer Lösung mit Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts besteht darin, für sehr wenige Ausnahmefälle eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die möglichst keine negativen Auswirkungen auf das Jugendstrafrecht hat. Es bleibt auch ein Grundsatzproblem, dass die Anlasstat für eine nachträgliche Verwahrung als Erwachsener oder Erwachsene von der betroffenen Person als Jugendlicher oder Jugendliche begangen wurde, also in einem Zustand, in welchem seine oder ihre Hirnreife noch nicht vollendet war.

Folgende Gründe lassen eine Lösung mit Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts dennoch als sinnvoll und naheliegend erscheinen: a. Die nach Jugendstrafrecht Verurteilten sind volljährig Die Täter und Täterinnen, für die eine Sicherheitsmassnahme vorgesehen werden soll, haben zwar als Minderjährige eine Straftat begangen und wurden daher gestützt auf das Jugendstrafrecht mit einer Sanktion belegt; mit der jugendstrafrechtlichen Sank-

80

RIEDO CHRISTOF, Jugendstrafrecht und Jugendstrafprozessrecht, Basel 2013, 118 f.

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tion konnte deren Gefährlichkeit jedoch nicht begegnet werden. Da der oder die Jugendliche inzwischen volljährig geworden ist, erscheint es schlüssig, Massnahmen für volljährige Täter und Täterinnen in Erwägung zu ziehen.

b. Die dem Jugendstrafrecht nachfolgenden Massnahmen des StGB müssen nicht kontraproduktiv sein Es kann eingewendet werden, dass mit einer auf die jugendstrafrechtliche Sanktion folgende Massnahme des StGB der Druck auf die Vollzugsbehörden wegfällt, den jugendlichen Straftäter oder die jugendliche Straftäterin in der zur Verfügung stehenden Zeit zu (re-)sozialisieren. Dieser Einwand kann jedoch gegenüber allen Massnahmen erhoben werden, die im Anschluss an eine jugendstrafrechtliche Sanktion angeordnet werden können. So könnte man auch einwenden, die FU, die bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen nach Artikel 426 ZGB im Anschluss an eine jugendstrafrechtliche Sanktion angeordnet werden kann, sei kontraproduktiv, was aber offensichtlich nicht der Fall ist.

c. Die geschlossene Unterbringung nach JStG dient z. T. bereits Sicherungszwecken Wegleitend für die Anwendung des JStG ist der Schutz und die Erziehung des oder der Jugendlichen (Art. 2 Abs. 1 JStG). Gleichzeitig dient das JStG bereits heute auch der Sicherheit Dritter. So hat die Unterbringung nach Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe b JStG, die bei schwerer Drittgefährdung angeordnet wird, nicht nur den Schutz und die Erziehung zum Ziel, sondern verfolgt klar auch spezialpräventive Zwecke. Im Übrigen wird der reine Schutz- und Erziehungsgedanke des JStG relativiert, wenn man berücksichtigt, dass das JStG nicht nur Schutzmassnahmen, sondern auch Strafen, wenn auch vergleichsweise milde, vorsieht.

d. Die Unterbringung von jugendlichen Straftätern und Straftäterinnen kann in einer Anstalt für junge Erwachsene vollzogen werden Nach Artikel 16 Absatz 3 JStG kann die Unterbringung in einer Einrichtung für junge Erwachsene (Art. 61 StGB) vollzogen oder weitergeführt werden, wenn der oder die Jugendliche das 17. Altersjahr vollendet hat. Bereits heute besteht somit eine Durchlässigkeit vom Jugend- zum Erwachsenenstraf(vollzugs-)recht.

e. Die fürsorgerische Unterbringung von gefährlichen Straftätern und Straftäterinnen kann in Einrichtungen für Erwachsene vollzogen werden Gefährliche Straftäter und Straftäterinnen, bei denen
im Anschluss an die Unterbringung nach Artikel 15 JStG eine FU nach Artikel 426 ZGB angeordnet wird, werden bereits heute in Anstalten des Straf- und Massnahmenvollzugs für Erwachsene eingewiesen, wenn es keine anderen geeigneten Vollzugsinstitutionen gibt. Sie befinden sich somit in den Anstalten, in denen sie sich auch befinden würden, wenn eine Massnahme des Erwachsenenstrafrechts hätte angeordnet werden können.

f. Mit der Verwahrung nach Artikel 64 StGB steht eine Sicherheitsmassnahme für gefährliche Straftäter und Straftäterinnen zur Verfügung Es ist nicht notwendig, in einem Bereich ausserhalb des StGB eine neue Sicherheitsmassnahme zu schaffen. Eine Sicherheitsmassnahme, die präventiven Charakter hat 34 / 78

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und der Verhinderung schwerer Straftaten dient ­ die somit einen polizeirechtlichen Einschlag hat ­, ist nämlich die Verwahrung nach Artikel 64 StGB. Sie kann nicht allein gestützt auf eine schlechte Zukunftsprognose angeordnet werden, sondern nur bei Personen, die bereits eine schwere Straftat begangen haben. Sie könnte somit die Vorgaben der Motion 16.3142 erfüllen, ohne den Kreis der betroffenen Personen zu stark auszudehnen.

g. Kosten Die Kosten einer strafrechtlichen Massnahme werden von den Kantonen übernommen. Bei einer zivilrechtlichen Lösung würden die Kosten einer FU in erster Linie von den Gemeinden getragen.

1.3

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist in der Botschaft vom 29. Januar 202081 zur Legislaturplanung 2019­ 2023 und im Bundesbeschluss vom 21. September 202082 über die Legislaturplanung 2019­2023 angekündigt. Gemäss den Jahreszielen des Bundesrates 2022 ist geplant, dass die vorliegende Botschaft bis am 31. Dezember 2022 verabschiedet ist.83

1.4

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Mit den vorgesehenen Änderungen des StGB und des JStG werden die folgenden Motionen umgesetzt: 2016

M 11.3767

Keine Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte (N 23.9.2013, Rickli; S 14.6.2016)

2016

M 16.3002

Einheitliche Bestimmungen zum Strafvollzug bei gefährlichen Tätern (N 3.3.2016, Kommission für Rechtsfragen NR; S 29.9.2016)

2016

M 16.3142

Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen (S 2.6.2016, Caroni; N 27.9.2016)

2018

M 17.3572

Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung (N 29.9.2017, Guhl; S 28.2.2018)

Der Bundesrat beantragt die Abschreibung dieser Motionen.

81 82 83

BBl 2020 1777 S. 1896 BBl 2020 8385 www.bk.admin.ch > Dokumentation > Führungsunterstützung > Ziele des Bundesrates 2022 (Anhang, Ziel 14, S. 45).

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2

Vernehmlassungsverfahren

Am 6. März 2020 beauftragte der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), ein Vernehmlassungsverfahren über die Vorentwürfe zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Bundesgesetzes über das Jugendstrafrecht (Massnahmenpaket Sanktionenvollzug) durchzuführen.

Die Änderungen waren in zwei separate Vorlagen getrennt. Vorlage 1 betraf die Änderungen des StGB, Vorlage 2 die Änderungen des JStG. Die Vernehmlassung dauerte, mit durch die Covid-Pandemie bedingter Verlängerung, bis am 30. September 2020. Es sind 63 Stellungnahmen eingegangen.

Die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens sind im entsprechenden Bericht vom 2. November 202284 eingehend dargestellt. Für Einzelheiten wird auf diesen Bericht verwiesen. Im Folgenden wird nur eine kurze Übersicht gegeben.

Die Vernehmlassungsergebnisse und mögliche Konsequenzen daraus hat das BJ mit der KKJPD und mit Fachkreisen eingehend diskutiert. Die Ergebnisse dieser Diskussionen wurden für die hier beantragte Neuregelung berücksichtigt.

2.1

Änderung des StGB

2.1.1

Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Die verschiedenen Themen im VE-StGB sind in der Vernehmlassung unterschiedlich aufgenommen worden: ­

Unbegleitete Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen im geschlossenen Vollzug ausschliessen: 32 Teilnehmer (20 Kantone, 4 politische Parteien, 8 andere) begrüssen den Vorschlag, verlangen teilweise aber noch Anpassungen. 14 Teilnehmer (4 Kantone, 1 politische Partei, 9 Andere) lehnen den Vorschlag ab.

­

Änderung des Intervalls zur Überprüfung der Verwahrung:

­

36 Teilnehmer (22 Kantone, 4 politische Parteien, 10 andere) begrüssen den Vorschlag, verlangen teilweise aber noch Anpassungen. 6 Teilnehmer (2 Kantone, 4 Andere) lehnen den Vorschlag ab.

­

Berechnung der Dauer von freiheitsentziehenden therapeutischen Massnahmen: 30 Teilnehmer (21 Kantone, 2 politische Parteien, 7 andere) begrüssen den Vorschlag, verlangen teilweise aber noch Anpassungen.

­

84

Zuständigkeiten bei Aufhebung, Änderung oder Verlängerung einer therapeutischen Massnahme:

www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2020 > EJPD

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29 Teilnehmer (13 Kantone, 3 politische Parteien, 13 andere) begrüssen grundsätzlich den Vorschlag, verlangen teilweise aber noch (erhebliche) Anpassungen. 10 Teilnehmer (8 Kantone, 2 Andere) lehnen den Vorschlag explizit oder zumindest tendenziell ab.

­

Zusammensetzung und Beizug der Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit: Allgemein lehnt es eine Mehrheit der Teilnehmer ab, dass die Fachkommission öfter und systematischer beigezogen werden soll als heute. So lehnen 25 Teilnehmer (19 Kantone, 6 andere) den vermehrten Beizug der Fachkommission vor der Einweisung in eine offene Einrichtung und vor der Gewährung von Vollzugsöffnungen bei stationären Massnahmen ab. 8 Teilnehmer (6 Kantone, 2 andere) befürworten einen solchen Beizug vor Vollzugsöffnungen bei verwahrten Tätern und Täterinnen. 12 Teilnehmer (9 Kantone, 3 andere) lehnen es ab, dass sich die Fachkommission zu den Vollzugsmodalitäten äussern soll.

15 Teilnehmer (10 Kantone, 2 politische Parteien, 3 andere) begrüssen den Vorschlag, dass die Zusammensetzung der Fachkommission präziser geregelt wird. 13 Teilnehmer (8 Kantone, 1 politische Partei, 4 andere) begrüssen die Ausweitung der Ausstandspflicht, während 2 Kantone dies ablehnen und ein anderer eine Präzisierung wünscht. Gemäss 5 Teilnehmer (1 Kanton, 4 andere) sollten weitere Berufsgruppen in der Fachkommission Einsitz nehmen können.

6 Teilnehmer (4 Kantone, 1 politische Partei, 1 andere) äussern sich zustimmend zur Definition der Gefährlichkeit. Es werden jedoch verschiedene Änderungen und Ergänzungen vorgeschlagen.

­

Ausbau von Bewährungshilfe und Weisungen: Der vorgeschlagene Ausbau von Bewährungshilfe und Weisungen wird in der vorliegenden Form von der grossen Mehrheit der Teilnehmer (47, davon 25 Kantone, 3 politische Parteien, 19 andere) abgelehnt. Dabei ist zu bemerken, dass die Regelung den einen Teilnehmer hauptsächlich aus grundrechtlichen Überlegungen zu weit geht. Andere (insb. die Kantone) lehnen die Regelung ab, weil «griffige Instrumente» fehlen würden, um bei renitenten Tätern und Täterinnen die Einhaltung der Anordnungen erzwingen zu können.

7 Teilnehmer (1 Kanton, 2 politische Parteien, 4 andere) befürworten den Vorschlag, fordern aber teilweise noch Anpassungen.

­

Terminologische Bereinigung: 4 Teilnehmer begrüssen den Vorschlag. Ein Kanton äussert sich eher skeptisch.

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2.1.2

Rücksprachen zur Umsetzung der Motion 16.3002

Aufgrund der kritischen Rückmeldungen insbesondere der Kantone zur Umsetzung der Motion 16.3002 hat das BJ nach Abschluss des Vernehmlassungsverfahrens mit verschiedenen Stellen Rücksprache genommen, um Lösungen zu finden.

Die Diskussionen mit der KKJPD und der Koordinationskonferenz Justizvollzug (KoKJ) haben gezeigt, dass «griffige Instrumente» mit hohen Kosten verbunden sind und die Grundrechte in nicht mehr angemessener Weise beschränken. Aus diesem Grund ist darauf zu verzichten.

2.2

Änderung des JStG

2.2.1

Vorentwurf

Der Vorentwurf sah eine Ablösung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen durch eine stationäre Massnahme des Erwachsenenstrafrechts vor.

Bei Jugendlichen, die eine sehr schwere Straftat begangen haben, sollte im jugendstrafrechtlichen Grundurteil eine Massnahme nach den Artikeln 59­61 und 64 Absatz 1 StGB vorbehalten werden, wenn zum Zeitpunkt dieses Urteils von einer ernsthaften Rückfallgefahr auszugehen ist.

Als sehr schwere Straftaten, die zu einem Vorbehalt führen konnten, galten Taten nach Artikel 25 Absatz 2 JStG, durch die der oder die Jugendliche Leib und Leben einer anderen Person schwer beeinträchtigt hat oder beeinträchtigen wollte. Erfasst wurden damit Taten wie vorsätzliche Tötung (Art. 111 StGB), Mord (Art. 112), qualifizierter Raub (Art. 140 Ziff. 4 StGB), qualifizierte Geiselnahme (Art. 185 Ziff. 2 StGB), qualifizierte sexuelle Nötigung (Art. 189 Abs. 3 StGB), qualifizierte Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 3 StGB) oder qualifizierte Brandstiftung (Art. 221 Abs. 2 StGB). Erfasst wurden zudem die Delikte Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und verschiedene Kriegsverbrechen.

Der Vorbehalt war nur möglich, wenn aufgrund einer der oben genannten Taten eine geschlossene Unterbringung angeordnet oder ein Freiheitsentzug von mindestens drei Jahren verhängt worden war.

Der Vorbehalt war grundsätzlich bei allen strafmündigen Jugendlichen, d. h. ab dem 10. Altersjahr, möglich (ab dem 16. Altersjahr, wenn der oder die Jugendliche nur mit einem Freiheitsentzug ­ ohne gleichzeitige geschlossene Unterbringung ­ sanktioniert wurde).

Der Vorbehalt umfasste sowohl die stationären therapeutischen Massnahmen nach den Artikeln 59­61 StGB als auch die Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB.

Die stationäre Massnahme des StGB sollte vom Erwachsenengericht auf Antrag der Vollzugsbehörde angeordnet werden, wenn die betroffene Person volljährig geworden ist und am Ende ihrer jugendstrafrechtlichen Strafe oder Massnahme die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie wieder eine sehr schwere Tat begehen wird.

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2.2.2

Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Der Vorentwurf zur Änderung des JStG wurde ­ wenn auch z. T. in bestimmten Punkten mit Vorbehalten ­ von 15 Kantonen, den politischen Parteien, einem Dachverband und 6 Organisationen grundsätzlich begrüsst. Er schliesse eine Sicherheitslücke im Gesetz und trage zum Schutz der Gesellschaft bei.

Der Vorentwurf wurde von 9 Kantonen und 13 Organisationen abgelehnt. Er sei nicht notwendig, kontraproduktiv, in der Praxis nicht umsetzbar und verstosse u. a. gegen die Prinzipien des Jugendstrafrechts.

Ein Kanton, das Bundesgericht und 9 Organisationen haben eine Stellungnahme eingereicht, in der sie sich allerdings nicht zu den Änderungen des JStG äussern.

Die Hauptkritik an den Änderungen des JStG ist vor allem grundsätzlicher Natur:

85

­

Für zahlreiche Teilnehmer sind die vorgeschlagenen Sicherheitsmassnahmen mit den Prinzipien des Jugendstrafrechts (Schutz und Erziehung) nicht vereinbar.

­

Die vorgeschlagenen Neuerungen seien aufgrund der äusserst geringen Anzahl der möglichen (nicht belegten) Anwendungsfälle und der negativen Auswirkungen nicht gerechtfertigt. Es wird in Frage gestellt, dass eine Sicherheitslücke bestehe und wenn, sei sie mit einer Anpassung der zivilrechtlichen Massnahmen zu füllen.

­

Mehrere Teilnehmer befürchten durch den im Grundurteil angebrachten Vorbehalt einen «Labeling-Effekt», d. h. eine Stigmatisierung des oder der Jugendlichen.

­

Zahlreiche Teilnehmer machen geltend, dass es praktisch unmöglich sei, die für den Vorbehalt verlangte dauerhafte Prognose bezüglich der Gefährlichkeit des oder der Jugendlichen abzugeben, insbesondere, weil dieser oder diese sich noch in der Entwicklung befindet.

