BBl 2022 www.bundesrecht.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

22.431 Parlamentarische Initiative Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversorgung Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 29. November 2022

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG)1. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

29. November 2022

Im Namen der Kommission Der Präsident: Albert Rösti

1

SR 832.10

2022-3943

BBl 2022 3125

BBl 2022 3125

Bericht 1

Entstehungsgeschichte

Am 1. Januar 2022 ist die neue Fassung von Artikel 37 Absatz 1 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG)2 in Kraft getreten, mit der die Zulassungsbedingungen für Ärzte und Ärztinnen, die zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) tätig sein wollen, geändert wurden. Seit diesem Zeitpunkt müssen neu zugelassene Ärzte und Ärztinnen im beantragten Fachgebiet mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben.

Laut diversen Rückmeldungen aus den Kantonen könnte die aktuelle Formulierung von Artikel 37 Absatz 1 KVG zu einer unzureichenden medizinischen Versorgung im Bereich der ambulanten Grundversorgung führen, dies insbesondere in den Randregionen, wo es für Ärzte und Ärztinnen kurz vor der Pensionierung besonders schwierig ist, eine Praxisnachfolge zu finden.

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) beschloss an ihrer Sitzung vom 20. Mai 2022 nach einer Diskussion über die geschilderte Situation mit 24 zu 0 Stimmen bei 1 Enthaltung, die parlamentarische Initiative «Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversorgung» auszuarbeiten. Von der Kommission nicht infrage gestellt wird der Grundgedanke der kürzlich in Kraft getretenen Bestimmung, d. h. zur Gewährleistung der Leistungsqualität sicherzustellen, dass die zulasten der OKP tätigen Ärzte und Ärztinnen das Schweizer Gesundheitssystem ausreichend kennen. Allerdings ist die SGK-N der Auffassung, dass es den Kantonen möglich sein muss, im Falle eines Mangels an Ärzten und Ärztinnen der ambulanten Grundversorgung (Hausarztmedizin, Kinder- und Jugendmedizin) bei der Neuzulassung solcher Ärzte und Ärztinnen von der Pflicht einer dreijährigen Tätigkeit an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte abzuweichen.

Am 8. Juni 2022 stimmte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) der von ihrer nationalrätlichen Schwesterkommission beschlossenen parlamentarischen Initiative mit 11 zu 2 Stimmen zu. Die SGK-S anerkannte den Handlungsbedarf und erachtete das Mittel der parlamentarischen Initiative im vorliegenden Fall als legitim und gerechtfertigt.

Am 23. Juni 2022 prüfte die SGK-N einen ersten Vorentwurf und diskutierte diesen in Anwesenheit
einer Vertretung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Am 18. August 2022 hat sie dem Vorentwurf zugestimmt, den sie zusammen mit einem erläuternden Bericht in die Vernehmlassung schickt.

An der Sitzung vom 29. November 2022 nahm die Kommission von den Ergebnissen der Vernehmlassung Kenntnis (siehe Ziff. 2.3). Sie änderte den Entwurf im Vergleich zur Vernehmlassungsvorlage. Die damalige Minderheit Humbel setzte sich durch und das ursprüngliche Konzept wurde nicht weiterverfolgt. So sieht der Entwurf nunmehr

2

SR 832.10

2 / 12

BBl 2022 3125

vor, dass die Kantone die Ausnahmen im Einzelfall und in direkter Anwendung des Bundesgesetzes bewilligen können.

Die Minderheit Silberschmidt wurde zurückgezogen. Die Kommission beschloss mit 20 zu 3 Stimmen, den Entwurf ihrem Rat zu unterbreiten und den Bundesrat zur Stellungnahme einzuladen.

2

Ausgangslage

2.1

Geltendes Recht

Mit seiner Botschaft vom 9. Mai 20183 unterbreitete der Bundesrat dem Parlament seine Vorlage zur Änderung des KVG, mit der die Anforderungen an die zulasten der OKP tätigen Leistungserbringenden erhöht und dadurch die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der von ihnen erbrachten Leistungen gesteigert werden sollten. Die Vorlage umfasste verschiedene Massnahmen, darunter die Einführung eines formellen Zulassungsverfahrens für neue Leistungserbringende. Der Bundesrat sah vor, von den Ärzten und Ärztinnen einen Nachweis der für die Qualität der Leistungserbringung notwendigen Kenntnisse des schweizerischen Gesundheitssystems einzufordern und diese Kenntnisse mit einem Prüfungsverfahren zu kontrollieren. Leistungserbringende, die eine mindestens dreijährige Tätigkeit an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte nachweisen können, sollten von dieser Prüfung befreit sein.

