05.078 Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) vom 9. November 2005

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen einen Entwurf zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten mit dem Antrag auf Zustimmung.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2000

P

00.3064

Opferhilfegesetz (N 14.06.2000, Leuthard)

2002

P

01.3729

Verjährung von Ansprüchen gemäss Opferhilfegesetz (N 22.03.2002, Jossen-Zinsstag)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. November 2005

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Samuel Schmid Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2004-0111

7165

Übersicht Das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten ist seit dem 1. Januar 1993 in Kraft. Es stützt sich auf eine Verfassungsbestimmung, die 1984 auf der Grundlage eines Gegenentwurfs zu einer Volksinitiative entstanden ist.

Das Gesetz war in den Jahren 1993 bis 1998 Gegenstand mehrerer Evaluationen.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigten, dass die Opferhilfe einem tatsächlichen Bedürfnis entspricht und dass sich das Gesetz in seinen Grundzügen bewährt hat. Die Ausgaben der Kantone für die Opferhilfe betragen heute etwa 30 Millionen Franken jährlich.

Die Evaluationen haben auch die Notwendigkeit gezeigt, das Gesetz zu revidieren: ­

Es stellt zahlreiche Auslegungsprobleme.

­

Gewisse Punkte sind lückenhaft geregelt oder inkohärent.

­

Wichtige Fragen sind bloss auf Verordnungsstufe geregelt, obschon sie besser im Gesetz selbst enthalten wären.

­

Für die Kantone ist es dringlich, die Kosten einzugrenzen, die sich aus Genugtuungszahlungen ergeben; Genugtuungen waren ursprünglich als subsidiäre, «ausserordentliche» Leistungen gedacht, doch haben sie sich auf Grund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu «ordentlichen» Leistungen gewandelt.

­

Die Verwirkungsfrist für die Einreichung einer Entschädigungs- oder Genugtuungsforderung ist wegen ihrer Kürze problematisch.

­

Die verschiedenen Leistungen der Opferhilfe sind ungenügend von einander abgegrenzt und überschneiden sich teilweise.

­

Zudem sind die Lasten unter den Kantonen nicht angemessen aufgeteilt.

Das geltende Gesetz beruht auf drei Pfeilern: Beratung, finanzielle Leistungen und besonderer Schutz des Opfers im Strafverfahren. Dieses Konzept wird beibehalten.

Es ist vorgesehen, die Bestimmungen zum Schutz des Opfers im Strafverfahren zu einem späteren Zeitpunkt in die Schweizerische Strafprozessordnung, die zurzeit erarbeitet wird, einzufügen.

Der Gesetzesentwurf sieht eine Totalrevision vor und zeichnet sich insbesondere durch folgende Elemente aus: ­

Er bestätigt den subsidiären Charakter der Opferhilfe des geltenden Gesetzes.

­

Er verbessert die Struktur und die Lesbarkeit des Gesetzes, definiert wichtige Begriffe, beseitigt gewisse Inkohärenzen und Lücken, die sich in der Praxis gezeigt haben.

­

Er behält das System der freien Wahl der Beratungsstellen bei.

7166

­

Er grenzt die längerfristige Hilfe der Beratungsstellen besser ab von der Entschädigung. Diese beiden Massnahmen überschneiden sich heute teilweise. Nach dem Entwurf wird so lange längerfristige Hilfe gewährt, bis sich der Gesundheitszustand des Opfers stabilisiert hat und die übrigen Folgen der Straftat soweit möglich beseitigt oder ausgeglichen sind. Die Entschädigung deckt den Schaden, nachdem sich der Gesundheitszustand stabilisiert hat; dazu gehört auch Haushaltschaden, wenn er zu effektiven Einbussen führt.

­

Er privilegiert die Hilfe, die von den Beratungsstellen erbracht wird, gegenüber andern Leistungen (der Kreis der Anspruchsberechtigten für die vollständige Kostenübernahme ist bei der längerfristigen Hilfe grösser als jener im Rahmen der Entschädigung; bei Straftaten im Ausland werden Leistungen der Beratungsstellen erbracht, jedoch keine Entschädigungen oder Genugtuungen ausgerichtet).

­

Er führt einen Höchstbetrag der Genugtuungsleistungen ein. Der Bundesrat schlägt vor, den Maximalbetrag auf 70 000 Franken für Opfer und auf 35 000 Franken für Angehörige festzulegen.

­

Er verzichtet auf Entschädigung und Genugtuung bei Straftaten im Ausland; die Opfer und ihre Angehörigen mit Wohnsitz in der Schweiz haben aber Anspruch auf die Leistungen der Beratungsstellen.

­

Er sieht eine längere Frist vor für die Einreichung von Begehren um Entschädigung und Genugtuung; die allgemeine Frist wird von zwei auf fünf Jahre verlängert, die Frist für minderjährige Opfer schwerer Straftaten gegen die physische oder sexuelle Integrität wird zusätzlich verlängert.

­

Er vereinheitlicht die Voraussetzungen, unter denen Entschädigung und Genugtuung wegen des Verhaltens des Opfers herabgesetzt werden können, und sieht die Möglichkeit vor, auf diese Leistungen ganz zu verzichten, was nach heutigem Recht nicht vorgesehen ist.

­

Er ermächtigt den Bundesrat, die Modalitäten des Kostenausgleichs für Soforthilfe und längerfristige Hilfe an Personen mit ausserkantonalem Wohnsitz unter den Kantonen zu regeln, wenn entsprechende kantonale Vorschriften fehlen.

7167

Inhaltsverzeichnis Übersicht

7166

1 Grundzüge der Vorlage 7170 1.1 Ausgangslage 7170 1.1.1 Das Gesetz von 1991 und die beiden Revisionen von 1997 und 20017170 1.1.2 Evaluationen und Statistik 7172 1.1.3 Ergebnisse des Vorverfahrens 7176 1.1.3.1 Vorentwurf der Expertenkommission 7176 1.1.3.2 Vernehmlassung 2003 7179 1.1.3.3 Materielle Vorentscheide des Bundesrates 7182 1.2 Die beantragte Neuregelung 7182 1.2.1 Ziele der Reform 7182 1.2.2 Regelungskonzept 7183 1.2.3 Schwerpunkte 7185 1.3 Revisionen im Umfeld 7190 1.3.1 Vereinheitlichung des Strafprozessrechts 7190 1.3.2 Häusliche Gewalt 7190 1.3.3 Menschenhandel 7190 1.4 Rechtsvergleich 7191 1.4.1 Frankreich 7191 1.4.2 Deutschland 7193 1.4.3 Österreich 7193 1.4.4 Italien 7194 1.4.5 Grossbritannien 7195 1.4.6 Spanien 7196 1.4.7 Dänemark, Finnland und Schweden 7197 1.4.8 Verhältnis zum Recht der EU 7198 1.5 Umsetzung 7199 1.6 Parlamentarische Vorstösse 7200 1.6.1 Vorstösse zum Opferhilfegesetz 7200 1.6.2 Weitere Vorstösse 7201 2 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln 2.1 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen 2.2 2. Kapitel: Hilfe der Beratungsstellen und Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter 2.2.1 1. Abschnitt: Beratungsstellen 2.2.2 2. Abschnitt: Leistungen der Beratungsstellen 2.2.3 3. Abschnitt: Straftat im Ausland 2.2.4 4. Abschnitt: Kostenverteilung zwischen den Kantonen 2.3 3. Kapitel: Staatliche Entschädigung und Genugtuung 2.3.1 1. Abschnitt: Entschädigung 2.3.2 2. Abschnitt: Genugtuung 2.3.3 3. Abschnitt: Gemeinsame Bestimmungen 2.4 4. Kapitel: Befreiung von Verfahrenskosten 2.5 5. Kapitel: Finanzielle Leistungen und Aufgaben des Bundes 7168

7203 7203 7208 7208 7211 7214 7215 7216 7216 7220 7228 7233 7234

2.6 6. Kapitel: Besonderer Schutz und besondere Rechte im Strafverfahren 2.7 7. Kapitel: Schlussbestimmungen

7236 7237

3 Auswirkungen 3.1 Auswirkungen auf den Bund 3.2 Auswirkungen auf die Kantone und die Gemeinden 3.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft 3.4 Andere Auswirkungen

7239 7239 7239 7240 7241

4 Verhältnis zur Legislaturplanung und zum Finanzplan

7241

5 Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 5.2.1 Europäisches Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 24. November 1983 5.2.2 Weitere für die Schweiz verbindliche Abkommen mit Bezug zur Opferhilfe 5.3 Erlassform 5.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 5.5 Vereinbarkeit mit dem Subventionsgesetz 5.6 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

7241 7241 7242 7242 7243 7244 7244 7244 7245

Abkürzungsverzeichnis der zitierten Dokumente

7246

Anhang

7247

Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Entwurf)

7251

7169

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Das Gesetz von 1991 und die beiden Revisionen von 1997 und 2001

Nach drei in den siebziger Jahren eingereichten parlamentarischen Vorstössen lancierte die Zeitschrift «Der Beobachter» am 18. September 1980 eine Volksinitiative mit der Forderung, dass sich der Staat um das Schicksal der Opfer von Straftaten kümmere1. Das Parlament entschloss sich auf Antrag des Bundesrates, ihr mit einem weiter gefassten Gegenvorschlag entgegenzutreten2. Der von ihm vorgeschlagene Artikel 64ter wurde in der Volksabstimmung vom 2. Dezember 1984 von einer grossen Mehrheit des Volkes und von allen Ständen angenommen. Bei der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahre 1998 wurde die Formulierung der Opferdefinition des Gesetzes weitgehend übernommen und das Verfassungsrecht in diesem Sinne nachgeführt3.

Am 1. Januar 1993 trat das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG)4 in Kraft. Am gleichen Tag ist für die Schweiz auch das Europäische Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten rechtsgültig geworden5.

Das geltende Opferhilfegesetz enthält eine Mindestregelung; es legt Grundsätze fest.

Es fixiert gewisse Richtlinien zu Handen der Kantone, belässt ihnen aber bei der Umsetzung des Gesetzes einen gewissen Handlungsspielraum6. Die Schweizerische Verbindungsstellenkonferenz OHG (SVK-OHG), die sich mit der Zusammenarbeit auf interkantonaler Ebene befasst, hat 1998 Empfehlungen zur einheitlichen Anwendung des OHG in den Kantonen erarbeitet7.

Das Gesetz ist auf den drei folgenden Pfeilern aufgebaut: 1.

1

2

3 4 5 6 7

Beratung (2. Abschnitt OHG): Die Kantone sorgen dafür, dass den Opfern fachlich selbstständige öffentliche oder private Beratungsstellen zur Verfügung stehen (Art. 3 OHG). Diese Stellen leisten und vermitteln den Opfern unentgeltlich medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe und informieren über die Hilfe an Opfer. Die Beratungsstellen gewährleisten jederzeit Soforthilfe und leisten Hilfe über längere Zeit hin-

Sie hatte folgenden Wortlaut: «Der Bund erlässt ein Gesetz, das die Voraussetzungen regelt, unter denen der Staat die Opfer von vorsätzlichen Straftaten gegen Leib und Leben angemessen entschädigt.» Der Gegenvorschlag des Parlamentes lautete: «Der Bund und die Kantone sorgen dafür, dass die Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben Hilfe erhalten. Dazu gehört eine angemessene Entschädigung, wenn die Opfer infolge der Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.» Vgl. BBl 1984 II 805 sowie Botschaft Volksinitiative, S. 893.

Art. 124 BV.Vgl. Botschaft BV, S. 341.

SR 312.5 SR 0.312.5. Vgl. Botschaft OHG, S. 1001.

Botschaft OHG, S. 971.

Eine überarbeitete Fassung ist anfangs des Jahres 2002 herausgegeben worden (vgl. www.opferhilfe-schweiz.ch unter Gesetzliche Grundlagen).

7170

weg, falls sich dies als notwendig erweist. Das Opfer kann eine beliebige Beratungsstelle wählen.

2.

Schutz und Rechte des Opfers im Strafverfahren (Abschnitte 3 und 3a OHG): Die Behörden wahren die Persönlichkeitsrechte des Opfers in allen Abschnitten des Strafverfahrens (Art. 5 OHG). Zu diesem Zweck enthält das Gesetz eine Reihe bundesrechtlicher Vorschriften zum kantonalen Strafprozessrecht.

3.

Entschädigung und Genugtuung (4. Abschnitt OHG): Die Opfer einer in der Schweiz verübten Straftat können im Tatortkanton Entschädigung und Genugtuung geltend machen (Art. 11 Abs. 1 OHG). Dies gilt auch für betroffene Personen mit Wohnsitz im Ausland. Opfer mit Schweizer Bürgerrecht und Wohnsitz in der Schweiz, die im Ausland Opfer einer Straftat geworden sind, können Entschädigung und Genugtuung nach diesem Gesetz geltend machen, wenn sie vom ausländischen Staat keine genügende Leistung erhalten (Art. 11 Abs. 3 OHG). In beiden Fällen besteht nur dann Anspruch auf eine Entschädigung, wenn die Einnahmen des Opfers einen bestimmten Betrag nicht überschreiten (Art. 12 Abs. 1 OHG). Im Gegensatz zur Entschädigung kann die Genugtuung unabhängig von den Einnahmen des Opfers ausgerichtet werden, wenn dieses schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen (Art. 12 Abs. 2 OHG). Die Gesuche um Entschädigung und Genugtuung müssen innert zweier Jahre nach der Straftat eingereicht werden; andernfalls verwirken die Ansprüche (Art. 16 OHG).

Die Angehörigen werden in ihrer rechtlichen Stellung dem Opfer angenähert (Art. 2 Abs. 2 OHG).

Ausserdem sieht das Gesetz Finanzhilfen des Bundes an die Ausbildung des Personals der Beratungsstellen und anderer mit der Hilfe an Opfer betrauter Personen vor.

Für die ersten sechs Jahre nach Inkrafttreten war eine Aufbauhilfe des Bundes an die Kantone vorgesehen. Zusätzliche Finanzhilfen sind bei ausserordentlichen Ereignissen möglich (Art. 18 OHG).

Seit 1993 hat das Opferhilfegesetz zwei Revisionen erfahren. Die erste Revision erfolgte 19978 infolge der Änderung des Bundesgesetzes vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG)9. Geändert wurden lediglich die Artikel 12­14 zur Vereinfachung der Ermittlung des Einkommens und der Entschädigung.

Die zweite Revision datiert vom 23. März 200110 und geht auf eine von Nationalrätin Christine Goll 1994 eingereichte parlamentarische Initiative zurück11. Die Initiative bezweckte einen verbesserten Schutz von Kindern, die Opfer eines Sexualdelikts geworden sind. Die eidgenössischen Räte folgten dieser Initiative, indem sie dem Opferhilfegesetz einen Abschnitt 3a mit dem Titel «Besondere Bestimmungen zum

8 9 10

11

AS 1997 2952 ff., 2959; BBl 1997 I 1199 SR 831.30 AS 2002 2997, vgl. Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vom 23. August 1999, BBl 2000 3744, sowie Stellungnahme des Bundesrats vom 20. März 2000, BBl 2000 3766.

Parlamentarische Initiative 94.441 vom 16.12.1994. Sexuelle Ausbeutung von Kindern.

Verbesserter Schutz.

7171

Schutz der Persönlichkeit von Kindern als Opfer im Strafverfahren» hinzufügten.

Diese Bestimmungen sind am 1. Oktober 2002 in Kraft getreten.

1.1.2

Evaluationen und Statistik

Die Kantone bezogen nach dem Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes über sechs Jahre hinweg Bundesbeiträge für den Aufbau der Opferhilfe (Art. 18 Abs. 2 OHG).

Diese Finanzhilfen betrugen zwischen 4 und 5 Millionen Franken pro Jahr. Im Gegenzug hatten die Kantone über die Verwendung dieser Mittel Rechenschaft abzulegen und dazu dem Bundesamt für Justiz zu Handen des Bundesrats alle zwei Jahre über die Verwendung der Finanzhilfe Bericht zu erstatten (Art. 11 der Verordnung vom 18. November 1992 über die Hilfe an Opfer von Straftaten; OHV12). In Ergänzung zu diesen Berichten liess das Bundesamt für Justiz von verwaltungsexternen Sachverständigen Studien über besondere Aspekte der Opferhilfe erarbeiten13. Gestützt auf diese Unterlagen wurden Vollzug und Wirksamkeit der Opferhilfe in den Jahren 1993­1998 vom Bundesamt für Justiz evaluiert. Es hat die drei Evaluationsberichte an den Bundesrat in den Jahren 1996, 1998 und 2000 veröffentlicht14.

Insgesamt zeigten die Ergebnisse15, dass sich das Gesetz hinsichtlich seiner Grundsätze bewährt und zu einer wirksamen Hilfe geführt hat. Die Evaluation brachte aber auch verschiedene Ungereimtheiten ans Tageslicht und offenbarte, dass diverse Bestimmungen den Bedürfnissen der Praxis nicht entsprechen. Ausserdem erwies sich, dass die kantonalen Aufwendungen ständig zunahmen. Die nicht am Einkommen orientierten Genugtuungen blieben nicht, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, auf Härtefälle beschränkt16, sondern gewannen immer mehr an Bedeutung, nachdem das Bundesgericht im Jahre 1995 entschieden hatte, es bestehe ein Rechtsanspruch auf Genugtuung, wenn die Voraussetzungen nach Artikel 12 Absatz 2 OHG erfüllt 12 13

14

15 16

SR 312.51 Folgende Themen sind bearbeitet worden: ­ «Le point de vue des victimes sur l'application de la LAVI», Prof. Robert Roth, Yann Boggio, Christophe Kellerhals, Joëlle Mathey, Marc Maugué, Université de Genève, CETEL, Centre d'Etude, de Technique et d'Evaluation Législatives, Faculté de droit, Août 1995 (erste CETEL-Studie).

­ «La protection de la victime dans la procédure pénale», Prof. Robert Roth et Christophe Kellerhals, David Leroy, Joëlle Mathey, assistants avec la collaboration der Marc Maugué, assistant, Université de Genève, CETEL, Centre d'Etude, de Technique et d'valuation Législatives, Faculté de droit, Octobre 1997 (zweite CETEL-Studie).

­ «Anfangsinformation und -betreuung von Opfern (Soforthilfe): Das Zusammenspiel von Polizei, Beratungsstellen und weiteren AkteurInnen», 3. Teilevaluation zu Vollzug und Wirksamkeit des Opferhilfegesetzes, lic. phil. I Ursula Fiechter, Dr. rer. soc.

Priska Gisler, lic. phil I Sonja Kundert, lic. phil, I Claudia Riboni, DAB, Das Andere Büro, Sozialforschung ­ Beratung ­ Kommunikation; Zürich, November 1999 (DABStudie).

­ «Die Rechtsprechung zum Opferhilfegesetz in den Jahren 1993­1998», Prof. Dr. iur.

Karl-Ludwig Kunz und cand. iur. Philipp Keller, Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Bern Dezember 1999 (Studie Kunz).

Erster, Zweiter und Dritter Opferhilfebericht. Die Berichte des Amtes und die externen Studien können beim Sekretariat der Abteilung Rechtsetzungsprojekte und -methodik, Bundesamt für Justiz, 3003 Bern bezogen oder im Internet eingesehen werden (www.bj.admin.ch unter Themen ­ Gesellschaft ­ Opferhilfe ­ Publikationen).

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 13.

Vgl. BBl 1990 II 991

7172

seien17. 1998 war nur in 10 Prozent der Fälle ausschliesslich eine Entschädigung ausgerichtet worden; 64 Prozent der ausgerichteten Leistungen waren reine Genugtuungen, ohne gleichzeitig ausgerichtete Entschädigung18.

Im Rahmen der letzten Evaluation waren die Kantone eingeladen worden, sich zur Notwendigkeit einer Revision des OHG zu äussern. Sie kamen mehrheitlich zum Schluss, dass sich eine Revision aufdränge. Dabei wurden insbesondere folgende Revisionsanliegen vorgebracht19: ­

Verbesserung der Gesetzessystematik und klare Abgrenzung der verschiedenen Dienstleistungsangebote;

­

Präzisierung des Opferbegriffs und Überprüfung des Geltungsbereichs des Gesetzes (z.B. hinsichtlich der Opfer des Strassenverkehrs);

­

Überdenken der Opferhilfe im Zusammenhang mit dem Ausland;

­

Vereinfachung der Bemessung der Entschädigungen und Überdenken der Genugtuung (Abschaffung oder Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen, evtl. mit Einführung eines Maximalbetrags);

­

Regelung der Opferhilfe bei Katastrophenfällen;

­

Überprüfung der Aufteilung der Beratungskosten zwischen Wohnkanton, Beratungskanton und Tatortkanton und der Lastenverteilung zwischen Bund und Kantonen;

­

Überprüfung der als zu kurz erachteten Verwirkungsfrist;

­

Überarbeitung bestimmter Aspekte des Strafverfahrens;

­

Berücksichtigung verschiedener Anliegen (z.B. Aufbau einer landesweiten Dokumentation zur Rechtsprechung, Förderung der Mediation zwischen Opfer und Täter bzw. Täterin, usw.).

Auch die Konferenzen der Vorsteherinnen und Vorsteher der kantonalen Finanzdirektionen, der kantonalen Justiz- und Polizeidirektionen und der kantonalen Sozialdirektionen brachten ihre Anliegen zu einer eventuellen Gesetzesrevision ein.

Auf Grund dieser Ergebnisse schloss das Bundesamt für Justiz im dritten Evaluationsbericht an den Bundesrat vom Mai 2000, das Gesetz sei einer umfassenden Revision zu unterziehen. Kurz darauf setzte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) eine Expertenkommission ein und betraute sie mit den entsprechenden Vorarbeiten (s. Ziff. 1.1.4.1).

Seit dem Jahre 2000 wird vom Bundesamt für Statistik in Zusammenarbeit mit den Kantonen die Opferhilfestatistik20 geführt. Es werden ähnliche Daten erhoben wie in den Evaluationen in den Jahren 1993­1998. Zurzeit liegen die Zahlen für die Jahre 2000­2004 vor. Sie bestätigten zunächst die Feststellungen in den Evaluationen, lassen in den letzten Jahren aber eine Tendenz zur Stabilisierung erkennen:

17 18 19 20

BGE 121 II 369 ff., E 3 c. S. 373.

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 4.4, Darstellung 4D.

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 15.1 und 15.2.

Opferhilfestatistik, wichtigste Kennzahlen: www.bfs.admin.ch (unter Themen ­ Rechtspflege ­ Opfer von Straftaten).

7173

­

Opferhilfe wurde vor allem von Frauen beansprucht. Ihr Anteil bei den Beratungen machte fast drei Viertel aus, bei den Entschädigungen und Genugtuungen fast zwei Drittel21. Zahlreiche Opfer waren von einer Straftat gegen die sexuelle Integrität betroffen. Im Gegensatz dazu war der Anteil der Opfer des Strassenverkehrs niedrig und betrug bei der Beratung im gesamtschweizerischen Durchschnitt etwas über 8 Prozent22.

­

Die Zahl der Personen, die sich an eine Beratungsstelle wandten, stieg in den letzten Jahren weiterhin an. 1998 wurden 11 165 Personen23 gezählt, im Jahre 2001 waren es fast doppelt so viele (20 269 Personen). Seither hat sich die Zunahme der Zahl der Beratungsfälle allerdings deutlich verlangsamt (2002: 22 554, 2003: 23 948, 2004: 24 709 Beratungsfälle24).

­

Die Zahl der zugesprochenen Entschädigungen scheint sich zwischen 150 und 200 pro Jahr zu stabilisieren. 1998 waren 169 Entschädigungen (mit oder ohne gleichzeitige Genugtuung) zugesprochen worden. Die Opferhilfestatistik für die Jahre 2000­2004 weist zwischen 164 und 207 Entschädigungen aus25.

­

Die Zahl der ausgerichteten Genugtuungen ist zunächst nochmals stark angestiegen. Im Jahr 1998 war in 302 Fällen eine Genugtuung ausgerichtet worden. In den folgenden Jahren hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. In den Jahren 2001 bis 2003 war eine Stabilisierung zu beobachten: Pro Jahr wurden etwas mehr als 600 Genugtuungen ausgerichtet (2001: 658, 2002: 634, 2003: 631 Genugtuungen)26, im Jahre 2004 sind über 700 Genugtuungen gewährt worden (728);

­

Die kantonalen Aufwendungen haben zunächst weiter zugenommen, sind in den zwei letzten erfassten Jahren aber etwas gesunken. Der Aufwand für die Entschädigungen betrug 1998 1 Million Franken und ist in den Jahren 2002 und 2003 auf über 3 Millionen angestiegen; im Jahre 2004 ist er wieder auf etwas mehr als zwei Millionen Franken gesunken. Der Aufwand für die Genugtuungen, der 1998 noch 6,5 Millionen betrug, schnellte im Jahre 2002 auf 8 Millionen Franken und sank im Jahr 2003 auf 7,1 Millionen Franken; 2004 betrug er knapp 7,1 Millionen Franken27.

Nicht erfasst von der Opferhilfestatistik wird der finanzielle Aufwand der Kantone im Bereich Beratung. Weil die Expertenkommission neue Abgeltungen für die Hilfe von Beratungsstellen vorgeschlagen hatte (Art. 25 VE), führte das Bundesamt für Justiz bei den Kantonen parallell zum Vernehmlassungsverfahren eine Umfrage durch. Sie zeigte, dass der jährliche Aufwand von 13,6 Millionen (1998) auf 22 Millionen Franken im Jahre 2003 angestiegen ist28.

21 22 23 24 25 26 27 28

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 10. 2 und 11.3 und Opferhilfestatistik.

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 12.4 und Opferhilfestatistik Dritter Opferhilfebericht , Ziff. 10.1 Opferhilfestatistik Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 11.4 und Opferhilfestatistik Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 11.5 und Opferhilfestatistik Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 5.4.4 und Opferhilfestatistik Vgl. die Zahlen im Anhang, Tabelle 1. Für 1998 und früher: vgl. Dritter Opferhilfebericht, Darstellung 5B S. 38.

7174

Anhand dieser verschiedenen Quellen kann folgende Zusammenstellung über den Aufwand der Kantone im Bereich Opferhilfe in den Jahren 1993­2003 erstellt werden (in Mio. Fr., gerundet).

Jahr

Beratung inkl. Infrastruktur29

Entschädigungen

Genugtuungen

Total

1993

3,55

0,10

0,14

3,79

1994

6,19

0,83

0,91

7,93

1995

7,76

1,02

1,75

10,53

1996

9,12

1,79

2,99

13,90

1997

11,17

1,08

3,40

15,65

1998

13,60

1,07

6,45

21,12

1999

16,33

(Keine Daten)

(Keine Daten)

(Keine Daten)

2000

17,97

1,43

6,97

26,37

2001

20,06

1,60

7,97

29,63

2002

22,14

3,49

8,09

33,72

2003

(Keine Daten)

3,22

7,19

(Keine Daten)

29

Bruttoaufwand. In den Jahren 1993­1996 zahlte der Bund jährliche Aufbauhilfen zwischen 3,9 und 5 Mio. Franken.

7175

1.1.3

Ergebnisse des Vorverfahrens

1.1.3.1

Vorentwurf der Expertenkommission

Mit Verfügung vom 3. Juli 2000 setzte das EJPD eine Expertenkommission zur Revision des Opferhilfegesetzes ein30. Sie stand unter dem Vorsitz von Prof. Dr. iur.

Jean Guinand, alt Regierungsrat, Neuenburg. Die Kommission erhielt den Auftrag, einen Revisionsentwurf zum ganzen Gesetz vorzulegen, der den in der Evaluation vorgebrachten Anliegen Rechnung trägt.

Die Kommission teilte die Arbeit in zwei Phasen auf: Zunächst befasste sie sich mit der Stellung des Opfers im Strafverfahren. Nach dem Konzept für die geplante Schweizerische Strafprozessordnung werden die bundesrechtlichen Vorschriften zum kantonalen Strafprozess im Opferhilfegesetz ersetzt durch sinngemässe Bestimmungen in der neuen eidgenössischen Verfahrensordnung. Die Expertenkommission für die Revision des OHG prüfte die kurz zuvor erarbeiteten entsprechenden Vorschläge. Sie fasste ihre Überlegungen und Änderungsvorschläge in einem Zwischenbericht zusammen. Dieser wurde im Sommer 2001 zusammen mit dem Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die Schweizerische Strafprozessordnung in die Vernehmlassung gegeben31.

30

31

Die Kommission gehörten folgende Personen an: Prof. Dr.iur. Jean Guinand (Präsident), Neuenburg, Regierungsrat/Finanz- und Sozialdirektor des Kantons Neuenburg bis Frühjahr 2001; lic.iur. Prisca Grossenbacher-Frei (Vizepräsidentin bis September 2001), Bern, Abteilungsleiterin beim Bundesamt für Justiz; lic.iur. Monique Cossali Sauvain (Vizepräsidentin seit September 2001), Delémont, Abteilungsleiterin beim Bundesamt für Justiz; Dr.iur. Christian Huber, Zürich, Regierungsrat/Finanzdirektor des Kantons Zürich; lic.rer.pol. Ernst Zürcher, Bern, Zentralsekretär der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren, Präsident der Schweizerischen Verbindungsstellenkonferenz OHG; lic.iur Kurt Gehring (bis Ende 2001), Schaffhausen, Sekretär des Departements des Innern des Kantons Schaffhausen; Rudolf Strahm, Bern, dipl. Sozialarbeiter, Leiter einer OHG-Beratungsstelle; Nilgün Serbest (seit August 2000, als Ersatz für Sylvie Ricci, ebenfalls von Solidarité Femmes, Freiburg, Mitverantwortliche von Solidarité Femmes und der freiburgischen OHG-Beratungsstelle für Frauen; Dr. med. Myriam Caranzano-Maître, Cagiallo, Kinderärztin, Mitglied der OHG-Kommission des Kantons Tessin, Präsidentin der südschweizerischen Regionalgruppe des Schweizerischen Kinderschutzbunds (SKSB); Fürsprecherin Christine Stirnimann-Müller (bis Mai 2001), Bern, Rechtsanwältin; Peter Fässler-Weibel, Winterthur, Familien- und Ehetherapeut; Dr.iur. Eva Weishaupt, Zürich, Leiterin der kantonalen Opferhilfestelle, Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich; Silvia Tombesi (bis April 2001), Genf, Stellv. Staatsanwältin; lic.iur. Béatrice Despland (bis April 2001), Meyrin, Professorin an der École d'études sociales et pédagogique de Lausanne; Prof. Dr.iur. Niklaus Schmid (lediglich für die Behandlung von Strafverfahrensfragen), Zollikerberg; Peter Gomm, Olten, Rechtsanwalt und Notar; Françoise Dessaux (seit April 2001), Lausanne, stellvertretende kantonale Untersuchungsrichterin; Patrizia Casoni Delcò (seit April 2001), Cureglia, Rechtsanwältin und stellvertretende Jugendrichterin; lic.iur. Edith Brunner (seit Januar 2002), St.Gallen, Gerichtsschreiberin am Verwaltungsgericht, Präsidentin der Betriebskommission einer OHG-Beratungsstelle.

Der Zwischenbericht vom 5. Februar 2001 (wie auch der Vorentwurf für die Schweizerische
Strafprozessordnung) ist im Internet veröffentlicht unter www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Gesellschaft ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Opferhilfegesetz ­ Evaluation und Berichte ­ Zwischenbericht der Expertenkommission vom 5. Februar 2001.

7176

In der zweiten Phase befasste sich die Kommission mit der Revision der übrigen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes. Sie legte im Sommer 2002 einen Vorentwurf mit 33 Artikeln samt erläuterndem Bericht vor32. Obwohl formal als Totalrevision ausgestaltet, übernahm der Vorentwurf verschiedene Bestimmungen des geltenden Rechts ohne Änderung33.

Grundsätze Der Vorentwurf übernahm den Opferbegriff des geltenden Rechts (Art. 1 VE, vgl.

Art. 2 Abs. 1 OHG). Der Kreis der Angehörigen wurde ebenfalls gleich gezogen.

Deren Rechte wurden jedoch nicht mehr pauschal umschrieben (vgl. Art. 2 Abs. 2 OHG), sondern im Einzelfall konkretisiert.

Der Vorentwurf mass dem Subsidiariätsprinzip grundlegende Bedeutung zu (Art. 2 Abs. 2 VE). Die Kommission betonte im Bericht, die Opferhilfe sei ergänzend und finde ihre Begründung in Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich mit den Begründungen für haftpflichtrechtliche Forderungen oder jenen für Sozialversicherungsleistungen nicht vergleichen liessen34.

Neu verankert wurde das Territorialitätsprinzip: Opferhilfe soll grundsätzlich nur gewährt werden, wenn die Tat in der Schweiz begangen worden ist (Art. 2 Abs. 1 VE). Die Kommission war der Meinung, die Ausnahmen müssten klar geregelt werden. Unbestritten war, dass in der Schweiz wohnhafte Personen, die von einer Tat im Ausland betroffenen sind, die Hilfe der Beratungsstellen beanspruchen können sollen (Art. 11 VE). Als politischen Entscheid hingegen erachtete die Kommission die Frage, ob den Betroffenen wie nach geltendem Recht (Art. 11 Abs. 3 OHG) Entschädigung und Genugtuung zu gewähren sei, oder ob diese Ansprüche zu streichen seien35. Mit einer Variante stellte die Expertenkommission beide Lösungen zur Diskussion. Falls beide Leistungen beibehalten werden sollen, ist nach Auffassung der Kommission Wohnsitz in der Schweiz im Zeitpunkt der Tat seit mindestens fünf Jahren zu verlangen und das Kriterium des Bürgerrechts gemäss geltendem Recht fallen zu lassen (Variante: Art. 20a VE).

Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Opfer und Angehörigen wurden im Entwurf der Expertenkommission differenziert in Rechnung gestellt. Wie nach geltendem Recht sollte nur dann Anspruch auf eine Entschädigung bestehen, wenn die Einnahmen der betroffenen Person das Vierfache des allgemeinen Lebensbedarfs nach dem Bundesgesetz über die
Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG36) nicht überschreiten (Art. 12 OHG, Art. 14 i.V. mit Art. 3 VE). Neu vorgeschlagen wurde eine Einnahmengrenze (anstelle des Kriteriums der «persönlichen Verhältnisse») hinsichtlich der Kostenbeiträge für Hilfeleistungen Dritter. Diese sollte jedoch höher sein als jene für die Entschädigungen (Art. 10 Abs. 3 VE). Bei der Genugtuung hatte die Kommission ­ wie das geltende Recht ­ auf eine Einnahmengrenze verzichtet, da es dort um die Wiedergutmachung 32

33 34 35 36

Der Vorentwurf der Expertenkommission und der Erläuternde Bericht vom 25. Juni 2002 sind im Internet veröffentlicht unter www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Gesellschaft ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Opferhilfegesetz ­ Dokumentation ­ Vernehmlassungsverfahren: Vorentwurf und Begleitbericht zur Gesetzesrevision).