­

Mehrere Teilnehmer sind der Auffassung, die vorgeschlagene Regelung widerspreche der EMRK und/oder dem Übereinkommen vom 20. November 198985 über die Rechte des Kindes (KRK). Mehrere Teilnehmer sehen bei der vorgeschlagenen Regelung ein Problem mit dem ne-bis-in-idem-Prinzip (Verbot der Doppelbestrafung).

­

Es wird schliesslich mehrfach darauf hingewiesen, dass aufgrund der immer häufiger angeordneten Massnahmen und der fehlenden Vollzugsplätze bereits heute Vollzugsprobleme bestehen, die durch die Neuerungen noch verstärkt würden. Aufgrund der neuen Bestimmungen sei zudem ein personeller und finanzieller Mehraufwand zu erwarten. Dieser Mehraufwand müsse gegen den erwarteten potenziellen Nutzen für die Gesellschaft abgewogen werden.

SR 0.107

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3

Grundzüge der Vorlage

3.1

Änderung des StGB

3.1.1

Die beantragte Neuregelung

Aufgrund der kritischen Rückmeldungen in der Vernehmlassung und der Tatsache, dass das Bundesgericht mittlerweile zentrale Fragen zur Fristberechnung entschieden hat und die Kantone die Zuständigkeiten in eigener Kompetenz regeln können, wird bei der Motion 16.3002 auf die Umsetzung zahlreicher Punkte aus dem Vorentwurf verzichtet.

Die beantragte Neuregelung zur Änderung des StGB wird nachfolgend dargestellt.

3.1.1.1

Unbegleitete Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen im geschlossenen Vollzug ausschliessen

Art. 84 Abs. 6bis und 6ter sowie 90 Abs. 4ter und 4quater E-StGB Das Verbot von unbegleiteten «Ausgängen» ist mit einer Änderung der Artikel 84 und 90 StGB umzusetzen. Im StGB wird für die entsprechenden Vollzugsöffnungen der Begriff «Urlaub» verwendet (Art. 84 Abs. 6 StGB).86 Weil gemäss Artikel 64 Absatz 2 StGB der Vollzug einer Freiheitsstrafe der Verwahrung vorausgeht, sollte man unbegleitete Urlaube für Straftäter und Straftäterinnen, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sind und bei denen die Verwahrung angeordnet worden ist, auch im vorangehenden Strafvollzug ausschliessen, sofern die Freiheitsstrafe in einer geschlossenen Einrichtung vollzogen wird.

Das Kriterium «geschlossener Vollzug» trägt dem Umstand Rechnung, dass nicht alle Täter und Täterinnen, die sich im Vollzug der Verwahrung befinden, noch gefährlich sein müssen: Auch verwahrte Personen können im Rahmen des progressiven Vollzuges von geschlossenen in offene Einrichtungen gelangen, wenn sie nicht mehr gefährlich sind. Auch ein Wohn- und Arbeitsexternat ist grundsätzlich möglich (Art. 90 Abs. 2bis StGB). Dies gilt auch für den der Verwahrung vorangehenden Strafvollzug.

In solchen Fällen wäre ein Verbot von unbegleiteten Urlauben nicht sinnvoll.

Zur Vorbereitung auf ein rückfallfreies Leben in Freiheit soll man verwahrten Tätern und Täterinnen weiterhin die Gelegenheit bieten, sich bei Vollzugsöffnungen ­ darunter gegebenenfalls auch unbegleitete Ausgänge ­ zu bewähren, wenn sie von den zuständigen Behörden als nicht mehr gefährlich eingestuft worden sind und sich in offenen Vollzugsformen befinden. Für eine umfassende Prognose müssen sich die Behörden und Fachleute auch auf Erfahrungen mit Vollzugsöffnungen stützen können. Ein unbegleiteter Urlaub in einem kontrollierten Setting kurz vor einer möglich erscheinenden bedingten Entlassung dient der Prognosestellung und damit ebenfalls der Sicherheit.

86

Dazu Urteile des Bundesgerichts 6B_664/2013 vom 16. Dezember 2013 E. 2.3.3 und 6B_619/2015 vom 18. Dezember 2015 E. 2.4.

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3.1.1.2

Änderung des Intervalls zur Überprüfung der Verwahrung

Art. 64b Abs. 3 E-StGB Gemäss der Motion 17.3572 soll die Vollzugsbehörde die bedingte Entlassung erst wieder nach drei Jahren oder auf begründeten Antrag der eingewiesenen Person hin prüfen, falls das jährliche Gutachten zur Prüfung der bedingten Entlassung aus der Verwahrung dreimal in Folge negativ ausgefallen ist.

Es ist freilich nicht entscheidend, dass das Gutachten dreimal in Folge negativ ausgefallen ist, sondern der sich darauf stützende Entscheid. Gutachten müssen nämlich nicht zwingend jährlich erstellt werden: Die Vollzugsbehörde kann beim Entscheid über die bedingte Entlassung auf eine frühere Expertise abstellen, wenn sich die Verhältnisse seither nicht verändert haben.87 Soweit aber das Gutachten infolge Zeitablaufs und veränderter Verhältnisse an Aktualität eingebüsst hat, ist eine neuerliche Begutachtung unabdingbar.88 Massgeblich ist somit, dass die zuständige Behörde dreimal in Folge einen negativen, rechtskräftigen Entlassungsentscheid getroffen hat. Artikel 64b Absatz 3 E-StGB stützt sich deshalb auf dieses Kriterium: Nach drei negativen Entscheiden in Folge soll die zuständige Behörde die bedingte Entlassung erst wieder nach drei Jahren von Amtes wegen prüfen.

Die Prüfung auf Gesuch der betroffenen Person hin ist von der vorgeschlagenen Änderung nicht betroffen. Die neue Regelung ist daher grundrechtskonform.

Wie in der Vernehmlassung gefordert, soll die Änderung der Verwahrung in eine stationäre Massnahme (Art. 65 Abs. 1 StGB) aus Effizienzgründen derselben Kadenz unterstellt werden wie die Prüfung der bedingten Entlassung aus der Verwahrung.

3.1.1.3

Zusammensetzung der Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit; Definition der Gefährlichkeit

Art. 62c Randtitel, 62d Abs. 2, 64a Randtitel, 64b Abs. 2 Bst. c, 75a Abs. 1 und 3, 91a, 91b E-StGB sowie Art. 28 Abs. 3 E-JStG Die Erweiterung der Fallkonstellationen, in denen eine Befassung der Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit erforderlich wäre, wird von der Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer abgelehnt (höherer Arbeitsaufwand und höhere Kosten usw.). Andere, positiv bewertete Änderungen könnten hingegen umgesetzt werden: ­

87 88

Zusammensetzung der Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit: Einerseits sollen auch andere als die heute ausdrücklich erwähnten Fachpersonen (insbesondere Rechtspsychologen und Rechtspsychologinnen) in der

BGE 128 IV 241 E. 3.4.

BGE 134 IV 246 E. 4.3.

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Kommission Einsitz nehmen können; andererseits soll der heute nur für Psychiater und Psychiaterinnen vorgesehene Ausstand auf alle Mitglieder der Kommission ausgedehnt werden. Grundsätzlich konsultiert die zuständige Behörde die Kommission, wenn sie Vollzugslockerungen vorschlägt und wenn sie Zweifel an der Gefährlichkeit des Täters oder der Täterin hat.

­

3.1.1.4

Änderung der Definition der Gefährlichkeit (Art. 75a Abs. 3 StGB): Verzicht auf den Begriff der «Gefährlichkeit für die Allgemeinheit» (die Gefährlichkeit kann auch nur eine einzelne Person beeinträchtigen) sowie auf das Kriterium der Flucht als Faktor der Gefährlichkeit.

Beschwerderecht der Vollzugsbehörde

Art. 65a E-StGB und Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 8 E-BGG Der Vorschlag, der Vollzugsbehörde die Beschwerdelegitimation bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts zu übertragen, wurde in der Vernehmlassung weitgehend unterstützt. Unter Berücksichtigung der Stellungnahmen aus der Vernehmlassung sollte sich die Beschwerdelegitimation auf alle selbstständige nachträgliche Entscheide des Gerichts erstrecken, nicht nur auf solche über stationäre therapeutische Massnahmen.

3.1.1.5

Weitere Änderungen

Art. 90 Abs. 1 und 1bis und 93 Abs. 2 E-StGB Die beiden folgenden Änderungen sollten umgesetzt werden können, da sie die gesetzlichen Bestimmungen präzisieren beziehungsweise sie an die aktuelle Situation anpassen: ­

Getrennte Unterbringung für verwahrte und lebenslang verwahrte Personen (Art. 90 Abs. 1 und 1bis E-StGB): Das geltende Recht sieht die getrennte Unterbringung für verwahrte und lebenslang verwahrte Personen nicht vor (z. B.

zu ihrem eigenen Schutz oder dem Schutz Dritter). Dies ist zu beheben und Artikel 90 Absätze 1 und 1bis entsprechend anzupassen.

­

Pflicht zur Wahrung des Amtsgeheimnisses der Mitarbeitenden der Bewährungshilfe (Art. 93 Abs. 2 E-StGB): Angesichts der Regelung in Artikel 320 StGB und der Zusammenlegung von Vollzugsbehörde und Bewährungshilfe in vielen Kantonen ist eine spezifische Regelung für die Mitarbeitenden der Bewährungshilfe nicht mehr gerechtfertigt.

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3.2

Änderung des JStG

3.2.1

Die beantragte Neuregelung

Aufgrund der kritischen Rückmeldungen in der Vernehmlassung wurde eine neue, «reduzierte» Regelung verfasst, die Fachleuten erneut zur Konsultation vorgelegt wurde.89 Die beantragte Neuregelung zur Änderung des JStG wird nachfolgend dargestellt.

3.2.1.1

Zusammenfassung

Es kommt sehr selten vor, dass ein jugendlicher Straftäter oder eine jugendliche Straftäterin durch alle Netze des Jugendstrafrechts fällt und als «gefährlicher Straftäter» oder «gefährliche Straftäterin» aus einer Sanktion des JStG entlassen werden muss.

Das geltende Jugendstrafrecht soll daher nicht grundsätzlich geändert, sondern es sollen Lücken in Bezug auf seltene, aber durchaus mögliche allerschwerste Fälle geschlossen werden. Die vorgeschlagene Regelung wird aufgrund der Stellungnahmen in der Vernehmlassung enger gefasst, damit sie möglichst nicht an den Grundsätzen des Jugendstrafrechts rührt und die in der Vernehmlassung beschriebenen Nachteile möglichst gering bleiben.

Die beantragte Regelung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Hat ein Jugendlicher oder eine Jugendliche nach Vollendung des 16. Altersjahrs einen Mord (Art. 112 StGB) begangen oder ist er oder sie wegen Mordes verurteilt worden, so soll das Erwachsenengericht auf Antrag der Vollzugsbehörde eine Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB anordnen können, wenn der oder die Jugendliche volljährig geworden ist und am Ende der jugendstrafrechtlichen Strafe oder Massnahme die ernsthafte Gefahr besteht, dass er oder sie wieder einen Mord begehen wird.

Die Anordnung einer Verwahrung knüpft an die jugendstrafrechtliche Massnahme oder Strafe an und basiert auf demselben Grundurteil. Das Grundurteil bildet die Grundlage für den vorbehaltenen späteren Entscheid und ist zentral für den gemäss EMRK geforderten ausreichenden Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung aufgrund einer Anlasstat und dem Freiheitsentzug, weswegen der Terminus «Grundurteil» gewählt wurde.

Für Jugendliche, bei denen eine geschlossene Unterbringung angeordnet wurde, stellt sie eine Änderung der Sanktion dar, wie sie im Erwachsenenstrafrecht (Art. 62c Abs. 4 und 6 StGB) und im Jugendstrafrecht (Art. 19 Abs. 4 JStG) ohne Vorbehalt im Grundurteil bereits möglich ist. Für Jugendliche, die zu einem Freiheitsentzug (ohne gleichzeitige Massnahme der Unterbringung) verurteilt wurden, wird ein Vorbehalt im Grundurteil vorausgesetzt, damit die Verwahrung im Anschluss an den Frei-

89

Schweizerische Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege (SVJ), Schweizerische Gesellschaft für forensische Psychiatrie (SGFP), Vereinigung deutschschweizer Jugendheimleitungen (JHL), deutschschweizerische Arbeitsgruppe der Leitungen der Institutionen für weibliche Jugendliche (LIwJ) und Commission latine éducation sociale (CLES).

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heitsentzug angeordnet werden kann. Dieser Vorbehalt entspricht im Ergebnis der Regelung im Erwachsenenstrafrecht, wo eine neben der Freiheitsstrafe angeordnete Verwahrung nur dann vollzogen wird, wenn deren Voraussetzungen im Zeitpunkt der Entlassung aus der Freiheitsstrafe gegeben sind.

3.2.1.2

Anlasstaten

Eine Orientierung am Deliktskatalog für die Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB wäre grundsätzlich denkbar. Er umfasst alle Verbrechen, die mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren oder mehr bedroht sind, und sich gegen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person richten.

Dieser Katalog ist jedoch zu weit, er würde jedes Jahr weit mehr als 100 jugendliche Täter und Täterinnen erfassen. Auch nach Meinung verschiedener Teilnehmenden der Gesprächsrunde zur Umsetzung der Motion 16.314290 müsste der Straftatenkatalog sehr viel enger gefasst werden; so würden sie nur den Mord (Art. 112 StGB) als Anlasstat für eine nachträgliche (bzw. vorbehaltene) Verwahrung gelten lassen.

Dieser Ansatz erschien in der Vernehmlassungsvorlage zu eng. Neben dem Mord sollten weitere schwerste Gewaltdelikte gegen Menschen zu einer vorbehaltenen Massnahme führen können. So umfasste der Anlasstatenkatalog auch Taten wie die vorsätzliche Tötung (Art. 111 StGB), den schwersten qualifizierten Raub (Art. 140 Ziff. 4 StGB), die qualifizierte Geiselnahme (Art. 185 Ziff. 2 StGB), die qualifizierte sexuelle Nötigung (Art. 189 Abs. 3 StGB), die qualifizierte Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 3 StGB) und die qualifizierte Brandstiftung (Art. 221 Abs. 2 StGB). Dies entspricht im Wesentlichen den Anlasstaten, die von der Generalklausel nach Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe a JStG erfasst werden. Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe a JStG erfasst zudem die Delikte Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und verschiedene Kriegsverbrechen. Diese Delikte stehen bei der Umsetzung der Motion 16.3142 nicht im Vordergrund. Weil sie jedoch schwerste Gewalttaten gegen Menschen darstellen, die mit einer Mindeststrafe von drei oder mehr Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden, wurden sie ebenfalls als Anlasstat für eine vorbehaltene Massnahme mit einbezogen. Die Straftaten nach Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe b JStG, d. h. die schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB), der qualifizierte Raub (Artikel 140 Ziffer 3 StGB) und die qualifizierte Freiheitsberaubung und Entführung (Art. 184 StGB), sollten gemäss der Vernehmlassungsvorlage einen Vorbehalt nur dann rechtfertigen, wenn der oder die Jugendliche zusätzlich zum besonders skrupellosen Handeln eine schwerste Gewalttat gegen (einen) Menschen begangen hat.

Aufgrund der kritischen Stellungnahmen in der Vernehmlassung ­ insbesondere in Bezug auf die negativen Auswirkungen von vorbehaltenen Massnahmen ­ wird der

90

Vgl. Ziff. 1.2.1.5.

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Deliktskatalog nun auf Mord beschränkt, wie dies in der Gesprächsrunde91 vorgeschlagen wurde. Mord stellt die schwerste Straftat dar, wegen der Jugendliche in den letzten 20 Jahren verurteilt worden sind.92

3.2.1.3

Die Verwahrung als einzige Anschlussmassnahme

Im Anschluss an eine geschlossene Unterbringung oder im Anschluss an einen Freiheitsentzug soll von den Massnahmen des StGB nur die Verwahrung angeordnet werden können.

Die Vernehmlassungsvorlage ging davon aus, dass grundsätzlich alle stationären Massnahmen des StGB geeignet wären, eine geschlossene Unterbringung nach Jugendstrafrecht abzulösen. In der Vernehmlassung wurde dagegen eingewendet, dass es nicht einzusehen sei, welchen Nutzen eine stationäre therapeutische Massnahme nach den Artikeln 59­61 haben könne, wenn es nicht gelungen sei, den Jugendlichen oder die Jugendliche bis zum 25. Altersjahr zu therapieren.93 Der Entwurf beschränkt sich daher auf die Verwahrung als einzige Anschlussmassnahme.