Im Laufe der parlamentarischen Debatte zum Geschäft 18.0474 wurde die Ausnahmeregelung (für Personen mit drei Jahren Erfahrung) in eine Grundsatzbestimmung umgewandelt. So sieht die vom Parlament verabschiedete Gesetzesänderung vor, dass die zulasten der OKP tätigen Ärzte und Ärztinnen im beantragten Fachgebiet mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben5 müssen. Sie müssen zudem die in ihrer Tätigkeitsregion notwendige Sprachkompetenz mittels einer in der Schweiz abgelegten Sprachprüfung nachweisen. Diese Nachweispflicht entfällt für Ärzte und Ärztinnen, welche über bestimmte Abschlüsse verfügen (wie eine schweizerische gymnasiale Maturität). Mit dieser Fassung von Artikel 37 KVG wollte der Gesetzgeber die Versorgungsqualität und die Patientensicherheit sicherstellen, indem zulasten der OKP tätige Ärzte und Ärztinnen belegen müssen, dass sie das Schweizer Gesundheitssystem kennen und die Sprache in ihrer Tätigkeitsregion beherrschen.

Im Rahmen derselben Revision führten Bundesrat und Parlament in Artikel 55a KVG eine neue Regelung ein, gemäss der die Kantone in einem oder mehreren medizinischen Fachgebieten oder in bestimmten Regionen die Anzahl der Ärzte und Ärztinnen beschränken, die im ambulanten Bereich zulasten der OKP Leistungen erbringen dürfen. Diese Regelung ermöglicht den Kantonen, die Höchstzahl für Ärzte und Ärztinnen festzulegen, um eine Überversorgung zu verhindern und das Kostenwachstum zu 3 4 5

Botschaft vom 9.5.2018 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Zulassung von Leistungserbringern). BBl 2018 3125.

www.parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > 18.047.

Schlussabstimmungstext: BBl 2020 5513.

3 / 12

BBl 2022 3125

dämpfen. Mit dieser Änderung wurde zwar das Problem der Über-, nicht jedoch jenes der Unterversorgung gelöst.

2.2

Handlungsbedarf

Die neue Fassung von Artikel 37 Absatz 1 KVG, die am 1. Januar 2022 in Kraft trat, sieht strengere Zulassungsbedingungen vor als die vorherige Formulierung. Dies hat namentlich zur Folge, dass neu in die Schweiz kommende ausländische Ärzte und Ärztinnen auch beim Vorliegen eines anerkannten Weiterbildungstitels nicht direkt zulasten der OKP tätig sein können. Für Ärzte und Ärztinnen, welche bereits in der Schweiz tätig waren, aber nicht eine dreijährige Tätigkeit an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte nachweisen können, gibt es zwar einen Besitzstandsschutz (vgl. Abs. 2 der Übergangsbestimmungen zur KVG-Änderung vom 19. Juni 20206), dieser beschränkt sich aber auf die Situation vor dem 1. Januar 2022.

Solche Ärzte und Ärztinnen können somit nicht in einem anderen Kanton zulasten der OKP zugelassen werden oder von einem Anstellungsverhältnis in eine selbständige Tätigkeit zulasten der OKP wechseln. Als Beispiel kann der Fall eines ausländischen Arztes herangezogen werden, der seit zehn Jahren in einer Einrichtung der ambulanten Versorgung arbeitet, die nicht als Weiterbildungsstätte anerkannt ist. Der fragliche Arzt verfügt über eine Zulassung als praktischer Arzt, sein ausländisches Diplom wurde von der Medizinalberufekommission (MEBEKO) anerkannt und er möchte sich nun im Kanton, in dem er tätig ist, selbstständig machen. Trotz der langjährigen Arbeitserfahrung in der Schweiz kann der betreffende Kanton ihn nicht als zulasten der OKP tätigen Arzt zulassen, da ihm die dreijährige Erfahrung im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte fehlt.