Vgl. Erläuternder Bericht, Ziff. 1.3.3.

Vgl. Erläuternder Bericht, Ziff. 1.3.5.

Vgl. Erläuternder Bericht, Ziff. 1.3.6 sowie die Überlegungen vor dem Kommentar zu Art. 20a VE.

SR 831.30

7177

eines immateriellen Schadens gehe37. Neu vorgeschlagen wurde eine Regelung, wonach Opfer und Angehörige, deren Einnahmen zum Bezug einer Entschädigung berechtigen würden, von jeglichen Verfahrenskosten im Zusammenhang mit der Tat befreit werden (Art. 5 Abs. 2 VE). Falls das Opfer oder seine Angehörigen einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nach kantonalem Recht oder Verfassungsrecht erhalten haben, sollten die Kosten dafür nach dem Entwurf der Expertenkommission nicht zurückgefordert werden können (Art. 5 Abs. 4 VE).

Ein besonderer Schwerpunkt wurde schliesslich bezüglich der Information der Opfer gesetzt (Art. 4 VE).

Beratung Im Bereich Beratung schlug die Kommission kleinere Änderungen vor sowie die oben erwähnte Berücksichtigung der Einnahmensituation anstelle der «persönlichen Verhältnisse». Dem Bedürfnis der Praxis entsprechend sollte die Schweigepflicht des Personals der Beratungsstellen leicht gelockert (Art. 13 Abs. 4 VE) und ein Akteneinsichtsrecht der Beratungsstellen statuiert werden.

Entschädigung und Genugtuung Bezüglich der Entschädigungen schlug die Expertenkommission vor, nur kleinere Korrekturen vorzunehmen. U.a. sollte der Schadenbegriff präzisiert (Art. 14 VE) und klargestellt werden, dass Entschädigungen nicht möglich sind bei Hilfeleistungen Dritter (Art. 10 Abs. 4 VE).

Im Mittelpunkt der Kommissionsarbeit standen die Existenzberechtigung der Genugtuung sowie die finanziellen Konsequenzen dieses Instituts. Die Kommission entschied sich für die Beibehaltung der opferhilferechtlichen Genugtuung. Diese solle klar von der zivilrechlichen Genugtuung gelöst werden38. Deshalb schlug die Kommission eine detaillierte Regelung der Anspruchsvoraussetzungen (Art. 18 VE) sowie der Herabsetzungs- und Ausschlussgründe vor (Art. 20 VE). Weiter wurde empfohlen, die Genugtuung zu plafonieren, wobei für das Opfer ein höherer Maximalbeitrag vorzusehen sei als für die Angehörigen (Art. 19 Abs. 2 VE). Nach dem Vorschlag der Expertenkommission sollte der Plafond als Bruchteil des Höchstbetrags des versicherten Jahresverdienstes nach dem Bundesgesetz über die Unfallversicherung ausgestaltet werden und sich für Opfer auf 71 200 Franken und für Angehörige auf 35 600 Franken belaufen.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht regte die Kommission an, die Frist für die Einreichung eines Gesuchs um Entschädigung
oder Genugtuung von zwei auf fünf Jahre zu verlängern, wobei die Frist nicht mehr ab der Tat, sondern ab Kenntnis des Schadens laufen solle. Für minderjährige Opfer besonders schwerer Delikte solle eine Sonderfrist bis zum 25. Altersjahr gelten. Zudem solle nach einem Strafverfahren nötigenfalls eine einjährige Nachfrist zu laufen beginnen (vgl. Art. 21 VE und Art. 16 Abs. 3 OHG). Weiter empfahl die Kommission, die Zuständigkeit für die Gewährung von Entschädigung und Genugtuung vom Tatortkanton auf den Wohnsitzkanton zu verlagern (Art. 22 VE).

37 38

Vgl. Erläuternder Bericht, Ziff. 2 (Bemerkungen vor Art. 18­20 VE, a.E.).

Vgl. Erläuternder Bericht, Ziff. 1.3.9 und die Überlegungen vor dem Kommentar zu Art.

18 VE.

7178

Neue Beiträge und Aufgaben des Bundes Die Kommission schlug neue Abgeltungen an die kantonalen Aufwendungen für die Beratung und an die Entschädigungen und Genugtuungen vor (Art. 25 und 26 VE).

Der Entscheid der Kommission, dem Opfer und seinen Angehörigen die freie Wahl der Beratungsstelle zu erhalten, habe zur Folge, dass jene Kantone vermehrt belastet werden, die über gut organisierte und spezialisierte Opferhilfestellen verfügen, welche möglicherweise Opfer mit Wohnsitz in andern Kantonen anziehen. Da den Kantonen beim Vollzug der Opferhilfe nur wenig Spielraum zur Verfügung stehe und die Opferhilfe nach Artikel 124 BV Sache von Bund und Kantonen sei, müsse der Bund nach Artikel 46 BV einen Teil der Kosten dieser Verbundaufgabe tragen39.

Neu vorgeschlagen wurden Finanzhilfen des Bundes zur Förderung der Information sowie die Kompetenz des Bundes, bei ausserordentlichen Ereignissen wie dem Attentat in Luxor die Zusammenarbeit zu koordinieren und Kosten zu übernehmen (Art. 28 und 29 VE).

1.1.3.2

Vernehmlassung 2003

Der Bundesrat beauftragte am 18. Dezember 2002 das EJPD, Vorentwurf und Bericht der Expertenkommission in die Vernehmlassung zu geben. Der Bundesrat nahm zum Vorentwurf nicht Stellung. Das Vernehmlassungsverfahren dauerte bis zum 10. April 2003.

Im Begleitbrief äusserte das EJPD Vorbehalte hinsichtlich der im Vorentwurf zur Diskussion gestellten neuen Abgeltungen für die Beratung und für Entschädigung und Genugtuung (Art. 25 und Art. 26 VE), da diese im Widerspruch zu den finanzpolitischen Rahmenbedingungen der Schuldenbremse sowie zur Ausrichtung des neuen Finansausgleichs stünden, der den Finanztransfer des Bundes an die Kantone von Zweckbindungen befreien möchte. Die verfassungsmässige Aufgabenverteilung verpflichte den Bund nicht, den Kantonen für die Umsetzung des Bundesrechts besondere finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen40.

Den interessierten Kreisen wurden verschiedene Fragen unterbreitet41.

Am 26. September 2003 hat der Bundesrat von den Ergebnissen des Vernehmlassungsverfahrens Kenntnis genommen und sie veröffentlichen lassen42.

39 40

41

42

Vgl. Erläuternder Bericht, Ziff. 1.3.4 und die Überlegungen vor dem Kommentar zu Art. 25 VE.

Der Begleitbrief ist im Internet veröffentlicht unter www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Gesellschaft ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Opferhilfegesetz ­ Dokumentation ­ Vernehmlassungsverfahren.

Der Fragenkatalog ist ebenfalls im Internet veröffentlicht (vgl. www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Gesellschaft ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Opferhilfegesetz ­ Dokumentation ­ Vernehmlassungsverfahren: Fragenkatalog). Ziffer 4 des Fragenkatalogs betraf u.a. Opfer von Menschenhandel und Frauenhäuser und nahm damit Anregungen aus zwei nicht ausschliesslich auf die Opferhilfe ausgerichteten parlamentarischen Vorstössen auf.

Vgl. dazu unten, Ziff. 1.6.2.

«Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens zum Vorentwurf der Expertenkommission zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG)» vom 22. August 2003, im Internet unter: www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Gesellschaft ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Opferhilfegesetz ­ Dokumentation ­ Vernehmlassungsergebnisse: Zusammenstellung.

7179

Grundsätzliche Unterstützung des Vorhabens Von den insgesamt 85 Vernehmlassungsteilnehmern begrüssten 38 ausdrücklich das Revisionsvorhaben, darunter 17 Kantone. Vier Vernehmlassungsteilnehmer lehnten es ab und acht äusserten gewichtige Vorbehalte, wobei die einen eine restriktivere Gesetzgebung wünschten und die andern einen Leistungsabbau befürchteten43.

Neuregelung der Genugtuung Für die grundsätzliche Beibehaltung der Genugtuung sprach sich eine klare Mehrheit der Vernehmlasser aus. Der Vorschlag, die Genugtuungen zu plafonieren, wurde ebenfalls mehrheitlich begrüsst, ebenso ­ allerdings knapper ­ der Vorschlag, für Angehörige einen tieferen Höchstbetrag als für Opfer vorzusehen44.

Umstritten waren hingegen die vorgeschlagenen Maximalbeträge45. 12 Vernehmlasser schlugen einen deutlich höheren Plafond für Opfer von etwa 100 000 Franken vor, 22 befürworteten eine Obergrenze für Opfer von ungefähr 70 000 Franken und 10 eine solche von ungefähr 50 000 Franken. Bei den Maximalbeträgen für die Angehörigen zeigten sich ähnliche Unterschiede.

Opferhilfe nach einer Straftat im Ausland Breite Zustimmung fand der Vorschlag, Opfern nach Straftaten im Ausland die Hilfe der Beratungsstellen zu gewähren, sofern sie zur Zeit der Tat Wohnsitz in der Schweiz hatten. In solchen Situationen soll nach Auffassung der Mehrheit der Antwortenden auch weiterhin Entschädigung und Genugtuung möglich sein. Die Mehrheit der Kantone und der Parteien lehnte derartige finanzielle Leistungen jedoch ab46.

Keine neuen Vorschriften für bestimmte Opfer Die Mehrheit der Vernehmlasser teilte die Auffassung der Expertenkommission, für Opfer von Menschenhandel und für Opfer häuslicher Gewalt seien keine Sonderregeln im OHG zu schaffen47.

Frauenhäuser Im Bericht «Menschenhandel in der Schweiz»48 war vorgeschlagen worden, der Bund solle die Kantone im Opferhilfegesetz zur Bereitstellung von genügend Frauenhausplätzen verpflichten. Die Frauenhäuser seien bereit, Opfer von Menschenhandel zu beraten und zu betreuen, müssten aber immer wieder Schutz suchende Frauen wegen Vollbelegung abweisen, weil ihre Kapazitäten nach dem bisherigen Finanzierungsmodus beschränkt sind. Bei der Prüfung der Notwendigkeit neuer Vorschriften für bestimmte Opfer hatte die Expertenkommission auf diesen Bericht 43 44 45 46 47 48

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 4. Begrüsst wurde das Revisionsvorhaben von folgenden Kantonen: AG, BE, BL, BS, FR, GE, GL, GR, JU, NE, SH, SO, TG, TI, VE, VS, ZG.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 5.1, 5.2 und 5.4.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 5.6.2.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 6.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 8.1 betr. Menschenhandel und Ziff. 8.2 betr. Opfer von häuslicher Gewalt.

Der Bericht ist vom Bundesrat im Zusammenhang mit einem Postulat Vermot in Auftrag gegeben worden, Näheres dazu unten, Ziff. 1.6.2. Der Bericht ist im Internet veröffentlicht unter: www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Kriminalität ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Menschenhandel ­ Dokumentation ­ Arbeitsgruppe Menschenhandel «Menschenhandel in der Schweiz».

7180

verwiesen49. Ende Mai 2002 beauftragte der Bundesrat das EJPD, diese Empfehlung zu prüfen.

Vor diesem Hintergrund waren die Vernehmlassungsteilnehmer gefragt geworden, ob die Kantone im Opferhilfegesetz zur Bereitstellung von genügend Frauenhausplätzen zu verpflichten seien. Dies bejahte die Mehrheit der Antwortenden ­ die Mehrheit der von einer derartigen Vorschrift direkt betroffenen Kantone jedoch lehnte ein solche Verpflichtung ab. Die Kantone machten geltend, eine solche Bestimmung gehe über die Opferhilfe hinaus und tangiere ihre Autonomie50.

Neue Abgeltungen und interkantonale Kostenverteilung Obwohl das EJPD im Begleitschreiben zu den Vernehmlassungsunterlagen auf voraussichtliche verfassungsrechtliche und finanzpolitische Probleme hingewiesen hatte, wurden die neu vorgeschlagenen Abgeltungen für die Beratung und für Entschädigung und Genugtuung (Art. 25 und Art. 26 VE) mit grosser Mehrheit begrüsst.

Im Zusammenhang mit diesen neuen Abgeltungen51, aber auch mit der Frauenhausproblematik52 und mit der freien Wahl der Beratungsstellen53 wurde angeregt, das revidierte Gesetz solle mit Regeln über die Kostenverteilung unter den Kantonen angereichert werden.

Lockerung der Schweigepflicht im Bereich Beratung Die Lockerung der Schweigepflicht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Beratungsstellen im Interesse von Minderjährigen wurde mit deutlicher Mehrheit begrüsst54.

Weitere Neuerungen Die Verlängerung der Frist für die Einreichung von Entschädigungs- und Genugtuungssgesuchen stiess auf breite Zustimmung. Hingegen wurde bezüglich Beginn des Fristenlaufs die geltende Regelung (ab der Straftat) der Neuregelung (ab Kenntnis des Schadens) von mehreren Kantonen vorgezogen55. Auch der vorschlagene Wechsel der Zuständigkeit vom Tatortkanton auf den Wohnsitzkanton wurde verschiedentlich abgelehnt56.

Hinsichtlich des bei einer opferhilferechtlichen Entschädigung zu berücksichtigenden Schadens gingen zahlreiche Bemerkungen ein57.

Bestimmungen zum Strafverfahren Skepsis geäussert wurde gegenüber dem Konzept, die entsprechenden Bestimmungen des Opferhilfegesetzes zu streichen und sie sinngemäss in die Schweizerische Strafprozessordnung zu integrieren. Man befürchtet, dass die Schutzvorschriften 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. Erläuternder Bericht, Ziff. 1.3.13.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 8.3.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 9.1.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 8.3.3.

Vgl. Ergebnisse, S. 58 (Bemerkungen zu Art. 8 VE), vgl. auch Ziff. 4.7.

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 7.

Gegen diese Neuerung sprachen sich 8 Kantone und 2 interkantonale Konferenzen aus; vgl. Ergebnisse, S. 75 ff. (Bemerkungen zu Art. 21 VE).

7 Kantone und 2 interkantonale Konferenzen kritisierten diese Neuerung; vgl. Ergebnisse, S. 78 f. (Bemerkungen zu Art. 22 VE).

Vgl. Ergebnisse, S. 64 f. (Bemerkungen zu Art. 14 VE).

7181

abgeschwächt oder unvollständig übernommen werden. Zudem bestehe die Gefahr, dass die Regeln zugunsten der Opfer nicht mehr so leicht auffindbar sind wie nach geltendem Recht. Einige Vernehmlassungsteilnehmer regten an, die im Jahre 2002 neu eingefügten Vorschriften zu überprüfen58.

1.1.3.3

Materielle Vorentscheide des Bundesrates

Gestützt auf die grundsätzlich positive Aufnahme des Revisionsprojektes in der Vernehmlassung beauftragte der Bundesrat das EJPD am 26. September 2003, eine Botschaft auszuarbeiten. Er entschied, aus den vom Departement im Begleitschreiben zur Vernehmlassung dargelegten Gründen sei dabei auf die Einführung neuer Abgeltungen zu verzichten. Stattdessen seien neue Lösungen für die Zusammenarbeit bzw. die Kostenverteilung zwischen den Kantonen zu prüfen. Da die neue Schweizerische Strafprozessordnung wahrscheinlich erst nach der Totalrevision des OHG in Kraft treten wird, seien im OHG vorläufig weiterhin Bestimmungen zum Schutz des Opfers im Strafverfahren vorzusehen59.

1.2

Die beantragte Neuregelung

1.2.1

Ziele der Reform

Ein wichtiges Ziel der Revision besteht darin, die in der Evaluation festgestellten Vollzugsprobleme für die rechtsanwendenden Stellen in den Bereichen Beratung sowie Entschädigung und Genugtuung zu lösen (Abgrenzung der verschiedenen Leistungen, Verteilung der Beratungskosten zwischen den Kantonen, Rolle der Genugtuung). Die drei Pfeiler der Opferhilfe (Beratung, Schutz des Opfers und Wahrung seiner Rechte im Strafverfahren, Entschädigung und Genugtuung) sollen dabei beibehalten werden. Die Genugtuung für die erlittenen Beeinträchtigungen soll ebenfalls beibehalten werden. Sie soll aber plafoniert werden. Weiter bezweckt die Revision punktuelle Verbesserungen zugunsten der Opfer, etwa bezüglich Information, Kontaktaufnahme der Beratungsstellen mit den von der Polizei gemeldeten Opfern, Verlängerung der Verwirkungsfrist oder Befreiung von Verfahrenskosten. Die Opferhilfe nach Straftaten im Ausland soll klar geregelt werden. Ein weiteres wichtiges Ziel besteht darin, die Kostenentwicklung unter Kontrolle zu bringen.

Keine wesentlichen Änderungen sind in Bezug auf die bundesrechtlichen Vorschriften über den Schutz und die Rechte des Opfers und seiner Angehörigen im Strafverfahren nach kantonalem Prozessrecht erforderlich, da in absehbarer Zeit eine Schweizerische Strafprozessordnung das kantonale Recht ablösen wird60.

58 59

60

Vgl. Ergebnisse, Ziff. 4.6 und Bemerkungen zu Art. 31 VE.

Vgl. Pressemitteilung des EJPD vom 26.9.2003, im Internet unter www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Gesellschaft ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Opferhilfegesetz ­ Vernehmlassungsergebnisse ­ Medienmitteilung vom 26. September 2003.

Näheres in Ziff. 2, bei den Erläuterungen zum 6. Kapitel (Art. 34­44 des Entwurfs).

7182

1.2.2

Regelungskonzept

Die Rolle der Opferhilfe und das Konzept der Revision Die staatliche Hilfe bezeugt die Solidarität der Gemeinschaft gegenüber ihren von der Kriminalität am stärksten betroffenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Sie ergänzt insbesondere auf finanzieller Ebene die Anstrengungen, die zur Resozialisierung von Straftätern und Straftäterinnen unternommen werden61. Sie vervollständigt den vom Zivilrecht, vom Strafrecht und vom Sozialversicherungsrecht gewährten Rechtsschutz.

Die Begründung der Opferhilfe ist also nicht vergleichbar mit jener einer Haftung oder mit jener der Sozialversicherungen, die Beitragsleistungen voraussetzen. Dementsprechend beschränkt sich die Opferhilfe im Wesentlichen auf eine subsidiäre Rolle, was auch weiterhin so bleiben muss.

So muss der Staat nicht eingreifen, wenn das Opfer von anderer Seite Schadenersatz erhält62. Er tritt nicht an die Stelle des Straftäters oder der Straftäterin oder an die Stelle von Einrichtungen, die primär für die Folgen der Tat aufkommen müssen (wie z.B. Privat- und Sozialversicherungen). Ausserdem wird von Opfern, die sich in günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden, erwartet, dass sie ihre Eigenmittel einsetzen, um einen Teil der Folgen der Straftat zu tragen. Diese Grundsätze, die bereits nach heutigem Recht gelten, werden im Revisionsprojekt klar zum Ausdruck gebracht. So sind wie schon nach geltendem Recht bestimmte Leistungen Opfern vorbehalten, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind (Art. 6 Abs. 1, Art. 16 und Art. 20). Der vorliegende Entwurf setzt weiter voraus, dass das Opfer von anderer Seite gar nichts oder nur ungenügende Leistungen erhält (Art. 4 und Art. 17 Abs. 2). Der Grundsatz der Subsidiarität rechtfertigt es zudem, dass der Staat den materiellen oder immateriellen Schaden nicht unbedingt vollumfänglich deckt: Dieses Konzept gilt wie bis anhin bei der Entschädigung, deren Höchstbetrag beschränkt ist (Art. 20 Abs. 3), und wird künftig auch auf die Genugtuung angewendet (Art. 23 Abs. 1).

Der Bundesrat will wie die Expertenkommission den Schwerpunkt auf jene Leistungen legen, die dem Opfer helfen, die Folgen der Tat zu bewältigen, und die ihm die dringend benötigten Erleichterungen bringen. Aus diesem Grund werden weiterhin die Leistungen der Beratungsstellen, sei es in Form von Beratungen oder von psychologischer,
juristischer, sozialer oder seelischer Hilfe, grosszügiger gewährt als Entschädigungen und Genugtuungen. Die freie Wahl der Beratungsstelle wird beibehalten, ebenso die Unentgeltlichkeit der Soforthilfe und der längerfristigen Hilfe, soweit sie von den Beratungsstellen selbst erbracht wird. Für die Übernahme der vollen Kosten der längerfristigen Hilfe durch Dritte gilt eine höhere Einnahmengrenze (Art. 16) als für die Entschädigung (Art. 20 Abs. 1), was grosszügigere Leistungen ermöglicht. Ist die Straftat im Ausland begangen worden, haben das Opfer und seine Angehörigen Anspruch auf die Leistungen der Beratungsstellen und auf Kostenbeiträge für die von Dritten erbrachte Hilfe; in diesem Fall haben sie jedoch im Unterschied zum geltenden Recht weder Anspruch auf eine Entschädigung noch auf eine Genugtuung.

61 62

Vgl. Botschaft Volksinitiative, S.869 ff.

Vgl. BotschaftVolksinitiative, S. 930 und Botschaft BV S. 341.

7183

Die Opferhilfe will den Opfern von Straftaten nicht nur finanzielle Hilfe verschaffen, sondern ihnen auch moralisch bei der Bewältigung der Folgen der Straftat helfen. Die Ausrichtung einer Genugtuung bezeugt, dass sich die Gesellschaft des Leidens des Opfers bewusst ist. Dies ist dann besonders wichtig, wenn das Opfer keinen materiellen Schaden erlitten hat ­ wie bei Sexualdelikten. Die Genugtuung wird in solchen Fällen zur einzigen Form der Solidaritätsbekundung, die das Opfer nebst der Hilfe der Beratungsstellen erhalten kann. Aus diesen Überlegungen will der Bundesrat wie die grosse Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer die Genugtuung nicht abschaffen. Die Höhe der Genugtuung muss allerdings nicht unbedingt gleich hoch sein wie jene, die der Straftäter bzw. die Straftäterin oder eine Versicherung zahlen würde. Die in Artikel 23 Absatz 1 vorgesehene Höchstgrenze für Genugtuungen wird dazu führen, dass die gestützt auf das OHG ausgerichteten Beträge grundsätzlich tiefer sein werden als jene, die vom Täter oder der Täterin bezahlt werden. Auch darin zeigt sich die vorn erläuterte Subsidiarität der Opferhilfe.

Unterschiedliche Bedürfnisse der verschiedenen Opfer Der vorliegende Entwurf macht keine grundsätzlichen Unterscheidungen bezüglich der verschiedenen Kategorien von Opfern. Allerdings kennt er besondere Regeln für Minderjährige (Art. 11 Abs. 3, Art. 25 Abs. 2, Art. 41­44). Die Expertenkommission hatte geprüft, ob die Opfer von Fahrlässigkeitsdelikten und insbesondere die Opfer von Strassenverkehrsunfällen vom Anwendungsbereich des OHG ausgeschlossen werden sollten. Mehrere Kantone hatten dies im Rahmen der Dritten Evaluation verlangt63. Da nur ein geringer Teil aller Opfer, die Opferhilfe beanspruchen, Opfer des Strassenverkehrs sind und die Opferhilfe zudem subsidiär ist, hat die Expertenkommission darauf verzichtet, Opfer von Fahrlässigkeitsdelikten vom Geltungsbereich des Gesetzes auszunehmen. Der Bundesrat teilt diese Sichtweise.

Eine Unterscheidung zwischen Opfern von vorsätzlich verübten Delikten und Opfern von fahrlässig begangenen Taten würde zudem in der Praxis Schwierigkeiten bereiten. Schliesslich kann es für diese Opfer genau so wichtig sein wie für die andern, die Hilfe der Beratungsstellen in Anspruch nehmen zu können. Dies wird zum Beispiel durch die Tatsache belegt, dass
einige Kantone für Opfer von Strassenverkehrsunfällen spezielle Beratungsstellen eingerichtet haben.

Weiter stellt sich die Frage, ob für bestimmte Kategorien von Opfern, wie die minderjährigen Opfer, die Opfer von häuslicher Gewalt oder auch die Opfer von Menschenhandel, besondere Massnahmen nötig sind. Der Bundesrat hat verschiedene von der Expertenkommission entwickelte Vorschläge übernommen um, die besondere Situation minderjähriger Opfer zu berücksichtigen (Art. 11 Abs. 3, Art. 25 Abs. 2). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Stellung der minderjährigen Opfer im Strafverfahren bereits mit der Revision vom 23. März 2001 (Verbesserung des Schutzes von Kindern als Opfern) verbessert worden ist64.

Die Problematik der Opfer von häuslicher Gewalt und der Opfer von Menschenhandel geht weit über die Opferhilfe hinaus und verlangt nach spezifischen Massnahmen in anderen Rechtsgebieten. Der vorliegende Entwurf weist immerhin explizit darauf hin, dass die Kantone die besonderen Bedürfnisse der verschiedenen Opferkategorien berücksichtigen müssen (Art. 9 Abs. 1). Diese Bestimmung will die 63 64

Vgl. Dritter Opferhilfebericht, S. 103.

Vgl. dazu auch vorn Ziff. 1.1.1.

7184

Kantone ermuntern, sich zusammenzuschliessen, um bei Bedarf gemeinsam spezialisierte regionale Beratungsstellen zu schaffen. Der vorliegende Entwurf sieht weiter ausdrücklich die Pflicht der Beratungsstellen vor, bei Bedarf eine Notunterkunft zu besorgen, womit indirekt die wichtige Rolle der Frauenhäuser anerkannt wird (Art. 14 Abs. 1). Diese Bestimmung entspricht der Praxis.

Die Frage einer besonderen Schutzregelung für Personen, die gleichzeitig Opfer und Zeuge sind (z.B. Opfer von Menschenhandel), wird im Rahmen der neuen Schweizerischen Strafprozessordnung geprüft.

Lesbarer und besser strukturiert Der vorliegenden Gesetzesentwurf enthält zahlreiche systematische Verbesserungen, was zur leichteren Lesbarkeit beitragen wird. Mit seinen nahezu 50 Artikeln scheint das neue Gesetz wesentlich umfassender zu sein als das geltende. Zu einem grossen Teil beruht die grössere Anzahl von Artikeln auf formalen Änderungen. So werden die Artikel 10a­10d OHG selbständig nummeriert und verschiedene Bestimmungen (z.B. Art. 1 OHG, Art. 3 OHG und Art. 14 OHG) in mehrere Artikel aufgeteilt. Zur Genugtuung, der heute nur ein einziger Absatz gewidmet ist, werden zwei neue Artikel eingeführt. Ausserdem wird die Rechtsprechung zu Lücken des geltenden Rechts kodifiziert (z.B. Art. 3 Abs. 1). Schliesslich werden wichtige Bestimmungen aus der Verordnung (z.B. Art. 4 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 2 OHV) neu im Gesetz erwähnt (Art. 15 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3).

1.2.3

Schwerpunkte

Kreis der Anspruchsberechtigten Der Opferbegriff des geltenden Rechts wird übernommen. Opfer von Fahrlässigkeitsdelikten und insbesondere Opfer von Strassenverkehrsunfällen werden vom Geltungsbereich nicht ausgenommen. Die Bedürfnisse der Opfer hängen nicht davon ab, ob das Delikt vorsätzlich oder fahrlässig begangen worden ist. Auch die Umschreibung des Kreises der Angehörigen entspricht dem geltenden Recht (Art. 1 Abs. 1 und 2). Wie im Vorentwurf werden die Rechte der Angehörigen bei jedem Sachverhalt spezifisch geregelt.

Da die verschiedenen Kategorien von Opfern (z.B. Kinder, Opfer von Sexualdelikten, von häuslicher Gewalt oder von Menschenhandel) sehr unterschiedliche Hilfe benötigen, sollen die Kantone bei der Schaffung oder Anerkennung von Beratungsstellen den vielfältigen Bedürfnissen Rechung tragen, etwa indem sie für spezialisierte Beratungsstellen sorgen oder indem sie ihr Personal entsprechend ausbilden oder die Hilfe von spezialisierten Fachleuten oder Institutionen vermitteln (Art. 9 Abs. 1 zweiter Satz). Mit dieser neuen Formulierung werden Anliegen einer als Postulat überwiesenen Motion Vermot betreffend Frauenhandel und einer Motion Goll betreffend Frauenhäuser aufgenommen65.

65

Näheres zu diesen Vorstössen unten, Ziff. 1.6.2.

7185

Territorialitätsprinzip Nach dem Territorialitätsprinzip besteht grundsätzlich nur Anspruch auf Opferhilfe, wenn die Straftat in der Schweiz begangen worden ist. Personen, die im Ausland Opfer einer Straftat wurden, können in beschränktem Umfang Opferhilfe erhalten (vgl. Art. 3 Abs. 2 und Art. 17).

Nach einer Straftat im Ausland haben Betroffene, die zur Zeit der Tat Wohnsitz in der Schweiz hatten, Anspruch auf die Hilfe der Beratungsstellen bzw. auf Hilfe, die vermittelt und durch Dritte erbracht wird, sowie auf Kostenbeiträge für die längerfristige Hilfe Dritter (Art. 17). Mit dieser Regelung wird in Anlehnung an die Rechtsprechung eine Lücke des geltenden Gesetzes geschlossen. Entschädigungen und Genugtuungen ­ heute bei schweizerischem Wohnsitz und Bürgerrecht möglich (Art. 11 Abs. 3 OHG) ­ sollen nach Straftaten im Ausland in Zukunft nach Meinung des Bundesrates hingegen nicht mehr gewährt werden. Dies entspricht der Haltung der Kantone in der Vernehmlassung. Der Bundesrat ist der Auffassung, es sei für die betroffenen Personen wichtig, Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen der Straftat zu erhalten. Hingegen ist es nicht Aufgabe der Schweiz, für einen materiellen oder immateriellen Schaden aufzukommen, der Folge einer Straftat ist, welche ausserhalb des schweizerischen Territoriums begangen worden ist. Dieses Konzept entspricht übrigens jenem des Europäischen Übereinkommens über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten66.

Der jährliche Aufwand aller Kantone für Entschädigungen nach einer Straftat im Ausland bewegte sich in den Jahren 2000­2003 zwischen 2700 und 176 390 Franken, jener für Genugtuungen zwischen 56 000 und 573 953 Franken67. Nach dem Attentat in Luxor richteten die Kantone Entschädigungen von rund 100 000 Franken und Genugtuungen von etwa 2,5 Millionen Franken aus. Beim Attentat in Luxor sind 36 Schweizerinnen und Schweizer getötet und 10 Schweizerinnen und Schweizer verletzt worden.

Subsidiaritätsprinzip Der bereits im geltenden Recht verankerte Grundsatz der Subsidiarität (Art. 14 OHG) wird ­ wie von der Expertenkommission vorgeschlagen ­ verdeutlicht und als grundlegend ins erste Kapitel des Gesetzes verschoben: Leistungen werden von der Opferhilfe nur erbracht, wenn der Täter oder die Täterin oder andere Leistungspflichtige keine oder keine genügenden Leistungen
erbringen (Art. 4).

Lockerung der Schweigepflicht des Beratungsstellenpersonals Die strenge Schweigepflicht wird leicht gelockert. Das Beratungsstellenpersonal kann zum Schutze Minderjähriger die Vormundschaftsbehörde informieren und nötigenfalls Strafanzeige erstatten (Art. 11 Abs. 3).

Abgrenzung zwischen den Kostenbeiträgen der Beratungsstellen und den Entschädigungen Nach geltendem Recht kann das Opfer seinen Aufwand für bestimmte Kosten entweder bei einer Beratungsstelle in einem beliebigen Kanton oder bei der Entschädigungsbehörde des Tatortkantons geltend machen. Für beide Wege gelten unterschiedliche Voraussetzungen und Bemessungsregeln. Dieses Problem der Abgren66 67

Näheres unter Ziff. 5.2.1.

Quelle: Bundesamt für Statistik.

7186

zung zwischen Kostenbeiträgen der Beratungsstellen für die längerfristige Hilfe Dritter und Entschädigungen wird im vorliegenden Entwurf gelöst, indem Schaden, der Leistungen auf Soforthilfe oder längerfristige Hilfe auslösen kann, nicht berücksichtigt wird (Art. 19 Abs. 3). Diese Lösung ist präziser als der Vorschlag der Expertenkommission und geht auf die Empfehlungen der SVK-OHG zurück68.

Plafonierte opferhilferechtliche Genugtuung Der Bundesrat teilt die Auffassung der Expertenkommission und der klaren Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer, das Institut der opferhilferechtlichen Genugtuung beizubehalten. Im Gegensatz zur Expertenkommission verzichtet der Bundesrat darauf, vom zivilrechtlichen Begriff der Genugtuung abzuweichen. Ein neuer Begriff ist zu vermeiden, da dies zu Schwierigkeiten in der Praxis führen könnte.

Damit wird Bedenken in der Vernehmlassung Rechnung getragen. Der vorliegende Entwurf übernimmt den Gedanken, einen Maximalbetrag vorzusehen. Der Höchstbetrag wird nicht über einen Referenzwert bestimmt, sondern im Gesetz direkt festgelegt wie bei der Entschädigung. Wie von der Expertenkommission vorgeschlagen und in der Vernehmlassung akzepiert, wird ein Höchstbetrag für das Opfer und ein tieferer für die Angehörigen vorgeschlagen. Der Bundesrat schlägt einen Höchstbetrag von 70 000 Franken für das Opfer und von 35 000 Franken für Angehörige vor. Damit werden im Sinne des Postulats Leuthard69 die opferhilferechtlichen Genugtuungen geringer ausfallen als jene nach Zivilrecht. Mit je nach Situation abgestuften Solidariätsbeiträgen bis zu diesen Höchstbeträgen ist es möglich, echte Anteilnahme der Gesellschaft mit schwer betroffenen Opfern, Angehörigen oder Hinterbliebenen zu bekunden (Art. 22 und Art. 23). Der Bundesrat zieht die vorgeschlagene Lösung einer proportionalen Kürzung von Genugtuungen, die nach Zivilrecht bemessen wurden, vor. Für das Opfer wäre eine solche Kürzung schwer verständlich und die Kostenentwicklung wäre weniger gut kontrollierbar.