Für die Verwahrung von psychisch gestörten Personen wird vorausgesetzt, dass eine Massnahme nach Artikel 59 StGB keinen Erfolg verspricht (Art. 64 Abs. 1 Bst. b StGB). Es ist nicht auszuschliessen, dass eine nach Jugendstrafrecht verurteilte Person auch nach Vollendung des 25. Altersjahres therapiebedürftig ist, jedoch die Voraussetzungen der FU nach Artikel 426 ZGB nicht erfüllt. In diesem Fall dürfte weder eine FU noch eine Verwahrung angeordnet werden, auch wenn eine Gefahr für Dritte besteht.

Sollte sich hingegen im Vollzug der Verwahrung herausstellen, dass die Voraussetzungen einer therapeutischen Massnahme nach den Artikeln 59­61 StGB gegeben sind, so kann diese gestützt auf Artikel 65 Absatz 1 StGB angeordnet werden.

Ist der oder die Jugendliche, obwohl er oder sie einen Mord begangen hat, nicht behandlungsbedürftig oder nicht behandelbar und wurde daher aufgrund des Verschuldens zu einem Freiheitsentzug verurteilt, so kommt als Anschlussmassnahme von vornherein nur eine Verwahrung in Frage.

3.2.1.4

Verwahrung im Anschluss an die geschlossene Unterbringung

Die Anordnung einer Verwahrung soll im Anschluss an eine geschlossene Unterbringung nach Artikel 15 Absatz 2 JStG möglich sein, wenn diese wegen Erreichens der Altersobergrenze von 25 Jahren wegfällt (Kern der Motion Caroni). Sie soll darüber 91 92

93

Vgl. Ziff. 1.2.1.5.

In der Statistik des BFS sind keine Verurteilungen von Jugendlichen wegen Völkermord (Art. 264 StGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 264a StGB) oder Kriegsverbrechen (Art. 264c StGB) verzeichnet.

Dieser Einwand steht in einem gewissen Widerspruch zur Ansicht, wonach eine Therapie im Rahmen der fürsorgerischen Unterbringung nach dem 25. Altersjahr sinnvoll sei.

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hinaus möglich sein, wenn die geschlossene Unterbringung wegen fehlender Wirkung oder fehlendem Platzangebot aufgehoben wird, sobald die nach Jugendstrafrecht verurteilte Person volljährig ist und bevor sie das 25. Altersjahr erreicht.

Verurteilte, die sich in einer offenen Unterbringung nach Artikel 15 Absatz 1 JStG befinden, sind für die Öffentlichkeit nicht so gefährlich, als dass diese Massnahme nach ihrem Wegfall durch eine Verwahrung ersetzt werden müsste. Dasselbe gilt für die übrigen Schutzmassnahmen des Jugendstrafrechts.

Im Gegensatz zum Vorentwurf wird auf einen Vorbehalt im Grundurteil verzichtet.

Die Verwahrung stellt eine Änderung der Sanktion dar, wie sie im Erwachsenenstrafrecht (Art. 62c Abs. 4 und 6 StGB) und im Jugendstrafrecht (Art. 19 Abs. 4 JStG) ohne Vorbehalt im Grundurteil bereits möglich ist.

In Abweichung vom Vorentwurf wird daher zusätzlich vorausgesetzt, dass die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung angeordnet wird, weil dies zum Schutz Dritter vor schwerwiegender Gefährdung durch den Jugendlichen oder die Jugendliche notwendig ist. Damit wird der Zusammenhang mit der nachfolgenden Verwahrung verdeutlicht und verstärkt. Nur bei Jugendlichen, die aus Sicherheitsgründen in einer geschlossenen Einrichtung betreut werden, soll aus denselben Sicherheitsüberlegungen eine nachfolgende Verwahrung möglich sein.

3.2.1.5

Verwahrung im Anschluss an den Freiheitsentzug

Grundsatz Die Anordnung einer Verwahrung soll auch am Ende eines Freiheitsentzugs nach Artikel 25 Absatz 2 JStG möglich sein, sofern der oder die Verurteilte volljährig ist.

In bestimmten Fällen wird gegen jugendliche Täter und Täterinnen, die eine sehr schwere Straftat begangen haben, die zum Zeitpunkt der Tat 16 oder 17 Jahre alt waren und die weder erziehbar noch therapierbar sind, keine jugendstrafrechtliche Unterbringung angeordnet, sondern nur eine schuldangemessene Strafe verhängt, in der Regel ein Freiheitsentzug. Auch in diesen Fällen ist es möglich, dass die betroffene Person am Ende des Freiheitsentzugs eine ernsthafte Gefahr für Dritte darstellt. Dieser Gefahr soll ebenfalls mit der Verwahrung begegnet werden.

Um die Anordnung der Verwahrung auf die wirklich schwersten Fälle zu begrenzen, soll eine Mindestdauer der jugendstrafrechtlichen Freiheitsstrafe von drei Jahren (von maximal möglichen vier Jahren; siehe Art. 25 Abs. 2 JStG) vorausgesetzt werden.

Vorbehalt der Massnahme im Grundurteil Die Verwahrung im Anschluss an einen Freiheitsentzug stellt (anders als die Verwahrung im Anschluss an eine Schutzmassnahme) eine zusätzliche Sanktion dar, die im Grundurteil vorbehalten werden muss.

Der mit der Verwahrung verbunden Freiheitsentzug hält damit auch den Anforderungen der EMRK stand.94 94

Vgl. Ziff. 6.2.2.2.

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Der definitive Entscheid über die Verwahrung soll ­ wie bei der Verwahrung im Anschluss an die geschlossene Unterbringung ­ am Ende des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzugs von einem Erwachsenengericht getroffen werden.

Negative Prognose im Zeitpunkt des Urteils Der Vorbehalt basiert auf einer Gefährlichkeitsprognose. Nach Artikel 91b E-StGB ist Gefährlichkeit anzunehmen, wenn die Gefahr besteht, dass der Täter oder die Täterin eine neue Straftat begeht, durch die er oder sie die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigt. «Gefährlichkeit» ist ein relativer Begriff und lässt sich nicht absolut definieren. Die Aspekte der Wertigkeit des bedrohten Rechtsgutes, die Schwere der möglichen Verletzung dieses Rechtsgutes und der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb eines bestimmten Zeithorizonts eine Verletzung erfolgt, erlauben es, die Gefährlichkeit im Einzelfall konkret zu definieren (vgl. Ausführungen zu Art. 91b E-StGB).

Bei minderjährigen Straftätern und Straftäterinnen ist eine mittel- oder langfristige Prognose sehr schwierig (wenn nicht gar unmöglich), weil ihre Persönlichkeits- und Hirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist.95 Aufgrund der Persönlichkeit, des Vorlebens und der Tat des oder der Jugendlichen (insbesondere bei Jugendlichen, die bereits eine kriminelle Karriere haben) können jedoch erste Prognosen gestellt werden. So kann bereits nach geltendem Recht die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung nach Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe b JStG angeordnet werden, wenn dies für den Schutz Dritter vor schwerwiegender Gefährdung durch den Jugendlichen oder die Jugendliche notwendig ist. Zur Feststellung dieser Voraussetzung ist ein Gutachten mit einer entsprechenden Prognose notwendig.

Die für den Vorbehalt notwendige Prognose wird daher gleich gefasst, wie diejenige für die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung nach Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe b JStG: Der oder die Jugendliche muss eine schwerwiegende Gefahr für Dritte darstellen.

Da es sich dabei nur um eine relativ kurzfristige Prognose handeln kann, soll der Vorbehalt jährlich überprüft werden.

Die ausschlaggebende Prognose, die zur Anordnung einer Verwahrung führen kann, soll erst im Zeitpunkt der Beendigung der jugendstrafrechtlichen Strafe gestellt werden.
In diesem Zeitpunkt sind die jugendlichen Täter und Täterinnen volljährig geworden.

Eine Prognose sollte weniger Schwierigkeiten bieten, wird sie doch im StGB auch für die Anordnung von Massnahmen nach den Artikeln 59­61 und 64 StGB bei jungen Erwachsenen vorausgesetzt, deren Hirnreife z. T. noch nicht abgeschlossen ist.

95

Vgl. die Ergebnisse der Vernehmlassung unter Ziff. 2.2.2. Vgl. u. a. auch HUSSMANN MARCUS, Diagnose und Individualprognose als Kernproblem des Umgangs mit Jugendkriminalität, in: Dollinger Bernd/ Schmidt-Semisch Henning (Hrsg.), Handbuch der Jugendkriminalität, Kriminologie und Sozialpädagogik im Dialog, 2. Aufl., 335 ff.

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3.2.1.6

Negative Prognose bei der Beantragung und Anordnung der Verwahrung

Damit eine Verwahrung beantragt und angeordnet werden kann, muss im Zeitpunkt der Entlassung aus der Unterbringung oder aus dem Freiheitsentzug ernsthaft zu erwarten sein, dass die nach Jugendstrafrecht verurteilte Person in Zukunft wieder einen Mord begehen wird. Wie nach Artikel 64 Absatz 1 StGB muss somit eine hohe Wahrscheinlichkeit des Rückfalls vorliegen. Der für die Verwahrung relevante Rückfall wird auf Mord eingeschränkt.

3.2.1.7

Altersuntergrenze von 16 Jahren

Für eine Verwahrung im Anschluss an einen Freiheitsentzug wird vorausgesetzt, dass der oder die Jugendliche aufgrund eines Mordes zu einem Freiheitsentzug von mindestens drei Jahren verurteilt wurde. Ein Freiheitsentzug dieser Dauer kann nur bei Jugendlichen verhängt werden, die zur Zeit der Tat das 16. Altersjahr vollendet haben (Art. 25 Abs. 2 JStG). Diese Altersgrenze soll (im Gegensatz zum Vorentwurf) auch für Jugendliche gelten, bei denen aufgrund eines Mordes die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung angeordnet wurde.

In den Jahren 2010­2020 wurde nur eine Person, die zum Zeitpunkt der Tat das 16. Altersjahr noch nicht vollendet hatte, wegen Mordes verurteilt.

3.2.1.8

Zuständigkeit zur Anordnung der Verwahrung

Die Anordnung einer Verwahrung soll auf Antrag der Vollzugsbehörde von einem Erwachsenengericht vorgenommen werden.

Für die Anordnung einer Verwahrung sollen alle Voraussetzungen gelten, die in den Artikeln 56­65 StGB vorgesehen sind. Zu nennen ist insbesondere das Erfordernis des durch einen unabhängigen Sachverständigen verfassten Gutachtens (Art. 56 Abs. 3 und 4 StGB). Es versteht sich von selbst, dass der oder die Sachverständige für die Begutachtung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen kompetent sein muss.

Daneben sind natürlich auch die Prinzipien der Verhältnismässigkeit (Art. 56 Abs. 2 StGB) zu beachten, und es müssen die vorausgesetzten Prognosen in Bezug auf die Therapierbarkeit und die Gefährlichkeit vorliegen.

3.2.1.9

Fürsorgerische Unterbringung

Mit der geplanten Regelung sollen die bestehenden Möglichkeiten des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts nicht eingeschränkt werden.

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Für eine Person, die am Ende einer jugendstrafrechtlichen Sanktion als gefährlich eingestuft wird, soll die FU nach Artikel 426 ZGB nach wie vor angeordnet werden können, wenn deren Voraussetzungen (insb. Schwächezustand und Schutzbedürfnis) erfüllt sind.

Nach Artikel 19 Absatz 3 JStG kann eine geeignete Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahme beantragt werden, wenn der Wegfall einer Schutzmassnahme für die betroffene Person selber oder für die Sicherheit Dritter mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden ist.

Dem steht nicht entgegen, dass die FU nicht ausschliesslich aufgrund einer Drittgefährdung angeordnet werden kann.96 Die in Artikel 19 Absatz 3 JStG erwähnten Nachteile für die Sicherheit Dritter sind nur eine Voraussetzung für die Beantragung einer geeigneten Erwachsenenschutzmassnahme.97 Sie bedeuten nicht, dass diese Massnahme allein zum Schutz Dritter angeordnet werden kann. Wie zudem aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts hervorgeht, ergeben sich aus Artikel 19 Absatz 3 JStG keine zusätzlichen Elemente für die Anordnung der FU; deren Voraussetzungen sind ausschliesslich in Artikel 426 ZGB geregelt.98 Artikel 19 Absatz 3 JStG ­ der nicht nur auf die FU angelegt ist ­ muss daher aufgrund des Urteils des EGMR T.B. c. Suisse99 nicht geändert werden.

Hingegen soll klargestellt werden, dass eine vorbehaltene Massnahme des StGB erst angeordnet werden kann, wenn keine geeignete Erwachsenenschutzmassnahme in Frage kommt.100

3.2.1.10

Vollzug der Massnahme

Die Verwahrung soll nach den Bestimmungen des StGB vollzogen und beendet werden. Zuständig sind die Vollzugsbehörden für Erwachsene.

Die Verwahrung wird von Amtes wegen jährlich überprüft (jedoch erstmals nach zwei Jahren) und die betroffene Person kann jederzeit ein Entlassungsgesuch stellen (Art. 64b StGB). Die Verwahrung kann zudem bei Vorliegen der Voraussetzungen in eine stationäre therapeutische Massnahme nach den Artikeln 59­61 StGB umgewandelt werden (Art. 65 Abs. 1 StGB).

96 97 98 99 100

Vgl. Ziff. 1.2.1.2.

HUG/ SCHLÄFLI/ VALÄR (Fn. 47), Art. 19 JStG N 18a.

Urteil des Bundesgerichts 5A_228/2016 vom 11. Juli 2016 E. 4.3.1.

EGMR, T.B./Schweiz, (Fn. 54).

Urteil des Bundesgerichts 6B_564/2018 vom 2. August 2018 E. 2.5.2.

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3.2.1.11

Prozessrecht

Jugendstrafprozessordnung Nach Artikel 24 Buchstabe a der Jugendstrafprozessordnung (JStPO)101 muss der oder die Jugendliche verteidigt werden, wenn ihm oder ihr ein Freiheitsentzug von mehr als einem Monat oder eine Unterbringung droht. Damit ist sichergestellt, dass er oder sie verteidigt wird, wenn wegen Mordes eine geschlossene Unterbringung (mit möglicher anschliessender Verwahrung) oder ein Freiheitsentzug von mindestens drei Jahren (mit vorbehaltener Verwahrung) im jugendstrafrechtlichen Grundurteil in Aussicht steht.

Strafprozessordnung Die Anordnung der vorbehaltenen Massnahme stellt einen selbstständigen nachträglichen Entscheid des Erwachsenengerichts dar. Nach den Artikeln 19b Absatz 1, 19c Absatz 1 und 27a Absatz 1 E-JStG ist das Gericht am Wohnsitz des inzwischen erwachsenen Täters oder der erwachsenen Täterin zuständig. Für das Verfahren und den Entscheid sind die Artikel 364­365 StPO anwendbar.

Nach Artikel 130 Buchstabe b StPO muss die beschuldigte Person u. a. verteidigt werden, wenn ihr eine freiheitsentziehende Massnahme droht. Das nachträgliche Verfahren zur Anordnung einer Verwahrung gemäss dem vorliegenden Entwurf stellt eine Fortsetzung oder Ergänzung des Hauptverfahrens dar. Der vom Gericht zu fällende Entscheid über die Verwahrung hängt unmittelbar mit der Straftat zusammen, die Gegenstand des Hauptverfahrens war. Weil mit der Verwahrung die Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme droht, sollte die notwendige Verteidigung ­ wie im Hauptverfahren ­ auch im Rahmen des Verfahrens auf Erlass eines nachträglichen Entscheids (Art. 364 StPO) gewährleistet sein. Allenfalls kann sich die notwendige Verteidigung auch aus Artikel 130 Absatz 1 Buchstabe c StPO ergeben.102

3.2.1.12

Strafregisterrecht

Der vorgeschlagene Vorbehalt einer Massnahme nach Artikel 64 Absatz 1 StGB im Grundurteil und die Anordnung dieser Massnahme in einem nachträglichen Entscheid haben keine Anpassung des geltenden oder des neuen103 Strafregisterrechts auf Gesetzesstufe zur Folge. Die neue Strafregisterverordnung104 wird jedoch mit entsprechenden Regelungen ergänzt werden müssen.

101 102

SR 312.1 Vgl. HEER MARIANNE, in: Marcel Alexander Niggli/Marianne Heer/Hans Wiprächtiger (Hrsg.) Basler Kommentar Strafprozessordnung/Jugendstrafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 364 StPO N 16.

103 Strafregistergesetz vom 17. Juni 2016, BBl 2016 4871. Das Strafregistergesetz wird voraussichtlich auf Anfang 2023 in Kraft gesetzt.

104 Vgl. die Dokumentation zur Revision des Strafregisterrechts, unter: www.bj.admin.ch > Sicherheit > Strafregisterrecht.