Der neue Rechtsrahmen könnte folglich die ambulante medizinische Grundversorgung gefährden. Ohne eine Ausnahmeregelung für den Fall einer nachgewiesenen Unterversorgung bestünde somit die Gefahr, dass die Zulassungsbedingungen für Ärzte und Ärztinnen zu einer medizinischen Unterversorgung führen. Von diesem Problem wären in erster Linie Randregionen betroffen, wo Ärzte und Ärztinnen kurz vor der Pensionierung oft Mühe bekunden, eine Praxisnachfolge zu finden.

In manchen Regionen der Schweiz scheint es Lücken in bestimmten Bereichen der ambulanten medizinischen Versorgung zu geben. Gemäss einer nationalen Umfrage unter Grundversorgenden ist mehr als ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte über 60 Jahre alt
und befindet sich knapp ein Fünftel der noch arbeitenden Ärzte und Ärztinnen bereits im Pensionsalter (64 Jahre und älter).7 Aus derselben Erhebung geht hervor, dass fast ein Viertel der Arztpraxen der Grundversorgung keine neuen Patienten und Patientinnen mehr aufnimmt. Die Workforce-Studie des Berner Instituts für

6 7

AS 2021 413 Obsan Bericht 15/2019 «Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung ­ Situation in der Schweiz und im internationalen Vergleich», Pahud O., Analyse des International Health Policy (IHP) Survey 2019 der amerikanischen Stiftung Commonwealth Fund im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG).

4 / 12

BBl 2022 3125

Hausarztmedizin (BIHAM)8 kommt zum Schluss, dass es in 14 Prozent der Berner Praxen einen kompletten und in 46 Prozent einen partiellen Aufnahmestopp gibt. Ausserdem waren 66 Prozent der Berner Grundversorgenden zum Zeitpunkt der Befragung der Ansicht, dass in der medizinischen Grundversorgung eine Unterversorgung herrscht.

Vor diesem Hintergrund sieht die Kommission Handlungsbedarf, weshalb sie Artikel 37 Absatz 1 KVG mit einer Ausnahmeregelung für den Fall einer nachgewiesenen Unterversorgung ergänzen will.

2.3

Vernehmlassungsverfahren

Vom 26. August bis zum 7. Oktober 2022 fand zum Vorentwurf der Kommission ein verkürztes Vernehmlassungsverfahren statt. Die Kommission hatte die Adressaten eingeladen, zum Vorentwurf und zum erläuternden Bericht Stellung zu nehmen, und erhielt insgesamt 73 schriftliche Stellungnahmen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen9.

Grundsätzlich begrüsst die grosse Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden die Schaffung einer rechtlichen Grundlage, die es den Kantonen ermöglicht, bei einer Unterversorgung im Gesundheitsbereich Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht zu bewilligen. Zu dieser Mehrheit gehören alle Kantone und die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK). Die GDK und die meisten Kantone sind allerdings der Ansicht, dass die Neuregelung so einfach und flexibel wie möglich sein sollte, damit sie praktikabel ist und innert nützlicher Frist die gewünschte Wirkung zeigt. Dementsprechend wird vorgeschlagen, auf eine Liste der Fachgebiete, für welche die Ausnahmeregelung gilt, zu verzichten, damit die Flexibilität der Ausnahmeregelung nicht unnötig limitiert wird. Sollte die Kommission dieser von der GDK vorgeschlagenen Lösung nicht zustimmen, sprechen sich die Mehrheit der Kantone und die GDK für den damaligen Minderheitsantrag Humbel aus, gemäss dem sich die Kantone bei der Bewilligung von Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht direkt auf den Zusatz zu Artikel 37 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) stützen könnten, ohne auf Kantonsebene eine zusätzliche Regelung erlassen zu müssen. Sollte die Kommission an der Liste der Fachgebiete festhalten, so soll gemäss der Mehrheit der Kantone und der GDK der Bereich «Psychiatrie und Psychotherapie» in diese Liste aufgenommen werden. Da die vorgeschlagene Lösung befristet ist, das Problem der Unterversorgung bis 2027 aber nicht gelöst sein dürfte, wird gewünscht, zur Ergänzung von Artikel 37 KVG ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren einzuleiten. Vier Kantone zeigen sich vorbehaltlos mit dem damaligen Vorschlag der Kommissionsmehrheit einverstanden und zwei Kantone be8

9

Stierli, R., Rozsnyai, Z., Felber, R., Jörg, R., Kraft, E., Exadaktylos, AK., Streit, S.