Neue Fristen für die Einreichung von Entschädigungs- und Genugtuungsgesuchen Der vorliegende Entwurf übernimmt die differenzierte Regelung des Vorentwurfes und bringt die in der Vernehmlassung gewünschten Änderungen an. Es gilt weiterhin eine Verwirkungsfrist. Sie beträgt neu fünf Jahre. Ausserdem gibt es eine Sonderfrist für
bestimmte minderjährige Opfer sowie eine einjährige Nachfrist nach Abschluss des Strafverfahrens. Die Frist beginnt nicht wie im Vorentwurf der Expertenkommission vorgeschlagen mit der Kenntnis des Schadens, sondern wie nach geltendem Recht mit der Straftat oder ab Kenntnis der Straftat (Art. 25). Die Zuständigkeit wechselt nicht zum Wohnsitzkanton, sondern bleibt beim Tatortkanton (Art. 26).

Anwalts- und Verfahrenskosten Nach geltendem Recht ist das Verfahren vor den Entschädigungsbehörden kostenlos. Die Beratungsstellen können zudem unter bestimmten Voraussetzungen Anwaltskosten bezahlen. Daneben kommt die unentgeltliche Rechtspflege nach kantonalem Recht oder nach der Bundesverfassung zum Zuge. Der vorliegende Entwurf sieht für Verfahren um Leistungen der Entschädigungs- und Genugtuungsbehörden und neu auch der Beratungsstellen Unentgeltlichkeit vor. Auf die Ausdehnung der Kostenlosigkeit auf weitere Verfahren im Zusammenhang mit der Straftat 68 69

Vgl. Kap. 6 der Empfehlungen SVK-OHG.

Vgl. Ziff. 1.6.1.

7187

(wie im Vorentwurf vorgeschlagen) wird verzichtet. Neu werden Opfer und Angehörige bundesrechtlich von einer allfälligen Rückerstattungspflicht für die Kosten eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes befreit. Damit wird Rechtsgleichheit hergestellt zwischen Opfern, deren Anwaltskosten nach dem OHG übernommen werden, und Opfern, die einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nach dem einschlägigen Prozessrecht oder nach der Bundesverfassung erhalten. Dieser Vorschlag stammt von der Expertenkommission (Art. 30).

Vorgehen bei ausserordentlichen Ereignissen Nach ausserordentlichen Ereignissen mit zahlreichen Opfern wie z.B. einem Attentat auf einen Personenzug kann der Bund wie bisher den besonders betroffenen Kantonen Beiträge gewähren. Neu obliegt ihm ­ soweit nötig ­ die Koordination (Art. 32).

Diese Regel fand sich bereits im Vorentwurf.

Keine neuen Bundesbeiträge Die Expertenkommission hatte vorgeschlagen, der Bund solle den Kantonen neu für die Hilfe von Beratungsstellen und für die Aufwendungen für Entschädigungen und Genugtuungen Abgeltungen bis zu 35 Prozent gewähren. Das EJPD hatte bereits im Begleitschreiben zur Vernehmlassung Skepsis gegenüber diesen Vorschlägen der Expertenkommission angemeldet70. Obwohl die Vorschläge gemäss Vorentwurf in der Vernehmlassung mit grosser Mehrheit begrüsst worden sind, hat der Bundesrat am 26. September 2003 beschlossen, in seinem Entwurf auf neue Abgeltungen zu verzichten71.

Entgegen der Meinung verschiedener Vernehmlasser lässt sich aus dem Umstand, dass Artikel 124 BV die Opferhilfe als gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen bezeichnet, nicht ableiten, dass der Bund die Kantone bei der Umsetzung des Bundesrechts finanziell unterstützen müsse. Die gemeinsame Kompetenz besagt vielmehr, dass dem Bund eine umfassende Gesetzgebungskompetenz zusteht und den Kantonen gleichzeitig ­ wegen der Nähe der Materie zur Fürsorge ­ eine eigenständige Aufgabe auferlegt wird und nicht nur die Beteiligung an der Erfüllung einer Bundeskompetenz72.

Abgeltungen, wie sie die Expertenkommission vorgeschlagen hat, stünden im Widerspruch zum verfassungsrechtlichen Konzept des neuen Finanz- und Lastenausgleichs. Nach dem Bundesbeschluss zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) vom 3. Oktober 200373 wird unter anderem Artikel 46
BV geändert. Der Finanzausgleich i.e.S. soll von der Aufgabenerfüllung bzw. der Beitragsgewährung getrennt werden. Zudem sind bei der Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben die Grundsätze der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz zu wahren.

Der Bundesrat hat den Bedenken der Kantone bezüglich finanzieller Belastung mit dem vorliegenden Entwurf Rechnung getragen. Die vorgeschlagenen Höchstbeträge bei der Genugtuung bringen ohne einschneidenden Leistungsabbau den Aufwand 70 71 72 73

Vgl. Ziff. 1.1.3.2.

Vgl. Ziff. 1.1.3.3.

Botschaft BV, S. 341; vgl. auch Botschaft Volksinitiative, Ziff. 10.21 sowie Botschaft OHG, Ziff. 122.

Bundesbeschluss zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) vom 3. Oktober 2003, BBl 2003 6591 ff., 6595, angenommen in der Volksabstimmung vom 28. November 2004.

7188

der Kantone unter Kontrolle. Der sachlich vertretbare Verzicht auf Entschädigung und Genugtuung nach einer Tat im Ausland führt ebenfalls zu einer gewissen Kosteneindämmung.

Wie schon die Expertenkommission festgestellt hat, ist das finanzielle Volumen des Aufgabenbereichs Opferhilfe verhältnismässig gering74 und die während befristeter Zeit erfolgte Aufbauhilfe des Bundes75 braucht nicht dauerhaft weitergeführt zu werden.

Nicht übernommen werden ausserdem die Vorschläge der Expertenkommission, bei Bedarf Finanzhilfe an Institutionen und Programme zur Information der Opferhilfe zu leisten bzw. die Möglichkeit des Bundes Kosten dringlicher Massnahmen bei ausserordentlichen Ereignissen zu übernehmen. Solche neue Bagatellsubventionen sind nicht nötig und verwischen die Aufgabenteilung.

Verteilung bestimmter Beratungskosten zwischen den Kantonen Das Recht auf freie Wahl der Beratungsstelle durch die Opfer führt dazu, dass Kantone mit gut ausgebauten oder spezialisierten Beratungsstellen mehr beansprucht werden als andere. Von den neuen Abgeltungen im Bereich Beratung erhoffte man sich zum Teil eine Leistungsharmonisierung, welche dazu führen würde, dass die Kantone gleichmässiger belastet würden. Wie in der Vernehmlassung angeregt, schlägt der Bundesrat eine Rückvergütung der Kosten für die Beratung ausserkantonaler Opfer vor (Art. 18). Damit wird zugleich dem in der Vernehmlassung kontrovers aufgenommenen Anliegen, die Frauenhäuser zu fördern, indirekt Rechnung getragen, indem jene Kantone, die über kein Frauenhaus verfügen, zur Leistung von kostendeckenden Beiträgen an notwendige Frauenhausaufenthalte von Opfern herangezogen werden können. Die Schaffung eines geeigneten regionalen oder gesamtschweizerischen Systems ist in erster Linie Sache der Kantone. Die bundesrechtliche Regelung ist subsidiär. Sie kommt nur dann zur Anwendung, wenn die Kantone keine interkantonalen Abmachungen getroffen haben. Vorgesehen ist eine einfache Regelung mit Pauschalen, die eine rasche Abwicklung ohne Auseinandersetzungen über die Höhe des Aufwandes im Einzelfall ermöglicht.

Vorläufige Beibehaltung des Pfeilers Strafverfahren Die Bestimmungen über den Schutz und die Rechte des Opfers und seiner Angehörigen im Strafverfahren bleiben ­ mit kleinen Modifikationen ­ vorläufig im Opferhilfegesetz integriert. Sie sollen
später aus dem OHG gestrichen und in die neu zu schaffende Schweizerische Strafprozessordnung transferiert werden, die die kantonalen Verfahrensordnungen ablösen wird76.

Auf grössere materielle Änderungen des heute geltenden Recht wird verzichtet. Das gilt auch für die zuletzt eingefügten Bestimmungen über den Schutz von Kindern als Opfer. Zwar haben sich anfänglich gewisse Fragen über die Auslegung und Anwendung der neuen Bestimmungen gestellt. Die Praxis in den Kantonen hat sich aber etabliert, und allfällige Neuerungen sind auch hier nicht punktuell, sondern im Gesamtzusammenhang der neuen Schweizerischen Strafprozessordnung zu prüfen.

74 75 76

Erläuternder Bericht, Ziff. 1.3.4; vgl. auch die Ergebnisse der Umfrage zu den Kosten der Beratungsstellen, vorn Ziff. 1.1.2.

Art. 18 Abs. 2 OHG.

Vgl. Ziff. 2 Erläuterungen zum 6. Kapitel (Art. 34­44 des Entwurfs).

7189

Es wäre nicht sinnvoll, wenn sich das Parlament zwei Mal mit dieser Materie befassen müsste.

1.3

Revisionen im Umfeld

1.3.1

Vereinheitlichung des Strafprozessrechts

Gestützt auf den neuen Artikel 123 Absatz 1 BV77 wird im EJPD zurzeit eine Schweizerische Strafprozessordnung sowie eine Schweizerische Jugendstrafprozessordnung vorbereitet. Das neue Strafprozessgesetz wird die kantonalen Verfahrensordnungen und den Bundesstrafprozess ablösen. Mit der umfassenden bundesrechtlichen Regelung werden die Mindestvorschriften im Opferhilfegesetz zum kantonal geregelten Verfahren überflüssig.

Die Schutzbestimmungen zu Gunsten der Opfer und ihrer Angehörigen im Strafverfahren sollen lückenlos weitergeführt werden. Deshalb müssen die Bestimmungen des 3. Abschnittes des geltenden Rechts in der hier beantragten Vorlage materiell übernommen werden, bis das neue Strafprozessrecht in Kraft tritt.

Militärstrafprozessuale Bestimmungen über den besonderen Schutz und über besondere Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen werden direkt im Militärstrafprozess vom 23. März 197978 integriert.

1.3.2

Häusliche Gewalt

Mit der parlamentarischen Initiative Vermot-Mangold (00.419 Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft) vom 14. Juni 2000, welcher der Nationalrat am 7. Juni 2001 Folge gegeben hat, wird ein Gewaltschutzgesetz analog zur österreichischen Gesetzgebung verlangt, das ermöglicht, Personen, die gegenüber dem Partner oder der Partnerin oder andern Familiengliedern gewalttätig sind, sofort aus der Familienwohnung wegzuweisen und ihnen das erneute Betreten für eine bestimmte Zeit zu verbieten.

Nach Auffassung des Bundesrates kann das Problem der häuslichen Gewalt nicht über die Opferhilfe allein gelöst werden. Da das Parlament die parlamentarische Initiative zu diesem Thema noch prüft, kann im Rahmen der OHG-Revision darauf verzichtet werden, andere als die in Ziffer 1.2.2 erwähnte Massnahmen vorzuschlagen.

1.3.3

Menschenhandel

Der am 15. März 2000 als Motion eingereichte Vorstoss von Frau Vermot-Mangold (Postulat 00.3055 Vermot-Mangold, Frauenhandel. Schutzprogramm für Betroffene) forderte den Bundesrat auf, ein umfassendes Schutzprogramm (inkl. neuer Definition des Frauenhandels, Revision des Strafgesetzbuches, des OHG und der Aufenthaltsbestimmungen) für vom Frauenhandel Betroffene zu schaffen. Der Vorstoss hat 77 78

Von Volk und Ständen angenommen am 12. März 2000.

SR 322.1.

7190

zur Einsetzung einer interdepartementalen Arbeitsgruppe geführt, deren Bericht am 29. Mai 2002 zusammen mit der Stellungnahme des Bundesrates veröffentlicht worden ist79. Darin wurde unter anderem eine Erweiterung des Tatbestandes des Menschenhandels im Strafgesetzbuch (Art. 19680) verlangt. Dieser Straftatbestand erfasst heute nur den Handel zwecks sexueller Ausbeutung. Im Zusammenhang mit der Ratifikation zweier internationaler Abkommen soll der Tatbestand auf den Handel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft und zwecks Entnahme menschlicher Organe ausgedehnt werden81.

Im Rahmen der laufenden Arbeiten zur Schweizerischen Strafprozessordnung werden Schutzmassnahmen für Verfahrensbeteiligte geprüft, welche sich an die im Militärstrafprozess eingeführten Massnahmen anlehnen und auch für Opfer von Frauen- und Menschenhandel gelten werden. Wir verweisen auf Ziffer 1.2.2 betreffend die Massnahmen, die im Rahmen der OHG-Revision vorgesehen sind.

1.4

Rechtsvergleich82

1.4.1

Frankreich

Das französische Gesetz vom 6. Juli 1990 schuf einen Garantiefonds für Opfer terroristischer Akte und anderer Straftaten (FGTI83), der durch Gebühren auf Sachversicherungen finanziert wird84. Dieser Fonds erfasst zwei Entschädigungsbereiche: ­

Entschädigungen von Opfern terroristischer Handlungen gestützt auf das Gesetz vom 9. September 1986; Entschädigungen werden durch den Fonds in Absprache mit dem Opfer festgesetzt und geregelt.

­

Entschädigungen der Opfer anderer Straftaten gestützt auf das Gesetz vom 3. Januar 1977. Hier ist ein gerichtliches Verfahren vorgesehen. Der Fonds zahlt die Entschädigung, die von der Kommission zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (CIVI) festgesetzt wird. Jedem Obergericht (Tribunal de grand instance) ist eine Kommission zugeordnet.

Ein besonderer Garantiefonds ist für die Opfer von Auto- und Jagdunfällen vorgesehen.

Die Entschädigungen des Fonds für die Opfer terroristischer Handlungen schliessen die körperlichen Schäden des verletzten Opfers und die psychischen und ökonomischen Beeinträchtigungen der anspruchsberechtigten Anghörigen des Opfers ein, wobei Leistungen sozialer öffentlicher und privater Institutionen angerechnet wer79

80 81

82

83 84

Der Bericht «Menschenhandel in der Schweiz», EJPD 2001, und die Stellungnahme des Bundesrates dazu sindt veröffentlicht auf www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Kriminalität ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Menschenhandel ­ Dokumentation.

SR 311.0 Botschaft und Entwurf eines Bundesbeschlusses vom 11. März 2005 betreffend das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie, BBl 2005 2807 2849.

Die nachfolgenden Informationen stammen im Wesentlichen vom Institut für Rechtsvergleichung (Stellungnahme 04-016 vom 12. März 2004, welche die Stellungnahme 97-125 vom 27. Februar 1998 aktualisiert).

www.fgti.fr/index.htm 4 pro Vertrag im Jahr 2002.

7191

den. Das Entschädigungsverfahren ist grundsätzlich auf Vergleiche ausgerichtet.

Das Opfer und seine Angehörigen können während 10 Jahren ab der terroristischen Handlung Ansprüche gegenüber dem Fonds geltend machen. Wenn die terroristische Handlung auf dem französischen Staatsgebiet stattfindet, kann jedes Opfer unabhängig von seiner Nationalität entschädigt werden. Handlungen im Ausland geben nur französischen Staatsbürgerinnen und -bürgern Ansprüche auf Entschädigung.

Opfer übriger Straftaten haben Anspruch auf volle Entschädigung im Fall von Todesfolgen, einer dauernden oder vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit von wenigstens einem Monat sowie im Fall einer Vergewaltigung oder eines anderen Sexualdelikts. Kleiderschaden und anderer Sachschaden wird nicht entschädigt.

Leichte Beeinträchtigungen einer Person und Sachschaden aus Diebstahl, Betrug, Veruntreuung, Erpressung von Geld sowie Zerstörung, Entwertung oder Beschädigung einer Sache geben ebenfalls Anspruch auf Entschädigung, jedoch unter strengen Voraussetzungen und durch einen Höchstbetrag begrenzt: Für das Jahr 2001 durfte das Einkommen monatlich 1203 Euro nicht überschreiten, zuzüglich 91 Euro pro unterhaltsberechtigte Person. Zudem muss sich das Opfer aufgrund der Straftat in einer materiellen oder psychologisch schwierigen Situation befinden, beweisen, dass die Täterschaft unbekannt oder zahlungsunfähig ist und dass es nicht möglich ist, von einer Versicherung oder einem andern Schuldner eine effektive und genügende Entschädigung zu erhalten. Die CIVI berücksichtigt Leistungen und Entschädigungen, die von sozialen Institutionen, Ausgleichskassen oder Versicherungen usw. geleistet werden.

Die Ansprüche müssen innert dreier Jahre nach der Straftat bei der CIVI geltend gemacht werden. Die Frist verlängert sich um ein Jahr ab dem Datum der letzten strafrechtlichen Verurteilung. Die Kommission hat die Möglichkeit, diese Fristen beim Vorliegen besonderer Gründe zu verlängern.

Wurde die Straftat auf französischem Hoheitsgebiet verübt, können alle französischen Staatsangehörigen, Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates sowie ausländische Personen mit einer ordentlichen Aufenthaltsbewilligung im Zeitpunkt der Tatbegehung oder der Gesuchseinreichung bei der CIVI entschädigt werden. Bei Straftaten im Ausland werden nur Personen mit französischer
Staatsangehörigkeit entschädigt.

Das Verschulden des Opfers kann zu einer Reduktion oder zum Ausschluss einer Entschädigung führen, insbesondere bei Fahrlässigkeit, Beschimpfung, Beteiligung an einem Raufhandel oder deliktischem Verhalten.

Damit dem Opfer Hilfe geleistet wird, kann der Staatsanwalt ab Beginn der Untersuchung an Opferhilfeorganisationen gelangen, mit denen ein Abkommen besteht. Mit dem Gesetz vom 9. September 2002 erhalten die Opfer vorsätzlicher Delikte gegen das Leben oder die persönliche Integrität unabhängig von ihrem Einkommen juristische Hilfe. Sie müssen zudem über ihre Rechte informiert werden, eventuell Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erhalten, sich als Privatkläger am Verfahren zu beteiligen, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen, sich von einer öffentlichen Stelle oder einer Opferhilfeorganisation helfen zu lassen und die CIVI anzurufen. Weitere Massnahmen sind in Prüfung und in Erarbeitung. Sie sollen die Interessen der Opfer während des Vollzugs der Strafe besser wahren und die Zugänglichkeit und die Lesbarkeit von Dokumenten verbessern, die dem Opfer zugestellt werden; ferner soll dem Opfer eine Begleitperson vor, während und nach der Verhandlung angeboten werden.

7192

Im Übrigen sieht das Gesetz vom 15. Juni 2000 vor, dass die Polizei ein besonderes Empfangzentrum für Frauen als Opfer häuslicher Gewalt organisiert, damit eine vertrauliche Anhörung gewährleistet ist und diese Opfer leichter Klage erheben können.

1.4.2

Deutschland

Die Opferhilfe ist in Deutschland durch verschiedene Gesetze geregelt: ­

Opferentschädigungsgesetz (OEG)85;

­

Gewaltschutzgesetz (GewSchG)86, das Schutz vor häuslicher Gewalt bietet;

­

Strafprozessordnung (StPO)87, die geändert wurde, um die Rechte der Opfer und Zeugen zu stärken;

­

Opferanspruchssicherungsgesetz88, das die Zivilansprüche der Opfer schützt.

Das Opferentschädigungsgesetz sieht Versorgungsleistungen vor, die ausschliesslich gesundheitliche Schäden decken. Immaterieller Schaden ist nicht gedeckt. Der Verlust oder die Wertverminderung von Sachen ist nur gedeckt, wenn es sich um ein am Körper getragenes Hilfsmittel handelt (z.B. Brille oder Kontaktlinsen). Leistungen erhalten die Opfer sowie ihre Hinterbliebenen (Ehegatten, Kinder oder Eltern).

Die Leistungen werden nach den Grundsätzen des Bundesversorgungsgesetzes geleistet. Vorgesehen sind Leistungen für die Heilung (einschliesslich Psychotherapie), Renten für Verletzte und Pflegebeiträge, Bestattungskosten und Renten für Hinterbliebene. Die Grundrente für Verletzte beträgt einkommensunabhängig zwischen 118 und 621 Euro, dazu können altersbedingte Erhöhungen von 24 bis 37 Euro kommen89. Gewisse Leistungen sind einkommensabhängig.

Das Gesetz folgt dem Grundsatz der Territorialität: Die Straftat muss auf deutschem Hoheitsgebiet, einem deutschen Schiff oder einem deutschen Flugzeug verübt worden sein. Ausländerinnen und Ausländer haben unter bestimmten Voraussetzungen beschränkte Leistungsansprüche.

1.4.3

Österreich

Das Verbrechensopfergesetz (VOG90) datiert von 1972. Die Hilfe erstreckt sich auf das Opfer und seine Hinterbliebenen. Sie wird österreichischen Staatsangehörigen sowie Staatsangehörigen eines EWR-Staates zuteil, sofern die Straftat auf österrei85 86

87 88 89 90

Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 7.1.1985, in Kraft seit 1976 und letztmals geändert am 6.12.2000 (BGBl. I S.1676).

Gesetz zum Zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen vom 11.12.2001, BGBl. I S. 3513; dieses Gesetz enthält Regeln, die dringliche richterliche Entscheide ermöglichen, um die Opfer gegen Gewaltakte zu schützen, und den Verletzten erlauben, die gemeinsame Wohnung ausschliesslich für sich zu beanspruchen.

Änderung durch das Opferschutzgesetz (18.12.1986, BGBl. I S. 2496) und das Zeugenschutzgesetz (1.12.1998, BGBl. I S. 820).

Gesetz zur Sicherung der zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer von Straftaten vom 8.5.1998, BGBl. I S. 905.

Beträge vom 1.7.2003.

BGBl. 288/1972.

7193

chischem Staatsgebiet oder einem österreichischen Schiff oder österreichischen Flugzeug verübt wird, oder wenn das Opfer bzw. seine Hinterbliebenen Wohnsitz in Österreich haben. Leistungen werden ausgerichtet für Verdienst- und Unterhaltsausfall, Heilfürsorge, orthopädische Versorgung, medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation sowie für Pflege und für Bestattungskosten. Die Hilfe betreffend Einkommensverlust und Versorgerschaden wird in Form monatlicher Zahlungen geleistet. Die Höhe der monatlichen Rente trägt dem Einkommen Rechnung und ist auf einen Höchstbetrag von 2 068,78 Euro (für das Jahr 2002) begrenzt, andere Einkommen des Begünstigten eingeschlossen. Dieser Höchstbetrag wird um einen gewissen Betrag erhöht, wenn das Opfer hauptsächlich für seine Ehegattin oder seinen Ehegatten aufkommt, sowie für jedes Kind. Andererseits sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, in Härtefällen zusätzlich Leistungen zu erbringen. Es deckt dagegen keine immateriellen Schäden.

Für den Bereich häuslicher Gewalt sind 1996 besondere Bestimmungen erlassen worden91.

1.4.4

Italien

Zurzeit bezieht sich die Opferhilfe Italiens auf bestimmte Straftaten wie Terrorismus und das organisierte Verbrechen, aber nicht auf gewöhnliche Straftaten. Im Senat wurde im August 2003 ein Gesetzesentwurf vorgestellt, der ein Rahmengesetz für Opferhilfe vorsieht92; ein Teil davon ist programmatischer Natur und orientiert sich am Rahmenbeschluss des Europarates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren. Dieser Entwurf ist im Parlament noch nicht diskutiert worden.

Das Gesetz vom 20. Oktober 199093 zugunsten der Opfer terroristischer Handlungen und des organisierten Verbrechens ist durch verschiedene Gesetze ergänzt worden, darunter jenes vom 22. Dezember 199994, das darauf zielt, den Opfern des organisierten Verbrechens eine Entschädigung des effektiven Schadens direkt durch den Staat zu leisten. Als Opfer terroristischer Handlungen und organisierter Verbrechen gelten italienische Staatsangehörige sowie ausländische Staatsangehörige und Staatenlose, die aufgrund eines terroristischen Aktes oder eines organisierten Verbrechens auf italienischem Staatsgebiet sterben oder verletzt werden. Wer Opferhilfe beansprucht, muss über ein Straf- oder Zivilurteil verfügen, in dem seine oder ihre Zivilansprüche anerkannt werden. Die Angehörigen können ebenfalls Leistungen geltend machen, wenn das Opfer verstorben ist. Die Leistungen können finanzieller oder anderer Art sein. Geldleistungen an Angehörige eines verstorbenen Opfers bestehen entweder in der einmaligen Leistung von etwa 77 000 Euro oder in einer monatlichen Rente von ungefähr 250 Euro. Die Geldleistungen an verletzte Opfer werden in der Form einer einmaligen Leistung von 770 Euro pro Invaliditäts91

92 93 94

Diese Bestimmungen sehen für die Organe der öffentlichen Sicherheit die Möglichkeit vor, die gewalttätige Person aus der Wohnung des Opfers auszuweisen und ihm den Zugang zu verbieten, selbst wenn es sich um eine gemeinsame Wohnung handelt.

Disegno di legge n. 2464 recante «Legge-quadro per «assistenza, il sostegno e la tutela di vittime di reati».

Legge n. 302 recante «Norme a favore delle vittime del terrorismo e della criminalità organizzata».

Legge n. 512 recante «Istituzione del Fondo di rotazione per la solidarietà alle vittime dei reati di tipo mafioso».

7194

prozent bezahlt (sofern feststeht, dass die Invalidität dauerhaft ist) oder als monatliche Rente. Als nicht finanzielle Leistungen fallen insbesondere Erleichterungen bei der Anstellung oder Stipendien für die Kinder in Betracht.

Der Gesetzesentwurf vom August 2003 sieht vor, allen in- und ausländischen Personen Hilfe zu gewähren, die Opfer einer Straftat auf italienischem Staatsgebiet geworden sind. Als Opfer werden jene Personen bezeichnet, gegen die die Straftat verübt wurde sowie die Angehörigen, wenn das Opfer an den Folgen der Straftat gestorben ist. Als Straftat erfasst werden schwere Delikte wie Freiheitsberaubung, Tötung, besonders schwere Körperverletzung sowie sexuelle Gewaltdelikte. Die Entschädigung deckt den Einkommensverlust bei vorübergehender oder dauerhafter Invalidität, Kosten für medizinische Betreuung und Spitalkosten, die Bestattungskosten und den Versorgerschaden. Sie wird unabhängig von der finanziellen Situation des Opfers und der Ansprüche gegenüber der Täterschaft ausgerichtet. Die Höhe der Entschädigung wird nach der Höhe des Schadens abgestuft und beträgt höchstens 1 500 000 Euro. Das Opfer hat das Recht auf bestimmte Informationen, insbesondere über die Formen der Opferhilfe und die Stellen, an die es sich wenden kann.

Schliesslich ist auf das Gesetz vom 4. April 2001 über Massnahmen gegen häusliche Gewalt hinzuweisen95.

1.4.5

Grossbritannien

Das Criminal Injuries Compensation Scheme (CICS) erlaubt, Opfer von Gewaltverbrechen zu entschädigen. Diese Regelung wurde 1996 eingeführt und im Jahr 2001 revidiert. Die zugesprochenen Entschädigungssummen betragen jährlich bis zu 200 Millionen Pfund. Das CICS erfasst Schäden, die auf dem britischen Staatsgebiet eingetreten sind, nicht jedoch solche im Ausland. Nordirland kennt eine eigene, analoge Regelung. Schädigungen durch die Benützung von Fahrzeugen sind grundsätzlich nicht erfasst. Die Angehörigen eines verstorbenen Opfers können ebenfalls eine Entschädigung erhalten. Die hauptsächliche Leistung im Rahmen der Entschädigung besteht in einem Standardbetrag («standard amount of compensation»). Mit der Ausrichtung dieser Entschädigung wird zum Ausdruck gebracht, dass das Opfer beeinträchtigt worden ist. Um in den Genuss einer solchen Leistung zu kommen, muss die Person Opfer einer genügend schweren körperlichen oder geistigen Verletzung sein. Die Berechnung der Entschädigung erfolgt aufgrund eines sehr detaillierten Tarifs, welcher der Art und Schwere der Verletzung Rechnung trägt96. Die Entschädigung kann ausgeschlossen oder herabgesetzt werden, beispielsweise wenn 95

96

Legge n. 154 recante «Misure contro la violenza nelle relazioni familiari»: Der Richter kann verschiedene Massnahmen verfügen, beispielsweise den gewalttätigen Straftäter aus der Familienwohnung ausweisen und ihm untersagen, die Wohnung ohne richterliche Erlaubnis zu betreten oder sich an Orten aufzuhalten, an denen sich üblicherweise das Opfer aufhält, sowie ihn zu regelmässigen Unterhaltszahlungen an die Angehörigen, mit denen er zusammengewohnt hat, verpflichten.

Die Standardentschädigung beträgt 250 000 Pfund für Tetraplegie oder für Quadriplegie, 175 000 Pfund für Paraplegie und 55 000 Pfund für halbseitige Lähmung. Bei Todesfolgen beträgt die Standardentschädigung 11 000 Pfund bei einem Anspruchsberechtigten und 5500 in den übrigen Fällen. Für ungewollte vaginale oder anale Penetration beträgt die Standardentschädigung 11 000 Pfund bei Einzeltäter und 13 500 Pfund bei mehreren Tätern. Sie beträgt 16 500 bis 22 000 Pfund bei wiederholten Taten über eine mehr oder weniger lange Periode. Die Standardentschädigung beträgt 11 000 Pfund, wenn das Opfer stark entstellt ist, aber nur 1500 bei geringfügiger Entstellung usw.

7195

die Person, welche eine Entschädigung geltend macht, die nötigen Schritte, die man vernünftigerweise von ihr erwarten konnte, um die Polizei zu informieren oder um mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten, unterlassen hat oder wenn diese Person kein angemessenes Verhalten an den Tag legte oder zum Entstehen des Schadens durch übermässigen Drogen- oder Alkoholgenuss beigetragen hat. Das Begehren um Entschädigung muss innert zweier Jahre nach der Begehung der Straftat eingereicht werden. Besondere Umstände erlauben eine Verlängerung der Frist durch die zuständige Behörde. Neben der Standardentschädigung kann eine Entschädigung des Erwerbsausfalls ausgerichtet werden, wenn die Arbeitsunfähigkeit länger als 28 Wochen dauert, sowie für die entstandenen Kosten wie beispielsweise die medizinischen Kosten, soweit sie nicht durch die Sozialversicherung gedeckt sind. Die Entschädigung beträgt mindestens 1000 Pfund und kann maximal 500 000 Pfund pro Fall betragen, einschliesslich des Erwerbsausfalls und weiterer besonderer Kosten.

Die Opfer erhalten unentgeltlich Informationen und Hilfe durch die gemeinnützige Organisation «victim support», die über eine nationale Telefonlinie sowie über lokale Agenturen im ganzen Land verfügt. Diese Organisation führt auch einen Dienst zur Unterstützung von Zeugen («witness support»), der an allen Strafgerichten präsent ist und der zum Ziel hat, Zeugen in Strafverfahren zu unterstützen und zu begleiten. Dieser Dienst erlaubt es den Betroffenen insbesondere, sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen und sich über den Ablauf des Prozesses zu informieren, bevor sie als Zeugen aussagen, und sich während der Anhörung begleiten zu lassen und praktische Hilfe zu erhalten.

Im Parlament wird zurzeit ein Gesetzesentwurf betreffend die häusliche Gewalt diskutiert97.

1.4.6

Spanien

Als Spanien am 20. Oktober 2001 das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten unterzeichnete, verfügte es bereits über ein System der Opferentschädigung mit zwei Regelungsbereichen, einem für terroristische Handlungen und organisierte Verbrechen98 sowie einem für Gewaltdelikte und sexuelle Delikte99. Trotz Vereinheitlichungsbemühungen, insbesondere auf administrativer Ebene, ist die Trennung der beiden Bereiche beibehalten worden.

Der Kreis der Begünstigten erstreckt sich auf die Personen, die zum Zeitpunkt der Tat über die spanische Staatsangehörigkeit verfügen oder einem Staat der EU angehören oder die ständigen Wohnsitz in Spanien haben und Staatsangehörige eines Staates sind, der umgekehrt auch spanischen Staatsangehörigen entsprechende Leis97

98

99

Es wird die Polizeikompetenzen stärken und dem Richter erlauben, Zwangsanordnungen (restraining orders) gegen gewalttätige Personen zu verfügen, wenn es das Wohl des Opfers erfordert.

Ley 32/1999, de 8 de octubre, de Solidaridad con las víctimas del terrorismo, N° de disposición: 32/1999, Fecha Disposición: 8/10/1999, Órgano Emisor: JEFATURA EL ESTADO Número de Boletín: 242/1999 Fecha Publicación: 9/10/1999, Categorias: Ayuda a las víctimas.

RCL 1995/3319, Ley 35/1995, de 11 diciembre. Jefatura Del Estado Boe 12 diciembre 1995, núm 296, [pág. 35576]; Delitos violentos y contra la libertad sexual. Ayudas y asistencia a las víctimas.

7196

tungen gewährt. Das Gesetz findet Anwendung auf Opfer von schweren Straftaten gegen die physische oder psychische Integrität, die eine dauernde oder mindestens sechsmonatige Beeinträchtigung bewirken. Die Angehörigen können ebenfalls Leistungen erhalten.

Die spanische Gesetzgebung sieht eine Hilfe vor in der Form monatlicher Zahlungen, deren Höhe vom Einkommen, der Anzahl der Unterhaltsberechtigten und von der Schwere des Schadens abhängt. Diese Leistung schliesst keine Genugtuung ein.

Der Staat tritt im Umfang seiner Leistungen in die Rechte des Opfers gegenüber der Täterschaft ein. Der Staat kann seine Leistungen aus Gründen der Angemessenheit verweigern, insbesondere wenn das Opfer direkt oder indirekt zur Begehung der Straftat oder zur Verschlimmerung von deren Folgen beigetragen hat. Einkommensschwache Opfer können einen unentgeltlichen Rechtsbeistand beanspruchen. Den Opfern von Terrorismus oder bewaffneter Banden entschädigt der Staat alle Schäden, die sich aus der physischen und psychischen Beeinträchtigung ergeben, einschliesslich der medizinischen Kosten und Sachschäden (z.B. Instandstellung von Wohnräumen).

1.4.7

Dänemark, Finnland und Schweden

Die Gesetzgebung dieser drei Länder ist sehr ähnlich100. Sie sieht eine Entschädigung vor, wenn die Straftat auf dem eigenen Staatsgebiet verübt wird. Bei Straftaten im Ausland erhalten nur Opfer mit Wohnsitz im betreffenden Staat Leistungen.

Nach finnischem Recht besteht Anspruch auf eine Entschädigung nach einer Straftat im Ausland bei Körperverletzungen, wenn das Opfer zur Zeit der Straftat Wohnsitz in Finnland hatte. Auf dieses Erfordernis kann verzichtet werden, wenn eine Entschädigung angemessen erscheint. In Schweden kann eine Entschädigung seit 2002 verweigert werden, wenn die Bindung des Opfers an Schweden nur gering ist (z.B.

wenn das Opfer inzwischen Wohnsitz im Ausland hat).