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3.2.1.13

Zusätzliche Änderungen

Im Vorentwurf wurde Artikel 14 Absatz 2 JStG angepasst, damit eine ambulante Behandlung auch mit einem Tätigkeitsverbot und einem Kontakt- und Rayonverbot verbunden werden kann. In der Vernehmlassung wurde eine analoge Regelung für alle Massnahmen, insbesondere für das Tätigkeitsverbot und das Kontakt- und Rayonverbot, verlangt. Dies ist jedoch nicht notwendig. Nach Artikel 10 JStG ordnet die urteilende Behörde «die nach den Umständen erforderlichen Schutzmassnahmen an», das heisst, sie kann gemäss dem Wortlaut der Bestimmung mehrere Schutzmassnahmen anordnen. Es sind alle Kombinationen von Schutzmassnahmen möglich, die sich von den Voraussetzungen her nicht ausschliessen. Dies soll in Artikel 10 E-JStG mit einem zusätzlichen Satz verdeutlicht werden. Artikel 14 Absatz 2 JStG kann daher gestrichen werden.

In Artikel 19 Absatz 4 JStG ist vorgesehen, dass ein Tätigkeitsverbot und ein Kontaktund Rayonverbot nach Artikel 16a JStG in Form der analogen Verbote nach StGB weitergeführt werden können. In der Literatur wird festgestellt, dass diese Regelung Fragen aufwirft. So seien insbesondere die in Artikel 67 Absätze 1, 3 und 4 StGB vorausgesetzten Strafmasse nicht mit den gemäss JStG vorgesehenen Strafen vergleichbar.105 Im Vorentwurf und im Entwurf wurden bzw. werden daher Änderungen vorgeschlagen, um Unklarheiten in Bezug auf die Anordnung, die Dauer und den Vollzug eines Tätigkeitsverbots nach StGB zu beseitigen.

In den Artikeln 4, 12 Absatz 2 und 3, 13 Absatz 3 und 4, 15 Absatz 4, 19a Absatz 1 (geltender Art. 19 Abs. 3 JStG) und 45 Absatz 2 E-JStG wurden gewisse redaktionelle Anpassungen gemäss der Revision vom 19. Dezember 2008106 des ZGB (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) vorgenommen.

3.2.2

Begründung und Bewertung der vorgeschlagenen Lösung

In der Vernehmlassung waren eine deutliche Mehrheit der Kantone sowie alle politischen Parteien der Meinung, dass es im Jugendstrafrecht eine Sicherheitslücke gibt, die mit den vorgeschlagenen strafrechtlichen Regelungen geschlossen werden muss.

Es stellt sich dennoch die Frage, ob eine Revision des JStG weitergeführt werden soll, die in der Vernehmlassung von neun Kantonen und insbesondere von 13 Fachorganisationen aus medizinischen, jugendstrafrechtlichen, verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Gründen abgelehnt wird.107 Im Kern steht eine Abwägung des ­ statistisch geringen ­ Sicherheitsrisikos gegen die potenziellen Auswirkungen auf die Zukunftsperspektiven und Resozialisierungsmöglichkeiten der betroffenen Jugendlichen.

105 106 107

HUG/ SCHLÄFLI/ VALÄR (Fn. 47), Art. 19 JStG N 18d f.

AS 2011 725 Vgl. Ziff. 2.2.

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Eine Bewertung der Handlungsoptionen ergibt (unter bestimmten Annahmen zu den Vor- und Nachteilen, deren Gewichtung und der Wahrscheinlichkeit, dass sie eintreten), dass es viele Vorzüge für die Erreichung der Ziele des Jugendstrafrechts hat, wenn die Gesetzeslücke nicht geschlossen wird. An zweiter Stelle steht eine eingeschränkte Änderung (z. B. nur eine vorbehaltene Verwahrung bei Mord). An letzter Stelle stünde die umfassende Änderung des JStG gemäss der Vernehmlassungsvorlage.

In der Vergangenheit haben die Praxis und die Rechtsprechung Lösungen gefunden, um gegenüber ernsthaft gefährlichen Jugendlichen eine geeignete Massnahme des ZGB anordnen zu können. Der EGMR kam jedoch im Entscheid T.B. c. Suisse108 zum Schluss, die betroffene Person sei ohne gesetzliche Grundlage und nur zu präventiven Zwecken in der Strafanstalt inhaftiert gewesen.109 Damit ist seit diesem Entscheid die FU zum Schutz vor Fremdgefährdung im Sinne von BGE 138 III 593 nicht mehr zulässig. Das heisst, dass aus der Sicht ex post zumindest in diesem Fall (sofern man davon ausgeht, dass von ihm eine Gefahr für Dritte ausging) ein Grund für die Schliessung der Lücke bestanden hätte.

Die Beseitigung des statistisch geringen Sicherheitsrisikos lässt sich schliesslich auch mit dem hohen Rang des Rechtsgutes rechtfertigen, das durch die Anlasstat verletzt wird. Wenn es um die Vermeidung von sehr schweren vorhersehbaren Straftaten geht, insbesondere, wenn Menschenleben betroffen sind, spielt die Anzahl der potenziellen Opfer keine Rolle. Die Lücke sollte demnach geschlossen werden, weil es um die Vermeidung eines Risikos für hochrangige Rechtsgüter geht, auch wenn dieses Risiko statistisch sehr gering ist. Der Entwurf sieht jedoch aufgrund der Einwände in der Vernehmlassung eine deutlich eingeschränktere Regelung vor. Sie beschränkt sich auf Jugendliche, die wegen Mordes verurteilt worden sind, von denen im Zeitpunkt des Urteils eine schwerwiegende Gefahr für Dritte ausgeht und am Ende des Vollzugs der jugendstrafrechtlichen Sanktion eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie wiederum einen Mord begehen. Damit werden die allerschwersten Fälle erfasst und allfällige negative Auswirkungen auf ein Minimum beschränkt.

4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

4.1

Änderung des StGB

4.1.1

Unbegleitete Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen im geschlossenen Vollzug ausschliessen

Art. 84 Abs. 6bis und 6ter sowie 90 Abs. 4ter und 4quater E-StGB Diese Regelung soll mehr Sicherheit schaffen, indem unbegleitete Urlaube für verwahrte Täter und Täterinnen im geschlossenen Straf- oder Massnahmenvollzug ausgeschlossen werden. Damit ist klar, dass gefährliche Täter und Täterinnen von Sicherheitsfachleuten (z. B. Polizei oder entsprechend geschultes Gefängnispersonal) 108 109

EGMR, T.B./Schweiz, (Fn. 54).

Gegenstand des Entscheids des EGMR ist das Urteil des Bundesgerichts 5A_500/2014 vom 8. Juli 2014.

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begleitet werden müssen. Eine therapeutische Begleitung ist nicht ausreichend: Auch Begleitpersonen dürfen keinen Gefahren ausgesetzt werden.110 Die Artikel 84 Absatz 6ter und 90 Absatz 4quater E-StGB entsprechen den bisherigen Artikeln 86 Absatz 6bis und 90 Abs. 4ter StGB in unveränderter Form. Diese Bestimmungen werden nach hinten verschoben, weil der Ausschluss von unbegleiteten Urlauben für ordentliche verwahrte Personen systematisch vor dem (heute schon geltenden) Ausschluss bei der lebenslangen Verwahrung stehen sollte.

4.1.2

Änderung des Intervalls zur Überprüfung der Verwahrung

Art. 64b Abs. 3 E-StGB Die bedingte Entlassung aus der Verwahrung (Art. 64a Abs. 1 StGB) soll gemäss Artikel 64b Absatz 3 E-StGB nur noch alle drei Jahre von Amtes wegen geprüft werden, wenn sie von der zuständigen Behörde mindestens dreimal in Folge rechtskräftig abgelehnt worden ist. Wie in der Vernehmlassung verlangt, soll dasselbe für die Prüfung der Änderung einer Verwahrung in eine stationäre therapeutische Massnahme (Art. 65 Abs. 1 StGB) gelten. Das Dreijahresintervall gilt nach der dreimal in Folge verfügten Ablehnung fest für alle nachfolgenden amtlichen Überprüfungen der Verwahrung.

Die Prüfung auf Gesuch der betroffenen Person hin ist von der Änderung nicht betroffen. Das Stellen von Haftentlassungsgesuchen ist ein höchstpersönliches Recht im Sinne von Artikel 407 ZGB und wird zudem von Artikel 5 Ziffer 4 EMRK garantiert111. Ist das Gesuch der betroffenen Person von der zuständigen Behörde abgelehnt worden, beginnt mit Eintritt der Rechtskraft dieses Entscheides eine neue Dreijahresfrist für die Überprüfung von Amtes wegen zu laufen.

Für urteilsunfähige Personen im Freiheitsentzug gelten die Regeln des Erwachsenenschutzrechts gemäss den Artikeln 388 ff. ZGB. Damit ist sichergestellt, dass hilfsbedürftige Personen auch im Vollzug angemessen unterstützt werden oder verbeiständet sind und auf diesem Weg ihre Rechte geltend machen können.

4.1.3

Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit

Art. 62c Randtitel E-StGB Der aktuelle Randtitel von Artikel 62c StGB erwähnt lediglich die Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme. Während Absatz 1 die Aufhebung der Massnahme regelt, betreffen die übrigen Absätze die Folgen der Aufhebung, namentlich die Umwandlung der stationären therapeutischen Massnahme in eine andere Sanktion.

Daher sollte diese Bestimmung einen klareren Randtitel (Aufhebung und Änderung der Massnahme) erhalten.

110 111

Urteil des Bundesgerichts 6B_254/2019 vom 12. Juni 2019 E. 1.4.

EGMR, K./ Zypern, Urteil vom 21. Juni 2011, Nr. 9644/09, § 58.

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Art. 62d Abs. 2 E-StGB Artikel 62d StGB muss klarer formuliert werden. Zu diesem Zweck wird die Bestimmung über die Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit von Straftätern in einen anderen Artikel (Art. 91a E-StGB) verschoben, auf den hier verwiesen wird. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Kommission soll eine allgemeine Bestimmung geschaffen werden, die für Strafen und Massnahmen gilt (vgl. Art. 91a E-StGB).

Wie bei der Regelung in Artikel 75a Absatz 1 E-StGB ist die Kommission nur dann zu konsultieren, wenn eine Aufhebung der Massnahme oder eine bedingte Entlassung erwogen wird und Zweifel an der Gefährlichkeit des Täters oder der Täterin bestehen.

In der Vernehmlassung haben sich nämlich zahlreiche Teilnehmer dagegen ausgesprochen, der Fachkommission weitergehende Kompetenzen zu übertragen, da der Bereich des Sanktionenvollzugs, insbesondere die Gefährlichkeitsbeurteilung, in den letzten Jahren eine deutliche Professionalisierung erfahren habe (Einführung des Konzepts des risikoorientierten Sanktionenvollzugs, Ausbildungen des Personals usw.).

Die neue Formulierung ermöglicht eine Harmonisierung der Praxis bei der Anrufung der Kommission.112 Es steht der zuständigen Behörde jedoch frei, der Kommission auch weitere Fälle vorzulegen, z. B. wenn sie sich nicht sicher ist, ob die Voraussetzungen für die Aufhebung der Massnahme erfüllt sind, oder wenn sie der Begründung ihrer Entscheidung, die bedingte Entlassung abzulehnen, durch Hinzufügen der Beurteilung der Kommission zusätzliches Gewicht verleihen möchte.

Art. 64a Randtitel E-StGB Entgegen dem Wortlaut des französischen (Levée et libération) und deutschen (Aufhebung und Entlassung) Randtitels hat der Gesetzgeber in Artikel 64a StGB keine eigentliche Aufhebung der Verwahrung wie bei den anderen therapeutischen Massnahmen (Art. 62c und 63a StGB) vorgeschlagen. In diesem Sinne befasst sich Artikel 64a StGB eher mit dem Ende der Sanktion, wie aus dem italienischen Randtitel hervorgeht (fine dell'internamento e liberazione). Die Verwahrung endet nämlich, wenn die bedingt entlassene Person die festgelegte Probezeit erfolgreich absolviert hat (Art. 64a Abs. 5 StGB) oder wenn der Vollzug der Verwahrung dem Vollzug einer der in den Artikeln 59­61 StGB vorgeschlagenen Massnahmen weicht (Art. 65 Abs. 1 StGB). Um diese Unklarheit zu beseitigen,
wird der Randtitel dahingehend geändert, dass nur noch der Begriff «Entlassung» verwendet wird, der die bedingte Entlassung (Abs. 1­4) und die endgültige Entlassung (Abs. 5) umfasst.

Art. 64b Abs. 2 Bst. c E-StGB Der Verweis auf Artikel 62d Absatz 2 StGB wird durch den Verweis auf den neuen Artikel 91a E-StGB über die Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit ersetzt.

Der Begriff «Anhörung» wird zugunsten des Begriffs «Beurteilung» aufgegeben, der

112

Während einige Kantone Art. 62d Abs. 2 StGB strikt anwenden, verzichten andere auf den systematischen Rückgriff auf die Fachkommission und verweisen auf Art. 90 Abs. 4bis StGB und dessen Verweis auf Art. 75a Abs, 1 StGB. Siehe auch Bericht des BJ zur Motion 16.3002, (Fn. 2), Ziff. 6.2.

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auch in Artikel 62d Absatz 2 und 75a Absatz 1 E-StGB verwendet wird und der Rolle der Fachkommission besser entspricht.

Art. 75a Abs. 1 und 3 E-StGB Artikel 75a Absatz 1 E-StGB entspricht in den Grundzügen Artikel 75a Absatz 1 StGB. Die Bestimmung wurde jedoch in mehreren Punkten geändert: ­

Erstens sollte die Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit nur dann angerufen werden, wenn die Vollzugsbehörde einen positiven Entscheid erwägt, z. B. Vollzugslockerungen für die inhaftierte Person. So muss die Behörde, die feststellt, dass der oder die Verurteilte die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung nicht erfüllt, diesen Fall nicht der Kommission vorlegen.

Bei den Vollzugslockerungen, insbesondere den Ausgängen, muss die Behörde nicht jeden Ausgang der Kommission vorlegen. Es genügt, wenn diese einmal über die im Vollzugsplan vorgeschlagene Regelung entscheidet, z. B.

über die Gewährung einer bestimmten Anzahl von Urlauben von einer bestimmten Dauer und in einem bestimmten Rahmen während eines bestimmten Zeitraums. Ähnlich wie bei der Aktualität psychiatrischer Gutachten113 muss die Behörde der Kommission den Fall dann erneut vorlegen, wenn sich die Umstände für den geplanten Ausgang ändern.

­

Zweitens haben in der Vernehmlassung mehrere Teilnehmer darauf hingewiesen, dass sie den Begriff «Stellungnahme» durch «Beurteilung» ersetzen möchten. Dies scheint besser mit dem Namen der Kommission und dem Randtitel der neuen Bestimmung dazu (Art. 91b E-StGB) übereinzustimmen.

Dieser Begriff wird auch in den Artikeln 62d Absatz 2 und 64b Absatz 2 Buchstabe c E-StGB verwendet.

­

Drittens: Während in Artikel 75a Absatz 1 Buchstabe a StGB von der Begehung eines Verbrechens nach Artikel 64 Absatz 1 die Rede ist, lautet der neue Wortlaut «Straftat nach Artikel 64 Absatz 1», um den gleichen Ausdruck wie in den Artikeln 62d Absatz 2 und 91b E-StGB zu verwenden.

­

Viertens wird die Formulierung «nicht eindeutig beantworten kann» durch die offenere Umschreibung «wenn sie Zweifel hat» ersetzt (Art. 75a Abs. 1 Bst. b StGB).

­

Fünftens wird der Begriff «Gemeingefährlichkeit» durch den Begriff «Gefährlichkeit» ersetzt, der sich auf die Gefährlichkeit im Allgemeinen, und nicht auf eine Bedrohung für die Gesellschaft bezieht.114 Gleichzeitig wird auf die Definition der Gefährlichkeit verwiesen, die nun in Artikel 91b E-StGB geregelt ist.

Artikel 75a Absatz 3 StGB wird zugunsten des neuen Artikels 91b E-StGB aufgehoben. Es erscheint klarer, eine einzige Bestimmung im Anschluss an die Bestimmung über die Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit zu haben, die den in den

113 114

BGE 128 IV 241 E. 3.4.

Siehe auch die Erläuterungen zu Art. 91b E-StGB.

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Artikeln 62d Absatz 2 Buchstabe b und 75a Absatz 1 E-StGB verwendeten Begriff der «Gefährlichkeit» festlegt.

Art. 91a E-StGB In systematischer Hinsicht wird vorgeschlagen, den neuen Artikel über die Kommissionen zur Beurteilung der Gefährlichkeit in den Teil «4. Gemeinsame Bestimmungen» zu Strafen und Massnahmen (Art. 91­92a StGB) aufzunehmen. Die Kommissionen werden bei Tätern und Täterinnen angerufen, die sich im Straf- oder Massnahmenvollzug befinden.