(2021). Primary Care Physician Workforce 2020 to 2025 ­ a cross-sectional study for the Canton of Bern. Swiss Med Wkly., 10; 151.

Vernehmlassungsbericht. Parlamentarische Initiative 22.431 Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversorgung. Verfügbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > Parl. oder unter: www.parlament.ch > Suche Curia Vista > 22.431 > Vernehmlassung.

5 / 12

BBl 2022 3125

grüssen die Begrenzung der Ausnahmeregelung auf die im damaligen Mehrheitsantrag aufgeführten Fachgebiete.

Die Positionen der politischen Parteien gehen auseinander: Die SP und die Mitte sprechen sich für den damaligen Minderheitsantrag Humbel aus, während die FDP der Meinung ist, dass lediglich der Grundsatz, wonach Ausnahmen möglich sind, in das Gesetz aufgenommen werden sollte und der Rest vom Bundesrat zu regeln ist (damalige Minderheit Silberschmidt). Die SVP ist der Ansicht, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie nicht zu den Fachgebieten gehört, in denen eine Unterversorgung besteht (Minderheit Glarner).

Von den Wirtschaftsverbänden äussert lediglich der Schweizerische Gewerbeverband Vorbehalte gegen eine Änderung von Artikel 37 KVG. Er spricht sich dafür aus, die Steuerung der Zulassung von Leistungserbringerinnen und Leistungserbringern komplett zu streichen.

Die Hauptkritik der Verbände der Leistungserbringerinnen und Leistungserbringer richtet sich gegen die Auflistung von Fachgebieten, für welche die Ausnahmeregelung gelten soll. Ansonsten wird die Kritik der GDK und der Kantone geteilt. Fünf Verbände verlangen, an der kantonalen Zuständigkeit für die Zulassung nichts zu ändern, und lehnen den damaligen Minderheitsantrag Silberschmidt dementsprechend ausdrücklich ab. Sie sprechen sich auch dagegen aus, die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie von der Liste der Fachgebiete zu streichen (Minderheit Glarner).

Fünf Verbände sind der Auffassung, dass die Kantone schon handeln können sollen, bevor eine Unterversorgung besteht, d. h., dass die Bewilligung von Ausnahmen bereits möglich ist, wenn eine Unterversorgung voraussehbar ist. Zudem wird erwähnt, dass die Regelung den Kantonen einen Handlungsspielraum lassen sollte, damit nicht nur kantonale Besonderheiten, sondern auch regionale Besonderheiten innerhalb eines Kantons berücksichtigt werden können. Ferner wird auf die Gefahr verwiesen, dass die Kantone den Begriff der Unterversorgung uneinheitlich auslegen und so erhebliche Unterschieden herbeiführen.

Die Stellungnahmen der Krankenversicherungsverbände unterscheiden sich: Curafutura begrüsst, dass die Ausnahme nur für einen begrenzten Kreis von Leistungserbringerinnen und Leistungserbringern gelten soll, und spricht sich für den damaligen Minderheitsantrag
Humbel aus, da dieser in seinen Augen am flexibelsten umsetzbar ist.

Santésuisse ist der Meinung, dass es Aufgabe der Kantone ist, Lösungen für den Mangel an Ärztinnen und Ärzten zu finden, und dass es Kriterien und methodische Grundsätze für die Bestimmung einer Unterversorgung braucht.

3

Grundzüge der Vorlage

Die Kommission schlägt vor, Artikel 37 KVG um einen neuen Absatz 1bis zu ergänzen. Dadurch soll den Kantonen die Möglichkeit eingeräumt werden, bei nachgewiesener Unterversorgung Leistungserbringende, welche die Pflicht einer dreijährigen Tätigkeit gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG nicht erfüllen, dennoch zur Abrechnung zulasten der OKP zuzulassen. Ein Kanton kann also, wenn er eine Unterversorgung auf seinem Gebiet feststellt, Ausnahmen im Einzelfall und in direkter Anwendung des Bundesgesetzes bewilligen, ohne diese Ausnahmen zusätzlich normativ zu regeln.