Allgemein werden körperliche Schäden entschädigt; die Genugtuung ist in dieser Entschädigung inbegriffen. Das zivile Haftpflichtrecht der nordischen Staaten ist jedoch hinsichtlich Genugtuungen sehr restriktiv. Sachschaden und wirtschaftlicher Schaden werden nur begrenzt entschädigt: das schwedische und das finnische Recht sehen nur eine Entschädigung vor, wenn das Opfer als Folge der Straftat in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Dänemark entschädigt keine wirtschaftlichen Schäden, Schweden nur, wenn das Opfer mittellos geworden ist. In Finnland ist die Entschädigung begrenzt auf 47 934 Euro für körperliche Schäden des Opfers und auf 3364 Euro für die Angehörigen eines verstorbenen Opfers sowie auf 24 050 Euro für Sachschäden. Der Einkommensverlust wird in Finnland mit 115 Euro pro Tag abgegolten. Schweden sieht ebenfalls einen Höchstbetrag vor. Dieser ist bei Körperschäden begrenzt auf das Zwanzigfache des Basisbetrags der Sozialversicherung (der im Jahr 2004 39 300 Kronen betrug); für Sachschäden beläuft sich der Höchstbetrag auf das Zehnfache des Basisbetrags der Sozialversicherung. Dänemark kennt keinen Höchstbetrag, ausser für Sachschäden.

100

Für Dänemark: Gesetz 1976/277 «Lov om erstatning fra staten til ofre for forbrydelser»; für Finnland, Gesetz 1973/935 «Lag om ersättning för brottskador av statsmedel»; für Schweden: Gesetz 1978/413 «Brottskadelag».

7197

Eine Entschädigung durch öffentliche Gelder ist nur möglich, wenn alle andern Möglichkeiten (Versicherungen, Schadenersatz) ausgeschöpft sind. Andererseits kann die Entschädigung reduziert werden, wenn der Schaden teilweise dem Opfer zuzuschreiben ist oder dieses nichts unternommen hat, um die Straftat zu vermeiden.

Das Opfer verliert alle Rechte auf Entschädigung, wenn die Straftat der Polizei nicht angezeigt wurde.

In Dänemark und Schweden muss das Begehren um Entschädigung innert zweier Jahre nach der Straftat eingereicht werden, in Finnland beträgt die Frist 10 Jahre. Sie kann in ausserordentlichen Fällen verlängert werden.

In Dänemark ist es Aufgabe der Polizei, die Opfer über das Entschädigungsverfahren zu informieren. Die zuständigen dänischen und finnischen Dienststellen haben ausschiesslich über eine Entschädigung zu entscheiden. Die schwedische Agentur hat auch Beratungs- und Hilfefunktion.

1.4.8

Verhältnis zum Recht der EU

Der Rat der Europäischen Union hat am 15. März 2001 einen Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren erlassen101. Er enthält umfassende Bestimmungen zum Schutz sowie zur Achtung und Anerkennung der Opfer. Die Mitgliedstaaten müssen in Etappen bis im März 2006 die erforderlichen Vorschriften im nationalen Recht erlassen.

Im Einzelnen sind folgende Aspekte des Rahmenbeschlusses von besonderem Interesse: Opfer im Sinne des Rahmenbeschlusses ist eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoss gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen102. Opfer haben Anspruch auf Achtung und Anerkennung und das Recht auf genau beschriebene Mindest-Informationen und zwar soweit möglich in Sprachen, die allgemein verstanden werden103.

Die Opfer sind vor Racheakten zu schützen und eine Begegnung mit dem Täter oder der Täterin ist zu vermeiden; es sind separate Warteräume für die Opfer zu schaffen104. Weiter ist dafür zu sorgen, dass das im Ausland wohnende Opfer in seinem Wohnsitzstaat Strafanzeige erstatten kann105.Der vorliegende Gesetzesentwurf übernimmt die Bestimmungen des geltenden Opferhilfegesetzes zur Stellung des Opfers im Strafverfahren weitgehend unverändert. Das geltende Recht regelt die Problematik nicht abschliessend, sondern enthält nur bundesrechtliche Mindestvorgaben an die Kantone. Die Vorschriften im vorliegenden Entwurf entsprechen nicht vollumfänglich den Vorgaben des Rahmenbeschlusses. Im Rahmen der Arbeiten für die neue Schweizerischen Strafprozessordnung besteht die Möglichkeit, das Bundesrecht dem europäischen Recht allenfalls noch mehr anzunähern106.

101 102 103 104 105 106

2001/220/JI, ABl. L 82 vom 22.3.2001, S. 1-4, im Internet unter: http://europa.eu.int/ comm/justice_home/ejn/comp_crime_victim/comp_crime_victim_ec_de.htm Art. 1 des Rahmenbeschlusses.

Art. 2 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses.

Art. 8 des Rahmenbeschlusses.

Art. 11 des Rahmenbeschlusses.

Zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechtes vgl. vorn Ziff. 1.3.1

7198

Vor kurzem beschlossen worden ist zudem eine Richtlinie des Rates zur Entschädigung für Opfer von Straftaten107. Sie regelt den Zugang zu einer Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen innerhalb der EU. Wer Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat ausserhalb seines Wohnsitzstaates geworden ist, soll bei einer Behörde oder Stelle in seinem Wohnsitzland ein Gesuch stellen können108. Es gilt das Territorialitätsprinzip, d.h. zuständig für die Entschädigung ist jener Staat, in dessen Hoheitsgebiet die Tat begangen wurde109. Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ihr Landesrecht für Opfer von vorsätzlich begangenen Gewalttaten eine gerechte und angemessene Entschädigung vorsieht110.

Das schweizerische Opferhilferecht sieht Entschädigungen und andere Leistungen nicht nur nach vorsätzlich begangenen Taten vor (Art. 1 und 2 OHG sowie Art. 1 und 2 des vorliegenden Entwurfs). Bei Straftaten, die in einem Land begangen wurden, das das Übereinkommen des Europarats ratifiziert hat, sind die Behörden zur Zusammenarbeit angehalten111.

1.5

Umsetzung

Das geltende Opferhilfegesetz lässt verschiedene Fragen offen. In der dazugehörenden Verordnung sind einige wichtige Punkte geklärt worden. Die Rechtsprechung und die Vernehmlassung haben jedoch gezeigt, dass es sinnvoll wäre, bestimmte Fragen, denen in der Praxis grosse Bedeutung zukommen, bereits im Gesetz zu beantworten. Der vorliegende Gesetzesentwurf trägt diesem Wunsch Rechnung.

Dementsprechend kann das Verordnungsrecht entlastet werden.

Dem Bundesrat wird das Recht übertragen, kleinere Anpassungen (insbesondere die Anpassung von Höchstbeträgen an die Teuerung) vorzunehmen. Zudem kann er Pauschalen und Tarife vorsehen, um die Zusprechung von Genugtuungen zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Schliesslich kann der Bundesrat subsidiäre Vorschriften erlassen über die Kostenverteilung unter den Kantonen für die Kosten der Hilfe der Beratungsstellen und die Kostenbeiträge an die Hilfe Dritter. Im Wesentlichen ist das Gesetz jedoch ­ wie bisher ­ von den Kantonen umzusetzen und anzuwenden.

Der Entwurf stützt sich auf das geltende System, so dass seine Umsetzung für die Kantone keine besonderen Probleme aufwerfen sollte. In vielen Punkten entspricht der Entwurf der heutigen kantonalen Praxis. Nur die Ausrichtung von Genugtuungen könnte zu Beginn einige Auslegungsprobleme schaffen, weshalb es wichtig ist, dass der Bund bei Bedarf Pauschalen oder Tarife einführen kann.

107 108 109 110 111

2004/80/EG, ABl. L 261 vom 6.8.2004, S. 15 ff. Text und weitere Dokumente im Internet unter: http://europa.eu.int/prelex/detail_dossier_real.cfm?CL=de&DosId=177050 Art. 1 der Richtlinie.

Art. 2 der Richtlinie.

Art. 12 der Richtlinie.

Dazu Ziff. 5.2.1 unten

7199

1.6

Parlamentarische Vorstösse

1.6.1

Vorstösse zum Opferhilfegesetz

Verwirkungsfrist Die zweijährige Verwirkungsfrist war schon beim Erlass des Opferhilfegesetzes als relativ kurz erachtet worden112. Rund zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes wurde im Nationalrat auf Vorschlag von Christine Goll die Aufhebung der Verwirkungsfrist angeregt113. Im Jahre 2000 nahm der Nationalrat ein Postulat von Doris Leuthard an, mit dem eine Verlängerung der Verwirkungsfrist für Opfer von sexuellen Übergriffen auf fünf Jahre gewünscht wurde114. Eine Verlängerung auf vier Jahre für alle Opfer verlangte ein Vorstoss von Peter Jossen-Zinsstag im Jahre 2001115. Erneut aufgegriffen wurde das Anliegen in einer Motion von Christa Markwalder Bär vom Juni 2005116. Die Expertenkommission hat die Abschaffung der Frist und einen Systemwechsel zu einer Verjährungsfrist geprüft117. Im vorliegenden Entwurf wird eine Verlängerung der Verwirkungsfrist auf fünf Jahre vorgeschlagen. Einen solchen Vorschlag hat bereits die Expertenkommission gemacht.

Ausserdem sind zwei Sonderregeln vorgesehen: Kinder, die von einem Sexualdelikt oder einer besonders schwer wiegenden Tat betroffen sind, können bis zum 25. Lebensjahr ein Gesuch einreichen (Art. 25 Abs. 2). Wer erst dann die staatliche Opferhilfe in Anspruch nehmen will, wenn sich das Vorgehen gegen den Täter oder die Täterin als fruchtlos erwiesen hat, kann in einer einjährigen Nachfrist ein Gesuch einreichen (Art. 25 Abs. 3). Mit dieser differenzierten Lösung wird den sich im einzelnen widersprechenden Anliegen zur Lockerung des geltenden Rechts Rechnung getragen, so dass die Vorstösse als erfüllt abgeschrieben werden können.

Beschränkung der Genugtuungen Mit dem bereits erwähnten Postulat von Doris Leuthard war weiter verlangt worden, die Haftung der Kantone für die vom Täter bzw. der Täterin geschuldete Genugtuung auf maximal zwei Drittel zu beschränken. Mit der Einführung einer Höchstgrenze (Art. 23) wird dieses Anliegen berücksichtigt, so dass das Postulat auch in diesem Punkt als erfüllt abgeschrieben werden kann.

112 113

114 115 116

117

Vgl. Botschaft OHG, S. 993 ad Art. 15.

94.3574 M Goll vom 16.12.1994, Opferhilfegesetz, Verwirkungsfrist in Art. 16 Abs. 3.

Die Motion wurde am 24. März 1995 als Postulat überwiesen und im Jahre 2002 zusammen mit weiteren älteren Vorstössen abgeschrieben.

00.3064 P Leuthard vom 16. März 2000, Opferhilfegesetz. Das Postulat wurde am 14. Juni 2000 angenommen.

01.3729 M Jossen-Zinstag vom 12. Dezember 2001, Verjährung von Ansprüchen gemäss Opferhilfegesetz. Die Motion wurde am 22. März 2002 als Postulat überwiesen.

05.3409 M Markwalder Bär vom 17. Juni 2005, Opferhilfegesetz, längere Verwirkungsfrist. Der Bundesrat hat am 14. September 2005 beschlossen, die Annahme der Motion zu beantragen.

Vgl. Erläuternder Bericht, S. 47 (Bemerkungen zu Art. 21 VE).

7200

1.6.2

Weitere Vorstösse

Folgende Vorstösse berühren die Opferhilfe ebenfalls: Motion Vermot 00.3055 Frauenhandel, Schutzprogramm für Betroffene Die Motion Vermot, auf die bereits in Ziffer 1.3.3 eingegangen wurde, ist als Postulat überwiesen worden. Mit diesem Vorstoss werden neben einer neuen strafrechtlichen Definition von Frauenhandel Verbesserungen bezüglich des Aufenthaltsrechts, insbesondere während eines Strafverfahrens, Schutz vor Repressalien, finanzielle Unterstützung sowie die Schaffung einer staatlich anerkannten Beratungsstelle verlangt118.

Zur Prüfung der Anliegen setzte der Bundesrat eine interdepartementale Arbeitsgruppe ein. Am 29. Mai 2002 nahm er von deren Bericht «Menschenhandel in der Schweiz» Kenntnis und lud die betroffenen Departemente ein, die darin ausgesprochenen Empfehlungen zu prüfen. Im Bereich Opferhilfe war eine unentgeltliche gesamtschweizerische 24-Stunde-Hotline zur Beratung der Opfer vorgeschlagen worden, die den Betroffenen den Zugang zur Opferhilfe erleichtern soll. Ausserdem empfahl die Arbeitsgruppe eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Polizei, Beratungsstellen und Betroffenen. Weiter sollten die Kantone im OHG verpflichtet werden, ausreichend Plätze in Frauenhäusern zur Verfügung zu stellen bzw. für eine ausreichende Finanzierung der Frauenhäuser besorgt zu sein119.

Der vorliegende Entwurf ermöglicht finanzielle (und andere) Unterstützung der Opfer von Menschenhandel ähnlich wie das geltende Recht, indem Beratungsstellen Soforthilfe und längerfristige Hilfe gewähren (Art. 13). Er hält den heute bereits geltenden Grundsatz, dass die Beratungsstellen dem Opfer und seinen Angehörigen bei Bedarf eine Notunterkunft besorgen, explizit fest (Art. 14 Abs. 1). Weiter schreibt er den Beratungsstellen vor, Kontakt mit dem Opfer aufzunehmen, wenn sie dessen Adresse ­ im Einverständnis mit dem Opfer ­ von der Polizei erhalten haben (Art. 12 Abs. 2 i.V.m. Art. 8 Abs. 2 und 3). Damit wird die Zusammenarbeit der involvierten Stellen wirksamer und der Zugang zu den Beratungsstellen gesichert.

Weiter verpflichtet der Entwurf die Kantone, bei der Schaffung und beim Betrieb von Beratungsstellen den besonderen Bedürfnissen der verschiedenen Opfer Rechnung zu tragen (Art. 9 Abs. 1). Die besonderen Bedürfnisse der Opfer von Menschenhandel werden damit anerkannt. Gleichzeitig sollen die Kantone
ermuntert werden, über die Kantonsgrenzen hinweg spezialisierte Beratungsstellen zu betreiben. Hingegen werden die Kantone aufgrund der Ergebnisse der Vernehmlassung nicht verpflichtet, genügend Frauenhausplätze zur Verfügung zu stellen120.

Der Vorschlag der Arbeitsgruppe Menschenhandel betreffend Hotline ist der Schweizerischen Verbindungsstellenkonferenz OHG (SVK-OHG)121 im Sommer des Jahres 2002 zur Stellungnahme unterbreitet worden. Die SVK-OHG lehnt eine 118

Die Motion ist am 15. März 2000 eingereicht, am 24. Mai 2000 vom Bundesrat beantwortet und am 12. Juni 2000 vom Nationalrat als Postulat überwiesen worden.

119 «Menschenhandel in der Schweiz», Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe Menschenhandel vom September 2001 an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, Ziff. 5.5; im Internet unter www.bj.admin.ch unter: Themen ­ Kriminalität ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Menschenhandel ­ Dokumentation.

120 Vgl. vorn, Ziff. 1.1.3.2.

121 Die SVK-OHG befasst sich mit der Zusammenarbeit auf interkantonaler Ebene: weitere Informationen im Internet unter www.opferhilfe-schweiz.ch (unter Gesetzliche Grundlagen).

7201

Hotline ohne spezialisierte zentrale Beratungsstelle im Hintergrund als ungenügend ab. Die Finanzierung einer solchen Stelle sei mit Vorteil durch den Bund sicherzustellen. Im Herbst 2003 ist die Beratungsstelle Makasi in Zürich an die SVK-OHG gelangt mit der Idee, eine von verschiedenen Kantonen oder vom Bund getragenen Beratungsstelle für Opfer von Frauenhandel zu schaffen. Im vorliegenden Entwurf wird dem Bund keine Kompetenz zum Betrieb von speziellen Beratungsstellen übertragen. Der Bundesrat ist der Auffassung, es sei nicht zweckmässig, den Bund neben den Kantonen zur Einrichtung von Beratungsstellen zu verpflichten. Die Einführung von Bundesbeiträgen an spezialisierte Beratungsstellen ist wegen der Neugestaltung des Finanzausgleichs nicht möglich122. Die Möglichkeit der Kantone, gemeinsame Einrichtungen zu schaffen (Art. 9 Abs. 2), sollte sie dazu anregen, ein oder zwei nationale Zentren zu errichten. Des weitern plant die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK), eine Studie in Auftrag zu geben, mit der geprüft werden soll, ob ein Bedürfnis nach spezifischen Hilfsangeboten für Opfer von Menschenhandel besteht. Der Bund (das Bundesamt für Polizei) beteiligt sich an diesem Vorhaben.

Soweit das Postulat die Opferhilfe betrifft, sind damit alle Anliegen geprüft worden.

Mit der vorgeschlagenen Revision werden sie teilweise erfüllt.

Motion Goll 03.3114 Frauenhäuser Die Motion Goll vom 20. März 2003 verlangte, der Bundesrat solle so schnell als möglich die Voraussetzungen für eine finanzielle Unterstützung der Frauenhäuser in der Schweiz schaffen. In seiner Stellungnahme versprach der Bundesrat, den Vorstoss im Lichte der Ergebnisse der Vernehmlassung zur Totalrevision des OHG zu prüfen. Die Motion ist am 18. März 2005 abgeschrieben worden, weil sie seit mehr als zwei Jahren hängig war.

In der Vernehmlassung ist der Vorschlag kontrovers aufgenommen worden123. Neue Abgeltungen sind wegen des neuen verfassungsrechtlichen Konzepts des Finanzund Lastenausgleichs nicht möglich und angesichts der Situation des Bundeshaushalts nicht zweckmässig124, weshalb der vorliegende Entwurf keine entsprechende Norm enthält. Der vorliegende Entwurf sorgt jedoch für eine gewisse finanzielle Entlastung der Frauenhäuser und der Standortkantone mit der Rückvergütungspflicht bei Frauenhausaufenthalten
ausserkantonaler Opfer (Art. 18). Ausserdem sieht er vor, dass die Beratungsstellen dem Opfer oder seinen Angehörigen bei Bedarf eine Notunterkunft besorgen (Art. 14 Abs. 1).

Zu Beginn des Jahres 2004 ist durch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann eine Vorstudie über die Bedürfnisse in Auftrag gegeben worden.

Die Schweizerische Verbindungsstellenkonferenz OHG (SVK-OHG)125 empfiehlt seit kurzem, für die ausserkantonalen Aufenthalte den jeweils gültigen Frauenhaustarif zu übernehmen, d. h. in der Regel die Vollkosten zu vergüten.

122 123 124 125

Vgl. vorn Ziff. 1.2.3.

Vgl. vorn Ziff. 1.1.3.2.

Vgl. vorn, Ziff. 1.2.3. sowie Ziff. 2, Erläuterungen zu Art. 18.

Ziff. 3.5 der Empfehlungen SVK-OHG.

7202

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

Titel und Ingress Der Titel des Gesetzes wird vom geltenden Recht unverändert übernommen.

Im Ingress wird nicht nur auf die Opferhilfebestimmung der Verfassung, sondern auch auf die Strafrechtsbestimmung verwiesen. Dies deshalb, weil das Gesetz auch Bestimmungen zum Strafverfahren enthält und diese Bestimmungen über den Schutz und die Rechte des Opfers und seiner Angehörigen erst in einem späteren Zeitpunkt Teil der Schweizerischen Strafprozessordnung werden sollen. Sie bilden vorderhand noch Bestandteil des Opferhilfegesetzes.

2.1

1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Grundsätze

Absatz 1: Der Entwurf übernimmt Artikel 2 Absatz 1 des geltenden Rechts als Grundsatz unverändert, teilt die Bestimmung aber in zwei Absätze (Abs. 1 und 3) auf. Wie bisher erhält nicht jedes Opfer einer Straftat Hilfe nach diesem Gesetz, sondern nur, wer in seiner körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtigt worden ist. Der Entwurf listet wie das geltende Recht die Straftaten, die Anspruch auf Opferhilfe geben, nicht auf. Es ist der Praxis überlassen, im Einzelfall zu entscheiden, ob ein Vorfall in den Geltungsbereich fällt oder nicht. Während gewisse Straftaten offensichtlich als Straftat im Sinne des OHG gelten (z.B. Mord, Körperverletzung, Vergewaltigung oder andere sexuelle Delikte), ist dies für andere Taten weniger klar. Das Bundesgericht hat beispielsweise erkannt, dass eine schwere Verleumdung unter besonderen Umständen Anspruch auf Opferhilfeleistungen geben kann126.

Nach dieser Rechtsprechung sind die Anforderungen an den Nachweis der Straftat je nach der Art der verlangten Opferhilfe unterschiedlich hoch. Für die Soforthilfe der Beratungsstellen und für die Wahrnehmung von Rechten im Strafverfahren genügt es, dass eine die Opferstellung begründende Straftat in Betracht fällt. Für die Zusprechung von definitiven finanziellen Leistungen ist hingegen der Nachweis einer tatbestandsmässigen und rechtswidrigen Straftat nötig127.

Absatz 2: Opferhilfe soll nicht nur dem Opfer zuteil werden, sondern auch seinen Angehörigen. Der Kreis der Angehörigen wird gleich umschrieben wie im geltenden Recht (Art 2 Abs. 2 OHG) und erfasst insbesondere auch registrierte Partnerschaften und Konkubinatspaare.

Absatz 3: Ob die beschuldigte Person ermittelt worden ist, ob sie sich schuldhaft verhalten hat und insbesondere ob sie vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat, spielt für die Opfereigenschaft grundsätzlich keine Rolle. Wie nach bisherigem Recht genügt es, wenn dargetan wird, dass die objektiven Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt sind. Redaktionell wurde die Norm auf die heute herrschende

126 127

Entscheid 1A.70/2004 vom 7.7.2004.

BGE 125 II 265 ff.

7203

Lehre128 abgestimmt, wonach Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht im Rahmen des Verschuldens zu prüfen, sondern als subjektive Tatbestandsmerkmale zu würdigen sind.

In der Vernehmlassung sind für die Umschreibung der Grundzüge der Opferhilfe sowohl Eingrenzungen (so z.B. der Ausschluss der Verkehrsdelikte und -opfer vom Geltungsbereich) als auch Ergänzungen (z.B. ausdrückliche Erwähnung des Menschenhandels) verlangt worden. Insgesamt betrachtet der Bundesrat indessen die hier vorgeschlagene Fassung als eine politisch mehrheitsfähige Lösung, die sich bisher weitgehend bewährt hat. Er lehnt es im Interesse einer kohärenten Konzeption ab, einzelne Delikte oder Opfergruppen zu privilegieren oder unterschiedlich zu behandeln.

Art. 2

Formen der Opferhilfe

Mit dieser Bestimmung wird der Leserin und dem Leser eine Übersicht geboten, welche Leistungen im Rahmen der Opferhilfe erbracht werden. Das geltende Recht enthält (im Unterschied zum Vorentwurf der Expertenkommission) ebenfalls eine solche Aufzählung, allerdings bloss in summarischer Form (Art. 1 Abs. 2). Der Leistungskatalog des Entwurfs ist dagegen detaillierter formuliert, führt aber keine neue Leistungen ein.

Art. 3

Örtlicher Geltungsbereich

Artikel 3 umschreibt den Geltungsbereich unter Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung129 präziser als bisher. Entgegen dem Wortlaut des geltenden Rechts erhält auch heute nicht jedes Opfer Opferhilfe; es bedarf einer bestimmten Beziehung zur Schweiz (Art. 11 Abs. 3 OHG).

Absatz 1 setzt für die Leistung von Opferhilfe voraus, dass eine Straftat vorliegt, die in der Schweiz begangen worden ist (Territorialitätsprinzip nach Art. 3 des Europäischen Übereinkommens vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten130). Der Begehungsort bestimmt sich gleich wie nach strafrechtlichen Grundsätzen, d.h. es kommen sowohl der Ausführungs- bzw. Unterlassungsort in Frage als auch der Ort, an dem der strafrechtliche Erfolg der Tat eingetreten ist (Art. 7 StGB131). Auch Personen mit Wohnsitz im Ausland haben Anspruch auf Opferhilfe, wenn die Straftat in der Schweiz begangen worden ist, was dem von der Schweiz ratifizierten europäischen Übereinkommen entspricht.

Absatz 2: Besteht eine genügend enge Beziehung des Opfers zur Schweiz (Art. 17), wird auch Opferhilfe geleistet, wenn die Straftat im Ausland begangen worden ist.

Die Hilfe beschränkt sich auf Soforthilfe und längerfristige Hilfe. Es werden jedoch keine Entschädigungen oder Genugtuungen ausgerichtet. Diese Lösung wird von der Mehrheit der Kantone unterstützt. Sie entspricht auch dem erwähnten Europäischen

128

Vgl. etwa Stefan Trechsel/Peter Noll, Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I, Zürich 1998, § 19D S. 74 und § 23A S. 93 sowie Kurt Seelmann, Strafrecht Allgemeiner Teil, Basel 1999, S. 39.

129 BGE 126 II 229 130 SR 0.312.5 131 Die Bestimmung wird im revidierten allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches beibehalten: vgl. Art. 8 StGB in der Fassung vom 13.12.2002 (SR 311.0), BBl 2002 8240 sowie Botschaft des Bundesrates vom 21. September 1998, BBl 1999 1979.

7204

Übereinkommen132, das im Wesentlichen auf das Territorialitätsprinzip abstellt.

Auch praktische Überlegungen sprechen für diese Lösung: Oft ergeben sich bei Straftaten im Ausland Beweisprobleme. Zudem verlangen soziale Gerechtigkeit und Billigkeit nicht, dass die Schweiz für die Folgen einer Straftat aufkommt, die in risikobehafteten Gebieten ausserhalb der Schweiz verübt werden.

Diese Regelung weicht aber vom geltenden Recht ab. Nach Artikel 11 Absatz 3 OHG erhalten Personen mit Schweizer Bürgerrecht und Wohnsitz in der Schweiz bei Straftaten im Ausland neben Beratung und Hilfe auch eine Entschädigung oder eine Genugtuung. Der Verzicht auf Entschädigung und Genugtuung erfolgt aufgrund entsprechender Vorschläge der Expertenkommission. Obschon sie im Vernehmlassungsverfahren kontrovers beurteilt wurden, hat der Bundesrat sie mit Rücksicht auf die finanziellen Auswirkungen auf die Kantone übernommen. Die Vernehmlasser waren im Übrigen geteilter Meinung über die Kriterien für die Ausrichtung solcher Opferhilfeleistungen (Nationalität, Wohnsitz usw.). Die geltende Regelung, die auf die schweizerische Staatsbürgerschaft und den Wohnsitz in der Schweiz abstellt, wurde als nicht befriedigend beurteilt.

Art. 4

Subsidiarität der Opferhilfe

Die Opferhilfe versteht sich seit je als subsidiäre Hilfe zur Milderung von Härtefällen und zur Unterstützung finanziell schlecht gestellter Opfer und Angehöriger133.

Grundsätzlich ist es Sache des Täters oder der Täterin, für die von ihm verursachten Schäden aufzukommen. Die betroffene Person wird zudem bei einem Unfall, worunter auch Integritätsbeeinträchtigungen im Zusammenhang mit einer Straftat fallen134, von Sozial- und oft auch Privatversicherungen unterstützt. Die Opferhilfe mildert allenfalls ungenügende Leistungen der primär Leistungspflichtigen und will verhindern, dass die betroffenen Personen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen. Die beiden Absätze von Artikel 4 waren, zum Teil in anderem Wortlaut, bereits im Vorentwurf enthalten (Art. 2 Abs. 2 und 3); die ausdrückliche Regelung der Subsidiarität stiess in der Vernehmlassung auf Zustimmung.

Die Leistungen der Opferhilfe werden nur definitiv gewährt, wenn gemäss Absatz 1 die für die betroffene Person notwendige finanzielle Hilfe von den primär Pflichtigen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht erbracht wird beziehungsweise wenn sie ungenügend oder lückenhaft ist. Finanzielle Opferhilfe soll aber insbesondere auch dann gewährt werden, wenn sie rasch benötigt wird und der oder die primär leistungspflichtige Person noch nicht bekannt ist, oder wenn die Voraussetzungen ihrer Leistungspflicht noch nicht geklärt sind.

Laut Absatz 2 muss das Vorliegen der Voraussetzungen nach Absatz 1 nicht bewiesen, sondern bloss glaubhaft gemacht werden. Je nach Umständen kann einem Opfer aber nicht zugemutet werden, sich um Leistungen Dritter zu kümmern (so z.B. wenn das Opfer wegen Verletzungen handlungsunfähig ist oder bei Straftaten innerhalb der Familie). In diesem Fall sind das Opfer oder seine Angehörigen von der Glaubhaftmachung entbunden. Die Bestimmung entspricht der Regel von Artikel 1 OHV, 132

Europäisches Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten, SR 0.312.5.

133 BBl 1990 II 976; BGE vom 26.1.2001, 1A.249/2000, E. 4c.

134 Art. 9 Abs. 1 der Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (UVV, SR 832.202); vgl. auch Art. 4 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG), SR 830.1.

7205

welche auf Gesetzesstufe gehoben wurde. Auch wenn die zuständige Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen hat (vgl. Art. 29 Abs. 2, der gleich lautet wie Art. 16 Abs. 2 OHG), kann das Opfer nicht vollkommen passiv bleiben, sondern ist zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts verpflichtet. Allerdings soll die Gewährung von Leistungen nicht davon abhängig gemacht werden, dass das Opfer Strafklage erhebt oder am Strafverfahren teilnimmt, wie dies von verschiedenen ausländischen Gesetzgebern vorgesehen wird. Wer einen Anspruch geltend macht, muss aber die Folgen eines Beweismangels auf sich nehmen, wenn er oder sie nicht glaubhaft machen kann, dass er bzw. sie von der beschuldigten Person oder von Dritten (Versicherungen, ausländischer Staat) keine oder nur ungenügende Beträge erhalten hat. Die Opferhilfestelle muss besonderen Umständen Rechnung tragen. Es ist denkbar, dass die Glaubhaftmachung dem Opfer wegen praktischer Schwierigkeiten oder anderer damit verbundener Belastungen nicht zugemutet werden kann.

Art. 5

Unentgeltliche Leistungen

Dieser Artikel übernimmt die Grundzüge des geltenden Rechts (insbes. Art. 3 Abs. 4 OHG) betreffend die Kostenregelung der Opferhilfe. Nach dieser Bestimmung ist das Grundangebot der Opferhilfe für die Betroffenen unentgeltlich. Unter dieses Grundangebot fallen die Soforthilfe, unabhängig davon, ob sie von Beratungsstellen selbst oder durch sie vermittelte Dritte erbracht wird, sowie die Beratung und längerfristige Hilfe, die von den Beratungsstellen selbst geleistet werden. Je nach Ausbau der Beratungsstelle umfassen diese unentgeltlichen Dienstleistungen neben der Beratung, Information und Vermittlung von Hilfe auch psychosoziale, psychologische oder juristische Beratung und Unterstützung.

Art. 6

Berücksichtigung der Einnahmen bei den übrigen Leistungen

Nach Artikel 124 der Bundesverfassung sollen Opfer entschädigt werden, die durch die Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten könnten. Wie das geltende Recht räumt Absatz 1 nur jenen einen Anspruch auf Kostenbeiträge und Entschädigung ein, die über Einnahmen unter einem bestimmten Höchstbetrag verfügen (Art. 12 Abs. 1 OHG). Die gegenwärtige Einnahmengrenze wird unverändert übernommen. Als Bezugsgrösse dient wie bisher der Höchstbetrag, der bei den Ergänzungsleistungen Anwendung findet (Art. 3b Abs. 1 Bst. a ELG135); dieser Verweis hat sich bewährt. Die finanzielle Situation als wichtiger Aspekt der «persönlichen Verhältnisse» ist heute auch bei der weiteren Hilfe zu berücksichtigen (Art. 3 Abs. 4 OHG). Die SVK­OHG empfiehlt, die gleiche Schwelle zu verwenden wie für die Entschädigung136. Der Entwurf übernimmt diese Praxis und ordnet als Voraussetzung für Kostenbeiträge für die längerfristige Hilfe Dritter die gleiche Einkommensgrenze wie für Entschädigungen an.

In Absatz 2 wird festgehalten, dass die anrechenbaren Einnahmen des Opfers oder seiner Angehörigen nach den Regeln des ELG zu berechnen sind.

135

Bundesgesetz vom 19. März 1965 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, SR 831.30.

136 Ziff. 3.3.2 der Empfehlungen SVK-OHG.

7206

Nach Absatz 3 stellt die Behörde für die Berechnung der voraussichtlichen Einnahmen des Opfers oder seiner Angehörigen auf den Zeitpunkt nach der Straftat ab, in der Regel auf den Zeitpunkt der Beurteilung. Dieser Wert kann deutlich tiefer liegen als die Höhe der Einnahmen vor der Straftat.

Laut Absatz 4 ist die Ausrichtung einer Genugtuung nicht von den finanziellen Verhältnissen abhängig, relevant sind ausschliesslich die Auswirkungen der Straftat.

Dies entspricht der gegenwärtigen Regelung. Die Losgelöstheit von den finanziellen Verhältnissen rechtfertigt sich nicht zuletzt deshalb, weil die Genugtuung Schaden ideeller Art ausgleichen soll und keinen Bezug zu materiellem Schaden hat.

Art. 7

Übergang von Ansprüchen auf den Kanton

Im geltenden Recht ist vorgesehen, dass Ansprüche des Opfers oder seiner Angehörigen betreffend Entschädigung oder Genugtuung im Umfang der kantonalen Leistungen auf den Kanton übergehen (Subrogation, Art. 14 Abs. 2 OHG). Künftig soll der Kanton auch für seine Leistungen im Rahmen der längerfristigen Hilfe in die Rechtsstellung des Opfers oder seiner Angehörigen eintreten und diese Ansprüche gegenüber dem Täter oder der Täterin oder Dritten (z.B. Versicherungen) geltend machen können (Abs. 1). Diese Ausdehnung ist sachlich gerechtfertigt und auch von einigen Vernehmlassern ausdrücklich gewünscht worden. Die Subrogation greift erst bei definitiver Leistung; ein Vorschuss hat keine Subrogation der Ansprüche zur Folge. Grundsätzlich gilt die Subrogation auch für die Soforthilfe. In der Praxis wird hier aber aus verfahrensökonomischen Gründen in der Regel auf die Geltendmachung verzichtet. Die Subrogation ist ferner nur möglich für Leistungen gleicher Art. Ein Kanton kann beispielsweise auf Grund einer von ihm geleisteten Genugtuungssumme dem Täter oder der Täterin gegenüber nur diesen Betrag, nicht aber materiellen Schadenersatz geltend machen.