Die vorgeschlagene Regelung in Absatz 1 behält die Zusammensetzung der Kommission für die Beurteilung der Gefährlichkeit gemäss Artikel 62d Absatz 2 StGB bei, stellt aber mit dem Ausdruck «mindestens» klar, dass die Aufzählung der Fachpersonen nicht abschliessend ist. Es ist sinnvoll, dass auch andere Experten und Expertinnen mit zusätzlichen spezifischen Kenntnissen Mitglieder sein können. Dazu gehören beispielsweise Kriminologen und Kriminologinnen, Bewährungshelfer und helferinnen oder Rechtsanwälte und -anwältinnen mit einer Spezialisierung im Strafrecht. Entsprechend wird der Begriff «Psychiatrie» durch «Psychiatrie oder Psychologie» ergänzt. In der Praxis werden Gefährlichkeits- und Risikobewertungen häufig von forensischen Psychologen und Psychologinnen durchgeführt.115 Es ist daher sinnvoll, dass die Kommissionen zur Beurteilung der Gefährlichkeit von ihrem Fachwissen profitieren können. Es steht jeder Kommission frei, Personen aus dem Bereich der Psychologie und der Psychiatrie als Mitglieder zu haben.

Angesichts der bedeutenden Rolle der Kommissionen zur Beurteilung der Gefährlichkeit und ihrer sehr spezifischen Aufgaben ist es unerlässlich, dass nur Mitglieder ernannt werden, die über ausreichende Kenntnisse verfügen. Hierbei ist insbesondere an forensische Psychiater und Psychiaterinnen und forensische Psychologen und Psychologinnen zu denken, die eine spezielle Ausbildung für die Behandlung und Beurteilung von Straftätern und -täterinnen absolviert haben müssen.116 Absatz 2 orientiert sich an der Bestimmung, die die Qualifikationen der Mitglieder der Eidgenössischen Kommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslang verwahrter Personen regelt.117 Artikel 62d Absatz 2 Satz 2 StGB sieht vor, dass nur die Mitglieder aus dem Bereich der Psychiatrie den Täter oder die Täterin weder behandelt noch sich in irgendeiner

115

Das ist insbesondere bei Stellen der Fall, die für Risikobewertungen im Hinblick auf eine risikoorientierte Durchführung von Sanktionen zuständig sind.

116 Vgl. in diesem Sinne die Anforderungsprofile (II/4.) der Mitglieder im Reglement der Fachkommission des Strafvollzugskonkordat der Zentral und Nordwestschweiz vom 1. Januar 2013 (www.konkordate.ch > Konkordatliche Erlasse > 05.2 Reglement KoFako; Stand 9. August 2022).

117 Art. 3 Abs. 2 der Verordnung vom 26. Juni 2013 über die Eidgenössische Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich verwahrter Straftäter; SR 311.039.2

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Weise mit ihm oder ihr befasst haben dürfen. Es scheint angezeigt, die Ausstandspflicht im neuen Absatz 3 auf alle Mitglieder der Kommission auszudehnen.118 Es ist nicht gerechtfertigt, die Ausstandspflicht auf eine einzige Berufsgruppe zu beschränken, wenn andere Mitglieder der Kommission, insbesondere Vertreter der Vollzugsbehörden oder der Strafverfolgungsbehörden, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit sich ebenfalls mit der beurteilten Person befasst gehabt haben könnten. Dies gilt umso mehr für Kantone mit einer kantonalen Kommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit ohne Rotationssystem.119 In dieser Hinsicht haben die Kommissionen der beiden deutschschweizerischen Konkordate zum Straf- und Massnahmenvollzug eine umfassendere Ablehnungspflicht als nur bei Ärzten und Ärztinnen.120 Art. 91b E-StGB Die neue Bestimmung über die Gefährlichkeit soll im Teil «4. Gemeinsame Bestimmungen» (Art. 91­92a StGB) enthalten sein.

Artikel 91b E-StGB orientiert sich an Artikel 75a Absatz 3 StGB. Gemäss dieser Bestimmung gilt eine inhaftierte Person als gefährlich für die Allgemeinheit, wenn sie Gefahr läuft, zu fliehen und eine weitere Straftat zu begehen, mit der sie die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigen würde. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts hat klargestellt, dass ein Straftäter oder eine Straftäterin gefährlich ist, wenn sein oder ihr Geisteszustand so schwer beeinträchtigt ist, dass stark zu befürchten ist, dass er oder sie weitere Straftaten begehen wird.121 Die Beurteilung der Gefährlichkeit des Täters oder der Täterin muss im Hinblick auf die Schwere, die Unmittelbarkeit der Gefahr sowie die Art oder Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter erfolgen.122 Die Gefährlichkeit ist daher ein relativer Begriff und kann nicht absolut definiert werden. In einem konkreten Fall kann die Gefährlichkeit anhand des Werts des bedrohten Rechtsguts, der Schwere der Beeinträchtigung dieses Rechtsguts und der Wahrscheinlichkeit, dass die Beeinträchtigung innerhalb eines bestimmten Zeitraums tatsächlich eintritt, bestimmt werden.

Die Einstufung der Gefährlichkeit beruht auf einer Bewertung verschiedener Elemente. Neben der Begehung einer schweren Straftat muss der Täter oder die Täterin

118

119 120

121 122

Ähnlich: HUBER ANDREAS, Experten und Expertenkommissionen im Strafprozess und im Straf- und Massnahmenvollzug ­ eine kritische Analyse der Mitwirkung von Sachverständigen, Fachrichtern und Fachkommissionen unter Berücksichtigung verwaltungsund staatsrechtlicher Aspekte, Zürich 2019, 136 f. und 351. Siehe auch BGE 134 IV 289.

ZERMATTEN/ FREYTAG (Fn. 18), S. 87.

Kammersystem (III/2.), Abs. 3, der Mitglieder im Reglement der Fachkommission des Strafvollzugskonkordat der Zentral und Nordwestschweiz vom 1. Januar 2013; Ziff. 3.3, Bst. a, Richtlinien der Ostschweizer Strafvollzugskommission vom 26. Oktober 2012 über den Vollzug von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Massnahmen bei potentiell gefährlichen Straftätern und Straftäterinnen; LEHNER DOMINIK, Fachkommission, in: Brägger Benjamin F. (Hrsg..), Das schweizerische Vollzugslexikon ­ von der vorläufigen Festnahme zur bedingten Entlassung, 2. Aufl., Basel 2022, 231; HEER MARIANNE, in: Niggli Marcel A./ Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch und Jugendstrafgesetz, Band I, 4. Aufl., Basel 2019, Art. 62d N. 27; Betreffend der lateinischen Kantonen, siehe HUBER, Fn. 118, S. 132.

BGE 137 IV 201 E. 1.2.

BGE 127 IV 1 E. 2a.

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bestimmte kriminologische, persönliche und psychiatrische Merkmale aufweisen,123 die zum Teil dynamisch sind und sich während des Vollzugs der Strafe verändern. So kann eine Person, die an einer psychischen Störung leidet, die sie zu Straftaten treibt, diesen kriminogenen Faktor durch eine Therapie verlieren. Die Beurteilung der Gefährlichkeit hängt auch von den Umständen ab, unter denen die Person behandelt wird.

Die Behörde wird bei der Entscheidung über eine bedingte Entlassung eine andere Prüfung vornehmen als bei der Entscheidung über einen begleiteten Ausgang.124 Daher ist es wichtig, dass die Behörde die Gefährlichkeit des Täters oder der Täterin regelmässig überprüft und der Täter oder die Täterin nicht endgültig als gefährlich eingestuft wird. So verweisen die Artikel 62d Absatz 2 und 75a Absatz 1 Buchstabe b E-StGB auf den Begriff der Gefährlichkeit, wie er in Artikel 91b E-StGB vorgeschlagen wird.

Die vorgeschlagene Bestimmung bezieht sich nicht mehr auf die Gemeingefährlichkeit, sondern nur noch auf die Gefährlichkeit. Ein Täter oder eine Täterin kann nämlich nur für einen begrenzten Personenkreis gefährlich sein (z. B. für den Partner oder die Partnerin oder für ein Familienmitglied im Falle von häuslicher Gewalt). Artikel 91b E-StGB erwähnt auch nicht die Fluchtgefahr als konstitutives Element der Gefährlichkeit. Die Fluchtgefahr kann die Vollzugsbehörde zu Recht dazu veranlassen, die Unterbringung eines Gefangenen oder einer Gefangenen in einer offenen Anstalt zu verweigern oder ihm oder ihr Ausgang zu gewähren, sie ist jedoch kein Indikator für die Gefährlichkeit.125 Die Unterbringung in einer offenen Anstalt ist zudem bereits in umgekehrter Anwendung der Artikel 59 Absatz 3 und 76 Absatz 2 StGB für Täter und Täterinnen mit Flucht- und Rückfallgefährdet ausgeschlossen. Auch bei verwahrten Personen ist sie anfänglich nicht möglich (Art. 64 Abs. 4 StGB).

Art. 28 Abs.3 E-JStG Der Verweis auf die Fachkommission wird in Artikel 28 Absatz 3 E-JStG angepasst.

4.1.4

Beschwerderecht der Vollzugsbehörde

Art. 65a E-StGB und Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 8 E-BGG Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts126 fehlt der Vollzugsbehörde ein rechtlich geschütztes Interesse, das zum Einlegen eines Rechtsmittels erforderlich wäre.

Aufgrund von Artikel 104 Absatz 2 StPO sieht Artikel 65a E-StGB deshalb vor, dass die Vollzugsbehörde in Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts gemäss StPO ein Rechtsmittel einlegen kann, wenn der Entscheid die Aufhebung, Verlängerung oder Änderung einer Massnahme (Art. 59, 60, 61, 63 oder 64 123

ROHNER BARBARA, Die Fachkommission zur Beurteilung gefährlicher Straftäter nach Art. 62d Abs. 2 StGB, Zürich/Basel/Genf 2016, S. 95.

124 ROHNER (Fn. 123), S. 98 f.

125 Siehe auch ROHNER (Fn. 123), S. 118 f.; HEER (Fn. 120), Art.62d N. 11.

126 BGE 133 IV 121 E. 1.2. und BGE 145 IV 65 E. 2.2 ff.

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StGB) betrifft. Die Vernehmlassungsergebnisse haben gezeigt, dass ein Interesse daran besteht, dass die Beschwerdelegitimation der Vollzugsbehörde nicht auf selbstständige nachträgliche Entscheide der Gerichte zu den Artikeln 59­61 StGB beschränkt wird. Es scheint in der Tat gerechtfertigt, dass die Vollzugsbehörde auch in anderen Fällen Beschwerde einlegen kann. Zu denken ist etwa an die Verlängerung einer ambulanten Massnahme (Art. 63 Abs. 4 StGB) oder an die nachträgliche Anordnung einer Verwahrung gemäss Artikel 65 Absatz 2 StGB. Gegen andere nachträgliche Entscheide hat die Vollzugsbehörde kein Rechtsmittel.

In der Anhörung wurde die Meinung geäussert, dass eine solche Regelung eher in die Strafprozessordnung als in das Strafgesetzbuch gehört. Dieses Argument ist zwar nachvollziehbar, aber die Integration in die Strafprozessordnung würde eine Änderung mehrerer Artikel der Strafprozessordnung (z. B. Art. 12 StPO) erfordern, was viel komplizierter erscheint als die Schaffung von Artikel 65a E-StGB.

Damit die Vollzugsbehörde gegen einen solchen kantonalen Entscheid allenfalls vor Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erheben kann, muss die Aufzählung in Artikel 81 Absatz 1 Buchstabe b BGG ergänzt werden.

4.1.5

Weitere Änderungen

Art. 91 Abs. 1 und 1bis E-StGB Artikel 90 Absatz 1 StGB regelt die Voraussetzungen der getrennten Unterbringung von Personen, die sich im Vollzug einer Massnahme nach den Artikeln 59­61 StGB befinden. Diese Regelung soll auf verwahrte und lebenslänglich verwahrte Personen ausgedehnt werden, die ebenfalls aus Sicherheits- oder Disziplinargründen ununterbrochen getrennt untergebracht werden können, ähnlich wie bei Personen, die eine Freiheitsstrafe verbüssen (Art. 78 Bst. b und c StGB).

Auf verwahrte und lebenslänglich verwahrte Personen ist der heutige Buchstabe a von Artikel 90 Absatz 1 StGB hingegen nicht anwendbar. Daher ist ein neuer Absatz 1bis zu schaffen, der sich an den Wortlaut von Artikel 90 Absatz 1 Buchstabe a StGB anlehnt, der für Personen im Vollzug einer stationären therapeutischen Massnahme gilt. In diesem Fall muss die getrennte Unterbringung der Durchführung der therapeutischen Massnahme und deren Zielen dienen und darf nur vorübergehend sein, weshalb der Begriff «für eine kurze Dauer» verwendet wird.

Art. 93 Abs. 2 E-StGB Artikel 93 Absatz 2 StGB regelt die Offenlegung von Informationen, die den Auftrag der Bewährungshilfe betreffen. Der Gesetzgeber wollte hier das Vertrauensverhältnis zwischen Bewährungshelfer und -helferin und betreuter Person stärken, indem er eine

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Regelung vorsieht, die derjenigen des Berufsgeheimnisses in Artikel 321 StGB ähnelt.127 Seit dem Inkrafttreten von Artikel 93 StGB hat sich die Situation geändert. Zum einen hat ein Grossteil der Kantone die Behörde, die für die Bewährungshilfe und die Kontrolle der Weisungen zuständig ist, in die Justizvollzugsbehörde integriert.128 Andere Modelle ­ private Stiftungen129 oder Sozialdienste130 ­ sind derzeit eher die Ausnahme. In Kantonen, in denen die Vollzugsbehörde und die Bewährungshilfe zusammengeführt wurden, kann die fallverantwortliche Person darüber hinaus die soziale Betreuung des Straftäters oder der Straftäterin übernehmen, Entscheidungen über ihn oder sie treffen und Berichte an die Behörden verfassen.

Zum anderen hat die Mehrheit der Kantone in den letzten Jahren die Frage des Informationsaustauschs im Bereich des Justizvollzugs geregelt.131 Die Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde erscheint wesentlich, damit diese die Entwicklung der angeordneten Massnahmen beurteilen und gegebenenfalls über das weitere Vorgehen entscheiden kann.

Aus diesen Gründen ist eine spezifische Regelung nur für Bewährungshelfer und helferinnen nicht mehr gerechtfertigt. Es scheint heute kaum denkbar, dass Bewährungshelfer und -helferinnen einer anderen Schweigepflicht unterliegen als Mitarbeitende, die zuständig sind für die Anordnung und Kontrolle ambulanter therapeutischer Massnahmen oder von Verbotsmassnahmen nach den Artikeln 67 ff. StGB, oder dass diese je nach dem Fall, den sie führen, nicht der gleichen Regelung unterworfen sind.

Darüber hinaus gilt die Pflicht zur Wahrung des Amtsgeheimnisses nach Artikel 320 StGB ohnehin für Informationen, die während des Mandats der Bewährungshilfe ausgetauscht werden. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass es den Kantonen überlassen werden sollte, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Behörden entsprechend ihrer eigenen Struktur bei Bedarf näher zu regeln. Aus diesem Grund ist Absatz 2 von Artikel 93 StGB zu streichen.

4.2

Änderung des JStG

Art. 4 zweiter Satz Gemäss der Terminologie, die mit der Änderung vom 19. Dezember 2008132 des ZGB (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) eingeführt wurde, wird die Bezeichnung «Vormundschaftsbehörde» durch «Kindesschutzbehörde» ersetzt.

127

128 129 130 131 132

Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht; BBl 1999 1979 S. 2127 und 2128.

Z. B. die Kantone Aargau, Bern, Fribourg, Graubünden, Luzern, Neuenburg, Wallis, Zug und Zürich.

Kanton Waadt: Fondation vaudoise de probation.

Kanton Glarus.

Bericht des BJ zur Motion 16.3002 (Fn. 2), Ziff. 5.4.5.

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Art. 9 Abs. 4 Damit in Verbindung mit einem Freiheitsentzug ein Vorbehalt für eine Verwahrung angebracht werden kann, muss der oder die Jugendliche eine schwerwiegende Gefahr für Dritte darstellen. Diese Gefahr soll durch ein Gutachten abgeklärt werden.

Absatz 3 sieht bereits vor, dass zur Abklärung der physischen und psychischen Gesundheit des oder der Jugendlichen oder mit Blick auf die Unterbringung in einer offenen oder geschlossenen Einrichtung ein Gutachten zu erstellen ist. Absatz 4 stellt eine Ergänzung dar, indem eine Begutachtung ­ sofern sie noch nicht gestützt auf Absatz 3 erfolgt ist ­ auch bei Jugendlichen anzuordnen ist, denen ein Freiheitsentzug und der Vorbehalt einer Massnahme nach Artikel 64 Absatz 1 StGB droht. Die Begutachtung nach Absatz 4 hat zudem in erster Linie die Gefährlichkeit des oder der Jugendlichen zum Gegenstand.