6 / 12

BBl 2022 3125

Dies hat gemäss der Kommission den Vorteil, dass die neuen Bestimmungen rasch angewendet werden können. Die SGK-N will diese Ausnahmeregelung auf die folgenden Bereiche der ambulanten Grundversorgung beschränken: Allgemeinmedizin, Kinder- und Jugendmedizin sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Auf diese Weise könnte ein Kanton einer Unterversorgung vorbeugen, indem er ausnahmsweise einen Leistungserbringer oder eine Leistungserbringerin in einem dieser Bereiche zulässt, obschon die Person nicht die geforderte dreijährige Erfahrung mitbringt.

Die SGK-N hat beschlossen, den Begriff der unzureichenden medizinischen Versorgung nicht explizit zu präzisieren und den Kantonen so einen gewissen Ermessensspielraum einzuräumen. Die Kantone sind verantwortlich für die Sicherstellung der medizinischen Versorgung auf ihrem Gebiet und sollen daher selbst darüber entscheiden können, ob eine Unterversorgung besteht.

Die Kommission hat sich dafür ausgesprochen, die Ausnahmeregelung in Artikel 37 Absatz 1bis nKVG auf die Bereiche der ambulanten Grundversorgung zu beschränken.

Ursprünglich hatte die Kommission eine Beschränkung auf die Allgemeinmedizin und die Kinder- und Jugendmedizin vorgesehen. In den kommissionsinternen Diskussionen wurde aber von verschiedener Seite darauf hingewiesen, dass auch dem Risiko einer Unterversorgung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie entgegengewirkt werden müsse. Die Mehrheit der SGK-N hat daher beschlossen, die Liste der Weiterbildungstitel, auf welche die Ausnahmeregelung angewendet werden kann, entsprechend zu ergänzen.

3.1

Minderheitsantrag

Eine Minderheit (Glarner, Amaudruz, de Courten, Nantermod, Schläpfer, Tuena) unterstützt den Entwurf der Mehrheit der SGK-N in seiner Gesamtheit, will die Ausnahmeregelung aber einzig auf die Allgemeinmedizin sowie die Kinder- und Jugendmedizin, nicht aber auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie anwenden.

4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

Art. 37 Abs. 1bis Absatz 1bis sieht eine Ausnahmeregelung der Voraussetzung der dreijährigen Tätigkeit an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte vor. Diese Ausnahmeregelung gilt jedoch nur für bestimmte Fachgebiete und nur bei einer nachgewiesenen Unterversorgung. Um eine Unterversorgung zu verhindern, können die Kantone somit ausnahmsweise Leistungserbringer zulassen, welche diese dreijährige Tätigkeit nicht vorweisen können. Die Ausnahme nach Absatz 1bis gilt also für die Fachgebiete, bei denen die Kantone der Ansicht sind, dass die Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung gefährdet ist. Gerade in diesen Fällen sind die Auswirkungen der Anforderung der dreijährigen Tätigkeit an einer anerkannten schweizeri7 / 12

BBl 2022 3125

schen Weiterbildungsstätte direkt spürbar oder erweisen sich als besonders problematisch.

Da das Gesetz den Begriff der Unterversorgung nicht weiter präzisiert, liegt dessen Definition im Ermessen der Kantone. Zur Feststellung, ob eine Unterversorgung vorliegt, können sich die Kantone auf ein Bündel von Indikatoren abstützen. In diesem Zusammenhang ist auf die Bestimmungen zur Umsetzung der Zulassungsbeschränkung nach Artikel 55a KVG hinzuweisen, das heisst auf die Verordnung über die Festlegung der Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzten im ambulanten Bereich10.

Zwar legt diese Verordnung die Kriterien und methodischen Grundsätze fest, die es den Kantonen ermöglichen, bei einer Überversorgung zu intervenieren, doch die darin vorgesehenen analytischen Elemente können den Kantonen auch als Grundlage für die Feststellung einer Unterversorgung dienen.

Genauer gesagt sieht die Verordnung die folgenden drei Elemente vor, auf die sich die Kantone abstützen können: das von den Kantonen ermittelte tatsächliche Angebot an ärztlichen Leistungen nach Fachgebiet und Region, die Versorgungsgrade nach Fachgebiet und Region, die durch das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) in einer Verordnung veröffentlicht werden, sowie die von den Kantonen festgelegten Gewichtungsfaktoren, um Elemente zu berücksichtigen, die den objektiven Versorgungsbedarf rechtfertigen und im nationalen Modell zur Herleitung der Versorgungsgrade nicht berücksichtigt werden können.