Absatz 2 gibt den staatlichen Ansprüchen den Vorrang vor jenen des Opfers und seiner Angehörigen.

Nach Artikel 14 Absatz 3 OHG hat der Kanton auf den Rückgriff auf den Täter oder die Täterin zu verzichten, wenn dies deren soziale Eingliederung gefährdet. Absatz 3 übernimmt diesen Grundsatz, fügt aber auch einen zweiten Grund hinzu, nämlich ein überwiegendes Interesse des Opfers oder seiner Angehörigen (z.B. im Fall finanzieller Abhängigkeit des Opfers von der Täterschaft, wo der Regress indirekt Auswirkungen auf die finanziellen Verhältnisse des Opfers hat).

Art. 8

Information über die Opferhilfe und Meldung

Bisher war die Information über die Opferhilfe Sache der Beratungsstellen, der das Opfer befragenden Polizeiangehörigen und der mit dem Strafverfahren befassten Behörden (Art. 3 Abs. 2 Bst. b, Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 2 OHG). Das Bundesgericht hat konkretisiert, welchen Anforderungen die Polizeiorgane und die Beratungsstellen bezüglich der Information als Korrelat zur strengen Verwirkungsfrist zu genügen haben137. Die Polizei erhält nun genauer umschriebene Informationspflichten, die sich an dieser Rechtsprechung orientieren. Generell werden die Kantone zu einer umfassenderen Information über die Opferhilfe verpflichtet.

137

Vgl. Entscheid des Bundesgerichts vom 19.9.2003, 1A.137/2003, E. 5.2.

7207

Die Kantone haben nicht nur betroffene Personen individuell und konkret zu informieren, sondern sollen laut Absatz 1 auch Öffentlichkeitsarbeit leisten. Sie sollen mit geeigneten Mitteln dafür sorgen, dass künftig möglichst alle Opfer nicht nur von der Polizei, sondern auch von medizinischen Diensten (Spitälern, Arztpraxen, Ambulanzen) oder anderen Institutionen wie z.B. der Feuerwehr rasch und in geeigneter Form auf die Beratungs- und Entschädigungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht werden.

Absatz 2 nennt drei wichtige Themen, über die das Opfer bei der ersten polizeilichen Einvernahme informiert werden soll. Es soll nicht nur die Adressen und Aufgaben der Beratungsstellen erfahren, sondern auch wissen, welche Leistungen die Opferhilfe umfasst und dass für die Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung Verwirkungsfristen zu beachten sind. Diese Regelung entspricht den Anforderungen des Bundesgerichts. Wenn das Opfer nicht rechtzeitig von der Polizei über seine Rechte und deren Geltendmachung informiert worden ist, kann ihm nach der Rechtsprechung138 eine Wiedereinsetzung in die Frist zur Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung (Art. 25) gewährt werden.

Laut Absatz 3 ist es Aufgabe der Polizei, die Personalien der Betroffenen an eine Beratungsstelle weiterzuleiten, sofern die Betroffenen damit einverstanden sind.

Absatz 4: Wer im Ausland Opfer einer Straftat wird, soll bereits dort über die Opferhilfe in der Schweiz informiert werden. Dies ist in der Regel nur dann möglich, wenn sich die betroffene Person an die schweizerische Vertretung oder an jene Stelle wendet, die mit dem konsularischen Schutz beauftragt ist. Diese Stellen sind ­ wie die Polizei ­ verpflichtet, Name und Adresse der betroffenen Personen mit deren Einverständnis einer Beratungsstelle zu melden. Absatz 4 gibt den Betroffenen einen entsprechenden Anspruch und der heutigen Praxis eine klare gesetzliche Grundlage139.

Absatz 5 erklärt diese Regelung der Absätze 2­4 sinngemäss auch für Angehörige anwendbar, soweit sie mit den Polizeibehörden, der schweizerischen Vertretung oder dem schweizerischen konsularischen Schutz in Kontakt treten.

2.2

2. Kapitel: Hilfe der Beratungsstellen und Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter

2.2.1

1. Abschnitt: Beratungsstellen

Art. 9

Angebot

Die Bestimmung entspricht dem bisherigen Recht (Art. 3 Abs. 1 OHG), ist aber auf zwei Absätze aufgeteilt worden.

Absatz 1 verpflichtet die Kantone, fachlich selbständige Beratungsstellen einzurichten. Einige Vernehmlasser haben die Einrichtung spezialisierter Beratungsstellen für Opfer sexueller oder häuslicher Gewalt sowie für Opfer von Menschenhandel gefordert. Bestimmte Kategorien von Opfern haben in der Tat besondere Bedürfnisse, die 138 139

Vgl. BGE 123 II 241.

Weisungen des Bundesamts für Justiz vom 14. April 2000 an die schweizerischen Vertretungen im Ausland betreffend die Hilfe an Opfer von Straftaten.

7208

spezialisierte Einrichtungen erfordern (Frauen als Gewaltopfer, Strassenverkehrsopfer, Opfer von Menschenhandel, Minderjährige usw.). Solche sollen den Kantonen aber nicht von Bundes wegen generell vorgeschrieben werden. Die Kantone können wie bisher das Organisationsmodell und die Schwerpunkte der Beratungsstellen selbst wählen. Dabei haben sie aber auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Opferkategorien Rücksicht zu nehmen, sei es, dass sie entsprechende Einrichtungen schaffen (z.B. spezialisierte Zentren, Frauenhäuser oder spezialisierte Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel), sei es, dass sie gemeinsame Institutionen schaffen (vgl. Abs. 2), das nötige Personal ausbilden oder die nötige Hilfe vermitteln. Hinsichtlich der Abwicklung der Leistungen steht es den Kantonen frei, die Beratungsstellen mit entsprechenden finanziellen Kompetenzen auszustatten oder Sach- und Finanzkompetenzen zwischen Beratungsstellen und kantonaler Verwaltung aufzuteilen.

Ebenfalls den Kantonen überlassen bleibt der Entscheid über die Dichte des Beratungsstellennetzes. Je nach Bevölkerungsdichte, Siedlungsstruktur und Spezialisierungsgrad der Beratungsstellen sind verschiedene Organisationsformen denkbar.

Absatz 2 ermöglicht ausdrücklich eine die Kantonsgrenze überschreitende Zusammenarbeit, die nach wie vor erwünscht ist. Insbesondere für spezialisierte Beratungsstellen dürfte eine regionale Zusammenarbeit zweckmässig sein. Artikel 18 erlaubt es, für einen Ausgleich der Kosten unter den Kantonen mit besonders aufwendiger Infrastruktur und solchen mit minimalen Angeboten zu sorgen.

Art. 10

Akteneinsicht

Absatz 1: Nicht alle Kantone kennen heute das Recht der Beratungsstelle auf Einsicht in die Akten des Strafverfahrens. In der Vernehmlassung ist der Vorschlag, den Beratungsstellen ein solches Recht einzuräumen, von verschiedenen Vernehmlassern begrüsst worden. Es ermöglicht den Beratungsstellen, sich ein genaueres Bild von den Umständen des Falles und von den Bedürfnissen der Rat und Hilfe suchenden Personen zu machen. Mit der Erteilung der Zustimmung braucht das Opfer das Geschehen nicht ein weiteres Mal vollständig darzulegen. Zudem wird mit der Akteneinsicht die Abklärung des Sachverhaltes durch verschiedene Stellen koordiniert und vereinfacht. Demgegenüber erübrigt es sich, das Akteneinsichtsrecht auf die Entschädigungs- und Genugtuungsbehörden auszudehnen, wie dies einige Vernehmlasser gefordert haben, da diese Behörden den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären und deshalb ohnehin Zugang zu den Akten haben.

Zum Schutz des Opfers oder seiner Angehörigen ist die Akteneinsicht an deren Zustimmung geknüpft, wenn sie selbst am Verfahren teilnehmen. Es gibt Situationen, in denen das Opfer oder seine Angehörigen im Verfahren Aussagen machen, die sie berechtigterweise nicht weiteren Stellen zugänglich machen wollen. Allerdings müssen sie die Konsequenzen tragen, die sich allenfalls aus der fehlenden Kenntnis der Beratungsstelle ergeben können.

Absatz 2: Das Akteneinsichtsrecht kann vernünftigerweise der Beratungsstelle verweigert werden, wenn dies nach massgebendem Strafprozessrecht auch dem Opfer gegenüber möglich wäre.

7209

Art. 11

Schweigepflicht

Die strenge Schweigepflicht des geltenden Rechts wird mit einer Bestimmung ergänzt: Neu wird ­ im Einklang mit der mehrheitlich in der Vernehmlassung vertretenen Haltung ­ in Absatz 3 ein Melderecht bei Gefährdung minderjähriger Personen eingeführt. Im Übrigen hält sich die Bestimmung eng an Artikel 4 OHG.

Absatz 1 übernimmt wörtlich Artikel 4 Absatz 1 und 2 des OHG. Absatz 2 entspricht Artikel 4 Absatz 3 OHG.

Absatz 3 sieht eine Spezialregelung zum Schutz minderjähriger Personen vor. Die Beratungsstellen sollen Meldung an die Vormundschaftsbehörde oder an die Strafverfolgungsbehörde erstatten können, wenn eine ernsthafte Gefahr besteht, dass das minderjährige Opfer oder eine andere minderjährige Person Opfer neuer Straftaten i.S. von Artikel 1 Absatz 1 werden könnte (z.B. im Fall eines pädophilen Lehrers oder bei häuslicher Gewalt). Bewusst ist die Ausnahme von der Schweigepflicht nicht auf andere abhängige Personen ausgedehnt worden; die Schweigepflicht soll die Regel sein, sonst wird das Vertrauen in die Beratungsstellen untergraben. In ausserordentlichen Fällen soll sich eine Beratungsstelle aber wie bisher gemäss restriktiven Voraussetzungen unter Berufung auf Artikel 34 des Strafgesetzbuches140 über den Notstand auch bei der Gefährdung anderer als minderjähriger Personen, beispielsweise bei Urteilsunfähigen, über die Schweigepflicht hinwegsetzen können.

Vorgeschlagen wird ein Melderecht und keine gesetzliche Meldepflicht, welche das Vertrauen des Opfers gefährden könnte. Mit dem Melderecht ist es möglich, von Fall zu Fall die verschiedenen Interessen gegeneinander abzuwägen und die angemessene Lösung zu wählen.

Die beratende Person kann die Vormundschaftsbehörde oder die Strafverfolgungsbehörde oder beide gleichzeitig avisieren. Mit Angaben zur bereits erfolgten Tat und zur aktuellen Situation des gefährdeten Kindes soll der Vormundschaftsbehörde ermöglicht werden, gezielt weitere Abklärungen zu treffen und die notwendigen Kindesschutzmassnahmen zu ergreifen. Ein Einschalten der Strafverfolgungsbehörden ermöglicht eine genauere Abklärung des Sachverhalts unter Einbezug der beschuldigten Person. Zugleich sind unter Umständen Zwangsmassnahmen wie Untersuchungs- und Sicherheitshaft gegenüber der beschuldigten Person möglich.

Die zuständige Behörde der Strafrechtspflege kann das Strafverfahren
aber auch im Interesse des Kindes ausnahmsweise wieder einstellen (Art. 44).

Mit der neuen Regelung wird dem Widerspruch zwischen der Schweigepflicht nach OHG und einer allfälligen kantonalen Anzeigepflicht Rechnung getragen.

Ähnliche Bestimmungen kennt das Strafgesetzbuch: Artikel 358bis enthält die Mitteilungspflicht der Behörden und Artikel 358ter regelt das Mitteilungsrecht, das für jene Personen gilt, die dem Amts- und Berufsgeheimnis nach Artikel 320 und 321 Strafgesetzbuch unterstehen.

Absatz 4 enthält eine Strafandrohung und entspricht Artikel 4 Absatz 4 OHG.

140

SR 311.0

7210

2.2.2 Art. 12

2. Abschnitt: Leistungen der Beratungsstellen Beratung

Absatz 1: Hauptaufgabe der Beratungsstellen bleibt die individuelle Beratung der von einer Straftat betroffenen Personen. Die Beratungsstelle hat sie über die Hilfsangebote und deren Kostenfolgen, über Entschädigungen und Genugtuungen und über Rechte und Pflichten, auch in einem allfälligen Strafverfahren, zu informieren.

Die Aufgaben der Beratungsstellen bleiben damit gleich wie heute (Art. 3 Abs. 2 OHG).

Die Beratungsstelle wird nach Absatz 2 von sich aus tätig und nimmt mit dem Opfer oder seinen Angehörigen Kontakt auf, wenn die Polizei (oder, bei Taten im Ausland, die Botschaft oder der konsularische Schutz) ihr nach Artikel 8 Absatz 2 Meldung erstattet. Das geltende Recht enthält diese Regelung nicht ausdrücklich. Implizit geht sie aber aus der Verpflichtung hervor, Daten über das Opfer der Beratungsstelle zu übermitteln.

Art. 13

Soforthilfe und längerfristige Hilfe

In Absatz 1 wird der Begriff der Soforthilfe umschrieben. Damit ist jene Hilfe gemeint, welche die aus der Straftat resultierenden Bedürfnisse abdeckt, die keinen Aufschub ertragen. Sie wird typischerweise kurz nach der Straftat geleistet, je nach Umständen aber auch später. Die Soforthilfe kann unterschiedlichste Leistungen erfassen (psychologische Hilfe, medizinische Versorgung, Kleidung, Unterkunft, Notgroschen, erste anwaltliche Beratung usw.). Die Umschreibung und die Definition lehnen sich an die Empfehlungen der Schweizerischen VerbindungsstellenKonferenz OHG141 an.

Oft ist es mit der Soforthilfe nicht getan und das Opfer oder seine Angehörigen benötigen zusätzliche Unterstützung, die in Absatz 2 als «längerfristige Hilfe» umschrieben wird. Diese längerfristige Hilfe dient dazu, die Folgen der Straftat zu beseitigen oder wenigstens zu mildern. Sie kann alle Leistungsformen umfassen (medizinische und soziale Betreuung, Transporte, Übersetzungen usw.) und über eine längere Zeit erbracht werden. Medizinische und psychologische Hilfe soll bis zu dem Zeitpunkt erbracht werden, in dem keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann, was je nach Umständen mehrere Monate oder sogar Jahre dauern kann. Diese Umschreibung des massgebenden Zeitpunktes wird auch im Unfallversicherungsrecht verwendet142. Die Stabilisierung des Zustandes bedeutet also nicht zwingend Genesung. Benötigt ein Opfer nach der Stabilisierung weiterhin Hilfe, so ist diese über andere Institutionen (insbesondere über die Sozialversicherungen) zu erbringen. Aufwand, der nach diesem Zeitpunkt nicht gedeckt ist, kann zudem bei einer opferhilferechtlichen Entschädigung nach Artikel 19 berücksichtigt werden. Andere längerfristige Hilfe wird längstens gewährt, bis die Folgen der Straftat möglichst beseitigt oder ausgeglichen sind. Die längerfristige Hilfe umfasst schliesslich auch die juristische Unterstützung (Anwalts- und Verfahrenskosten) in Verfahren, die Folge der Straftat sind (insbesondere zivilrechtliche Verfahren auf Schadenersatz und Genugtuung sowie versicherungsrechtliche Ver-

141 142

Empfehlungen SVK-OHG, Ziff. 3.3.1.

Art. 19 des Unfallversicherungsgesetzes vom 20. März 1981 (UVG), SR 832.20.

7211

fahren). Die Frage, wie weit die Kostenbeiträge die Kosten der längerfristigen Hilfe decken, wird in Artikel 16 geregelt.

Absatz 3 hält fest, dass die Soforthilfe und die längerfristige Hilfe nicht nur von den Beratungsstellen selbst, sondern auch von Dritten, die von den Beratungsstellen vermittelt werden, geleistet werden können. In der Praxis verfügen die Beratungsstellen selten über spezialisiertes Personal für alle oben genannten Leistungen.

Art. 14

Umfang der Hilfe

Laut Absatz 1 leisten oder vermitteln die Beratungsstellen die im Einzelfall nötige Unterstützung wie z.B. psychologische, medizinische oder anwaltliche Hilfe. Diese Hilfe wird nur geleistet, wenn sie notwendig ist. Diese Voraussetzung wird beispielsweise hinsichtlich rechtlicher Beratung nicht erfüllt, wenn das Opfer über eine Rechtsschutzversicherung verfügt. Ferner muss die Hilfe angemessen sein. So erstreckt sich etwa die juristische Hilfe nicht auch auf offensichtlich nutzlose Schritte.

Die Kantone können wie bisher ein Organisationsmodell wählen, das entweder den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Hilfe legt oder aber Beratungsstellen mit eigenem breitem (allgemeinem oder auf bestimmte Opfer spezialisiertem) Dienstleistungsangebot einrichten. Diese Zurückhaltung beim Eingriff in die Organisationshoheit der Kantone wird relativiert durch das Recht der Betroffenen, eine Beratungsstelle der eigenen Wahl aufzusuchen (Art. 15 Abs. 3), und durch die Pflicht der Wohnsitzkantone, die in andern Kantonen angefallenen Kosten in der Form von Pauschalen zu übernehmen (Art. 18). Ausdrücklich erwähnt wird, im Unterschied zum geltenden Recht und zum Vernehmlassungsentwurf, dass die Opferhilfe je nach konkreten Umständen auch darin bestehen kann, dem Opfer oder seinen Angehörigen eine Notunterkunft zu besorgen. Eine Notunterkunft kann namentlich bei Beziehungsdelikten nötig werden. Diese Bestimmung entspricht der heutigen Praxis.

Absatz 2 räumt Personen mit Wohnsitz im Ausland den Anspruch auf Kostenbeiträge an die medizinische Betreuung an ihrem ausländischen Wohnsitz ein. Dieser Anspruch steht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten143, das mindestens eine Entschädigung für die Heilbehandlungs- und Krankenhauskosten vorsieht (Art. 4). Die Regelung ist nötig wegen der Neufassung des Schadensbegriffs in Artikel 19.

Art. 15

Zugang zu den Beratungsstellen

Nach Absatz 1 werden die Kantone verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Betroffenen innert angemessener Frist Soforthilfe erhalten. Gewisse Grundleistungen (psychologische Unterstützung, Notunterkunft) müssen jederzeit erbracht werden, sei es durch eine Beratungsstelle, sei es durch andere Stellen (z.B. Dargebotene Hand, Polizei, Notfalldienste).

143

SR 0.312.5

7212

Es ist Sache des jeweiligen Kantons zu entscheiden, welche organisatorischen Vorkehren angesichts der bereits vorhandenen Strukturen nötig sind, um dieses Ziel zu erreichen. Mit dieser Hilfe können eine oder mehrere Opferberatungsstellen, aber auch andere Einrichtungen wie medizinische, psychologische oder soziale Notfalldienste betraut werden. Die beauftragten Stellen übernehmen eine öffentlichrechtliche Aufgabe aus dem Bereich Beratung. Der Kanton hat deshalb dafür zu sorgen, dass bei der Übertragung dieser Aufgabe an Dritte die bundesrechtlichen Vorgaben eingehalten werden (insbesondere fachliche Autonomie, Schweigepflicht). Das Projekt sieht im Unterschied zum geltenden Recht keine Verpflichtung der Beratungsstellen rund um die Uhr mehr vor. Aus der Sicht der Kantone war diese Verpflichtung den Bedürfnissen nicht angemessen. Der Entwurf enthält eine flexiblere Lösung.

Absatz 2 hält fest, dass der Anspruch auf Hilfe der Beratungsstellen nicht verwirkt, also unabhängig vom Zeitpunkt der Straftat beansprucht werden kann. Dieser Grundsatz entspricht geltendem Recht (Art. 12 Abs. 1 OHV). Weil es sich um einen wesentlichen Grundsatz handelt, soll er auf Gesetzes- und nicht bloss auf Verordnungsstufe aufgeführt werden.

In Absatz 3 wird schliesslich festgehalten, dass das Opfer und seine Angehörigen ein Wahlrecht haben und sich die Beratungsstelle frei aussuchen können. Die freie Wahl der Beratungsstellen kann für die Betroffenen wichtig sein, weshalb der bereits heute geltende Grundsatz (Art. 3 Abs. 5 OHG) unverändert übernommen wird. Es besteht ein offensichtliches Bedürfnis, in bestimmten Situationen eine ausserkantonale Beratungsstelle aufzusuchen. Dies dürfte allerdings zur Folge haben, dass gute Beratungsstellen auch für ausserkantonale Opfer attraktiv sind und zu entsprechend höheren Kosten führen. Zudem macht es wenig Sinn, gewisse spezialisierte Einrichtungen in jedem Kanton vorzusehen. Deshalb ist eine interkantonale Kostenregelung angemessen (Näheres s. Erläuterungen zu Art. 18).

Art. 16

Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter

Die Kosten der von Dritten erbrachten längerfristigen Hilfe werden ganz oder teilweise von der Opferhilfe übernommen, sofern das Einkommen des Opfers beziehungsweise seiner Angehörigen einen gewissen Höchstbetrag nicht übersteigt.

Berechnungsgrundlage bildet der in Artikel 6 Absatz 1 umschriebene Höchstbetrag.

Liegen die anrechenbaren Einnahmen unter dem doppelten Höchstbetrag, übernimmt der Kanton die gesamten Kosten (Bst. a). Liegen die Einnahmen höher, aber noch unter dem vierfachen Höchstbetrag, übernimmt der Kanton einen entsprechenden Anteil der Kosten (Bst. b). Liegen die Einnahmen über dem vierfachen Höchstbetrag, erbringt der Kanton keine finanziellen Leistungen für die längerfristige Hilfe.

Nach geltendem Recht werden Kosten übernommen, «soweit dies aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers angezeigt ist» (Art. 3 Abs. 4 OHG). Nach den Empfehlungen der Schweizerischen Verbindungsstellen-Konferenz OHG144 und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind namentlich die finanziellen Verhältnisse des Opfers zu beachten. Gleichzeitig sind aber auch die Notwendigkeit, die Eignung und die Angemessenheit einer Hilfeleistung oder Massnahme zu berücksichtigen. Im Entwurf der Expertenkommission wird ausschliesslich auf die finanziellen Verhältnisse abgestellt (Art. 2 Abs. 4 und 10 Abs. 3 VE OHG). In der Vernehmlassung 144

Empfehlungen SVK-OHG, S. 8.

7213

wurde zum Teil auch die Berücksichtigung weiterer Kriterien gewünscht. Der Bundesrat hat dennoch die engere Formulierung der Expertenkommission übernommen, weil sie für die Bestimmung der Höhe einer Leistung genügt. Ob eine Leistung grundsätzlich nötig, geeignet und angemessen ­ also verhältnismässig ­ ist, muss vorab ohnehin geprüft werden, wie dies die Artikel 13 Absätze 1 und 2 sowie 14 Absatz 1 des Entwurfs vorsehen.

Es ist nicht nötig, dass das Beitragsgesuch gestellt wird, bevor die Hilfe durch die externe Fachperson beansprucht wird. Auch nachträglich gestellte Gesuche um Kostenübernahmen sind zu bewilligen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Wie in der bisherigen Praxis wird es häufig nötig sein, die Hilfe an das Opfer oder an Angehörige mit Kostengutsprachen frühzeitig zu sichern, während der definitive Anteil der Opferhilfe an die ungedeckten Kosten erst später festgelegt werden kann.

Für die definitive Bemessung des Beitrags seitens der Opferhilfe ist von den Kosten auszugehen, die von Dritten wie der beschuldigten Person oder Versicherungen nicht übernommen werden. Die Kantone können für die Abgeltung juristischer Hilfe die Ansätze für unentgeltlichen Rechtsbeistand anwenden.

2.2.3

3. Abschnitt: Straftat im Ausland

Art. 17 Grundsätzlich sollen in der Schweiz wohnende Personen, die Opfer einer Tat im Ausland geworden sind, Beratung, Soforthilfe sowie längerfristige Hilfe beanspruchen können, wie dies von einer starken Mehrheit der Vernehmlasser befürwortet wird. Das Opfer einer im Ausland begangenen Straftat sowie die Angehörigen dieses Opfers sind in dieser Hinsicht jenen Personen gleichgestellt, die von einer in der Schweiz begangenen Straftat betroffen sind. Als einzige Voraussetzung verlangt Artikel 17 Absatz 1, dass das Opfer im Zeitpunkt der Tat und im Zeitpunkt der Gesuchstellung Wohnsitz in der Schweiz hatte. Bei Angehörigen wird vorausgesetzt, dass sowohl sie als auch das Opfer im Zeitpunkt der Tat und im Zeitpunkt der Gesuchstellung Wohnsitz in der Schweiz hatten. Erforderlich ist ein Wohnsitz im Sinne von Artikel 23 ff. des Zivilgesetzbuches (ZGB)145. Der Zeitpunkt der Tat meint den Zeitpunkt des strafrechtlich verpönten Handelns oder Unterlassens. Ob bei Erfolgsdelikten mit grenzüberschreitendem Sachverhalt eine Straftat in der Schweiz oder eine Straftat im Ausland vorliegt, ist anhand der Bestimmungen des Strafgesetzbuches zum Begehungsort zu entscheiden (Art. 7 StGB146).

Ausländer, die im Ausland Opfer einer Straftat geworden sind und nachher in die Schweiz kommen (z.B. Asylbewerber, die in ihrem Herkunftsland gefoltert worden sind), haben nach wie vor keine Ansprüche gestützt auf das Opferhilfegesetz.

Aufgrund der Vernehmlassungsergebnisse ist ferner darauf verzichtet worden, die Erfüllung weiterer Bedingungen, insbesondere eine Mindestdauer des schweizerischen Wohnsitzes oder das schweizerische Bürgerrecht, vorauszusetzen. Die Tatsache, dass die Ausrichtung von Leistungen von einer Mindestdauer des Wohnsitzes

145 146

SR 210 In der revidierten Fassung ist diese Bestimmung in Art. 8 enthalten (Fassung vom 13.12.2002, BBl 2002 8240).

7214

abhängig gemacht werden soll, wurde von vielen Vernehmlassungsteilnehmern als zu restriktiv, willkürlich und diskriminierend kritisiert.

Das Subsidiaritätsprinzip gelangt hier ebenso zur Anwendung wie bei Straftaten im Inland (Abs. 2).

2.2.4

4. Abschnitt: Kostenverteilung zwischen den Kantonen

Art. 18 Grundsätzlich hat jeder Kanton die Kosten der Opferhilfe selbst zu tragen. Das Vernehmlassungsverfahren hat gezeigt, dass diese Regel einer Korrektur bedarf.

Verschiedene Gründe führen nämlich dazu, dass Betroffene nicht immer Beratungsstellen im Wohnsitz- oder Tatortkanton aufsuchen. Zum einen sind die Infrastrukturen der einzelnen Kantone recht unterschiedlich; spezialisierte und ausgebaute Beratungsstellen finden sich naturgemäss eher in bevölkerungsstarken Kantonen mit grossen Städten. Ferner kann ein Opfer je nach Umständen ein Interesse daran haben, die Hilfe von einer Beratungsstelle zu erhalten, die eine gewisse Distanz zum Tat- oder Wohnort hat. Aus diesem Grund gilt auch das Recht auf freie Wahl (Art. 15 Abs. 3). Dies hat zur Folge, dass die Kosten unter den Kantonen ungleich, d.h. nicht zwingend am Wohn- oder Tatort anfallen.

Absatz 1: Der Wohnsitzkanton soll im Wesentlichen für die Kosten jener Personen aufkommen, die Beratung, längerfristige Hilfe der Beratungsstellen und Kostenbeiträge an die längerfristige Hilfe Dritter durch einen andern Kanton erhalten. Kantone mit einer ausgebauten Infrastruktur und grösseren Zentren würden sonst benachteiligt. Die Kantone sollen diese Rückerstattung von Kosten grundsätzlich selbst regeln, da sie über die entsprechenden Ausgaben entscheiden. Besteht hingegen keine interkantonale Regelung, so gilt subsidiär eine einfache Abgeltungsregel. Ihre Grundzüge sind in Absatz 2 geregelt: Auf der Basis der gesamten Kosten der Kantone für die Beratungsstellen und für die längerfristige Hilfe Dritter sollen Fallpauschalen pro Opferhilfe beanspruchende Person berechnet werden. Damit können auf effiziente und kostengünstige Art die Kosten grob ausgeglichen werden. Geht man von den verfügbaren Daten aus, die sich auf das Jahr 2002 beziehen, ergäben sich bei Totalkosten von rund 22 Millionen Franken und insgesamt rund 24 000 Beratungsfällen Durchschnittskosten von rund 900 Franken pro Fall. Insgesamt nahmen im Jahr 2001 2243 Personen Opferhilfe in einem andern als ihrem Wohnsitzkanton in Anspruch. Das gesamte Ausgleichsvolumen liegt damit in der Grössenordnung von gut 2 Millionen Franken, allerdings mit sehr unterschiedlicher Verteilung (Zürich würde rund die Hälfte dieser Summe für sich beanspruchen können). Für die statistischen Einzelheiten wird auf
Anhang 1 verwiesen. Ein System mit Pauschalen hätte den Vorteil, dass der leistungserbringende Kanton ein Interesse daran hätte, keine übermässigen Leistungen zu erbringen. Wichtig ist auch, dass die Leistungen zügig erbracht werden und nicht vorgängig eine Zustimmung des Wohnortkantons eingeholt werden muss.

Artikel 26 regelt klar, wann welcher Kanton für Entschädigungen und Genugtuungen zuständig ist. Hier bedarf es keiner Korrektur durch eine besondere Regelung der Kostentragung unter den Kantonen.

7215

Der Bundesrat regelt die Einzelheiten der Berechnung (Art. 45 Abs. 2). Im Wesentlichen kann dabei auf die bestehende Opferhilfestatistik abgestellt werden. Denkbar wäre, die subsidiäre Regel erst ab einer bestimmten Fallzahl anzuwenden, um Bagatellen auszuschliessen.

2.3

3. Kapitel: Staatliche Entschädigung und Genugtuung

2.3.1

1. Abschnitt: Entschädigung

Art. 19

Anspruch

Artikel 19 regelt die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entschädigung für die unfreiwillige Vermögensverminderung (Schaden), welche das Opfer oder seine Angehörigen erlitten haben. Im Vernehmlassungsverfahren ist verschiedentlich eine klare Abgrenzung gewünscht worden zwischen dem durch die Entschädigung gedeckten Schaden und den Kosten, die über die längerfristige Hilfe gedeckt werden. Mehrere Kantone und die SVK-OHG haben ausserdem vorgeschlagen, den «normativen» Haushaltschaden auszuschliessen147.

Nach dem vorliegenden Entwurf sind für die Bestimmung des Schadens grundsätzlich die Prinzipien des Haftpflichtrechts anwendbar. Gewisse Schadensposten werden aber ausgeschlossen. Es handelt sich einerseits um Schadensposten, deren Entschädigung über die Ziele der Opferhilfe hinausgehen würde, und andererseits um solche, die vom Gesetz auf andere Weise berücksichtigt werden. Mit der hier vorgeschlagenen Präzisierung des anrechenbaren Schadens in Verbindung mit der Klärung des Zwecks und der Dauer der Hilfe der Beratungsstellen nach Artikel 13 wird es möglich, eindeutig abzugrenzen, was durch eine Entschädigung und was durch die Hilfe gedeckt wird.

Absatz 1 legt fest, wer Anspruch auf Entschädigung hat. Es sind dies sowohl das Opfer als auch die Angehörigen. Der Kreis der Angehörigen wird in Artikel 1 Absatz 1 des Entwurfs definiert.

Die allgemeinen Voraussetzungen einer Entschädigung (Einnahmengrenze und Subsidiarität) finden sich in den allgemeinen Bestimmungen des Gesetzes (Art. 6 Abs. 1 und Art. 4). Die folgenden Absätze bestimmen, welche Schadensposten bei einer opferhilferechtlichen Entschädigung berücksichtigt werden.

Absatz 2 hält fest, dass für die Bestimmung der anrechenbaren Schadensposten grundsätzlich das Zivilrecht massgebend ist. Das in seiner Integrität beeinträchtigte Opfer hat demnach Anspruch auf eine opferhilferechtliche Entschädigung an Kosten, die infolge der Beeinträchtigung entstanden sind, sowie für Nachteile gänzlicher oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens (Art. 46 OR148). Für die Entschädigung an die hinterbliebenen Angehörigen können die Bestattungskosten, die Heilungskosten und die Nachteile der Arbeitsunfähigkeit vor dem Tode des Opfers sowie der Versorgerschaden (Art. 45 OR) berücksichtigt werden. Vorbehalten bleiben in beiden Fällen die Absätze 3 und 4.

147 148

Ergebnisse, S. 64.

SR 220

7216

Gemäss Absatz 3 werden Sachschäden nicht berücksichtigt149: Die Entschädigung deckt nur Schaden, der durch die Beeinträchtigung oder den Tod des Opfers entsteht. Dies entspricht Ziffer 5.3 der Empfehlungen der SVK-OHG150 und dem Vorentwurf. Der Schaden, der bereits durch die Soforthilfe oder durch die längerfristige Hilfe im Sinne von Artikel 13 gedeckt ist, wird nicht berücksichtigt. In diese Kategorie fallen die Heilungs- und Pflegekosten sowie Kosten für Haushalthilfen, die vor einer Stabilisierung des Gesundheitszustandes anfallen. Die Übernahme von Anwalts- und Verfahrenskosten fällt ebenfalls unter Artikel 13; damit sollen die Folgen der Beeinträchtigung kompensiert werden, die nicht vom Gesundheitszustand abhängen.

Absatz 4 ermöglicht, den Schaden im Zusammenhang mit Tätigkeiten im Haushalt zu berücksichtigen, wenn er kostenmässig konkrete Auswirkungen hat; eine Entschädigung für einen Schaden, der nicht effektiv erlitten wird, entspricht nicht dem sozialen Gedanken des OHG.

Die hier vorgeschlagene Regelung weicht entsprechend den Vorschlägen in der Vernehmlassung von der gegenwärtigen Praxis ab. Diese orientiert sich an der zivilrechtlichen Rechtsprechung und anerkennt den «normativen» Haushaltschaden.

Die Besonderheit des normativen Schadens liegt darin, dass er ohne Nachweis konkret entstandener Kosten zu ersetzen ist. Nach dem gleichen Konzept wird im Zivilrecht Pflege- bzw. Betreuungsschaden ersetzt151.

Da es in der Opferhilfe anders als im Haftpflichtrecht nicht darum geht, das Opfer finanziell gleich zu stellen wie vor der Straftat, sind Schäden ohne Vermögenseinbusse bei der Bestimmung des anrechenbaren Schadens nicht zu berücksichtigen.