Mehrere Vernehmlassungsteilnehmer verlangen ausdrücklich das Gutachten einer unabhängigen sachverständigen Person der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Kinder- und Jugendpsychologie. Es steht bereits nach geltendem Recht ausser Frage, dass ein Gutachten von einer ausgewiesenen Fachkraft erstellt wird, sodass dies im Gesetz nicht eigens erwähnt werden muss.

Art. 10 Abs. 1 zweiter Satz Nach Artikel 10 JStG ordnet die urteilende Behörde «die nach den Umständen erforderlichen Schutzmassnahmen an», das heisst, sie kann gemäss dem Wortlaut der Bestimmung mehrere Schutzmassnahmen anordnen. Es sind alle Kombinationen von Schutzmassnahmen möglich, die sich von den Voraussetzungen her nicht ausschliessen. Dies soll in Artikel 10 E-JStG mit einem zusätzlichen Satz verdeutlicht werden.

Art. 12 Abs. 2 und 3 In Absatz 2 wird aufgrund der Stellungnahmen in der Vernehmlassung auch die Beistandschaft erwähnt. Sie kann bei Personen bestehen, die zwar als Jugendliche eine Straftat begangen haben, aber erst nach dem 18. Altersjahr nach dem JStG verfolgt und verurteilt werden.

In Absatz 3 wird gemäss der in der Änderung vom 19. Dezember 2008133 des ZGB (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) eingeführten Terminologie die Bezeichnung «Mündigkeitsalter» durch «Volljährigkeit» ersetzt.

Art. 13 Abs. 3 und 4 In den Absätzen 3 und 4 werden dieselben Anpassungen vorgenommen wie in Artikel 12 Absätze 2 und 3 E-JStG.

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Art. 14 Abs. 2 Aufgrund der Verdeutlichung in Artikel 10 Absatz 1 zweiter Satz E-JStG kann Artikel 14 Absatz 2 JStG aufgehoben werden.

Art. 15 Abs. 4 und 5 In Absatz 4 werden dieselben Anpassungen vorgenommen wie in Artikel 12 Absatz 2 und 13 Absatz 3 E-JStG. Zudem wird entsprechend der Terminologie, die mit der Änderung vom 19. Dezember 2008134 des ZGB (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) eingeführt wurde, die Bezeichnung «Vormundschaftsbehörde» durch «Kindesschutzbehörde» ersetzt und mit Blick auf eine bestehende Beistandschaft um die «Erwachsenenschutzbehörde» ergänzt.

Die Regelung in Absatz 5 ersetzt den im Vorentwurf vorgesehenen Vorbehalt (vgl.

Ziff. 3.2.1.4).

Art. 19 Abs. 1bis, 3 und 4 Artikel 19 JStG soll nur die Regelungen enthalten, welche direkt die Beendigung der Massnahmen betreffen. Die geltenden Absätze 3 und 4 von Artikel 19 JStG werden daher systematisch neu eingeordnet (vgl. Erläuterungen zu Art. 19a Abs. 1 und 19b E-JStG).

Abs. 1bis Nach Artikel 28 Absatz 3 JStG entscheidet heute die Vollzugsbehörde über die bedingte Entlassung aus einem Freiheitsentzug, der nach Artikel 25 Absatz 2 JStG verhängt wurde, nach Anhörung einer Fachkommission nach Artikel 62d Absatz 2 StGB (neu Art. 91a E-StGB). Diese Regelung wird auch gelten, wenn gestützt auf die beantragten Änderungen in Verbindung mit dem Freiheitsentzug nach dem JStG eine Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB vorbehalten wird.

Es erscheint aus Sicherheitsgründen sinnvoll, dass die Vollzugsbehörde auch beim Entscheid über die Aufhebung einer geschlossenen Unterbringung, die aufgrund eines Mordes und zum Schutz Dritter vor schwerwiegender Gefährdung durch den Jugendlichen oder die Jugendliche angeordnet wurde, die Fachkommission anhört.

In Artikel 91a Absatz 2 E-StGB wird festgelegt, dass die Mitglieder der Kommission über die Fachkenntnisse, die für die Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich sind, verfügen.

Es gilt weiterhin Artikel 19 Absatz 2 JStG, wonach alle Massnahmen mit Vollendung des 25. Altersjahres enden. Hat das Erwachsenengericht in diesem Zeitpunkt im Nachverfahren nach den Artikeln 364­365 StPO noch nicht rechtskräftig über eine von der Vollzugsbehörde beantragte Verwahrung entschieden, so kann gemäss Artikel 364a StPO die verurteilte Person bis zum Entscheid des Gerichts in Sicherheitshaft genommen werden, wenn zu erwarten ist, dass sie sich dem Vollzug entziehen will oder eine Rückfallgefahr besteht.

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Art. 19a Im neuen Artikel 19a E-JStG sollen die Voraussetzungen festgehalten werden, unter denen für die Zeit nach Beendigung einer Schutzmassnahme eine zivil- oder strafrechtliche Anschlussmassnahme beantragt werden kann. Es soll folgendes Kaskadenprinzip gelten: Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen kommen erst zum Zug, wenn den mit dem Wegfall der Schutzmassnahme verbundenen Nachteilen nicht auf andere Weise begegnet werden kann; strafrechtlichen Massnahmen kommen erst zum Zug, wenn die zivilrechtlichen Massnahmen nicht ausreichen.

Abs. 1 Diese Regelung entspricht dem geltenden Artikel 19 Absatz 3 JStG. Sie wird redaktionell an die Terminologie angepasst, die mit der Änderung vom 19. Dezember 2008135 des ZGB (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) eingeführt wurde.

Abs. 2 Strafrechtliche Anschlussmassnahmen sollen erst angeordnet werden können, wenn keine geeigneten Erwachsenenschutzmassnahmen zur Verfügung stehen (vgl. auch Art. 27a Abs. 1 Bst. c E-JStG). Das kann bedeuten, dass entweder die Voraussetzungen für solche zivilrechtlichen Massnahmen nicht gegeben sind (z. B. wenn kein Schwächezustand und/oder keine Notwendigkeit einer Betreuung oder Behandlung vorhanden sind) oder dass zwar bestimmte zivilrechtliche Massnahmen ergriffen werden können, diese aber für sich allein nicht genügen, um den Nachteilen für die Sicherheit Dritter zu begegnen.

Während die Massnahmen nach Absatz 1 sowohl den Schutz der betroffenen Person selber als auch den Schutz Dritter zum Ziel haben können, dienen die strafrechtlichen Anschlussmassnahmen ausschliesslich dem Schutz Dritter (vgl. Art. 19b Abs. 1 und 19c Abs. 1 Bst. d E-JStG).

In der Vernehmlassung wurde die Regelung der Subsidiarität nach Absatz 2 insoweit kritisiert, als die vorgängige Prüfung von zivilrechtlichen Massnahmen in den zur Diskussion stehenden Einzelfällen ineffizient und unnötig sei. Von einem zwingenden vorgängigen Antrag an die KESB sei abzusehen; mit zivilrechtlichen Massnamen könne der Gefahr für die Öffentlichkeit nicht begegnet werden. Von anderer Seite wurde verlangt, dass zwingend vorgängig gerichtlich abgeklärt werden müsse, ob die Voraussetzungen für eine FU gegeben sind oder nicht.

Wie die Praxis gezeigt hat, können zivilrechtliche Massnahmen in bestimmten Fällen sinnvoll sein. Die Voraussetzungen für zivilrechtliche
Massnahmen können im Rahmen des Verfahrens zur Anordnung der Anschlussmassnahmen geprüft werden. So ist es für die Anordnung der Verwahrung auch nicht notwendig, zuerst in einem eigenen Verfahren zu prüfen, ob eine Massnahme nach Artikel 59 StGB Erfolg verspricht.

Namentlich die Gutachten zur Beantragung und Anordnung der Verwahrung als Anschlussmassnahme (Art. 19c Abs. 2 Bst. b und 27a Abs. 2 Bst. b E-JStG) sollten sich zu diesem Punkt äussern.

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Art. 19b Der neue Artikel 19b E-JStG basiert auf der Regelung des geltenden Artikel 19 Absatz 4 JStG, wobei verschiedene Unklarheiten des geltenden Rechts beseitigt werden sollen. Die Formulierung wird zudem an die Formulierung der Artikel 19c und 27a E-JStG angepasst, ohne dass damit eine materielle Änderung verbunden ist.

Abs. 1 Das Erwachsenengericht trifft seinen Entscheid nach den Bestimmungen des StGB.

Ein Tätigkeitsverbot oder ein Kontakt- und Rayonverbot nach Artikel 16a JStG kann heute angeordnet werden, wenn die Gefahr besteht, dass der oder die Jugendliche bestimmte berufliche Tätigkeiten oder bestimmte organisierte ausserberufliche Tätigkeiten zur Begehung von Sexualstraftaten an Minderjährigen oder anderen besonders schutzbedürftigen Personen missbraucht (Art. 16a JStG). Gestützt auf Artikel 19 Absatz 4 JStG kann im Anschluss an das jugendstrafrechtliche Verbot ein Tätigkeitsverbot nach Artikel 67 Absatz 2, 3 oder 4 StGB angeordnet werden. Zudem soll das Gericht in diesen Fällen ein Verbot von einem bis zu zehn Jahren anordnen, d. h., ein lebenslängliches Verbot ­ wie es in Artikel 67 Absätze 2bis, 3 und 4 StGB vorgesehen ist ­ wird ausgeschlossen.

Es ist nicht klar, inwieweit eine nach dem JStG verurteilte Person die Voraussetzungen eines Tätigkeitsverbots nach Artikel 67 Absatz 3 oder 4 StGB erfüllen kann, weil die im StGB für das Tätigkeitsverbot vorausgesetzten Sanktionen nicht alle mit den Sanktionen des JStG vergleichbar sind. Da in Artikel 19 Absatz 4 JStG zudem ein lebenslanges Verbot, wie es in Artikel 67 Absätze 3 und 4 StGB vorgesehen ist, ausgeschlossen wird, bleibt im Ergebnis die Anordnung eines Tätigkeitsverbots nach Artikel 67 Absatz 2 StGB übrig. Dieses Verbot genügt, um das Tätigkeitsverbot, das gestützt auf das JStG angeordnet wurde, weiterzuführen. Die Regelung des geltenden Artikel 19 Absatz 4 JStG wird daher in Artikel 19b Absatz 1 E-JStG entsprechend neu formuliert.

Das Tätigkeitsverbot und das Kontakt- und Rayonverbot werden vom Erwachsenengericht nach den Bestimmungen des StGB angeordnet. Das heisst, es berücksichtigt nicht nur die Voraussetzungen nach Artikel 67 Absatz 2 oder 67b Absatz 1 StGB, sondern auch die Vorgaben in den Artikeln 67a und 67b Absatz 2 StGB. In Absatz 2 wird zudem klargestellt, dass kein lebenslängliches Tätigkeitsverbot verhängt werden
darf, was gestützt auf Artikel 67 Absatz 2bis StGB für Verbote nach Artikel 67 Absatz 2 StGB möglich wäre.

Neu ist, dass für die Anordnung des Verbots ein Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts (Art. 363­365 StPO) durchgeführt wird. Die zuständige Behörde nach Artikel 363 StPO wird in Absatz 1 bestimmt; es ist das Erwachsenengericht am Wohnort der betroffenen Person. Für das Verfahren und den Entscheid gelten die Artikel 364­365 StPO. Der Vollzug der Verbote soll sich nach den Bestimmungen des Erwachsenenstrafrechts richten, das heisst insbesondere nach Artikel 67c StGB.

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Abs. 2 und 3 Um bestehende Unklarheiten zu beseitigen, wird ausdrücklich festgehalten, dass die Verbote gestützt auf die entsprechenden Bestimmungen des StGB auch verlängert und erweitert werden dürfen und dass ein zusätzliches Verbot angeordnet werden kann.

Art. 19c Abs. 1 Absatz 1 legt fest, unter welchen Voraussetzungen die Vollzugsbehörde beim Erwachsenengericht eine Verwahrung im Anschluss an die geschlossene Unterbringung beantragen kann.

Der Entwurf sieht zwar keine Pflicht der Vollzugsbehörde vor, in jedem Fall vor dem Ende der jugendstrafrechtlichen Sanktion die Notwendigkeit einer Verwahrung zu prüfen und einen formellen Entscheid zu fällen. Sie wird jedoch nicht umhinkommen, die Gefährlichkeit der betroffenen Person abzuklären, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden.

Kommt die Vollzugsbehörde zum Schluss, vom Täter oder von der Täterin gehe keine ernsthafte Gefahr aus oder es sei eine zivilrechtliche Massnahme angezeigt, so kann sie die entsprechenden Schritte einleiten (nach Anhörung der Fachkommission gemäss Art. 19 Abs. 1bis E-JStG). Andernfalls beantragt sie dem Gericht eine Verwahrung.

Das Gericht entscheidet somit nur in den Fällen, in denen die Vollzugsbehörde eine Verwahrung als notwendig erachtet und beantragt.

In Absatz 1 Buchstabe c umfasst der Ausdruck «Wegfall» sowohl das Ende der Massnahme mit Vollendung des 25. Altersjahres als auch die Aufhebung der Massnahme vor diesem Zeitpunkt. Die im Anschluss an die Unterbringung vollzogene Reststrafe (Freiheitsentzug nach dem JStG oder Freiheitsstrafe nach dem StGB) ist zu Ende, wenn der Freiheitsentzug vollständig vollzogen worden ist.

Die im Grundurteil aufgrund eines Mordes angeordnete geschlossene Unterbringung kann gestützt auf Artikel 18 JStG durch eine andere Schutzmassnahme ersetzt werden. Eine Verwahrung als Anschlussmassnahme soll nur beantragt werden können, wenn sich die betroffene Person (am Ende des Vollzugs) in einer geschlossenen Unterbringung (oder in einem im Anschluss daran vollzogenen Freiheitsentzug) befindet (Einleitungssatz von Abs. 1).

Eine bedingte Entlassung aus dem an die Unterbringung anschliessenden Freiheitsentzug ist nach Artikel 28 JStG ­ sofern keine schlechte Prognose vorliegt ­ möglich.

Die Voraussetzungen nach Absatz 1 sind auf die Fälle ausgerichtet, in denen eine schlechte Prognose
besteht und daher eine Verwahrung beantragt wird. In diesen Fällen kommt keine bedingte Entlassung in Frage.

Abs. 2 Absatz 2 legt fest, welche Informationen die Vollzugsbehörde einholen muss, um ihren Antrag für die Anordnung einer vorbehaltenen Massnahme des StGB zu begründen.

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Grundlage bildet der Bericht der Vollzugseinrichtung. Um zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB vorliegen, erscheint das Gutachten eines oder einer unabhängigen Sachverständigen auch erforderlich. Da die Gefährlichkeit der betroffenen Person eine zentrale Rolle spielt, soll auch die Fachkommission nach Artikel 91a E-StGB angehört werden. Schliesslich ist vorgesehen, dass auch die eingewiesene Person anzuhören ist.

Abs. 3 Das Erwachsenengericht entscheidet über die Anordnung einer Massnahme des StGB gestützt auf die Artikel 56­65 StGB. Das heisst, es stützt sich auf das Gutachten eines oder einer unabhängigen Sachverständigen nach Artikel 56 Absätze 3 und 4 StGB und entscheidet nach Massgabe der Voraussetzungen, die in Artikel 64 Absatz 1 StGB festgelegt sind. Soweit das Gutachten des oder der unabhängigen Sachverständigen, das für den Antrag der Vollzugsbehörde eingeholt wurde, noch aktuell ist, muss das Gericht kein zusätzliches Gutachten einholen.

Analog zu Artikel 19b E-JStG gilt, dass für das Verfahren und den Entscheid die Artikel 364­365 StPO zur Anwendung kommen.

Das Gericht soll bei Anordnung einer Massnahme des StGB im selben Verfahren auch eine noch bestehende geschlossene Unterbringung aufheben. Damit wird vermieden, dass zwei Massnahmen gleichzeitig bestehen oder dass eine Sicherheitslücke entsteht, weil die Unterbringung zuerst durch die Vollzugsbehörde rechtskräftig aufgehoben werden muss, bevor die Massnahme des StGB vom Gericht angeordnet werden kann.136 Zum Entscheid über den Vollzug einer Reststrafe wird auf die Ausführungen zu Artikel 32 Absatz 3 dritter Satz E-JStG verwiesen.

Der Vollzug der Verwahrung richtet sich nach den Bestimmungen des StGB, namentlich nach den Artikeln 64­64b, 74 und 90­96 StGB.

