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Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Ständerates vom 20. September 2022 betreffend Planung und Aufbau der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Dezember 2022

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Ständerates vom 20. September 20221 betreffend Planung und Aufbau der Berufungskammer des Bundesstrafgerichts nehmen wir nach Artikel 158 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

16. Dezember 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 1. Januar 2019 nahm die Berufungskammer als Teil des Bundesstrafgerichts (BStGer) in Bellinzona ihre Tätigkeit auf. Bereits vor ihrer Betriebsaufnahme hatte das Parlament mehr finanzielle Mittel und Personal für die Berufungskammer zur Verfügung stellen müssen. Zudem befassen sich die Aufsichtskommissionen des Parlaments bis heute mit der Unabhängigkeit der Berufungskammer, mit deren Raumsituation und mit den immer noch unzureichenden Ressourcen.

Aufgrund der problembehafteten Anfangsphase der Berufungskammer beschlossen die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) abzuklären, wie und durch wen die neue Berufungskammer geplant worden war und wie deren Aufbau erfolgte. Aus den Untersuchungsergebnissen sollten die notwendigen Lehren gezogen werden.

Gemäss den GPK haben die Abklärungen gezeigt, dass bei der Planung der Berufungskammer die Fallzahlen und der Bedarf an Richterinnen und Richtern von Anfang an deutlich unterschätzt wurden. Bereits 2014 hatte eine Arbeitsgruppe am BStGer den Ressourcenbedarf rund doppelt so hoch veranschlagt wie die ersten Schätzungen des damaligen Präsidenten des BStGer, was dem heute ausgewiesenen Bedarf nahegekommen wäre. Nichtsdestotrotz wurden die Arbeiten der Gruppe nicht weiterverfolgt, da die damalige Verwaltungskommission des Bundesgerichts als Aufsichtsbehörde über das BStGer und der Präsident des BStGer der Meinung waren, die Planungsarbeiten würden von Bundesrat und Parlament nicht akzeptiert werden und somit die Schaffung einer Berufungsinstanz als Alternative zu einer erweiterten Kognition des Bundesgerichts verunmöglichen. Die Fehleinschätzung der Fallzahlen und der zu niedrig veranschlagte Bedarf an Richterinnen und Richtern hatte entscheidende Konsequenzen im Hinblick auf die Organisation der Berufungsinstanz, auf deren Funktionalität und auch im Hinblick auf den Raumbedarf.

Für die Zukunft richten die GPK fünf Empfehlungen an die Gerichte. Zusätzlich sehen sie in organisatorischer und personeller Hinsicht Handlungsbedarf. Sie beantragen deshalb bei den Kommissionen für Rechtsfragen eine Gesetzesrevision im Bereich der Organisation des BStGer mit dem Ziel, ein unabhängiges Berufungs- oder Rechtsmittelgericht als zweite Instanz zu schaffen. Dabei sind die derzeitigen Planungs- und Konzeptarbeiten des BStGer miteinzubeziehen.

Die GPK haben das Bundesgericht und den Bundesrat eingeladen, zum Bericht und den Empfehlungen bis am 31. Dezember 2022 Stellung zu nehmen.

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Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat dankt den GPK für den Bericht. Er verzichtet darauf, zu den fünf Empfehlungen Stellung zu nehmen, da sich diese an die eidgenössischen Gerichte richten.

Er nimmt indessen Stellung zur Weiterentwicklung der Berufungskammer, wo die

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GPK in organisatorischer und personeller Hinsicht Handlungsbedarf sehen (vgl.

Ziff. 3.5 des Berichts): Die GPK halten zu den Personalressourcen an der Berufungskammer fest, dass die Situation auch nach der Besetzung aller 400 Stellenprozente für Richterinnen und Richter prekär bleibt. Mittelfristig scheint ein Ausbau unausweichlich zu sein (vgl.

Ziff. 3.5.1 des Berichts). Im Bericht der GPK wird im Zusammenhang mit einem höheren Ressourcenbedarf mehrfach darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Schätzung von elf Berufungen pro Jahr viel zu tief gewesen sei. Der Bundesrat hatte jedoch in der Botschaft vom 4. September 20132 zur Änderung des Bundesgesetzes über das Bundegericht diesbezüglich ausgeführt, dass in der Vergangenheit pro Jahr durchschnittlich elf Beschwerden in Strafsachen gegen Urteile der Strafkammer des BStGer beim Bundesgericht erhoben worden waren, wobei ein Beschwerdefall mehrere Personen umfassen könne. In der Zusatzbotschaft vom 17. Juni 20163 zur Änderung des Bundesgesetzes über das Bundesgericht hatte der Bundesrat hinsichtlich der Fallprognosen präzisiert, dass von etwa elf Berufungsverfahren pro Jahr mit etwa doppelt so vielen Beschuldigten auszugehen sei. Diese rund 22 Berufungen entsprachen in der Grössenordnung der Anzahl Beschwerden in Strafsachen, die gegen die Urteile der Strafkammer beim Bundesgericht erhoben wurden (siehe Ziff. 2.1.3.1 des Berichts).