Haushaltschaden und Betreuungsschaden werden deshalb nur berücksichtigt, wenn eine Vermögenseinbusse entsteht, sei es durch den Aufwand für die Anstellung einer Haushalthilfe oder durch die Einkommenseinbusse bedingt durch eine Reduktion der Erwerbstätigkeit. Diese Voraussetzung für die Entschädigung des Haushalts- und des Betreuungsschadens kann vom Opfer erfüllt werden oder von seinen Angehörigen, die im gleichen Haushalt leben oder es pflegen. In Zukunft wird es also nicht mehr möglich sein, Haushaltschaden zu entschädigen, wenn das Opfer es vorzieht, Qualitätseinbussen oder Mehraufwand in Kauf zu nehmen, oder wenn die Angehörigen die
zusätzliche Arbeit ohne externe Hilfe oder ohne Einschränkung ihrer Erwerbstätigkeit übernehmen. Die Festsetzung des Schadens richtet sich wiederum nach Haftpflichtrecht (vgl. Abs. 2, Art. 45 und Art. 42 OR).

Stirbt das Opfer, haben die Angehörigen Anspruch auf eine Entschädigung für den Haushaltschaden, soweit es sich um Versorgerschaden handelt. Auch in diesem Fall ist eine opferhilferechtliche Entschädigung nur geschuldet, wenn eine der beiden Voraussetzungen nach Absatz 4 vorliegt.

149

Bisher blieb diese Frage in der Rechtsprechung offen (vgl. Bundesgerichtsurteil 1A.163/2000).

150 Im Internet unter www.opferhilfe-schweiz.ch (unter Gesetzliche Grundlagen).

151 Zum Haushaltschaden in der Opferhilfe: BGE 1A.228/2004, BGE 129 II 145 und 1A.252/2000, zum Pflege- und Betreuungsschaden im Zivilrecht: BGE 4C.276/2001.

Zum Haushaltschaden als Teil des Versorgerschadens: 1A.252/2000.

7217

Art. 20

Festsetzung

Absatz 1: Heute regelt Artikel 14 OHG die Subsidiarität der vom Staat erbrachten opferhilferechtlichen Entschädigungen und Genugtuungen. Gleichzeitig sieht diese Bestimmung vor, dass die infolge der Straftat entstandenen Ansprüche des Opfers gegen die Täterschaft und gegen Versicherungen auf den Kanton übergehen, wenn dieser eine opferhilferechtliche Leistung zugesprochen hat. Diese Ansprüche des Staates werden im Vergleich zu den Ansprüchen Dritter bevorzugt behandelt. Die Bestimmung befasst sich schliesslich noch mit dem Rückgriff des Staates auf den Täter oder die Täterin. Die Lehre hat dieses System der Leistungskoordination verschiedentlich als problematisch qualifiziert152.

Die Expertenkommission hat deshalb die Subsidiarität und die Leistungskoordination überprüft. Sie kam zum Schluss, dass trotz der erwähnten Kritik die Grundsätze des geltenden Systems beizubehalten seien. In der Praxis bietet lediglich die Koordination in ganz speziellen Einzelfällen Schwierigkeiten; die Evaluation hat dies bestätigt.

Der vorliegende Entwurf regelt die Subsidiarität in Artikel 4 Absatz 1 neu für alle Leistungen. Artikel 20 Absatz 1 konkretisiert diesen Grundsatz für den Fall, in dem das Opfer bereits Leistungen erhalten hat.

Die geltende Fassung von Artikel 14 OHG gilt als unklar und wurde neu formuliert.

Allerdings werden weiterhin Leistungen Dritter in die Schadensberechnung einbezogen; dasselbe gilt in ähnlicher Weise für die Genugtuung153. Die Leistungen Dritter werden bei der Bestimmung des massgebenden Schadens angerechnet. Es ist mit andern Worten vom Nettoschaden auszugehen. Der zweite Satz von Artikel 14 Absatz 1 OHG154 bildet ein Versehen des Gesetzgebers und ist deshalb nicht in den vorliegenden Entwurf übernommen worden. Sowohl die Lehre als auch die Rechtsprechung155 haben nämlich anerkannt, dass zur korrekten Bemessung der Entschädigung die Leistungen Dritter sowohl bei der Berechnung der Einnahmen nach dem ELG als auch bei der Bestimmung des Nettoschadens zu berücksichtigen sind156. In ersterem Fall geht es darum zu prüfen, ob das Opfer oder dessen Angehörige durch die Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind und folglich eine finanzielle Hilfe durch die Kantone benötigen. In letzterem Fall geht es darum, das Ausmass des nicht gedeckten Schadens zu bestimmen. Kürzlich
hat das Bundesgericht entschieden, dass die Kongruenzregeln des Haftpflichtrechts nicht anwendbar sind157. Dies bedeutet, dass Schadensleistungen Dritter auch dann anzurechnen sind, wenn sie mit einem Schadensposten nicht kongruent sind. So sind beispielsweise Leistungen Dritter, wie etwa eine Hinterlassenenrente im Sinne von Artikel 28 UVG

152

153 154

155 156 157

Vgl. insbesondere Gomm/Stein/Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995 S. 208; Alexandra Rumo-Jungo, Haftpflicht und Sozialversicherung, Freiburg 1998, Rz. 1124.

Vgl. die Erläuterungen zu Art. 23 Abs. 3.

Art. 14 Abs. 1 erster und zweiter Satz OHG lauten wie folgt: «Leistungen, die das Opfer als Schadenersatz erhalten hat, werden von der Entschädigung abgezogen. Ausgenommen sind Leistungen (insbesondere Renten und Kapitalabfindungen), die bereits bei der Berechnung des Einkommens berücksichtigt worden sind.» BGE 125 II 169, BGE 126 II 237, BGE 129 II 145 Vgl. auch Gomm/Stein/Zehntner, S. 223 f.

BGE 129 II 145

7218

oder eine Todeskapitalsumme der beruflichen Vorsorge, von der Entschädigung nach OHG für den Haushaltschaden abzuziehen158.

Dass im Rahmen der Entschädigung Kapitalleistungen (wie z.B. aus einer Lebensversicherung) berücksichtigt werden können, welche vom Opfer selbst finanziert worden sind und deren Betrag sich nicht nach dem Ausmass des materiellen Schadens richtet, wird in der Doktrin kontrovers diskutiert159. Da doch eine gewisse Übereinstimmung mit dem Zivilrecht erreicht werden sollte, sind entsprechend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung160 Kapitalleistungen nur bei der Bestimmung der massgebenden Einnahmen zu berücksichtigen. Leistungen aus Schadensversicherungen hingegen, die vom Opfer oder von den Angehörigen finanziert wurden, sind bei der Berechnung des Schadens zu berücksichtigen.

Absatz 2 entspricht Artikel 12 Absatz 1 und Artikel 13 Absatz 1 OHG. Die Kriterien für die Bemessung der Entschädigung sind die gleichen wie heute, es ist einzig die Formulierung verbessert worden. Der hier erwähnte Höchstbetrag wird in Artikel 6 umschrieben (Abs. 1); dort finden sich auch Vorgaben zur Berechnung der Einnahmen (Abs. 2) und zum massgebenden Zeitpunkt (Abs. 3). Wenn die Einnahmen der gesuchstellenden Person das Vierfache des Höchstbetrages gemäss Artikel 6 Absatz 1 überschreiten, wird keine Entschädigung gewährt. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass das Opfer bzw. dessen Angehörige keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben und selbst für den Schaden aufkommen können.

Der erste Satz von Absatz 3 legt den Höchstbetrag der Entschädigung fest. Heute geschieht dies auf Verordnungsebene (Art. 4 Abs. 1 OHV). Da es sich um eine wichtige Regel handelt, gehört sie auf Gesetzesstufe ­ wie auch der Höchstbetrag der Genugtuung (vgl. Art. 23 Abs. 2). Der Höchstbetrag soll periodisch der Teuerung angepasst werden (vgl. Art. 45 Abs. 1). Die Verordnung sieht heute einen Höchstbetrag von 100 000 Franken vor. Dieser Betrag ist nie verändert worden. Er wird nun der Teuerung seit der Verabschiedung des OHG im Jahre 1991 angepasst, welche 16.4 Prozent161 beträgt. Im Gesetzesentwurf findet sich der aufgerundete Betrag von 120 000 Franken.

Der Mindestbetrag nach Artikel 4 Absatz 2 OHV ist im zweiten Satz von Absatz 3 enthalten. Wie nach geltendem Recht muss die errechnete Entschädigung mindestens 500
Franken betragen, damit sie ausbezahlt wird. Liegt bereits der geltend gemachte Schaden unter diesem Betrag, so wird auch die Entschädigung den Mindestbetrag nicht erreichen. Ist die Schadenssumme höher und ergibt sich aus der Berechnung, dass die Entschädigung weniger als 500 Franken ausmachen würde, wird sie nicht ausbezahlt. Für derart geringe Beträge gibt es keine Entschädigung, weil davon ausgegangen werden kann, dass das Opfer oder die Angehörigen selbst dafür aufkommen können. Auch der Mindestbetrag der Entschädigung wird gegebenenfalls der Teuerung angepasst (vgl. Art. 45 Abs. 1).

158

In BGE 129 II 145 E. 3.4.3 hat das Bundesgericht die Frage der Kongruenz für diese Kosten offengelassen, da im konkreten Fall die haftpflichtrechtlichen Kongruenzregeln nicht anwendbar waren.

159 Für eine Berücksichtigung sind: Gomm/Stein/Zehntner, Art. 14, Rz. 18 und 24; gegenteiliger Auffassung: Thomas Koller, Opferhilfegesetz: Auswirkungen auf das Strassenverkehrsrecht, AJP 1996, 578­595, S. 592, mit Hinweisen.

160 BGE 126 II 237 161 Dem Betrag von 100 000 Franken im Oktober 1991 entspricht im Juli 2004 der Betrag von 116 397 Franken; vgl. den Teuerungsrechner auf der Website des Bundesamtes für Statistik www.bfs.admin.ch (unter Themen ­ Preise ­ zum Rechner).

7219

Die Frage der Zinsen wird in Artikel 28 geregelt.

Absatz 4 erlaubt es, eine Entschädigung in mehreren Teilzahlungen auszurichten.

Dies kann nützlich sein, wenn sich anfänglich nicht genau bestimmen lässt, wie sich der Zustand des Opfers und seine Bedürfnisse entwickeln. Die Zahlungen lassen sich so leicht an die Entwicklung anpassen. Diese Praxis wird in gewissen Kantonen bereits angewandt.

Art. 21

Vorschuss

Diese Bestimmung entspricht weitgehend Artikel 15 OHG. Immerhin ist eine Änderung vorgenommen worden: Es wird präzisiert, dass die beiden Voraussetzungen ­ Notwendigkeit sofortiger finanzieller Hilfe (Bst. a) und Unmöglichkeit, die Folgen der Straftat kurzfristig festzustellen (Bst. b) ­ kumulativ sind. Berücksichtigt wird nur ein finanzieller Engpass, der infolge der Straftat entstanden ist. Wenn die Behörde die Folgen der Straftat rasch und mit hinreichender Sicherheit feststellen kann, kann sie direkt eine Entschädigung ausrichten. Ein Vorschuss wird nur auf Gesuch hin gewährt (vgl. Art. 24). Es handelt sich um eine summarische Prüfung des Entschädigungsgesuchs, die der Behörde erlaubt, den Entscheid über die Gewährung eines Vorschusses zu treffen (Art. 29 Abs. 1, zweiter Satz).

Zu den «Folgen der Straftat» gehören auch Leistungen Dritter, auf die die gesuchstellende Person nach der Straftat Anspruch haben könnte. Wird ein Vorschuss gewährt, so gehen die Ansprüche des Opfers noch nicht auf den Kanton über (Art. 7 ist nicht anwendbar). Dies geschieht erst dann, wenn die Entschädigung definitiv geleistet worden ist.

Im Dritten Opferhilfebericht162 ist festgestellt worden, dass Vorschüsse selten ausgerichtet werden, obwohl die Verfahren bis zur definitiven Festsetzung der Entschädigung meistens lange dauern. Auch wenn dem Institut in der Praxis keine grosse Bedeutung zukommt, muss es für Notsituationen beibehalten werden. Vorschussgesuche sollten dringlich behandelt werden163.

2.3.2 Art. 22

2. Abschnitt: Genugtuung Anspruch

Die Genugtuung bildet einen der zentralen Punkte der vorliegenden Revision.

Geschichte und Kontext Nach Artikel 12 Absatz 2 OHG kann dem Opfer unabhängig von seinem Einkommen eine Genugtuung ausgerichtet werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen. Die Angehörigen des Opfers können eine Genugtuung geltend machen, soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen (Art. 2 Abs. 2 Bst. b OHG). Das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Straftaten164 verlangt keine Genugtuung und die Bundesverfassung (Art. 124 BV) sieht sie nicht ausdrücklich vor. Der Gesetzgeber von 1991 hat 162 163 164

Dritter Opferhilfebericht.

Vgl. Empfehlungen SVK-OHG, Ziff. 5.4.2.

Vgl. dazu Ziff. 5.2.1 unten.

7220

den Spielraum, den ihm die Verfassung einräumte, genutzt und diese vom Einkommen unabhängige Form der Hilfe eingeführt, welche die Härten des Entschädigungssystems lindern sollte165. Folglich ging er davon aus, dass auf die Genugtuung kein Rechtsanspruch besteht; vielmehr sollte die Behörde über einen Ermessensspielraum verfügen166.

Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 20. Dezember 1995167 anders entschieden. Es stellte fest, die Genugtuung bilde keine freiwillige Leistung des Staates, sondern es bestehe auf sie ein Rechtsanspruch. Diese Rechtsprechung ist in der Folge bestätigt worden.

Die vom Bundesamt für Justiz in den Jahren 1993 bis 1998 durchgeführten Evaluationen zeigen, dass die Zahl der Genugtuungen seit dem Inkrafttreten des Gesetzes stetig angestiegen ist. Im Jahre 1998 sind 423 Genugtuungen ausgerichtet worden; die Kantone hatten dafür 6,4 Millionen Franken ausgegeben168. Im Jahre 2002 haben die Aufwendungen der Kantone 8 Millionen Franken überschritten169. Ob damit ein Wendepunkt erreicht worden ist, wie die Zahlen für die Jahre 2003 und 2004 nahe legen, wird sich weisen. Im Jahre 2004 sind 728 Genugtuungen gewährt worden, wobei der Gesamtaufwand, etwas mehr als 7,1 Mio. Fr., allerdings etwas tiefer war als in den Jahren 2002 und 2003; im Jahr 2003 sind 7,2 Mio. Fr. für 631 Genugtuungen aufgewendet worden; im Jahre 2002 sind fast gleich viel Genugtuungen wie im Jahre 2003, nämlich 634, ausgerichtet worden.

Die Zahl der in den Jahren 1998 und 2001 gewährten Genugtuungen war in allen Kantonen höher als jene der Entschädigungen170. Diese Umkehrung des vom Gesetzgeber geschaffenen Systems171 und die Befürchtung, dass die damit verbundenen Kosten ansteigen würden, haben den Wunsch nach einer Gesetzesrevision verstärkt.

Darüber, wie diese Revision inhaltlich aussehen soll, gehen die Meinungen allerdings auseinander: Mehrere Kantone (AR, GL, GR, NE, TG, ZH) sowie die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren verlangten im letzten OHG-Evaluationsbericht 1998 die Abschaffung der Genugtuung. Vorgeschlagen wurde auch eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen (AG, GL, GR, SO, SZ, BE) oder die Begrenzung der Genugtuungsleistungen (AG, SZ, TG, JU und Konferenz der kantonalen Finanzdirektorinnen und -direktoren) oder eine Kombination dieser Massnahmen172. Nach
einer im Frühjahr des Jahres 2000 durchgeführten Umfrage der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren, an der 23 Kantone teilgenommen hatten, wünschten fünf Kantone die Abschaffung und 18 Kantone die Beibehaltung der Genugtuung (mit Änderungen).

165

166 167 168

169 170 171 172

Diese Leistung basiert nicht auf dem in Art. 124 BV verwendeten Begriff der angemessenen «Entschädigung», sondern auf dem Begriff «Hilfe», der im ersten Teil der Verfassungsbestimmung vorkommt.

Vgl. Botschaft OHG, S. 991: «Es besteht kein Rechtsanspruch auf eine Genugtuung».

BGE 121 II 369 ff., Erw. 3c, S. 373.

Dritter Opferhilfebericht, Ziffer 4.4 Darstellung 4D, und Ziffer 5.4.4. In 121 Fällen sind kombinierte Leistungen zugesprochen worden, d.h. sowohl eine Entschädigung als auch eine Genugtuung. Im Jahre 1998 sind 169 Entschädigungen (inkl. kombinierte Leistungen) gewährt worden und die Kantone gaben dafür 1,1 Million Franken aus.

www.bfs.admin.ch (unter Themen ­ Rechtspflege ­ Opfer von Straftaten).

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 5.4.4 und Opferhilfestatistik 2001, Bundesamt für Statistik.

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 11.5 und Ziff. 13.3.

Dritter Opferhilfebericht, Ziff. 15.2 und Ziff. 15.3.

7221

Auf der anderen Seite verlangt das Postulat Leuthard 00.3064 vom 16. März 2000 (Opferhilfegesetz), die Haftung der Kantone als subsidiäre Leistungserbringer sei auf zwei Drittel der nach Zivilrecht geschuldeten Leistungen zu beschränken173.

Überlegungen der Expertenkommission Das Bundesgericht ist der Auffassung, aus Gründen der Gleichbehandlung müsse ein Rechtsanspruch auf Genugtuung bestehen, die Genugtuung könne keine freiwillige Leistung des Staates bilden174. Für die Expertenkommission kamen deshalb nur zwei Optionen in Betracht: Entweder wird diese Leistung schlicht und einfach gestrichen oder man greift auf die vom Gesetzgeber von 1991 angestrebten Ziele zurück. Wenn die Genugtuung nicht abgeschafft werden soll, muss sie wieder auf Härtefälle beschränkt werden und den erlittenen Nachteil nicht unbedingt vollkommen abdecken.

Die Genugtuung bringt zum Ausdruck, dass die staatliche Gemeinschaft die schwierige Situation des Opfers anerkennt. Die Ausrichtung einer Geldsumme, über die das Opfer frei verfügen kann, setzt diese Anerkennung auf die bestmögliche Weise um und ermöglicht, die verschiedenen Bedürfnisse der Opfer zu berücksichtigen. Damit steht weniger die Höhe der Genugtuung im Vordergrund als vielmehr der Grundsatz als solcher.

Im Lichte dieser Überlegungen hat die Expertenkommission drei Szenarios geprüft.

Zunächst wurde die Möglichkeit der Abschaffung der Genugtuung untersucht.

Opfern, die weder vom Täter bzw. der Täterin noch von Dritten etwas erhalten und mangels materiellen Schadens keine Entschädigung beanspruchen können, würde in diesem Fall einzig die Hilfe der Beratungsstellen offen stehen. Von der Abschaffung der Genugtuung in erster Linie betroffen wären die Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität.

Eine zweite Lösung, die sich am oben erwähnten Postulat Leuthard orientiert, hätte darin bestanden, den Betrag der Genugtuung wie heute und analog zum Privatrecht zu ermitteln und ihn anschliessend proportional zu kürzen (z.B. um die Hälfte).

Dieses Konzept ermöglicht jedoch, dass Opfer, die über ein Zivilurteil verfügen, höhere Genugtuungen erhalten als jene, die ihr Gesuch direkt bei einer Opferhilfebehörde stellen. Schliesslich gibt ein solches Vorgehen keine Garantie für die künftige Entwicklung der von den Gerichten zugesprochenen Beträge, welche die
Opferhilfebehörden binden. Schliesslich ist es für das Opfer schwieriger zu verstehen und zu akzeptieren, dass ein Gericht eine Leistung ... gehen kann, als eine zwar tiefere, aber völlig andere Leistung zu erhalten.

Aus diesen Gründen hat die Expertenkommission in ihrem Vorentwurf ein drittes Modell vorgeschlagen. Danach bildet die OHG-Genugtuung eine vom Zivilrecht und insbesondere von den Artikeln 47 und 49 OR unabhängige eigenständige Leistung. Nach dieser Lösung ist der Staat nicht mehr an die von den Zivil- und Strafgerichten gesprochenen Beträge gebunden und die Opfer werden gleich behandelt, unabhängig davon, ob sie über ein Urteil über ihre Zivilansprüche verfügen oder nicht. Die Expertenkommission hat vorgeschlagen, die Beträge der OHG-Genug-

173 174

AB 2000 N 681 (und Ziff. 1.6.1 oben).

BGE 121 II 369 ff., Erw. 3c, S. 373

7222

tuung zu begrenzen, und zwar in Anlehnung an den Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes im Sinne des UVG175.

Vernehmlassungsverfahren Im Vernehmlassungsverfahren hat sich eine überwiegende Mehrheit für die Beibehaltung der Genugtuung ausgesprochen176. In der Tat kommt der Genugtuung eine wichtige symbolische Rolle zu, denn mit ihr anerkennt das Gemeinwesen die schwierige Situation des Opfers. Die Genugtuung ermöglicht, jene Opfer zu berücksichtigen, deren materieller Schaden unbedeutend ist, die aber eine schwere Beeinträchtigung erlitten haben, insbesondere im Zusammenhang mit Straftaten gegen die sexuelle Integrität. Sie stellt eine gewisse Gleichheit zwischen den Opfern her, da die Gewährung nicht davon abhängt, ob der Täter oder die Täterin bekannt ist und verurteilt wurde.

Lösung des Bundesrates Die Genugtuung ist eindeutig beizubehalten. Da sich einerseits das OHG nicht zu weit vom Zivilrecht entfernen sollte ­ was schon heute gilt und sich bewährt hat ­ und da andrerseits die vom Staat ausgerichtete Genugtuung nicht gleich hoch sein muss wie die vom Täter oder von der Täterin geschuldete, wird eine Genugtuung im Sinne der Artikel 47 und 49 OR vorgeschlagen, die aber durch einen Höchstbetrag beschränkt wird.

Mit Blick auf die Besonderheiten der Genugtuung gemäss OHG enthalten die Abschnitte 2 (Genugtuung) und 3 (Gemeinsame Bestimmungen) Lösungen, die zum Teil vom Zivilrecht abweichen.

Abs. 1 Artikel 22 Absatz 1 regelt die Anspruchsvoraussetzungen für eine Genugtuung an das Opfer und seine Angehörigen durch einen Verweis auf die Artikel 47 und 49 OR; die Bestimmung wiederholt die wichtige Einschränkung, dass nur eine schwere Beeinträchtigung eine Genugtuung rechtfertigen. Klar festgehalten wird aber, dass ein Rechtsanspruch auf Genugtuung besteht. Angehörige des Opfers haben einen eigenen Anspruch auf Genugtuung, soweit sie die Voraussetzungen der Artikel 47 und 49 OR erfüllen. Artikel 1 Absatz 2 umschreibt den Kreis der Angehörigen.

Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die Genugtuung einkommensunabhängig ist (Art. 6 Abs. 4); eine Beschränkung der Genugtuung auf Opfer und Angehörige mit tieferem Einkommen stünde in keinem relevanten Zusammenhang mit deren Ziel, den immateriellen Nachteil auszugleichen. Ausserdem käme der Genugtuung, wenn man auf das Einkommen abstellen würde,
im Vergleich zur Entschädigung kaum mehr selbständige Bedeutung zu.

Vorausgesetzt wird eine Beeinträchtigung der körperlichen, psychischen oder sexuellen Unversehrtheit des Opfers (Art. 1 Abs. 1). Anschliessend kommen die Kriterien des Haftpflichtrechts zum Zuge. So hängt z.B. die Genugtuung für ein Opfer einer Körperverletzung von der Schwere des Leidens infolge der Beeinträchtigung und von der Möglichkeit ab, die Unbill mit einer Geldsumme zu mildern177. Berück175

Art. 15 UVG und Art. 22 der Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (UVV, SR 832.202); vgl. die allgemeinen Erläuterungen vor dem Kommentar zu Art. 18 des Vorentwurfs der Expertenkommission.

176 Ergebnisse, S. 10.

177 Vgl. BGE 123 III 306 E. 9b.

7223

sichtigt werden z.B. Invalidität, Dauer der Hospitalisierung, Schwere der Operationen, tiefgreifende Veränderungen im beruflichen oder im privaten Leben. Wenn das Opfer an den Folgen der Straftat gestorben ist, hängt die Gewährung einer Genugtuung an die Angehörigen von der Intensität der Bindungen ab, die zwischen dem Opfer und jedem einzelnen der Angehörigen bestand; auf eine intensive Bindung wird im allgemeinen anhand des Verwandschaftsgrades geschlossen. Angehörige eines verletzten Opfers können eine Genugtuung erhalten, wenn sie so stark oder gar noch stärker betroffen sind als im Fall des Todes des Opfers178; ihr Leiden muss also ausserordentlich schwer sein179. Zu denken ist insbesondere an Fälle von schwerer Invalidität, die intensive Pflege und Betreuung verlangt.

Im Vernehmlassungsverfahren ist der Ausdruck «während längerer Zeit», der aus dem Begriff der Invalidität nach Artikel 8 ATSG180 (bzw. früher Art. 18 UVG und Art. 4 IVG) entnommen worden ist, zum Teil kritisiert worden, insbesondere im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen der sexuellen Unversehrtheit. Dieser Begriff ist nicht in den vorliegenden Entwurf aufgenommen worden. Dennoch bleibt die Dauer relevant. Wenn eine Verletzung keine Narben hinterlässt und ohne grosse Komplikationen geheilt werden kann, wird in der Regel keine Genugtuung zu gewähren sein; dasselbe gilt auch bei einer Arbeitsunfähigkeit von einigen Wochen181. Hingegen ist es möglich, eine Genugtuung zuzusprechen, wenn sich eine Beeinträchtigung nicht sofort zeigt; dies ist insbesondere wichtig bei Beeinträchtigungen der sexuellen Integrität. Die Frist für die Einreichung eines Gesuchs wurde im Übrigen auf fünf Jahre verlängert182.

Ergänzend ist zu erwähnen, dass weder die Art der Straftat noch das Verschulden des Täters oder der Täterin eine Rolle spielen.

Abs. 2 Im Haftpflichtrecht geht der Anspruch auf Genugtuung auf die Erben des Opfers über, sofern dieses den Willen manifestiert hat, das Recht geltend zu machen183. Da die Genugtuung nach OHG eine andere Aufgabe erfüllt als jene nach Zivilrecht, erlischt der Anspruch mit dem Tod der anspruchsberechtigten Person. Die Angehörigen des Opfers haben einen eigenen Anspruch auf Genugtuung, wenn sie die Voraussetzungen nach Artikel 47 OR erfüllen (vgl. Abs. 1).

Art. 23

Festsetzung

Absatz 1 formuliert den Grundsatz, dass sich die Berechnung der Genugtuung nach der Schwere der Beeinträchtigung richtet.

Mit Absatz 2 schlägt der Bundesrat vor, für die Genugtuung einen Höchstbetrag vorzusehen, der direkt im Gesetz geregelt wird. Der vorgeschlagene Höchstbetrag für die Angehörigen ist tiefer als jener für das Opfer.

178 179 180 181 182 183

Vgl. BGE 125 III 412 E. 2a, BGE 1A.69/2005 E. 2.3.

Vgl. BGE 117 II 50 E. 3a; BGE 122 III 5, E. 2a, BGE 112 II 220, BGE 112 II 226 SR 830.1 Vgl. BGE 1A.235/2000 vom 21. Februar 2001, E. 5 b aa.

Vgl. Art. 25.

Vgl. BGE 79 IV 104.

7224

Die Expertenkommission war der Meinung, für die Genugtuungen nach OHG seien angesichts des Subsidiaritätsprinzips (vgl. Art. 4) Maximalbeträge vorzusehen. Für die Entschädigung kennt bereits das geltende Recht einen Höchstbetrag184.

Mit einer Plafonierung war ein sehr grosser Teil der Vernehmlassungsteilnehmer einverstanden185. Deshalb hat der Bundesrat diesen Vorschlag in seinen Entwurf aufgenommen. Geteilt waren die Meinungen hingegen bezüglich der Idee, für den Plafond auf den Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes nach Artikel 15 UVG186 zu verweisen. Auch die Höhe des Maximalbetrages hatte zu zahlreichen Bemerkungen Anlass gegeben. Zur Frage, ob der Maximalbetrag für die Genugtuung für Angehörige tiefer sein solle als jener für das Opfer, gab es zwei ungefähr gleich grosse Lager.

Wie im Haftpflichtrecht wird der Betrag der Genugtuung nach der Schwere der Beeinträchtigung bemessen (Art. 22 Abs. 1). Dabei wird allerdings den Höchstbeträgen nach Absatz 1 Rechnung zu tragen sein. Der Höchstbetrag ist für die schwersten Leiden vorgesehen; die Beträge für Genugtuungen gestützt auf das OHG werden deshalb von jenen abweichen, die gestützt auf das Privatrecht zugesprochen werden.

Die Einnahmen der anspruchsberechtigten Person haben darauf keinen Einfluss (Art. 6 Abs. 4). Die Genugtuung kompensiert einen immateriellen Schaden und ist deshalb einkommensunabhängig.

Zum Höchstbetrag: Da er einen zentralen Punkt der vorliegenden Revision bildet, wird der Höchstbetrag direkt im Gesetz festgelegt. Die im Vernehmlassungsverfahren vorgeschlagenen Maximalbeträge187 zeigen eine Tendenz zu einem Höchstbetrag von ungefähr 70 000 Franken188 für das Opfer und 20 000 bis 50 000 Franken189 für Angehörige. Dementsprechend werden im vorliegenden Entwurf die von der Expertenkommission vorgeschlagenen Höchstbeträge leicht aufgerundet und auf 70 000 Franken für das Opfer bzw. auf 35 000 Franken für Angehörige festgelegt.

Der Betrag von 70 000 Franken entspricht zudem ungefähr zwei Dritteln des üblicherweise verwendeten haftpflichtrechtlichen Grundbetrags bei dauernder Invalidität, der bei 100 000 Franken angesetzt wird190. Der vorgeschlagene Höchstbetrag entspricht damit etwa dem Postulat Leuthard191. Der Höchstbetrag wird also nicht wie im Entwurf der Expertenkommission vorgeschlagen als Bruchteil des Höchstbetrages des versicherten Jahresverdienstes nach UVG definiert. Dies hätte den Nachteil, dass die Rechtsuchenden ein zweites Gesetz aufschlagen müssten; ausserdem

184 185 186

187 188

189

190 191

Vgl. Art. 4 Abs. 1 OHV.

Ergebnisse, S. 10.

SR 832.20. Die Expertenkommission hatte einen Höchstbetrag von 71 200 Franken für das Opfer ( des Höchstbetrags nach UVG von 106 800.­) und von 35 600 Franken für Angehörige ( von 106 800.­) vorgeschlagen.

Ergebnisse, S. 21 ff.

Ergebnisse, S. 21: Genannt wurden Höchstbeträge zwischen 5000 Franken und 215 000 Franken. Etwa die Hälfte der Vernehmlassungsteilnehmer, die sich zum Höchstbetrag für das Opfer äusserten, schlugen einen Höchstbetrag um 70 000 Franken vor.

Ergebnisse, S. 21: Genannt wurden Beträge zwischen 0 Franken und 106 800 Franken.

Die Hälfte der Vernehmlassungsteilnehmer, die sich zum Höchstbetrag für Angehörige äusserten, bevorzugten einen Betrag von etwa 30 000 Franken.

Vgl. Hütte/Ducksch, Die Genugtuung, Eine tabellarische Übersicht über Gerichtsentscheide aus den Jahren 1990­2003, Zürich/Basel/Genf.

Vgl. vorn, Ziff. 1.6.1.

7225

war die Regel zum Teil so verstanden worden, dass das Einkommen des Opfers eine Rolle spiele und so Opfer ohne Einkommen benachteiligt würden192.

Tieferer Höchstbetrag für Angehörige: In den meisten Fällen ist die Genugtuung von viel grösserer Bedeutung für das Opfer als für die Angehörigen, da es am schwersten unter den Folgen der Tat leidet. Im Haftpflichtrecht werden den Angehörigen ebenfalls tiefere Beträge zugesprochen. Deshalb rechtfertigt es sich, für die Angehörigen einen tieferen Höchstbetrag vorzusehen. In der Regel werden die Angehörigen einer schwer beeinträchtigten Person gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung die höchsten Beträge erhalten, während den Angehörigen einer Person, die infolge der Straftat gestorben ist, ein tieferer Betrag ausgerichtet wird193; das Leiden ersterer wird als grösser erachtet.

Der Höchstbetrag für Angehörige versteht sich nicht pro Fall, sondern pro gesuchstellende Person.

Die Höchstbeträge für die Genugtuung werden ebenfalls periodisch angepasst (Art. 45 Abs. 1). Zur Verzinsung vgl. Artikel 28.

Festsetzung der Beträge: Die Festsetzung der Genugtuung im Einzelfall richtet sich nach einer degressiven Skala, die von den im Privatrecht üblicherweise gewährten Beträgen unabhängig ist. Die nach Privatrecht üblicherweise gewährten Beträge können jedoch einen Hinweis darauf geben, welche Beeinträchtigungen höhere Genugtuungen rechtfertigen. Von Bedeutung ist zudem, dass der Spielraum angesichts der Höchstbeträge deutlich geringer ist als im Privatrecht. In diesem Sinn müssen die kantonalen Behörden die Höchstsummen für die schwersten Verletzungen vorbehalten. Andernfalls können unterschiedliche Situationen nicht unterschiedlich behandelt werden, was dem Grundsatz der Rechtsgleichheit widersprechen würde. Der Bundesrat möchte es der Praxis überlassen, einen Tarif zu entwickeln.

Sollten die Ergebnisse nicht befriedigen oder zu grossen kantonalen Unterschieden führen, könnte er Pauschalen oder Tarife vorsehen (Art. 45 Abs. 3); denkbar wäre z.B., eine gewisse Bandbreite anzugeben, die genügend Spielraum lässt, um den Besonderheiten des einzelnen Falles Rechnung zu tragen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die zugesprochenen Genugtuungssummen klar tiefer liegen als die gestützt auf das Zivilrecht zugesprochenen Beträge. Die Behörden können sich an den
bestehenden Tarifen, beispielsweise für die Integritätsentschädigung, orientieren194.

Weiter ist darauf hinzuweisen, dass im Jahre 2004 die durchschnittliche Genugtuung 9700 Franken und der Median 5000 Franken betrug195. Die einzelnen Genugtuungen lagen 2001 zwischen 200 und 120 000 Franken196. Proportional auf die neuen Höchstwerte angewendet, sollte der Median bei etwa 3000 Franken liegen.