Art. 25a Abs. 1 Im Gegensatz zur Anschlussmassnahme nach einer geschlossenen Unterbringung ist die Verwahrung nach einem Freiheitsentzug nur möglich, wenn im Grundurteil ein entsprechender Vorbehalt gemacht wurde.

Der Vorbehalt einer Verwahrung soll (wie die Anschlussmassnahme nach einer geschlossenen Unterbringung) nur aufgrund eines Grundurteils wegen Mordes möglich sein (Bst. a). Obwohl es sich dabei um eine sehr schwere Tat handelt, soll auch die im konkreten Einzelfall verhängte Strafe berücksichtigt werden. Weil gemäss
den Grundzügen der Vorlage137 nur die sehr schweren Fälle erfasst werden sollen, soll ein Freiheitsentzug von mindestens 3 Jahren (bei einer maximal möglichen Dauer von vier Jahren, vgl. Art. 25 Abs. 1 JStG) vorausgesetzt werden (Bst. b.). Diese Voraussetzung ist in den meisten Fällen gegeben. In den Jahren 2010­2020 wurde bei Jugendlichen,

136 137

BGE 134 IV 246 E. 3.4 und BGE 141 IV 49 E. 2.4 f.

Vgl. Ziff. 1.2.1.3.

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die wegen Mordes verurteilt wurden, in 10 Fällen entweder eine geschlossene Unterbringung und/oder eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren angeordnet, so dass im Anschluss an diese Sanktionen bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen bei Existenz der nun vorgeschlagenen Regelung eine Verwahrung hätte angeordnet werden können. Nur in einem Fall wurde lediglich eine offene Unterbringung und in einem anderen Fall eine ambulante Behandlung und eine Aufsicht verbunden mit einem Freiheitsentzug von 180 Tagen angeordnet.138 Wird ein Freiheitsentzug in Verbindung mit einer geschlossenen Unterbringung angeordnet, so kann eine Verwahrung gestützt auf Artikel 19c E-JStG angeordnet werden. Wird in Verbindung mit einem Freiheitsentzug eine offene Unterbringung angeordnet, so ist davon auszugehen, dass der oder die Jugendliche keine schwerwiegende Gefahr für Dritte darstellt, die einen Vorbehalt rechtfertigen würde (Bst. c). Die für den Vorbehalt notwendige Prognose (Bst. d) entspricht der Prognose, die für eine geschlossene Unterbringung nach Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe b JStG notwendig ist: Der oder die Jugendliche muss für Dritte eine schwerwiegende Gefahr darstellen. Im Gegensatz zum Vorentwurf wird auf eine längerfristige Prognose, die aufgrund der fehlenden Hirnreife kaum möglich ist, verzichtet. Der Vorbehalt soll zudem regelmässig überprüft werden (vgl. Erläuterungen zu Abs. 4).

Abs. 2 Diese Bestimmung entspricht im Kern der Regelung, wie sie für die Anordnung eines Tätigkeitsverbots vorgesehen ist (vgl. Art. 67 Abs. 5 StGB).

Abs. 3 Der Vorbehalt einer Verwahrung soll zwar grundsätzlich bis zur endgültigen Entlassung aus dem Freiheitsentzug gelten. Liegen jedoch die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung aus dem Freiheitsentzug vor, so ist davon auszugehen, dass keine schwerwiegende Gefahr mehr für Dritte besteht, so dass der Vorbehalt aufgehoben werden kann (vgl. Abs. 4). Für jugendliche Täter und Täterinnen, bei denen eine Verwahrung vorbehalten wurde und die nach Vollendung des 18. Altersjahres (im Vollzug einer Sanktion nach dem JStG oder nach der Entlassung) eine neue schwere Tat begehen, stehen im StGB genügend Massnahmen zur Verfügung, um den Täter oder die Täterin zu betreuen und die Sicherheit zu gewährleisten.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Sicherheit auch gewährleistet
ist, wenn der jugendliche Straftäter oder die jugendliche Straftäterin vor dem vollendeten 18. Altersjahr im Vollzug des Freiheitsentzugs eine neue einschlägige Straftat begeht, die keine Anlasstat für einen Vorbehalt darstellt, jedoch den Vorbehalt bestätigt (z. B. eine qualifizierte schwere Körperverletzung). Eine analoge Frage stellt sich in Fällen der retrospektiven Konkurrenz. Hier kann im Jugendstrafrecht ein neues Urteil gefällt werden, bei dem das Gericht eine Gesamtwürdigung vornimmt. Es berücksichtigt dabei die im ersten Urteil (Grundurteil) ausgefällten Sanktionen und bezieht die sich aufgrund der neuen Straftat anders darstellenden pädagogischen Aspekte mit ein.139 Stellt

138 139

Vgl. Ziff. 1.2.1.4.

HUG/ SCHLÄFLI/ VALÄR (Fn 47), Art. 1 JStG N 11 ff.

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die neue Straftat keine Anlasstat für einen Vorbehalt dar, so könnte der im ersten Urteil (Grundurteil) enthaltene Vorbehalt vor dem Ende des Vollzugs des neuen Urteils erlöschen. Die Regelung nach Absatz 3 soll sicherstellen, dass ein Vorbehalt nicht durch eine neue Straftat, die vor oder nach dem ersten Urteil begangen wurde, beseitigt wird oder gezielt beseitigt werden kann. Ist der Vorbehalt im konkreten Fall nicht mehr notwendig, kann er gestützt auf Absatz 4 aufgehoben werden.

Abs. 4 Aufgrund der befürchteten negativen Auswirkungen des Vorbehalts soll dieser nur so lange dauern, als vom Jugendlichen oder von der Jugendlichen eine schwerwiegende Gefahr für Dritte ausgeht. Er soll daher regelmässig überprüft und aufgehoben werden können.

Diese Überprüfung könnte mit der Prüfung der bedingten Entlassung aus dem Freiheitsentzug verbunden werden, für die ebenfalls ein Bericht der Vollzugseinrichtung und der Begleitperson eingeholt wird (Art. 28 Abs. 2 JStG). Da in diesen Fällen für die bedingte Entlassung eine Beurteilung einer Fachkommission nach Artikel 91a StGB nötig ist (Art. 28 Abs. 3 JStG), könnte sich diese, wenn nötig, auch zum Vorbehalt äussern, ohne dass sie ausdrücklich im Gesetz erwähnt wird.

Art. 27a Die Bestimmung über das vom Gericht anzuwendende Recht, das Verfahren und den Vollzug entspricht dem in Artikel 19c E-JStG Geregelten.140 Eine geschlossene Unterbringung wurde in dieser Konstellation nicht angeordnet und muss daher vom Gericht nicht aufgehoben werden.

Abs. 1 Die Voraussetzungen für den Antrag der Vollzugsbehörde entsprechen denjenigen von Artikel 19c Absatz 1 E-JStG.141 Da ein Freiheitsentzug von 3 Jahren nur bei Jugendlichen möglich ist, die das 16. Altersjahr vollendet haben, werden sie zwar am Ende der vollständig vollzogenen Strafe mehr als 18 Jahre alt und damit volljährig sein. Diese Voraussetzung für die Anordnung einer Verwahrung wird der Klarheit halber trotzdem ausdrücklich aufgeführt.

Analog zum Grundsatz nach Artikel 19a Absatz 2 E-JStG142 soll eine Massnahme nach Artikel 64 Absatz 1 StGB nur angeordnet werden, wenn keine geeignete Erwachsenenschutzmassnahme des Zivilrechts zur Verfügung steht.

Erfüllt die betroffene Person die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung nach Artikel 28 Absatz 1 JStG, so soll diese gewährt werden können (in Analogie zu Art. 64 Abs. 3 StGB).

140 141 142

Vgl. Erläuterungen zu Art. 19c Abs. 3 E-JStG.

Vgl. Erläuterungen zu Art. 19c Abs. 1 E-JStG.

Vgl. Erläuterungen zu Art. 19a Abs. 2 E-JStG.

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Abs. 2 Die Grundlagen für den Antrag der Vollzugsbehörde entsprechen der Regelung nach Artikel 19c Absatz 2 E-JStG.143 Art. 28 Abs. 3 In Absatz 3 wird neu auf die in den Änderungen des StGB vorgeschlagene Regelung der Fachkommission nach Artikel 91a E-StGB verwiesen.

Art. 32 Abs. 3 dritter Satz Wird die Unterbringung aufgehoben, weil sie ihren Zweck erreicht hat, so wird der verhängte Freiheitsentzug nicht mehr vollzogen (Art. 32 Abs. 2 JStG). Wird die Unterbringung aus einem anderen Grund aufgehoben, so entscheidet die urteilende Behörde, ob und wieweit der Freiheitsentzug noch zu vollziehen ist (Art. 32 Abs. 3 JStG).

Besteht nach Aufhebung der geschlossenen Unterbringung eine Reststrafe, so müsste die Vollzugsbehörde, bevor sie beim Erwachsenengericht eine Verwahrung beantragen kann, von der urteilenden Jugendbehörde entscheiden lassen, ob diese Reststrafe vollzogen werden muss oder nicht. Dies kann zwar bei einer langen Reststrafe sinnvoll sein, bei einer kurzen Reststrafe kann diese Regelung jedoch zu Verzögerungen, Unsicherheiten und Doppelspurigkeiten führen.

In der Vernehmlassung wurde daher verlangt, dass das Erwachsenengericht neben der Aufhebung der noch bestehenden geschlossenen Unterbringung gleich auch darüber befinden solle, ob die Reststrafe noch vollzogen werden muss. Diese Lösung wiederum könnte zwar bei sehr kurzen Reststrafen sinnvoll sein, nicht aber bei längeren Reststrafen. Entscheidet das Erwachsenengericht, dass eine längere Reststrafe in den hier zur Diskussion stehenden Fällen nicht zu vollziehen ist, so wird dem Freiheitsentzug jeder Zweck abgesprochen.144 Wird aber entschieden, dass eine längere Reststrafe vollzogen werden muss, so ist es in diesem Zeitpunkt noch zu früh, um über eine allfällige anschliessende Verwahrung zu entscheiden.

Eine Kompetenz des Erwachsenengerichts, bei Beantragung einer Verwahrung auch über den Vollzug der Reststrafe zu entscheiden, erscheint aus diesen Gründen nicht sinnvoll.

Für diese Fälle wird daher eine neue Regelung in Artikel 32 Absatz 3 E-JStG vorgeschlagen, die sich an Artikel 62c StGB orientiert. Wird die Unterbringung aufgehoben, weil sie ihren Zweck erreicht hat, so wird der Freiheitsentzug nach wie vor nicht mehr vollzogen. Auch in den anderen Fällen soll grundsätzlich die urteilende Behörde über den Vollzug der Reststrafe
entscheiden. Wird jedoch die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung, die aufgrund eines Mordes und zum Schutze Dritter angeordnet wurde, aus einem andern Grund aufgehoben, so soll die Vollzugsbehörde

143 144

Vgl. Erläuterungen zu Art. 19c Abs. 2 E-JStG.

Daher erscheint auch die Lösung, wonach anstelle der Reststrafe gleich die Verwahrung angeordnet werden kann, nicht angezeigt.

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neu zwingend den Vollzug der Reststrafe anordnen. Diese Ausnahme erscheint in den hier zur Diskussion stehenden Fällen angezeigt.

Art. 45 Abs. 2 Gemäss der Terminologie, die mit der Revision vom 19. Dezember 2008145 des ZGB (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) eingeführt wurde, wird die Bezeichnung «Vormundschaftsbehörde» durch «Kindesschutzbehörde» ersetzt.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf den Bund

5.1.1

Änderung des StGB

Der Straf- und Massnahmenvollzug betrifft primär die Kantone, weshalb keine direkten finanziellen und personellen Auswirkungen auf den Bund zu erwarten sind.

5.1.2

Änderung des JStG

Die im JStG vorgeschlagenen Neurungen werden keine personellen Auswirkungen auf den Bund haben.

Das BJ trägt die Verantwortung für das Strafregister-Informationssystem VOSTRA und folglich auch die Kosten für die Weiterentwicklung des Strafregister-Informationssystems. Damit die richterlichen Entscheide im Zusammenhang mit der «vorbehaltenen Verwahrung» auch in VOSTRA (auf der Datenbank und in den Registerauszügen) korrekt abgebildet, auf den bestehenden Meldungen weitergeben und durch die bestehenden Schnittstellen automatisiert erfasst und exportiert werden können, sind verschiedene technische Anpassungen, eine Erweiterung des relevanten eCHStandards, ausgiebige Systemtests und weitere administrative Arbeiten zur Koordination und Projektführung nötig. Soweit diese Arbeiten durch den Informatikleistungserbringer ISC-EJPD im Rahmen eines eigenständigen Projekts ausgeführt werden, entstehen dadurch Weiterentwicklungskosten in der Höhe von 53 000 Franken (Grobschätzung). Diese Ausgaben sind in der Budgetplanung des BJ bereits eingestellt und werden vollständig durch die erwarteten Einnahmen bei den Gebühren für Privat- und Sonderprivatauszüge finanziert.

145

AS 2011 725

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5.2

Auswirkungen auf die Kantone

5.2.1

Änderungen des StGB

Durch die Umsetzung der Motion 17.3572 Guhl («Längeres Prüfungsintervall nach drei negativen Prüfungen der Verwahrung») sollte sich der administrative Aufwand für die Kantone bei der Überprüfung der Verwahrung verringern.

5.2.2

Änderungen des JStG

Die vorgeschlagenen Neuerungen sollten nur ganz wenige Personen betreffen.146 Diese befinden sich heute z. T. in der FU nach Artikel 426 ZGB, die z. T. in einer Strafanstalt vollzogen wird und entsprechende Kosten verursacht.

Die Kosten einer FU werden in der Deutschschweiz in der Regel von den Gemeinden getragen. Allerdings gibt es auch Spezialregelungen, wonach ein Teil der Kosten von der Invalidenversicherung, ein Teil von der Wohnsitzgemeinde und ein Teil vom Kanton übernommen wird.147 In der Romandie übernimmt der Kanton die Kosten der FU.

Die Kosten für die hier vorgeschlagene Verwahrung als Anschlussmassnahme an eine jugendstrafrechtliche Sanktion werden durch die Kantone zu tragen sein; der oder die Verurteilte wird in angemessener Weise an den Kosten des Vollzugs beteiligt (Art. 380 StGB).

Aufgrund der sehr geringen Anzahl der durch die Neuregelung betroffenen Personen sollten sich die Kosten in Grenzen halten und sollten heute bestehende Vollzugsprobleme nicht wesentlich verstärkt werden.148 Die Kosten, welche bei den zahlreichen Schnittstellenpartnern von VOSTRA (Bundesbehörden, alle Justiz- und Vollzugsbehörden schweizweit sowie gegebenenfalls auch Polizeistellen) für die Anpassung ihrer externen Fachanwendungen zur Verarbeitung der neuen Daten anfallen, können nicht beziffert werden.

6

Rechtliche Aspekte

6.1

Verfassungsmässigkeit

6.1.1

Gesetzgebungskompetenz

Nach Artikel 123 BV ist der Bund zur Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts und Strafprozessrechts befugt.

146

In den Jahren 2010­2020 wurden gemäss den Angaben des BFS 12 Jugendliche wegen Mordes verurteilt, von denen 10 die Voraussetzungen für eine Anschlussmassnahme aufgrund der verhängten Sanktion erfüllt hätten (d. h. ohne Berücksichtigung der Gefährlichkeit); vgl. Ziff. 3.1.4.

147 Vgl. Zentralplus vom 23. September 2013, «Weggesperrt», abrufbar unter www.zentralplus.ch/de/news/gesellschaft/27745/Weggesperrt.htm (Stand: 18. Juli 2019).

148 Vgl. Ziff. 3.1.8 zu den in der Vernehmlassung geäusserten Bedenken.

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Die Kantone sind für den Straf- und Massnahmenvollzug zuständig, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht (Art. 123 Abs. 2 BV). Der Bund kann in diesem Gebiet Vorschriften erlassen (Art. 123 Abs. 3 BV), übt sich aber in Zurückhaltung.

6.1.2

Änderung des StGB

Die Änderung des StGB wirft keine besonderen verfassungsmässigen Fragen auf.

6.1.3

Änderung des JStG

6.1.3.1

Grundrechtskonformität

Die zentrale Neuerung liegt darin, dass eine Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB angeordnet werden kann, wenn eine minderjährige Person nach Vollendung des 16. Altersjahres einen Mord begangen hat und am Ende des Vollzugs der jugendstrafrechtlichen Sanktion eine ernsthafte Rückfallgefahr besteht.149 In diesem Zusammenhang stellen sich nicht nur Fragen der Grund- und Völkerrechtskonformität. Das StGB selber enthält auch Grundsätze, insbesondere zur Verhältnismässigkeit von Massnahmen. Darum sind in diesem Zusammenhang auch die Artikel 56, 56a, 74150, 90, 91 und 92 StGB von Interesse. Diese Bestimmungen kommen für die minderjährigen Straftäter und Straftäterinnen aufgrund der Änderungen des JStG auch zur Anwendung.