In den Jahren 2019­2021 gingen 35, 23 und 27 Berufungen bei der Berufungskammer ein. In diesem Sinn waren die ursprünglichen Schätzungen tatsächlich zu tief, wobei man sich für die Jahre 2020 und 2021 nicht erheblich verschätzt hat. Das Parlament hat jedoch bereits reagiert und die Anzahl Richterstellen verdoppelt (von 200 auf 400 Stellenprozente), wobei die letzten Wahlen erst in der Frühjahressession 2022 und in der Herbstsession 2022 stattgefunden haben. Daher wird die Berufungskammer erst Anfang 2023 ihre volle Leistungsfähigkeit erreichen. Nach Auffassung des Bundesrates gilt es daher vorerst abzuwarten, wie sich die neuen Stellenbesetzungen auf die Bewältigung der Geschäftslast der Berufungskammer auswirken.

Weiter kommen die GPK beim Organisationsmodell zum Schluss, dass es an der Zeit ist, der Berufungskammer eine rechtlich einwandfreie Organisationsform zu verleihen, die den Vorgaben der Strafprozessordnung
(StPO4) entspricht (vgl. Ziff. 3.5.2 des Berichts). Die GPK begründen ihre Auffassung nicht näher. Nach Ansicht des Bundesrates steht die heutige Organisationsform der Berufungskammer durchaus in Einklang mit der StPO. Er führte bereits in der Zusatzbotschaft vom 17. Juni 20165 aus, dass mit der Schaffung der Berufungskammer das Prinzip der «Double Instance» umgesetzt werde und dies im Einklang mit der StPO und dem Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 20056 (BGG) stehe. Des Weiteren ist gemäss Bundesrat zu beachten, dass die StPO nur wenige Vorgaben zur Organisation der Gerichtsbehörden enthält.

Bund und Kantone regeln die Wahl, Zusammensetzung, Organisation und Befugnisse der Strafbehörden, soweit die StPO oder andere Bundesgesetze dies nicht abschliessend tun (Art. 14 Abs. 2 StPO). Die StPO erlaubt es beispielsweise, die Befugnisse der Beschwerdeinstanz dem Berufungsgericht zu übertragen (Art. 20 Abs. 2 StPO), 2 3 4 5 6

BBl 2013 7109 S. 7117 BBl 2016 6199 S. 6212 SR 312.0 BBl 2016 6199 S. 6203 SR 173.110

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wie es das Bundesgericht und das Bundesstrafgericht als eine mögliche Lösung vorgeschlagen haben (vgl. Ziff. 2.1.1 des Berichts).

Schliesslich führen die GPK aus, es sei anzustreben, eine unabhängige Berufungsbzw. Rechtsmittelinstanz zu schaffen, die Beschwerden und Berufungen gegen Urteile der Strafkammer beurteile. Diese zweite Instanz könne Teil des heutigen Bundesstrafgerichts oder ein ­ allenfalls auch örtlich ­ losgelöstes Gericht sein (vgl.

Ziff. 3.5.2 des Berichts).

Diese Ausführungen könnten so verstanden werden, dass die heutige Regelung den Anforderungen der StPO an die Unabhängigkeit der Berufungskammer nicht genügt.

Das trifft nach Ansicht des Bundesrates jedoch nicht zu. Die aktuelle Regelung mag zwar hinsichtlich Unabhängigkeit nicht optimal sein, sie widerspricht jedoch der StPO nicht. Der Bundesrat führte in der Zusatzbotschaft vom 17. Juni 20167 zur Unabhängigkeit aus, die Ansiedelung der ersten und zweiten Instanz am Bundesstrafgericht in Bellinzona könne Bedenken hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit wecken, weil Mitglieder der Berufungskammer die Qualität der Arbeit ihrer Richterkolleginnen und -kollegen beurteilen müssten, die erstinstanzlich unter demselben Dach tätig seien. Daher könne die Gefahr der Beeinflussung bestehen. Gleichzeitig wies der Bundesrat aber darauf hin, dass sich in mehreren Kantonen die erste und zweite Instanz ebenfalls im gleichen Gebäude befinden würden und dies zu keinen besonderen Schwierigkeiten geführt habe. Überdies bestehe schon eine ähnliche Situation: Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts sei nach geltendem Recht Beschwerdeinstanz gegen sämtliche Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts, die weder ein Urteil seien noch verfahrensleitenden Charakter hätten. Dieser interne Rechtsmittelzug sei bisher nicht beanstandet worden.

In diesem Zusammenhang nimmt der Bundesrat zur Kenntnis, dass die geplante Renovation des Pretorio-Gebäudes in Bellinzona eine wichtige Hürde genommen hat, indem das Kantonsparlament des Kantons Tessin am 21. September 2021 ein entsprechendes Kreditbegehren guthiess. Damit werden sich ­ nach der Fertigstellung im Jahr 2026 ­ auch für das Bundesstrafgericht zusätzliche räumliche Möglichkeiten ergeben. So könnte insbesondere die seit Langem beabsichtigte räumliche Trennung der Berufungskammer vom übrigen Teil des Gerichts vollzogen werden (vgl. Ziff. 2.1.2.1 und 2.2.4.2 des Berichts).

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