192 193 194

Vgl. Ergebnisse, S. 17.

BGE 113 II 323, BGE 117 II 50 (60), Sem. jud. 1994 589.

Anhang 3 der Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung, SR 832.202.

195 www.bfs.admin.ch (unter Themen ­ Rechtspflege ­ Opfer von Straftaten). Der Median ist der Wert, der die Gesamtzahl der Fälle bzw. Werte in zwei gleich grosse Hälften teilt: die eine Hälfte der Werte liegt darunter, die andere darüber. Der Median ist aussagekräftiger als der Durchschnitt, weil ein einziger hoher Betrag genügt, um den Durchschnitt deutlich anzuheben.

196 Die zwei letztgenannten Beträge stammen aus der kommentierten Statistik für das Jahr 2001, Schweizerische Opferhilfestatistik (OHS) 2001, BFS aktuell, 19/Rechtspflege, September 2002, S. 11.

7226

In Bezug auf das Opfer gilt Folgendes: Die Beträge an der Obergrenze sind den am schwersten betroffenen Personen vorbehalten, was in der Regel dann der Fall ist, wenn sie zu 100 Prozent invalid sind.

Ausgehend von diesen Überlegungen könnten sich die Genugtuungssummen für Opfer, die in ihrer körperlichen Intgetriät verletzt wurden, in folgender Bandbreite bewegen: ­

55 000 bis 70 000 Franken für sehr starke Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit oder der intellektuellen sowie sozialen Fähigkeiten (z.B.

Tetraplegie);

­

40 000 bis 55 000 Franken für starke Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit oder der intellektuellen sowie sozialen Fähigkeiten (z.B. Paraplegie, vollständige Erblindung, Verlust des Gehörs);

­

20 000 bis 40 000 Franken für Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit, Verlust einer wichtigen Funktion oder eines wichtigen Organs (z.B.

Hemiplegie, Verlust eines Armes oder eines Beines, sehr starke und schmerzhafte Verletzung der Wirbelsäule, Verlust der Genitalien oder der Fortpflanzungsfähigkeit, schwere Entstellung);

­

bis zu 20 000 Franken für weniger schwer wiegende Beeinträchtigungen (z.B. Verlust der Nase, eines Fingers, des Geruchs- oder des Geschmackssinns).

Für Beeinträchtiungen der psychischen oder sexuellen Integrität sind ähnliche Leitlinien möglich.

In Bezug auf die Genugtuungen für Angehörige ist davon auszugehen, dass die höchsten Beträge Angehörigen von schwer beeinträchtigten Opfern auszurichten sind. Da der Höchstbetrag wesentlich tiefer ist als bei den Genugtuungen für Opfer ist der Spielraum für die Berücksichtigung der konkreten Umstände entsprechend enger. Es ist von folgenden Richtwerten auszugehen: ­

25 000 bis 35 000 Franken197 für jene Angehörigen, die ihre Lebensweise massgeblich verändert haben, damit sie sich um das Opfer kümmern können, oder für Angehörige, die das Opfer intensiv pflegen oder betreuen;

­

20 000 bis 30 000 Franken für den Verlust des Ehegatten, der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners;

­

10 000 bis 20 000 Franken für den Verlust eines Kindes (dabei kommt es auf die konkreten Umstände an, insbesondere auf das Alter oder darauf, ob Angehöriger und Opfer im gleichen Haushalt wohnten);

­

8000 bis 18 000 Franken für den Verlust des Vaters oder der Mutter (unter Berücksichtigung der konkreten Umstände wie Alter oder gemeinsamer Haushalt)

­

0 bis 8000 Franken für den Verlust eines Bruders oder einer Schwester (wobei der gemeinsame Haushalt und die Intensität der Beziehung eine Rolle spielen).

Beim Tod anderer Verwandter wird in der Regel keine Genugtuung ausgerichtet.

197

Auch hier handelt es sich nur um Anregungen für die Bemessung. Die Voraussetzungen von Art. 22 (Intensität der Beziehung usw.) müssen selbstverständlich erfüllt sein.

7227

Abs. 3 Bei der Bemessung der Genugtuung sind Leistungen Dritter, die ganz oder teilweise den gleichen Charakter aufweisen, abzuziehen. Eine analoge Regel ist bei der Entschädigung vorgesehen (Art. 20 Abs. 1); die Vorschrift ist Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips (vgl. Art. 4).

Die Integritätsentschädigung nach Artikel 24 ff. UVG198 ist grundsätzlich als anrechenbare Leistung Dritter zu betrachten199. Sie ist also von der Genugtuung, auf die das Opfer gestützt auf das Opferhilferecht Anspruch hat, abzuziehen.

2.3.3 Art. 24

3. Abschnitt: Gemeinsame Bestimmungen Gesuch

Um eine Entschädigung oder eine Genugtuung zu erhalten und dabei die Frist von Artikel 25 zu wahren, genügt es nicht, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, ohne weitere Schritte zu unternehmen. Vielmehr muss die anspruchsberechtigte Person ein Gesuch stellen. Die gleichen Überlegungen gelten für Vorschüsse (Art. 21).

Art. 25

Fristen

Der geltende Artikel 16 Absatz 3 setzt dem Opfer eine Frist von zwei Jahren zur Einreichung der Gesuche um Entschädigung und Genugtuung. Dahinter stand die Idee, das Opfer solle sich rasch entscheiden, ob es Opferhilfe beanspruchen wolle.

Diese Verwirkungsfrist hat drei parlamentarische Vorstösse und zahlreiche Bundesgerichtsentscheide ausgelöst200. Im Rahmen der Evaluationen durch das Bundesamt für Justiz201 haben die Kantone unter anderem verlangt, die als zu kurz erachtete Verwirkungsfrist sei zu überprüfen.

Die in Absatz 1 vorgeschlagene Verlängerung der Verwirkungsfrist ist in der Vernehmlassung klar begrüsst worden202. Die Frist beträgt künftig fünf Jahre wie im Sozialversicherungsrecht (vgl. Art. 24 ATSG203). Es handelt sich nicht um eine Verjährungsfrist, sondern um eine Verwirkungsfrist, die nicht unterbrochen werden kann. Eine Verwirkungsfrist entspricht dem System des OHG, weil der Entscheid zu einem Zeitpunkt getroffen werden soll, in dem es noch möglich ist, die genauen Umstände der dem Gesuch zugrunde liegenden Straftat rasch aufzuklären und zu entscheiden, ob der vom Opfer angeführte Nachteil wirklich durch die Straftat verursacht worden ist; ausserdem muss die Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen abklären.

198 199 200

Art. 25 Abs. 2 UVG (SR 832.20) und Anhang 3 zur UVV (SR 832.202).

Vgl. BGE 125 II 169.

Motion 94.3574 Goll, Postulat 00.3064 Leuthard, Motion 01.3729 Jossen (vgl. Ziff. 1.6 oben); BGE 123 II 241, BGE 126 II 348 (beide zum Beginn des Fristenlaufs), BGE 126 II 97 (vorsorgliche Gesuchseinreichung und Anforderungen an die Formulierung der Forderungen).

201 Siehe oben Ziff. 1.1.2.

202 Vgl. Ergebnisse, S. 75 f.

203 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, SR 830.1.

7228

Der Vorentwurf der Expertenkommission204 sah vor, die Frist ab Kenntnis des Schadens laufen zu lassen ­ wie im Privatrecht205. Mehrere Vernehmlassungsteilnehmer haben sich für die Beibehaltung der Lösung nach geltendem Recht ausgesprochen, wonach die Frist mit der Verübung der Straftat beginnt206. Die Kenntnis des Schadens ist ein eher subjektives Kriterium, das schwieriger zu beweisen ist und Missbräuchen Vorschub leisten könnte. In den meisten Fällen ist der Schaden als solcher am Tag der Straftat bekannt; Ausmass und Folgen hingegen sind in diesem Zeitpunkt manchmal noch nicht klar oder bestimmbar. Aus diesen Gründen wird grundsätzlich am Beginn des Fristenlaufs ab Straftat festgehalten. Die Frist beginnt aber spätestens in dem Moment zu laufen, in dem das Opfer Kenntnis von der Straftat erhält. Im Falle des Verschwindens einer Person oder bei der Ansteckung mit einer übertragbaren Krankheit können die Betroffenen unter Umständen erst Jahre später davon Kenntnis erhalten, dass eine Straftat vorliegt. Der im Vergleich zum geltenden Recht etwas erweiterte Wortlaut verdeutlicht die heute geltende Praxis207.

Die abgelaufene Verwirkungsfrist ist wiederherzustellen, wenn das Opfer durch die Polizei nicht korrekt über seine Rechte und die Mittel zu ihrer Durchsetzung informiert worden ist208; diese Informationspflicht ist in Artikel 8 Absatz 2 vorgesehen.

Abgesehen von diesem Fall ist die Vewirkungsfrist strikt anzuwenden.

Die Hilfe einer Beratungsstelle kann auch dann in Anspruch genommen werden, wenn der Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung verwirkt ist (Art. 15 Abs. 2).

Absatz 2: Minderjährige Opfer verschweigen und verdrängen sexuelle Missbräuche oft über viele Jahre, weil sie vom Täter oder von der Täterin abhängig sind oder weil sie von diesen bedroht oder erpresst werden. Aus diesem Grund sind vor kurzem die Verjährungsfristen des Strafgesetzbuches209 und des Militärstrafgesetzes210 geändert worden (Art. 70 Abs. 2 StGB und Art. 51 Abs. 2 MStG). Nach diesen neuen Bestimmungen läuft die Frist für die Verjährung der Strafverfolgung für bestimmte

204 205 206 207

208 209 210

Die Expertenkommission war sich über die vorzuschlagende Lösung nicht einig, vgl. Erläuternder Bericht, S. 48.

Vgl. Art. 60 Abs. 1 OR und Art. 55 des Vorentwurfs für ein Bundesgesetz über die Revision und Vereinheitlichung des Haftpflichtrechts, HPG, sowie Art. 83 Abs. 1 SVG.

Ergebnisse, S. 76 f.

Vgl. BGE 126 II 348, wo erst mehr als fünf Jahre nach einer Vergewaltigung eine Ansteckung mit AIDS diagnostiziert und damit ein zusätzlicher Straftatbestand entdeckt worden war.

BGE 123 II 241 SR 311.0 SR 321.0

7229

Delikte211 auf jeden Fall bis zum Tag, an dem das Opfer 25 Jahre alt wird. Kinder unter 16 Jahren, die Opfer solcher Delikte geworden sind (sowie minderjährige Abhängige nach Art. 188 StGB), sollen bis zum vollendeten 25. Altersjahr Entschädigung und Genugtuung nach OHG verlangen können. Das Gleiche soll nach Buchstabe b bei versuchtem Mord gelten (Art. 112 StGB und Art. 116 MStG), wo eine 30-jährige Strafverfolgungsverjährung gilt.

Diese Spezialbestimmung gilt nicht für die Angehörigen des Opfers.

Eine zweite kurz Frist gilt nach Absatz 3 für jene Personen, die ihre Zivilansprüche zuerst im Strafverfahren gegenüber der beschuldigten Person adhäsionsweise geltend machen. Dies wird nicht vorausgesetzt, aber die Opfer sollen angeregt werden, sich zunächst an den Täter oder an die Täterin zu halten. Sie können ihre Ansprüche auf Entschädigung und Genugtuung im Rahmen der Opferhilfe noch nachträglich innert eines Jahres nach Abschluss des Strafverfahrens geltend machen. Diese Frist kommt insbesondere dann zum Zuge, wenn der Täter oder die Täterin verurteilt worden ist, dem Opfer einen bestimmten Betrag zu bezahlen, und sich dann als zahlungsunfähig erweist.

Macht das Strafverfahren nur langsam Fortschritte, kann sich das Opfer anders entscheiden und sich innert der 5-Jahres-Frist direkt an die Opferhilfe wenden und allenfalls einen Vorschuss auf die Entschädigung beantragen (Art. 21). In der Praxis wird der Entscheid über eine definitive Opferhilfeleistung in solchen Fällen regelmässig bis zum Abschluss des Strafverfahrens aufgeschoben.

Art. 26

Zuständiger Kanton

Absatz 1 bestimmt, welcher Kanton für das Verfahren auf Entschädigung und Genugtuung zuständig ist. Der Vorentwurf der Expertenkommission hatte vorgeschlagen, anstelle des Tatortkantons wie nach geltendem Recht den Wohnsitzkanton des Opfers für zuständig zu erklären. Mehrere Vernehmlassungsteilnehmer haben sich indessen für die bisherige Lösung ausgesprochen212. Der Entwurf des Bundesrats behält deshalb das geltende Recht bei und sieht die Zuständigkeit des Tatortkantons vor. Diese Lösung hat den Vorteil, dass sich das Opfer nicht an Behörden verschiedener Kantone wenden muss, wenn es Opferhilfe beanspruchen und Rechte im Strafverfahren geltend machen will. Der Umstand, dass das Entschädigungsverfahren in fast allen Kantonen schriftlich ist, spricht für diese Lösung. Die geografische Nähe spielt eine grosse Rolle bei der Soforthilfe und bei der längerfristigen 211

Art. 70 Abs. 2 StGB gilt für folgende Delikte: Art. 187 StGB: Sexuelle Handlungen mit Kindern von weniger als 16 Jahren; Art. 188 StGB: Sexuelle Handlungen mit Kindern von mehr als 16 Jahren, die vom Täter oder von der Täterin durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig sind, sowie für folgende Straftaten, sofern sie sich gegen ein Kind unter 16 Jahren richteten: Art. 111 StGB: Vorsätzliche Tötung; Art. 113 StGB: Totschlag; Art. 122 StGB: Schwere Körperverletzung; Art. 189 StGB: Sexuelle Nötigung; Art. 190 StGB: Vergewaltigung; Art. 191 StGB: Schändung; Art. 195 StGB: Förderung der Prostitution; Art. 196 StGB: Menschenhandel.

Art. 51 Abs. 2 MStG gilt für folgende Delikte: Art. 156 MStG: Sexuelle Handlungen mit Kindern unter 16 Jahren, sowie für folgende Straftaten, sofern sie sich gegen ein Kind unter 16 Jahren richteten: Art. 115 MStG: vorsätzliche Tötung; Art. 117 MStG: Totschlag; Art. 121 MStG: Schwere Körperverletzung; Art. 153 MStG: Sexuelle Nötigung; Art. 154 MStG: Vergewaltigung; Art. 155 MStG: Schändung.

212 Ergebnisse, S. 78 f.

7230

Hilfe; diesbezüglich steht es dem Opfer frei, sich an eine Beratungsstelle seiner Wahl zu wenden (Art. 15 Abs. 3). Die Beratungsstelle im Wohnsitzkanton kann dem Opfer helfen, ein Gesuch um Entschädigung oder Genugtuung im Tatortkanton einzureichen. Zudem werden mit dieser Lösung Opfer, die alle von derselben Straftat betroffen sind, aber in verschiedenen Kantonen wohnen, gleichgestellt. In 82 Prozent der Fälle sind Tatortkanton und Wohnsitzkanton identisch213. Schliesslich ist der Zugang zum Dossier des Strafverfahrens einfacher, wenn das Entschädigungsverfahren im gleichen Kanton abgewickelt wird.

Absatz 2 regelt die Zuständigkeit, wenn die Straftat an mehreren Orten ausgeführt worden ist oder der Erfolg an mehreren Orten eingetreten ist. Buchstabe a übernimmt die in Artikel 346 Absatz 2 StGB214 vorgesehene Lösung: Zuständig ist jener Kanton, in dem die Strafuntersuchung zuerst angehoben wurde. Ist kein Strafverfahren eingeleitet worden ­ opferhilferechtliche Entschädigung und Genugtuung setzen keinen Strafprozess voraus ­, ist nach Buchstabe b der Wohnsitzkanton zuständig.

Der Wohnsitzbegriff entspricht jenem der Artikel 23 ff. ZGB215. Der Wohnsitz befindet sich somit an dem Ort, wo sich jemand mit der Absicht des dauernden Verbleibens aufhält. Wenn keine Strafuntersuchung angehoben wurde und die anspruchsberechtige Person nicht in der Schweiz wohnt, gilt die in Buchstabe c vorgesehene Zuständigkeit.

Art. 27

Herabsetzung und Ausschluss der Entschädigung und der Genugtuung

Das geltende OHG enthält eine Bestimmung zur Herabsetzung der Entschädigung (Art. 13 Abs. 2), aber keine zur Reduktion der Genugtuung. Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass das Verschulden bei der Bemessung des Genugtuungsbetrages berücksichtigt werden kann216.

Die Expertenkommission hat für Entschädigung und Genugtuung unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen217: Herabsetzungen von Entschädigungen waren an strengere Voraussetzungen gebunden als jene von Genugtuungen.

Eine unterschiedliche Behandlung von Entschädigung und Genugtuung ist nicht gerechtfertigt. Die beiden Bestimmungen werden deshalb in eine einzige gefasst, die den ursprünglich für die Genugtuung vorgeschlagenen Text übernimmt. Dieser stellt anders als das geltende Recht und die Praxis nicht das Verschulden des Opfers oder der Angehörigen in den Vordergrund, sondern ihr Verhalten, das zur Entstehung der Beeinträchtigung oder zur Verschlimmerung der Folgen beigetragen hat. Der Entwurf des Bundesrats belässt der Behörde einen grossen Ermessenspielraum. Die Opferhilfebehörde darf strenger sein als ein Zivilgericht, weil die Opferhilfeleistungen subsidiär sind. Als Herabsetzungs- oder Ausschlussgrund kann etwa der Umstand in Erwägung gezogen werden, dass sich das Opfer einer konkreten, über das übliche Mass hinausgehenden Gefahr ausgesetzt hat, beispielsweise indem es einen besonders gefährlichen Sport ausübte oder dass es nicht alle angesichts der

213 214 215 216 217

Schweizerische Opferhilfestatistik (OHS) 2001, BFS aktuell, 19/Rechtspflege, September 2002, S. 11.

SR 311.0 SR 210 BGE 123 II 210 und BGE 128 II 49 Vgl. Art. 16 und 20 des Vorentwurfs der Expertenkommission.

7231

Umstände erforderlichen Massnahmen getroffen hat, um den Schaden rasch zu verringern.

Da die Ansprüche der Angehörigen in gewisser Art von jenen des Opfers abhängig sind, kann ihnen nicht nur ihr eigenes Verhalten, sondern auch jenes des Opfers angerechnet werden.

Absatz 3 enthält einen weiteren Herabsetzungsgrund für die Genugtuung: Die Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten im Ausland218. Das Zivilrecht sieht diesen Herabsetzungsgrund nicht explizit vor. Das Bundesgericht gestattet analog zur privatrechtlichen Rechtsprechung die Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten im Ausland nur in Ausnahmefällen, wenn sie deutlich tiefer sind219. Die Opferhilfe ist eine Geste der Solidarität mit Opfern, und es lässt sich rechtfertigen, dass ein weniger hohes Lebenshaltungskostenniveau berücksichtigt wird, wenn die begünstigte Person im Ausland wohnt. Der Unterschied zwischen der Höhe der Lebenshaltungskosten im In- und Ausland muss von erheblicher Grösse sein, damit eine Herabsetzung der Genugtuung gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn die Anwendung der üblichen Bemessungsregeln zu einer unverhältnismässigen Genugtuung für im Ausland wohnhafte Begünstigte im Vergleich zu in der Schweiz wohnhaften Personen führen würde. Höhere Lebenshaltungskosten im Ausland ziehen dagegen keine Erhöhung des Genugtuungsbetrages nach sich.

Der Vorentwurf der Expertenkommission hatte ausserdem vorgesehen, dass eine Genugtuung auch dann ausgeschlossen werden könne, wenn das Opfer nicht mehr in der Lage ist, die erlittenen Beeinträchtigungen wahrzunehmen220. Da dieses Thema sehr umstritten ist221, ist dieser Ausschlussgrund nicht in den vorliegenden Entwurf übernommen worden.

Art. 28

Zinsen

Mehrere Vernehmlassungsteilnehmer haben gewünscht, dass das Gesetz die Frage der Zinsen regle222. Die Handhabung der Zinsen scheint von Kanton zu Kanton zu variieren223. Im Hinblick auf eine einheitliche Praxis soll die Frage künftig im Gesetz geregelt werden. Das Haftpflichtrecht, das das Opfer in die Lage versetzen will, in der es sich vor der Tat befunden hat, gewährt Kapitalzins auf dem Schaden und auf der Genugtuung. Das OHG bezweckt anderes. Der Staat greift zudem nur subsidiär ein, wobei es sich um einer Solidaritätsgeste der Gemeinschaft gegenüber schwer betroffenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern handelt. Künftig sind sowohl die Entschädigung (Art. 20 Abs. 3) als auch die Genugtuung (Art. 23 Abs. 1) plafoniert. Diese Gründe rechtfertigen es, auf einen Kapitalzins zu verzichten.

218 219 220 221

222 223

Bei der Entschädigung fliessen tiefere Lebenshaltungskosten bei Wohnsitz im Ausland bei der Bestimmung des Schadens ein.

BGE 125 II 554 Vgl. Art. 20 Abs. 4 des Vorentwurfs der Expertenkommission.

Der im Oktober 2000 in die Vernehmlassung gegebene Vorentwurf über die Revision und Vereinheitlichung des Haftpflichtrechts lässt die Frage offen: Art. 45 des Entwurfs, der sich mit der Genugtuung befasst, ist so formuliert, dass eine (natürliche) Person ohne jedes Bewusstsein nicht a priori von der Klage ausgeschlossen ist. Vgl. auch die Stellungnahmen der Teilnehmer an der Vernehmlassung zur Revision des OHG, Ergebnisse, S. 74 f.

Ergebnisse, S. 65 und S. 71.

Verschiedene Behörden stützen sich zur Zeit auf BGE 129 IV 149.

7232

Artikel 26 ATSG224 sieht Verzugszinsen nach Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12 Monate nach dessen Geltendmachung vor. Aus den oben erwähnten Gründen sieht das OHG kein derartiges System vor.

Wenn die Behörde den Entscheid verzögert, obwohl sie über alle erforderlichen Informationen verfügt, so stehen der gesuchstellenden Person die üblichen Rechtsmittel offen. Opferhilfeleistungen sind keine Gegenleistungen aufgrund von Sozialbeiträgen.

Art. 29

Verfahren

Absatz 1 sieht wie schon das geltende Recht (Art. 16 Abs. 1 OHG) ein einfaches und rasches Verfahren für Entschädigung und Genugtuung vor. In der Praxis wird, wenn unklar ist, ob überhaupt eine Straftat vorliegt und welche Tragweite sie hat, das Entschädigungs- bzw. Genugtuungsverfahren sistiert, bis die Rechtslage klar ist (rechtskräftiges Strafurteil)225, was den Begriff «rasches Verfahren» relativiert.

Dennoch ist der Bundesrat wie die Expertenkommission der Auffassung, diese Anforderung sei beizubehalten: Das Verfahren soll den Umständen entsprechend so rasch wie möglich abgewickelt werden.

Die Unentgeltlichkeit des Entschädigungs- und Genugtuungsverfahrens ist in Artikel 30 Absatz 1 geregelt.

Absatz 2 hat den gleichen Wortlaut wie Artikel 16 Absatz 2 OHG. In diesem Zusammenhang ist jedoch auf eine Neuerung hinzuweisen: Artikel 4 Absatz 2 regelt die Mitwirkungspflicht, die heute in der Verordnung verankert ist.

Absatz 3 übernimmt den geltenden Artikel 17 OHG. Danach muss die Beschwerdeinstanz unter anderem über freie Überprüfungsbefugnis verfügen.

2.4

4. Kapitel: Befreiung von Verfahrenskosten

Art. 30 Absatz 1 verankert die Unentgeltlichkeit der Verfahren betreffend die Leistungen der Beratungsstellen und der Entschädigungs- und Genugtuungsbehörden ­ unabhängig vom Einkommen der betroffenen Person. Er entspricht Artikel 16 Absatz 1 OHG, der die Unentgeltlichkeit des Verfahrens betreffend Entschädigung oder Genugtuung vorsieht, und dehnt den Grundsatz auf die Gewährung der Hilfe im Sinne von Artikel 13 und 16 des Entwurfs aus. Der Vorschlag der Expertenkommission, die Kostenlosigkeit auch für weitere Verfahren, die Folge der Straftat sind (z.B. eine Zivilklage gegen den Täter oder die Täterin), vorzusehen, wird nicht übernommen. Eine besondere Regel für Opfer ist ohnehin nicht nötig, da ergänzend zur unentgeltlichen Rechtspflege nötigenfalls über die Beratung Kostenbeiträge geleistet werden können.

224

Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, SR 830.1.

225 BGE 122 II 211

7233

Gemäss Absatz 2 ist das Verfahren nach diesem Gesetz dann nicht mehr unentgeltlich, wenn der Prozess mutwillig geführt wird. Bereits bisher konnten die Beratungsstellen die Übernahme von Anwaltskosten verweigern, wenn diese offensichtlich nutzlos aufgewendet schienen226.

Absatz 3 verhindert die Ungleichbehandlung von Opfern, deren Anwalt oder Anwältin über die unentgeltliche Rechtspflege finanziert wird, mit Opfern, für deren Anwaltskosten von der Beratungsstelle ein Kostenbeitrag gesprochen wird.

Nach Artikel 29 Absatz 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Soweit Artikel 29 Absatz 3 BV oder die unentgeltliche Rechtspflege nach kantonalem Recht zur Anwendung gelangt, haben das Opfer und seine Angehörigen die vom OHG vorgesehenen Kostenbeiträge für juristische Hilfe nicht nötig. Das Verhältnis des Opferhilferechts zu den verfassungsmässigen Ansprüchen auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nach Artikel 29 BV ist Gegenstand einer reichen Rechtsprechung227.

Wenn das Opfer oder die Angehörigen auf Grund ihres Einkommens keinen Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand haben, muss die für die Beratung zuständige Instanz prüfen, ob sie die grosszügigeren Voraussetzungen nach OHG für die Übernahme von Anwalts- oder Verfahrenskosten erfüllen. So ergänzen die unentgeltliche juristische Hilfe und die Übernahme der Anwalts- und Verfahrenskosten im Sinne des OHG die von der Bundesverfassung vorgesehenen Verfahrensgarantien.

Opfer und Angehörige, deren Anwaltskosten von der unentgeltlichen Rechtspflege nach Artikel 29 Absatz 3 BV oder nach kantonalem Recht vom Staat getragen werden, müssen diese Hilfe bei verbesserten materiellen Verhältnissen grundsätzlich zurückzahlen. Bei der Übernahme der Anwaltskosten gestützt auf das OHG ist dies nicht der Fall. Opfer in sehr bescheidenen finanziellen Verhältnissen werden damit schlechter gestellt als Opfer, die über Einnahmen bis zur Höchstgrenze für Kostenbeiträge verfügen. Zudem kann die Rückforderung von Anwaltskosten zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Reviktimisierung führen. Aus diesen Gründen wird, wie bereits
im Vorentwurf vorgeschlagen, vom OHG angeordnet, dass das Opfer und seine Angehörigen die Kosten für einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nicht zurückerstatten müssen.

2.5

5. Kapitel: Finanzielle Leistungen und Aufgaben des Bundes

Der vorliegende Gesetzesentwurf bringt keine Änderungen bezüglich der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen. Der Vollzug des OHG obliegt fast vollständig den Kantonen. Aufgabe des Bundes ist es, die Fachausbildung der mit der Opferhilfe betrauten Personen zu unterstützen (Art. 31) und die Wirkungen des Gesetzes zu evaluieren.

226 227

BGE 121 II 209 BGE 123 II 548, 125 II 265, 122 II 315, 121 II 209

7234

Während der ersten sechs Jahre nach Inkrafttreten des OHG hat der Bund den Kantonen Bundesbeiträge für den Aufbau der Opferhilfe gewährt. Später beschränkte sich die finanzielle Unterstützung des Bundes auf Ausbildungshilfen sowie auf die Ausrichtung von ausserordentlichen Beiträgen an die Kantone für die infolge des im Jahre 1997 erfolgten Attentats in Luxor entstandenen Aufwendungen. Anders als der Vorentwurf der Expertenkommission sieht der vorliegende Entwurf keine Abgeltungen für die Hilfe von Beratungsstellen oder für Entschädigungen und Genugtuungen vor, ausser nach ausserordentlichen Ereignissen (Art. 32 Abs. 1). Nicht übernommen wird ausserdem der Vorschlag, Institutionen und Programme zur Information über die Opferhilfe mit Finanzhilfen zu unterstützen (vgl. Ziff. 1.2.3 oben).

Der vorliegende Entwurf regelt neu die Koordinationsaufgaben des Bundes. Gewisse Koordinationsaufgaben hat der Bund schon bisher nach ausserordentlichen Ereignissen wie dem Attentat in Luxor wahrgenommen.

Art. 31

Ausbildung

Artikel 31 entspricht dem geltenden Artikel 18 Absatz 1 OHG. Wie heute geht es um die Unterstützung der Fachausbildung (d.h. Spezialisierung und dann regelmässige Weiterbildung) und nicht um die berufliche Grundausbildung. Die Kurse müssen sich wie heute an das Personal der Beratungsstellen und an die mit der Opferhilfe betrauten Personen richten. Darunter fallen in erster Linie Angehörige der Polizei und der Gerichtsbehörden, aber der Begriff der «mit der Opferhilfe Betrauten» kann auch weiter verstanden werden und Personen umfassen, die die Aufgabe haben, nach Artikel 8 über die Opferhilfe zu informieren oder die Soforthilfe leisten (z.B. Spitalpersonal, Ärztinnen und Ärzte sowie Feuerwehrleute). Die Kurse müssen in direktem und engem Zusammenhang mit der Opferhilfe nach diesem Gesetz stehen.

Artikel 31 bezweckt nicht die Subventionierung sämtlicher Spezialisierungs- und Weiterbildungskosten für Personen, die mit der Opferhilfe beauftragt sind. So sind z.B. Ausbildungen, die innerhalb einer Institution organisiert werden, vom Arbeitgeber zu finanzieren und nicht über das OHG. Wie bisher kann der Bund die Subventionierung an bestimmte Voraussetzungen knüpfen wie z.B. an die Bedingung, dass der Kurs für eine ganze Sprachregion angeboten wird oder dass eine Mindestzahl von Teilnehmenden erreicht wird. Der Bund kann wie heute Pauschalen ausrichten oder, wenn sich dies als sinnvoll erweist, wieder Beiträge an die effektiven Kosten leisten.

Artikel 18 Absatz 1 OHG fordert den Bund auf, den besonderen Bedürfnissen von Kindern, die Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität sind, Rechnung zu tragen. Dieser Passus ist am 23. März 2001 mit einer parlamentarischen Initiative228 eingefügt worden. Der vorliegende Entwurf übernimmt die Aufforderung in leicht erweiterter Form. Nicht nur Kinder, die Opfer von Sexualdelikten geworden sind, sondern auch andere Opfer haben spezielle Bedürfnisse, die zu berücksichtigen sind (z.B. Opfer von häuslicher Gewalt oder Opfer von Menschenhandel). Falls die Kredite nicht ausreichen, sind jene Kurse zu bevorzugen, die sich mit bisher zu wenig beachteten besonderen Bedürfnissen befassen.

228

AS 2002 2997 2999

7235

Art. 32

Ausserordentliche Ereignisse

Absatz 1 entspricht dem heutigen Artikel 18 Absatz 3 OHG. Er ermöglicht dem Bund, den Kantonen Abgeltungen zu gewähren, wenn sie infolge ausserordentlicher Ereignisse besonders hohe Aufwendungen zu tragen haben, die sich aus der Anwendung des Opferhilfegesetzes ergeben. Der Artikel kommt bei ausserordentlichen Ereignissen wie Terroranschlägen, Taten von Amokschützen, Katastrophen wegen menschlichen Versagens etc. zur Anwendung, also bei Ereignissen, die zu zahlreichen Opfern geführt haben und die deswegen den Finanzhaushalt eines Kantons auf eine harte Probe stellen. Bis heute hat der Bund diese Bestimmung erst ein einziges Mal angewendet, nach dem Attentat von Luxor im Jahre 1997. In Zukunft wird diese Vorschrift nach Taten im Ausland allerdings praktisch bedeutungslos sein, weil nach dem vorliegenden Entwurf nach Taten im Ausland kein Anspruch mehr auf Entschädigung und Genugtuung bestehen soll; die Aufwendungen der Kantone werden sich in solchen Fällen auf Leistungen beschränken, die die Beratungsstellen selbst oder unter Einschaltung Dritter erbringen; sie werden selten so hoch sein, dass eine Abgeltung des Bundes angezeigt ist. Wenn hingegen solche Ereignisse auf schweizerischem Staatsgebiet erfolgen, so können die Aufwendungen der Kantone je nach Fall sehr hoch sein. Auch wenn die Schweiz bis heute weitgehend verschont geblieben ist (Ausnahme: Anschlag auf das Zuger Parlament im Jahre 2001), können solche Delikte künftig nicht ausgeschlossen werden.

Absatz 2 ist neu. Nach dem Attentat in Luxor hatte sich die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen den Bundesbehörden einerseits und zwischen Bund und Kantonen andrerseits gezeigt. Der vorliegende Entwurf geht einen Schritt weiter und erlaubt dem Bund, nötigenfalls die von den Kantonen zu leistende Hilfe zu koordinieren.

Art. 33

Evaluation

Diese Bestimmung konkretisiert Artikel 170 der Bundesverfassung. Sie verpflichtet den Bundesrat zur regelmässigen Evaluation der Massnahmen nach diesem Gesetz.

Eine solche Verpflichtung enthält bereits das geltende Recht (Art. 18 Abs. 2 OHG).

Wann jeweils Evaluationen stattfinden sollen, schreibt der vorliegende Entwurf nicht vor. Es ist also nicht unbedingt nötig, so häufig wie in der ersten Zeit nach dem Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes zu evaluieren.

2.6

6. Kapitel: Besonderer Schutz und besondere Rechte im Strafverfahren

Die Artikel 5­10d des geltenden OHG enthalten besondere Schutzbestimmungen zu Gunsten des Opfers im Strafverfahren. Sie werden praktisch unverändert übernommen (Art. 34­44). In einer späteren Phase sollen diese Bestimmungen in die im Entstehen begriffene Schweizerische Strafprozessordnung überführt werden.

In formaler Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass alle Regeln, die Opfer von Sexualdelikten betreffen, neu in einer eigenen Bestimmung (Art. 35) zusammengefasst werden. Ferner ist der Inhalt von Artikel 6 OHG nicht mehr in diesem Kapitel enthalten, sondern neu in den allgemeinen Bestimmungen des 1. Kapitels (Art. 8).

7236

Schliesslich erklärt Artikel 39 die Verfahrensbestimmungen auch für die Angehörigen sinngemäss anwendbar (vgl. auch Art. 2 geltendes OHG).