Die Artikel 90­92 StGB regeln den Vollzug der Massnahmen und enthalten gemeinsame Bestimmungen für Gefangene und Eingewiesene zum Disziplinarrecht und zur Unterbrechung des Vollzugs.

Grundrechte Die Verwahrung nach Artikel 64 StGB tangiert verschiedene verfassungsmässige und menschenrechtliche Garantien wie das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 31 und 10 Abs. 2 BV, Art. 5 EMRK und Art. 9 Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966151 über bürgerliche und politische Rechte [Uno-Pakt II]) sowie menschenwürdige Haftbedingungen, das Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung und das Folterverbot (Art. 10 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK, Art. 1 des Fakultativprogramms zum Übereinkommen vom 10. Dezember 1984152 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und Art. 7 Uno-Pakt II).

Grundsätzlich sind Grundrechtseinschränkungen mit der Verfassung vereinbar, wenn sie sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen, einem überwiegenden öffentlichen Interesse dienen, verhältnismässig sind und den Kerngehalt des Grundrechts wahren 149 150 151 152

Vgl. Ziff. 3.2.1.2.

Vgl. betreffend Art. 74 den nachfolgenden Abschnitt «Grundrechte».

SR 0.103.2 SR 0.105

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(Art. 36 BV). Insbesondere den Verhältnismässigkeitsgrundsatz gilt es zu beachten, wonach ein im öffentlichen Interesse liegender Eingriff in die Grundrechte geeignet, erforderlich und zumutbar sein muss.

Das Verhältnismässigkeitsprinzip von Artikel 36 BV wird in Artikel 56 Absatz 2 StGB für Massnahmen konkretisiert,153 indem bestimmt wird, dass der mit einer Massnahme verbundene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Täters oder der Täterin im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig sein darf.154 Artikel 56a Absatz 1 StGB statuiert den Grundsatz der Subsidiarität im Massnahmenrecht des StGB.155 Er sieht vor, dass von mehreren geeigneten Massnahmen die weniger beschwerende vorzuziehen ist. Das öffentliche Interesse liegt bei einer Verwahrung in der Sicherung der Öffentlichkeit vor weiteren Delikten der betroffenen Person und bemisst sich nach der Wahrscheinlichkeit und der Schwere zukünftiger Straftaten. Es muss eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an Sicherheit und der Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte des Betroffenen vorgenommen werden.156 Darüber hinaus darf der Massnahmenvollzug in keinem Fall gegen das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung verstossen; die Menschenwürde ist zu achten (Art. 10 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK, Art. 7 Uno-Pakt II).

Das StGB greift diese Verfassungsgrundsätze in Artikel 74 StGB explizit auf. Die Menschenwürde des oder der Gefangenen oder Eingewiesenen ist zu achten und seine oder ihre Rechte dürfen nur so weit eingeschränkt werden, als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es erfordern. Dieser allgemeine Verfahrensgrundsatz gilt sowohl für den Straf- als auch für den Massnahmenvollzug.

Fazit Grundrechtseinschränkungen, die mit der Anwendung von Artikel 64 StGB einhergehen, werden ­ wenn es um Erwachsene geht ­ als mit den Grundrechten vereinbar angesehen. Da die Straftäter und Straftäterinnen gemäss den vorgeschlagenen Änderungen des JStG immer Erwachsene sind, wenn die vorbehaltene Massnahme des StGB definitiv angeordnet wird, ergeben sich keine Unterschiede in der Einschätzung, auch wenn es sich um ursprünglich jugendliche Straftäter und Straftäterinnen handelt.

Der Vorbehalt, wonach im Anschluss an eine
geschlossene Unterbringung eine Verwahrung angeordnet werden kann, ist als gesetzlicher Vorbehalt ausgestaltet. Dieser wird wirksam, wenn im Grundurteil aufgrund eines Mordes eine geschlossene Unter-

153 154

BGE 142 IV 105 E. 5.4.

Es war das ausdrückliche Anliegen des Gesetzgebers, den Verhältnismässigkeitsgrundsatz als Voraussetzung der äusserst einschneidenden strafrechtlichen Massnahme explizit zu nennen und zu konkretisieren; siehe dazu Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 1979 S. 2070.

155 BBl 1999 1979 (Fn. 154) S. 2071.

156 Urteil des Bundesgerichts 6B_63/2013 vom 4. März 2013 E. 3.2.1.

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bringung wegen schwerwiegender Gefährdung Dritter angeordnet wird. Der Vorbehalt einer Verwahrung im Anschluss an einen Freiheitsentzug wird durch ein Gericht in einem ordentlichen Strafverfahren gemäss der JStPO im Grundurteil angebracht.157

6.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

6.2.1

Änderung des StGB

Die Änderung des StGB wirft mit Blick auf internationale Verpflichtungen keine besonderen Fragen auf.

6.2.2

Änderung des JStG

6.2.2.1

EMRK und KRK

Die EMRK ist gleichermassen auf Kinder wie auf Erwachsene anwendbar.

Ein anderer im vorliegenden Zusammenhang wichtiger Vertrag ist die KRK.

Bei der Prüfung, ob die vorgeschlagenen Neuerungen mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar sind, werden insbesondere die Verwahrung als freiheitsentziehende Massnahme, der Vorbehalt einer solchen Massnahme im Gesetz bzw. im jugendstrafrechtlichen Grundurteil sowie der Anspruch auf ein unabhängiges Gericht und ein faires Verfahren analysiert.

6.2.2.2

Artikel 5 EMRK: Recht auf Freiheit und Sicherheit

Ein mit Artikel 5 EMRK zu vereinbarender Freiheitsentzug muss gesetzlich vorgesehen sein und die Voraussetzungen eines der in Ziffer l Buchstaben a­f dieses Artikels abschliessend aufgezählten Haftgründe erfüllen.

Basierend auf Artikel 5 Ziffer 4 EMRK muss zudem eine periodische Überprüfung bei freiheitsentziehenden Strafen oder Massnahmen vorgesehen werden. Bei dieser Überprüfung ist gegebenenfalls zu untersuchen, ob sich die persönlichen Eigenschaften (z. B. eine psychische Krankheit) oder die Gefährlichkeit der inhaftierten Person zwischenzeitlich derart geändert haben, dass ein solcher Eingriff mit dem Schutz der Gesellschaft nicht mehr gerechtfertigt werden kann.

Mit den vorgeschlagenen Änderungen des JStG ist eine formell-gesetzliche Grundlage vorhanden, die das Anbringen eines Vorbehalts im jugendstrafrechtlichen Grundurteil und die spätere Anordnung einer Massnahme nach dem StGB ermöglicht.

Im jugendstrafrechtlichen Gerichtsverfahren über die Anlasstat wird die Gefährlichkeit des oder der Jugendlichen geprüft. Wird bei einem oder einer Jugendlichen eine 157

Vgl. Ziff. 3.2.1.4 und 3.2.1.5.

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Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung angeordnet, weil er oder sie eine schwerwiegende Gefahr für Dritte darstellt, so besteht ein gesetzlicher Vorbehalt für die anschliessende Anordnung einer Verwahrung. Die Möglichkeit der anschliessenden Verwahrung ist in diesem Fall im Grundurteil mitenthalten. Wird ein Jugendlicher oder eine Jugendliche, der oder die eine schwerwiegende Gefahr für Dritte darstellt, zu einem Freiheitsentzug allein verurteilt, so wird der Vorbehalt einer Verwahrung gegebenenfalls im Grundurteil gemäss dem JStG ausdrücklich ausgesprochen. Wenn die Gefährlichkeit nach dem Vollzug der jugendstrafrechtlichen Sanktion im nachträglichen Verfahren nach den einschlägigen Voraussetzungen des StGB und den Regeln der StPO bestätigt wird, führt der Vorbehalt zur endgültigen Anordnung der Massnahme.

Da das Grundurteil die Grundlage der definitiven Anordnung einer vorbehaltenen Massnahme bildet, «aktualisiert» die spätere Entscheidung den (gesetzlichen oder ausdrücklichen) Vorbehalt. Damit wird auch das «ne bis in idem»-Prinzip berücksichtigt (Art. 9 BV, Art. 4 Protokoll Nr. 7 vom 22. November 1984158 zur EMRK und Art. 14 Ziff. 7 Uno-Pakt II). Das im nachträglichen Verfahren entscheidende Gericht ist an die tatsächliche und rechtliche Beurteilung der Anlasstat durch die urteilende jugendstrafrechtliche Behörde gebunden.

Demnach kann in Bezug auf die vorbehaltene Verwahrung gemäss dem E-JStG von einem ausreichenden Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung aufgrund einer Anlasstat und dem Freiheitsentzug durch die Anordnung einer Verwahrung ausgegangen werden. Schliesslich wird die Verwahrung von Amtes wegen jährlich überprüft und die betroffene Person kann jederzeit ein Entlassungsgesuch stellen (Art. 64b StGB).

Der E-JStG sieht den Vorbehalt einer Verwahrung für minderjährige Personen vor, die einen Mord begangen haben und zum Zeitpunkt des Urteils eine schwerwiegende Gefahr für Dritte darstellen. Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung159 bei jugendlichen Straftätern und Straftäterinnen kann zum Zeitpunkt des Urteils die definitive Gefährlichkeitsprognose, welche für die Anordnung einer Verwahrung notwendig ist, nicht gestellt werden. Diese muss in ein zukünftiges Verfahren verlagert werden. Das Hinausschieben der endgültigen Bewertung der
Gefährlichkeit ist somit zwingend notwendig für die Qualität der zu treffenden Prognose.

Das jugendstrafrechtliche Grundurteil legt eine hinreichende Basis für die spätere Anordnung des Vollzugs, indem es über den Vorbehalt eine schwerwiegende Gefährdung Dritter durch den Jugendlichen oder die Jugendliche feststellt. Der Unterschied zur im nachträglichen Entscheid angeordneten Verwahrung liegt darin, dass die Gefährlichkeit der betroffenen Person zwar im Moment der Entscheidung mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden kann, aber nicht für den Zeitraum nach dem Ende der zu vollziehenden jugendstrafrechtlichen Sanktion. Das Gericht, das später über die Anordnung definitiv zu entscheiden hat, ist an die Feststellungen und die

158 159

SR 0.101.07 Vgl. Ziff. 3.2.1.6

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rechtliche Beurteilung der Tat durch das (jugendstrafrechtliche) Sachgericht gebunden. Es trifft lediglich hinsichtlich der Gefährlichkeit der betroffenen Person eigene, aktuelle Feststellungen.

Die spätere Anordnung einer Massnahme greift damit nicht zu Ungunsten der betroffenen Person in das frühere Urteil (Grundurteil) ein. Bei der vorbehaltenen Massnahme ist der erforderliche hinreichende kausale Zusammenhang zwischen Urteil und Freiheitsentzug somit gegeben. Der zeitlich später angeordnete Entscheid stellt kein neues Urteil dar, das den Kausalzusammenhang durchbricht, sondern ist ein Teil der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtsfolgen einer Straftat. Der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug hält damit den Anforderungen von Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a EMRK stand, weil er nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht erfolgt.160 Eine vorbehaltene Massnahme ist für die betroffene Person weniger einschneidend als die im Urteil definitiv angeordnete Verwahrung. Sie erfolgt, um den Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen so klein wie möglich zu halten.

6.2.2.3

Art. 6 EMRK: Anspruch auf ein unabhängiges Gericht

Die Frage der Vereinbarkeit der JStPO mit dem Anspruch auf einen unabhängigen Richter oder eine unabhängige Richterin im Sinne von Artikel 6 Ziffer 1 EMRK stellte sich bereits bei der Vereinheitlichung der Jugendstrafprozessordnung.

Die JStPO stellt es den Kantonen frei, den Jugendstrafprozess nach Jugendrichteroder Jugendanwaltsmodell zu organisieren (Art. 8 Abs. 1 JStPO). Das führt dazu, dass in Kantonen, die dem Jugendrichtermodell folgen, ein und dieselbe Person für die Untersuchung wie auch für die richterliche Beurteilung des Kindes oder des oder der Jugendlichen zuständig ist (Art. 6 Abs. 1 und 2 JStPO), wobei das Gesetz hier eine Einschränkung vorsieht. Gemäss Artikel 21 JStPO sind diejenigen Kantone, die dem Jugendrichtermodell folgen, verpflichtet, eine Jugendstaatsanwaltschaft vorzusehen.

Diese hat die Aufgabe, Anklage vor dem Jugendgericht zu erheben, nachdem die Untersuchung durch einen Jugendrichter oder eine Jugendrichterin geführt worden ist (Art. 33 Abs. 2 Bst. a JStPO). Im Jugendanwaltsmodell hingegen wird die Anklage vor dem Jugendgericht durch dieselbe Behörde vertreten, die auch die Untersuchung geführt hat (Art. 6 Abs. 4, 33 Abs. 2 Bst. b JStPO).

Steht ein Freiheitsentzug von mehr als drei Monaten oder eine stationäre Schutzmassnahme im Raum, ist es sachgerecht, dass die Anklage vor dem Jugendgericht vom Jugendanwalt oder von der Jungendanwältin bzw. vom Jugendstaatsanwalt oder von

160

In Bezug auf die gesetzlich vorbehaltene Anordnung der Verwahrung im Anschluss an eine geschlossene Unterbringung vgl. BGE 145 IV 167, in dem das Bundesgericht feststellt, dass bei der Umwandlung einer stationären therapeutischen Massnahme in eine Verwahrung (Art. 62c Abs. 4 i. V. m. Art. 64 Abs. 1 StGB) in der Regel ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und dem späteren Freiheitsentzug besteht, sodass keine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 Bst. a EMRK vorliegt.

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der Jugendstaatsanwältin persönlich vertreten wird. Dies wird in Fällen einer vorbehaltenen Verwahrung regelmässig der Fall sein, muss dieser doch ein schwerwiegendes Delikt als Anlasstat vorangegangen sein.161 Ausserdem kann der oder die urteilsfähige beschuldigte Jugendliche oder der gesetzliche Vertreter oder die gesetzliche Vertreterin gemäss Artikel 9 JStPO innert zehn Tagen seit Eröffnung des Strafbefehls bzw. Zustellung der Anklageschrift verlangen, dass der Jugendrichter oder die Jugendrichterin, der oder die bereits die Untersuchung geführt hat, im Hauptverfahren nicht mitwirkt. Diese Bestimmung zielt ausschliesslich auf das Jugendrichtermodell ab. Sie bezweckt, das Recht auf einen unbefangenen und unabhängigen Richter oder eine unbefangene und unabhängige Richterin umzusetzen (Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Dennoch besteht der Vorbehalt der Schweiz zur KRK weiterhin, wonach das Jugendstrafverfahren keine organisatorische und personelle Trennung zwischen untersuchenden und urteilenden Behörden sicherstellen muss (Art. 40 KRK Vorbehalt).

6.2.2.4

Art. 37 KRK

Als Kinder gemäss der KRK werden Menschen unter 18 Jahren definiert (Art. 1 KRK). Das Jugendstrafrecht kommt gegenüber Personen, die vor der Vollendung des 18. Altersjahres eine Straftat begangen haben, zur Anwendung (Art. 1 Abs. 1 Bst. a JStG). Das Jugendstrafrecht kennt als Höchststrafe für über 16-jährige Täter und Täterinnen einen Freiheitsentzug von bis zu 4 Jahren (Art. 25 Abs. 2 JStG). Das Jugendstrafrecht erstreckt sich in Bezug auf den Vollzug einer jugendstrafrechtlichen Sanktion über das 18. Altersjahr der betroffenen Person hinaus.

Gemäss Artikel 37 Buchstaben a und b KRK sollen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass kein Kind der Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen und keinem Kind die Freiheit rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird. Für Straftaten, die von Personen vor Vollendung des 18. Lebensjahrs begangen worden sind, darf weder die Todesstrafe noch eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit vorzeitiger Entlassung verhängt werden. Festnahme, Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe darf bei einem Kind im Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden.

Bei der vorbehaltenen Verwahrung für jugendliche Straftäter und Straftäterinnen handelt es sich nicht um eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Es stellt sich die Frage, ob die KRK in diesem Fall überhaupt zur Anwendung kommt, weil die jugendlichen Täter und Täterinnen im Falle einer Anordnung einer vorbehaltenen therapeutischen Massnahme oder Verwahrung immer bereits im Erwachsenenalter sind. Die Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts werden von Amtes wegen jährlich überprüft und die betroffene Person kann jederzeit ein Entlassungsgesuch stellen (Art. 62d und 64b StGB).

161

Vgl. Ziff. 3.2.1.2.

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