Im Übrigen sind die Bestimmungen ohne Änderungen übernommen worden, da sich die Praxis in den Kantonen nach anfänglichen Schwierigkeiten gut eingespielt hat.

Es kann deshalb auf die Erläuterungen in der bundesrätlichen Botschaft zum OHG sowie den Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates zur Parlamentarischen Initiative «Sexuelle Ausbeutung von Kindern. Verbesserter Schutz» verwiesen werden229.

Die Bestimmungen über den besonderen Schutz und die besonderen Rechte im Strafverfahren sollen auch im Rahmen von Militärstrafprozessen zur Anwendung gelangen. Da gleichzeitig einige Besonderheiten des Militärstrafprozessrechts zu beachten sind, werden die entsprechenden Normen im Militärstrafprozess230 direkt integriert und in diesem nicht bloss auf das Opferhilfegesetz verwiesen. Dies hat für die Anwenderinnen und Anwender den Vorteil, alle relevanten Bestimmungen in einem Erlass vorzufinden.

2.7 Art. 45

7. Kapitel: Schlussbestimmungen Rechtsetzungsbefugnisse des Bundesrates

Diese Bestimmung enthält verschiedene dem Bundesrat übertragene Rechtsetzungsaufgaben. Die Anpassung von Höchst- und Mindestbeträgen an die Teuerung muss nicht vom Parlament beschlossen werden; sie kann dem Bundesrat überlassen werden.

Absatz 1 schreibt die periodische Anpassung der Höchstbeträge für Entschädigungen und Genugtuungen durch den Bundesrat vor (Art. 20 Abs. 3 erster Satz und Art. 23 Abs. 2). Diese Anpassungsmöglichkeit ist wichtig, weil die Genugtuung anders als im Privatrecht plafoniert ist. Auch der Betrag, unter welchem keine Entschädigung ausgerichtet wird, kann der Teuerung angepasst werden (Art. 20 Abs. 3 zweiter Satz).

Absatz 2: Die technischen Details der Berechnung der kantonalen Kostenbeiträge können ebenfalls dem Bundesrat übertragen werden. Der Bundesrat wird von dieser Kompetenz aber nur Gebrauch machen, wenn die Kantone selbst keine Regelung treffen.

Absatz 3: Das geltende Recht ermächtigt den Bundesrat, weitere Vorschriften zur Bemessung der Entschädigung zu erlassen (Art. 13 Abs. 3 OHG). Der vorliegende Gesetzesentwurf sieht dasselbe vor und erweitert die Kompetenz auf den Bereich der Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter und der Genugtuung. Diesbezüglich könnten insbesondere Pauschalen oder Tarife eingeführt werden (wie etwa bei der Integritätsentschädigung nach dem UVG231). Mit dem zweiten Satz erlaubt diese Bestimmung, von der Regelung gemäss ELG232, auf die verschiedentlich verwiesen 229

Botschaft OHG, BBl 1990 961 ff.; Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. August 1999 zur Parlamentarischen Initiative «Sexuelle Ausbeutung von Kindern. Verbesserter Schutz», BBl 2000 3744, 3766.

230 SR 322.1 231 Art. 25 Abs. 2 UVG (SR 832.20) und Anhang 3 zur UVV (SR 832.202).

232 SR 831.30

7237

wird, abzuweichen, wenn diese Bestimmungen zu wenig auf die Bedürfnisse des Opfers und seiner Angehörigen abgestimmt sind (z.B. betreffend Berechnung der massgeblichen Einnahmen).

Art. 46

Aufhebung bisherigen Rechts

Bei der vorliegenden Revisionsvorlage handelt es sich um eine Totalrevision. Die neue Vorlage tritt an die Stelle des geltenden OHG; dieses muss formell aufgehoben werden.

Art. 47

Änderung bisherigen Rechts

Artikel 47 verweist für die Änderungen bisherigen Rechts auf den Anhang. Vorgeschlagen wird die Änderung des Bundesgesetzes vom 15. Juni 1934233 über die Bundesstrafrechtspflege und des Militärstrafprozesses vom 23. März 1979234.

Bundesstrafrechtspflege: In drei Bestimmungen ist wegen des ausgedehnten Schutzes des OHG nicht nur auf das Opfer, sondern auch auf seine Angehörigen Bezug zu nehmen. Zum Teil wird statt von Opfer und Angehörigen von anspruchsberechtigten Personen gesprochen.

Militärstrafprozess: Artikel 8 Absatz 1 des Entwurfs bezeichnet genau, welche Behörde das Opfer zu informieren hat, nämlich die Polizei. Da bei Widerhandlungen gegen das Militärstrafgesetz der erste Kontakt auch durch andere Behörden (Militärpolizei, Untersuchungsrichter, Truppe) erfolgen kann, wird hier nur von «Behörde» gesprochen (Art. 84b Abs. 1 MStP).

Soweit das Militärstrafprozessrecht nicht aus zwingenden Gründen eine besondere Lösung erfordert, sind die betreffenden Bestimmungen mit jenen im Opferhilfegesetz identisch. In der Systematik ergeben sich allerdings geringfügige Umstellungen.

Der Militärstrafprozess kennt ­ im Unterschied zum zivilen Strafprozess ­ eine Pflicht zum Beizug eines Verteidigers (Art. 127 MStP). Um das Opfer nicht zu benachteiligen, soll diesem bei Bedarf ebenfalls ein Rechtsbeistand zur Verfügung gestellt werden (Art. 84e Abs. 2).

Artikel 135 des Militärgesetzes vom 3. Februar 1995235 sieht ferner die Kausalhaftung des Bundes vor. Die Formulierung der Zivilansprüche wird auf diese Sonderregel ausgerichtet (Art. 84f Abs. 1 Bst. a, Art. 84g).

Art. 48

Übergangsbestimmungen

Artikel 48 Absatz 1 sieht für Ansprüche auf Entschädigung oder Genugtuung betreffend Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes begangen wurden, die Anwendung des bisherigen Rechts vor. Allerdings gelten bezüglich Straftaten, die weniger als zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts verübt worden sind, die für das Opfer und seine Angehörigen günstigeren Verwirkungsfristen des neuen Rechts (Bst. a). Die Periode von zwei Jahren nimmt Bezug auf die ebenfalls zwei Jahre dauernde Verwirkungsfrist des bisherigen Rechts. Das bisherige Recht gilt

233 234 235

SR 312.0 SR 322.1 SR 510.10

7238

ferner für hängige Gesuche um Kostenbeiträge (Bst. b). Für alle übrigen Fälle ist das neue Recht anwendbar.

Die Verwirkungsfristen von Artikel 25 betreffend das Geltendmachen von Entschädigung und Genugtuung finden sofort Anwendung und gelten auch für Sachverhalte, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes eingetreten sind (Abs. 2). Damit kommen das Opfer und seine Angehörigen in den Genuss der grosszügigeren Lösung längerer Fristen, die im neuen Recht vorgesehen sind. Die Verlängerung dieser Fristen war in der Vernehmlassung nicht bestritten und ist sachlich gerechtfertigt.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

Das finanzielle Engagement des Bundes im Bereich der Ausbildung soll im bisherigen Rahmen weitergeführt werden (250 000­300 000 Fr. pro Jahr). Die Aufbauhilfe, die der Bund den Kantonen geleistet hat, war von Beginn weg als befristetes Instrument konzipiert und nur während der ersten sechs Jahre nach Inkrafttreten des geltenden Opferhilfegesetzes möglich. Im Entwurf ist keine Aufbauhilfe des Bundes mehr vorgesehen.

Der Entwurf sieht wie das geltende Recht die Möglichkeit des Bundes vor, den Kantonen bei ausserordentlichen Ereignissen Abgeltungen zu gewähren, wenn besonders hohe Aufwendungen anfallen (Art. 32). Von dieser Möglichkeit könnte beispielsweise bei einem Terroranschlag mit vielen Opfern Gebrauch gemacht werden, wenn die vorhandenen Infrastrukturen überfordert wären. Bis jetzt wurde diese Massnahme nur einmal, nämlich beim Attentat von Luxor im Jahr 1997, angewandt.

Auf den Personalbestand des Bundes hat die Vorlage keinen Einfluss.

Mit dem Entwurf sind gegenüber dem geltenden Recht somit keine zusätzlichen Ausgaben vorgesehen.

3.2

Auswirkungen auf die Kantone und die Gemeinden

Mit dem revidierten Opferhilfegesetz werden keine grundsätzlichen Änderungen mit weit reichenden finanziellen Folgen vorgeschlagen. Die Kantone erbringen die Opferhilfe und tragen damit weiterhin die finanzielle Hauptlast der Opferhilfe. Der Aufwand der Kantone für die Beratungsstellen stieg in den letzten Jahren kontinuierlich an und betrug 2002 insgesamt 22,1 Millionen Franken (Details vgl. Tabelle 1 Kosten der Beratungsstellen im Anhang). Der Anstieg ist im Wesentlichen auf die gestiegene Zahl der Beratungsfälle zurückzuführen: Im Jahre 2000 nahmen 16 891 Personen die Hilfe der Beratungsstellen in Anspruch, im Jahr 2003 stieg die Zahl auf 23 948 an (2004: 24 709).

Für Entschädigungen haben die Kantone im Jahr 2003 insgesamt 3,2 Millionen Franken, für Genugtuungen 7,2 Millionen Franken aufgewendet. Im Jahre 2004 sind diese Beträge gesunken (2,2 Mio. Fr. bzw. 7,0 Mio. Fr.).

7239

Durch die Einführung von Höchstbeträgen neu auch für Genugtuungen werden die Ausgaben der Kantone im Einzelfall begrenzt. Die Entschädigungen und Genugtuungen für Opfer von Straftaten im Ausland sollen wegfallen. Künftig werden nach einer Straftat im Ausland (Art. 3 Abs. 2) nur noch Beratung und Hilfe angeboten.

Die Gesamtausgaben der Kantone für die Opferhilfe werden dadurch tendenziell etwas gesenkt.

Mit Artikel 18 über die Kostenverteilung wird eine gerechtere Verteilung der Kosten unter den Kantonen angestrebt. Einzelne Kantone werden mit der neuen Regelung etwas höhere Ausgaben haben als bisher, andere (insbesondere jene Kantone, die eine attraktive, ausgebaute und spezialisierte Infrastruktur aufweisen) werden entsprechend entlastet.

Mit einer klareren Umschreibung der verschiedenen Leistungen der Opferhilfe soll die Arbeit der kantonalen Vollzugsstellen erleichtert werden.

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die Opferhilfe durch Bund und Kantone entspricht einem offensichtlichen Bedürfnis. Sie dient dazu, Personen, die Opfer einer Straftat werden und dadurch unter anderem auch in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, zu unterstützen. Oft sind die Täter und Täterinnen nicht in der Lage, den von ihnen verursachten Schaden zu decken. Deckt auch keine Versicherung, eine andere Institution oder eine andere Person den Schaden, ist es Aufgabe der Kantone, im Rahmen des Opferhilfegesetzes einzuspringen. Mit der finanziellen und psychosozialen Opferhilfe sollen wie bisher die Opfer und allenfalls ihre Angehörigen unterstützt werden, ihr Leben nach der Straftat wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Einige statistische Angaben zu den Kosten der Opferhilfe sind in Anhang zusammengefasst. Insgesamt haben die Steuerpflichtigen jährliche Kosten für die Opferhilfe von etwa 33 Millionen Franken zu tragen.

Das Opferhilfegesetz hat keine direkte Wirkung auf die Wirtschaft. Indirekt hat die Opferhilfe für die Volkswirtschaft positive Auswirkungen: Sie erleichtert die wirtschaftliche Wiedereingliederung von Opfern in die Gesellschaft (wirtschaftliche Unabhängigkeit des Opfers, Verminderung der Kosten der Arbeitgeber durch rasche Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit usw.). Die Revision des Opferhilfegesetzes hat keine direkten Kostenfolgen für die Arbeitgeber, da die Opferhilfe durch die öffentliche Hand finanziert wird.

Die Regulierungsdichte hat in materieller Hinsicht kaum zugenommen (neu kann der Bund in bestimmten Bereichen Pauschalen und Tarife festsetzen, der Entwurf enthält eine subsidiäre Regelung für die Kostenverteilung unter den Kantonen). Der Erlass ist in erster Linie strukturell überarbeitet worden und klärt bisher offene oder bloss auf Verordnungsstufe oder in der Rechtsprechung beantwortete Fragen. Das Gesetz richtet sich vor allem an die Kantone; administrativer Aufwand für die Arbeitgeber ist damit nicht verbunden. Die begrifflichen Klarstellungen sollen vielmehr zu einem effizienteren Vollzug beitragen.

7240

3.4

Andere Auswirkungen

Mit dem Opferhilfegesetz von 1991 ist die Situation für Opfer von Straftaten sowie von Angehörigen der Opfer verbessert worden. Mit der Revision werden die bisherigen Angebote der Opferhilfe grundsätzlich weitergeführt: Während die Soforthilfe, die Beratung sowie Genugtuungen allen Personen gleichermassen zu Gute kommen, profitieren von Kostenbeiträgen und Entschädigungen insbesondere finanziell schlecht gestellte Personen.

Die Opferhilfe wurde bisher mehrheitlich von Frauen beansprucht (gegen 75 % in der Beratung, über 60 % bei Entschädigungen und Genugtuungen). Dies wird sich mit der Revision kaum ändern. In bestimmten Punkten verbessert das neue Opferhilfegesetz die Situation der Opfer: Verlängerung der Verwirkungsfrist, bessere Unterstützung von Kantonen mit einer ausgebauten Opferhilfe-Infrastruktur (z.B. mit spezialisierten Zentren für Frauen), Möglichkeit der Beratungsstellen, Straftaten gegen Minderjährige anzuzeigen, ausdrückliche Erwähnung des Anspruchs auf eine Notunterkunft usw. Diese Vorteile kompensieren die Auswirkungen restriktiverer Genugtuungszahlungen, die vor allem Opfer von Sexualdelikten betreffen.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zum Finanzplan

Die Vorlage ist in der Legislaturplanung 2003­2007 und im Legislaturfinanzplan als Geschäft angekündigt236.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Der Erlass stützt sich wie schon das geltende OHG auf die Opferhilfebestimmung der Verfassung (Art. 124 BV) sowie neu auch auf die Bundeskompetenz im Bereich des Strafprozessrechts (Art. 123 Abs. 1 BV).

Artikel 124 verlangt von Bund und Kantonen, dass Opfer von Straftaten Hilfe und ­ wenn sie durch die Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten drohen ­ eine Entschädigung erhalten. Zur Hilfe gehören Beratung, Unterstützung (persönliche Betreuung, Kostenbeiträge an Hilfeleistungen Dritter, Zur-Verfügung-Stellen dringend notwendiger Güter usw.) und Genugtuungszahlungen. Die Entschädigung soll laut Verfassung angemessen sein. Diese Umschreibung führt zu einer Differenzierung gegenüber dem Haftpflichtrecht. Angemessene Entschädigung bedeutet demnach nicht, dass der erlittene Schaden voll ausgeglichen wird. Vielmehr ist den Besonderheiten der Opfersituation Rechnung zu tragen237.

236 237

BBl 2004 1202, Gesetzgebungsprogramm 2003­2007, Ziff. 3.2.

Botschaft BV, S. 341; Mader, St.Galler Kommentar BV zu Art. 124 BV, Rz. 10.

7241

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

5.2.1

Europäisches Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 24. November 1983

Die Mitgliedstaaten des Europarates haben am 24. November 1983 in Strassburg das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten abgeschlossen. Für die Schweiz ist das Übereinkommen wie das OHG am 1. Januar 1993 in Kraft getreten238.

Das Übereinkommen enthält Mindestvorschriften für subsidiäre staatliche Entschädigungen an Opfer von Gewalttaten. Die Vertragsstaaten verpflichten sich zur Umsetzung der Grundsätze im nationalen Recht. Ratifiziert haben es neben der Schweiz folgende Staaten: Albanien, Aserbeidschan, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Grossbritannien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, Tschechien und Zypern. Das Übereinkommen befasst sich nur mit Entschädigungen. Entschädigung hat jener Staat zu leisten, in dem die Tat begangen worden ist239. Das ist auch der Ausgangspunkt des vorliegenden Entwurfs. Das schweizerische Recht beschränkt sich jedoch nicht auf die Entschädigung, sondern sieht eine umfassende Opferhilfe vor.

Der persönliche Geltungsbereich des vorliegenden Entwurfs geht wie schon das geltende Recht über das Abkommen hinaus. Dieses sieht Entschädigungen nur vor an Personen mit einer schweren Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung infolge einer vorsätzlichen Gewalttat sowie an unterhaltsberechtigte Hinterbliebene240.

Punkto Umfang und Modalitäten der finanziellen Unterstützung entspricht der vorliegende Entwurf den Anforderungen des Abkommens. Danach muss die Entschädigung zumindest Verdienstausfall, Heilbehandlungs- und Krankenhauskosten, Bestattungskosten sowie für Unterhaltsberechtigte den Ausfall von Unterhalt abdecken241. Die Entschädigung kann plafoniert und entsprechend den wirtschaftlichen Verhältnissen der antragstellenden Person reduziert oder ausgeschlossen werden242.

Die Staaten können eine Frist zur Geltendmachung vorsehen243. Nach dem vorliegenden Entwurf müssen für Kosten der medizinischen Betreuung je nach gesundheitlichem Zustand Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter bei einer Beratungsstelle beantragt oder eine Entschädigung bei einer Entschädigungsbehörde geltend gemacht werden (Art. 13 Abs. 2 und Art. 19). Bei beiden Formen der Opferhilfe wird auf die wirtschaftliche Situation der betroffenen Person abgestellt, wobei die Voraussetzungen für Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter weniger streng sind als jene für Entschädigungen. Zudem sind die Kostenbeiträge für die 238

239 240 241 242 243

SR 0.312.5, vgl. Botschaft vom 25.4.1990 zum OHG, BBl 1990 II 961 ff., Ziff. 22.

Der Europarat hat ausserdem für Mitgliedstaaten nicht bindende Empfehlungen verabschiedet: N° R (85) 11 zur Stellung des Opfers im Strafverfahren, N° R (87) 21 betreffend die Unterstützung der Opfer und die Verhinderung der Viktimisierung (wird zurzeit überarbeitet).

Art. 3 des Übereinkommens.

Art. 2 des Übereinkommens und Art. 1 des vorliegenden Entwurfs.

Art. 4 des Übereinkommens.

Art. 5 und Art. 7 des Übereinkommens.

Art. 6 des Übereinkommens.

7242

längerfristige Hilfe Dritter anders als die Entschädigung nicht plafoniert und nicht an eine Verwirkungsfrist gebunden244. Die vorgeschlagene Regelung ist also in verschiedener Hinsicht grosszügiger als das Übereinkommen.

Das Übereinkommen enthält neben den Vorgaben für das jeweilige Landesrecht zwei Bestimmungen zur internationalen Zusammenarbeit. Die Vertragsstaaten haben eine zentrale Behörde zu bestimmen, welche entsprechenden ausländischen Behörden grösstmögliche Unterstützung leistet in Angelegenheiten, die von diesem Übereinkommen erfasst sind245. Diese Aufgabe wird vom Bundesamt für Justiz wahrgenommen.

5.2.2

Weitere für die Schweiz verbindliche Abkommen mit Bezug zur Opferhilfe

Verschiedene weitere Abkommen befassen sich mit der Rechtsstellung besonders schutzbedürftiger Personen246, wie Kinder247 und Personen, die von Frauen- oder Menschenhandel248, von Folter oder von Rassendiskriminierung249 betroffen sind.

244 245 246 247

248

249

Bei der Entschädigung ist eine Reduktion nach Art. 8 der Konvention und nach Art. 27 des vorliegenden Entwurfs möglich.

Art. 12 des Übereinkommens.

Vgl. die zahlreichen Abkommen zum Schutz von Kriegsopfern (SR 0.518).

Zu erwähnen ist insbesondere das UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, in Kraft getreten für die Schweiz am 26. März 1997 (SR 0.107) aber auch die Abkommen, die sich mit der Rückführung von Kindern befassen, die einem Elternteil entzogen worden sind, vgl. Art. 220 StGB und Europäisches Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts vom 20. Mai 1980, für die Schweiz in Kraft getreten am 1. Januar 1984 (SR 0.211.230.01), Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980, für die Schweiz in Kraft getreten am 1. Januar 1984 (SR 0.211.230.02).

Die alten Übereinkommen zum Handel mit weiblichen Personen enthalten vereinzelte Vorschriften betreffend die Opfer: Internationales Übereinkommen zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes gegen das unter dem Namen «Mädchenhandel» bekannte verbrecherische Treiben vom 18. Mai 1904, in Kraft getreten für die Schweiz am 18. Juli 1905 (SR 0.311.31), Art. 3 und 4; Internationales Übereinkommen zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels vom 30. September 1921, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. Februar 1926 (SR 0.311.33). Sie wurden auf internationaler Ebene durch neuere Abkommen zum Menschenhandel abgelöst, welche von der Schweiz aber noch nicht ratifiziert worden sind. Weitere Informationen zum aktuellen Stand unter: www.bj.admin.ch unter Themen ­ Kriminalität ­ Rechtsetzungsprojekte ­ Menschenhandel.

UNO-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984, in Kraft getreten für die Schweiz vom 26. Juni 1987 (SR 0.105). Danach haben die Vertragsstaaten dafür zu sorgen, dass alle Folterhandlungen als Straftaten gelten und sicherzustellen, dass das Opfer einer Folterhandlung Wiedergutmachung und ein einklagbares Recht auf gerechte und angemessene Entschädigung einschliesslich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation erhält (vgl. Art. 4 und Art. 14). UNO-Pakt zur
Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 21. Dezember 1965, in Kraft getreten für die Schweiz am 29. Dezember 1994 (SR 0.104). Er verlangt, dass die Vertragsstaaten Rassendiskriminierung in jeder Form verbieten und jeder Person das Recht auf staatlichen Schutz gegen Gewalttätigkeit oder Körperverletzung gewährleisten sowie das Recht, eine gerechte und angemessene Entschädigung oder Genugtuung für jeden infolge von Rassendiskriminierung erlittenen Schaden zu verlangen (Art. 5 Bst. b und Art. 6).

7243

Sie enthalten u.a. Regeln, die auch bei der Opferhilfe zu beachten sind250. Lediglich empfehlenden Charakter hat die im Jahre 1985 verabschiedete UNO-Resolution 40/34 (1985) über die Grundprinzipien der rechtmässigen Behandlung von Verbrechensopfern und Opfern von Machtmissbrauch251.

Der vorliegende Entwurf will wie das geltende Gesetz Recht schaffen, das für alle Opferkategorien gleichermassen gilt. Vereinzelt sind Sondervorschriften für Kinder (Art. 11 Abs. 3, Art. 25 Abs. 2, Art. 41­44) und ­ im Strafverfahren ­ für Opfer von Sexualdelikten vorgesehen (Art. 35). Weitere spezifische Vorschriften im OHG aufgrund der geltenden Abkommen sind nicht nötig.

5.3

Erlassform

Es handelt sich beim vorliegenden Entwurf um ein Bundesgesetz im Sinne von Artikel 163 Absatz 1 BV, das nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe a dem fakultativen Referendum untersteht.

5.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV gelangt nicht zur Anwendung, da die im Entwurf vorgesehenen Finanzhilfen für die Ausbildung und ausserordentliche Ereignisse (Art. 31 und 32) bereits unter geltendem Recht gewährt wurden und somit nicht neu sind.

5.5

Vereinbarkeit mit dem Subventionsgesetz

Die Vorlage entspricht den Grundsätzen des Subventionsgesetzes. Sie sieht eine regelmässige Überprüfung der Zweckmässigkeit, der Wirksamkeit und der Wirtschaftlichkeit der Massnahmen vor.

Mit pauschalierten Beiträgen an die Fachausbildung von Personen der Opferhilfe sowie der Möglichkeit, Abgeltungen für ausserordentliche Ereignisse zu gewähren, entspricht die Vorlage ebenfalls den Anforderungen des Subventionsgesetzes. Die Massnahmen entsprechen einem Interesse des Bundes und können ohne Finanzhilfen des Bunds nicht effizient umgesetzt werden.

250

Z.B. Art. 12 des UNO-Übereinkommens über die Rechte des Kindes, wonach diesem im Verfahren direkt oder indirekt Gelegenheit zur Meinungsäusserung eingeräumt werden muss.

251 Englische Version unter www.un.org/documents/ga/res/40/a40r034.htm; vgl. den Beitrag von Van Dijk und Jo Goodey, UNO: «Benchmarking Legislation on Crime Victims: The UN Victims Declaration of 1985», in: Bundesamt für Justiz, (Hrsg.), Opferhilfe in der Schweiz, Erfahrungen und Perspektiven, Bern, 2004; zur Rechtsnatur: Klein Rz. 138, Vitzthum Rz. 153, in: Völkerrecht, hrsg. von Wolfgang Graf Vitzthum, Bearb.

von Michael Bothe et. al.; Berlin/New York 1997.

7244

5.6

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Soweit es um reine Vollzugsbestimmungen geht, ergibt sich die Regelungszuständigkeit des Bundesrats unmittelbar aus seiner Vollzugskompetenz (Art. 182 Abs. 2 BV).

Rechtsetzende Bestimmungen erlässt der Bundesrat nach Artikel 182 Absatz 1 BV in Form der Verordnung, soweit er durch Verfassung oder Gesetz dazu ermächtigt ist. In Artikel 45 Absatz 1 wird dem Bundesrat die Aufgabe übertragen, bestimmte, im Gesetz vorgesehene Höchst- und Grenzwerte periodisch der Teuerung anzupassen. Nach Artikel 45 Absatz 2 kann der Bundesrat regeln, wie die kantonalen Beiträge zum Ausgleich der Kosten (subsidiäre Regelung nach Art. 18 Abs. 2) zu berechnen sind und wie welche statistischen Daten, die als Berechnungsbasis dienen, zu erheben sind. Artikel 45 Absatz 3 räumt dem Bundesrat die Möglichkeit ein, die Ausgestaltung der Kostenbeiträge, der Entschädigungen und der Genugtuungen zu regeln. Als Instrument nennt die Gesetzesbestimmung ausdrücklich Pauschalen und Tarife für die Genugtuung. Alle genannten Delegationsnormen erfüllen die rechtlichen Anforderungen nach Umschreibung von Gegenstand und Ziel der Rechsetzungsbefugnisse.

7245

Abkürzungsverzeichnis der zitierten Dokumente Botschaft BV

Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1 ff.

Botschaft Volksinitiative Botschaft des Bundesrats vom 6. Juli 1983 zur Volksinitiative «zur Entschädigung der Opfer von Gewaltverbrechen», BBl 1983 III 869 ff.

Botschaft OHG Botschaft des Bundesrats vom 25. April 1990 zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) und zu einem Bundesbeschluss über das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten, BBl 1990 II 961 ff.

Erster Opferhilfebericht Hilfe an Opfer von Straftaten, Bericht des Bundesamts für Justiz an den Bundesrat über den Vollzug und die Wirksamkeit der Opferhilfe in den Jahren 1993­1994, Bern, Februar 1996, im Internet unter www.bj.admin.ch (unter: Dienstleistungen ­ Opferhilfe ­ Publikationen) Zweiter Opferhilfebericht Hilfe an Opfer von Straftaten, Zweiter Bericht des Bundesamts für Justiz an den Bundesrat über den Vollzug und die Wirksamkeit der Opferhilfe (1993­1996), Bern, Januar 1998, im Internet unter www.bj.admin.ch (unter: Dienstleistungen ­ Opferhilfe ­ Publikationen) Dritter Opferhilfebericht Hilfe an Opfer von Straftaten, Dritter Bericht des Bundesamts für Justiz an den Bundesrat über den Vollzug und die Wirksamkeit der Opferhilfe (1993­1998), Bern, Mai 2000, www.bj.admin.ch (unter: Dienstleistungen ­ Opferhilfe ­ Publikationen) Erläuternder Bericht Vorentwurf der Expertenkommission und der Erläuternder Bericht vom 25. Juni 2002, im Internet unter www.bj.admin.ch (unter: Themen ­ Gesellschaft ­ Laufende Rechtsetzungsprojekte ­ Totalrevision des Opferhilfegesetzes ­ Dokumentation) Ergebnisse Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens zum Vorentwurf der Expertenkommission zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) vom 22. August 2003, im Internet unter: www.bj.admin.ch (unter: Themen/Gesellschaft: Rechtsetzungsprojekte ­ Opferhilfegesetz ­ Dokumentation) Opferhilfestatistik Opferhilfestatistik, wichtigste Kennzahlen, im Internet unter www.bfs.admin.ch (unter Themen ­ Rechtspflege ­ Opfer von Straftaten) Empfehlungen SVK-OHG Empfehlungen der Schweizerischen VerbindungsstellenKonferenz OHG (SVK-OHG), im Internet unter www.opferhilfeschweiz.ch (unter: Gesetzliche Grundlagen) Gomm/Stein/Zehntner Peter Gomm, Peter Stein, Dominic Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995

7246

Anhang

1

Kosten der Beratungsstellen

(Gesamtaufwand für Betrieb, Soforthilfe und längerfristige Hilfe in Franken) Kanton

1999

2000

2001

2002

1 143 734

1 239 302

1 165 825

1 294 818

AI

28 973

27 092

29 822

28 628

AR

101 403

94 822

104 377

100 197

BE

3 426 000

3 788 000

3 731 000

4 086 000

AG

BL

538 876

59 379

724 288

719 880

BS

690 524

668 496

776 288

1 041 261

FR

719 998

783 924

944 671

1 048 246

GE

677 853

749 703

1 041 086

1 080 030

GL

71 700

80 500

80 000

88 600

GR

1 001 930

896 425

647 281

893 092

JU

146 976

115 826

127 318

130 043

LU

1 317 000

1 290 000

1 321 000

1 593 000

NE

494 169

532 290

638 612

683 247

NW

?

37 135

39 978

34 025

OW

47 923

43 223

58 835

31 734

SG

829 919

841 037

766 119

796 380

SH

216 109

258 637

263 338

232 866

SO

315 000

415 000

540 000

600 000

SZ

78 968

315 226

531 993

453 540

TG

412 098

508 879

639 609

580 780

TI

250 963

264 311

301 762

341 861

UR

16 038

11 438

37 553

50 201

VD

406 063

416 143

561 104

557 447

VS

415 115

394 959

413 280

415 339

ZG

229 091

330 767

639 903

467 303

ZH

2 751 159

3 808 204

3 938 346

4 791 277

16 327 581

17 970 717

20 063 388

22 139 796

Total

Quelle: Erhebung des Bundesamtes für Justiz, 2003

7247

2

Genugtuungen

Genugtuungsleistungen im Jahr 2003 Leistungen

Kanton

Summe

AG AI, GL, UR

Anzahl

Summe in Fr.

Mittelwert

Median

631

7 186 854

11 390

5 372

20

235 337

11 767

5 527

0

0

0

0

AR, GL, GR, JU, NW, SH, SZ, TG, TI, VS, ZG

48

707 592

11 061

9 125

BE

83

1 103 200

13 292

7 921

BL

11

174 500

15 864

8 000

BS

37

412 622

11 152

5 486

FR

26

142 469

5 480

2 750

GE

108

1 332 333

12 336

6 000

LU

21

249 259

11 869

5 000

NE

20

179 530

8 977

4 750

SG

35

531 000

15 171

7 000

SO

37

586 242

15 844

7 836

VD

21

166 500

7 929

6 000

ZH

164

1 366 270

8 331

5 000

Quelle: Bundesamt für Statistik

7248

3

Beratungsfälle in den Kantonen im Vergleich mit dem Wohnkanton des Opfers, 2003

Kanton

Anzahl Beratungen

Wohnort ausserhalb*

Total

pro 100 000 Einwohner

Anzahl

Prozent

AG

1 134

205.8

80

7.1

AI, AR, SG

1 244

238.8

86

6.9

BE

4 122

435.2

535

13.0

BL, BS

2 218

495.0

236

10.6

FR

862

360.5

69

8.0

GE

1 477

356.5

324

21.9

GL

91

237.4

17

18.7

GR

485

261.2

59

12.2

JU

118

170.9

8

6.8

LU

1 303

371.6

119

9.1

NE

713

428.3

30

4.2

NW

100

259.3

78

78.0

OW

28

85.5

11

39.3

SH

234

318.8

50

21.4

SO

489

199.1

46

9.4

SZ

198

150.6

28

14.1

TG

401

175.7

43

10.7

TI

348

111.6

26

7.5

UR

36

103.1

16

44.4

VD

903

144.2

38

4.2

VS

569

204.5

53

9.3

ZG

273

270.6

40

14.7

ZH

6 593

536.6

898

13.6

23 948

329.8

2 890

12.1

Insgesamt

keine Angaben zum Wohnort: 564 * inklusive 445 im Ausland Quelle: Bundesamt für Statistik

7249

4

Die wichtigsten Kennzahlen zur Opferhilfe auf einen Blick 2003

2002

2001

2000

23 948

22 554

20 269

16 891

­ unter 10 Jahren

307

275

305

227

­ 10­17 Jahre

509

480

481

358

­ 18­29 Jahre

542

529

457

358

­ ab 30 Jahre

243

225

198

147

weibliche Opfer in %

73.7

74.5

72.5

73.1

männliche Täter in %

82.4

81.8

79.9

82.4

familiäre Täter-Opfer-Beziehung in %

50.4

50.3

47.9

49.4

Beratungsfälle insgesamt Beratungen pro 100 000 Einwohner nach Alter des Opfers

Straftaten in % ­ Körperverletzung

38

38.7

33.8

34.1

­ sexuelle Integrität Kinder

17.3

17.1

20.6

22.6

­ sexuelle Unversehrtheit

14.4

14.5

15.8

16.3

­ Strassenverkehrsunfälle

8.8

8.0

8.2

8.0

­ Tötungsdelikte (auch Versuch)

3.5

3.2

2.9

2.7

Strafverfahren im Gange (in %)

38.1

36.0

38.0

36.2

Entscheide über Entschädigung und Genugtuung insgesamt

953

857

986

923

weibliche Opfer in %

62.3

60.1

63.9

63.5

männliche Täter in %

90.5

90.2

92.7

88.8

familiäre Täter-Opfer-Beziehung in %

27.5

27.7

34.2

32.6

Strafverfahren im Gange (in %)

84.2

78.9

76.1

80.3

Genugtuungen ­ Betrag insgesamt ­ Median Entschädigungen ­ Betrag insgesamt ­ Median Quelle: Bundesamt für Statistik

7250

631

634

658

564

7 186 854

8 088 918

7 974 909

6 971 392

5 372

7 000

6 000

7 000

164

207

178

205

3 219 228

3 494 966

1 596 199

1 434 878

2 620

2 363

2 800

2 300