Die Versorgungsgrade allein erlauben noch keine Beurteilung der Versorgungssituation. Sie müssen mittels Ermittlung des tatsächlichen Angebots an ärztlichen Leistungen ergänzt und mithilfe von durch die Kantone festgelegten Gewichtungsfaktoren angepasst werden. Diesbezüglich kann auf die am 28. November 2022 verabschiedete Verordnung des EDI über die Festlegung der regionalen Versorgungsgrade je medizinisches Fachgebiet im ambulanten Bereich und den erläuternden Bericht zur Methode für die Herleitung der Versorgungsgrade hingewiesen werden11.

Die Ausnahme nach Absatz 1bis betrifft ausschliesslich die Vorgabe gemäss Absatz 1 erster Satz, während drei Jahren an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet zu haben. Sie betrifft nicht die Anforderungen betreffend Sprachkompetenz, die alle Leistungserbringer zwingend erfüllen müssen. Zudem
sind nach Artikel 38 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung über die Krankenversicherung vom 27. Juni 1995 (KVV)12 auch die Qualitätsanforderungen nach Artikel 58g KVV zu erfüllen.

Absatz 1bis Buchstaben a und b präzisieren ausserdem, dass die Ausnahme nur für Leistungserbringer gilt, die über einen einzigen Weiterbildungstitel in einem der beiden erwähnten medizinischen Fachgebiete (Allgemeine Innere Medizin und praktischer Arzt / praktische Ärztin) verfügen. Tatsächlich verfügen zahlreiche Fachärzte und Fachärztinnen möglicherweise auch über einen Weiterbildungstitel «Allgemeine Innere Medizin» oder «praktischer Arzt / praktische Ärztin» und könnten somit ebenfalls von der Ausnahme nach Absatz 1bis profitieren, was der Regelungsabsicht im 10 11 12

SR 832.107 www.bag.admin.ch > Versicherungen > Krankenversicherung > Leistungserbringer > Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzte.

SR 832.102

8 / 12

BBl 2022 3125

Falle einer Unterversorgung zuwiderlaufen würde. Diese Präzisierung gilt auch für die Leistungserbringer, die über einen als gleichwertig anerkannten ausländischen Weiterbildungstitel nach Artikel 21 des Medizinalberufegesetzes (MedBG)13 verfügen.

Art. 37 Abs. 2 Absatz 2 wird durch die Erwähnung von Absatz 1bis ergänzt, damit auch Leistungserbringer, die unter die Ausnahme fallen, in Einrichtungen nach Artikel 35 Absatz 2 Buchstabe n KVG tätig sein dürfen.

Art. 37 Abs. 3.

Leistungserbringer, für welche die Ausnahme nach Absatz 1bis gilt, müssen sich ebenfalls einer zertifizierten Gemeinschaft oder Stammgemeinschaft anschliessen. Sie sind deshalb in Absatz 3 aufzuführen.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf den Bund

Die neue Regelung hat zum Ziel, den Kantonen im Falle einer Unterversorgung ein effizientes Instrument zur Verfügung zu stellen. Personen, die in den betreffenden medizinischen Fachgebieten selbstständig zulasten der OKP tätig sein möchten, sollen neu keinen Nachweis mehr erbringen müssen, dass sie im beantragten Fachgebiet während mindestens drei Jahren an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben. Möglicherweise werden deshalb während der Geltungsdauer von Artikel 37 Absatz 1bis nKVG mehr Zulassungen in den betreffenden Fachgebieten erteilt werden. Aus Sicht der Kantone geht es jedoch darum, eine Unterversorgung zu vermeiden und in erster Linie die Nachfolge für ärztliche Praxen in der Grundversorgung sicherzustellen. Deshalb ist nicht mit erheblichen Mehrkosten zulasten der OKP zu rechnen, zumindest, wenn die Kantone bei der Anwendung der Ausnahmeregelung Zurückhaltung üben. Ebenfalls keine erheblichen Auswirkungen werden für die Beiträge erwartet, die der Bund den Kantonen nach Artikel 66 Absatz 2 KVG zur Prämienverbilligung für die Versicherten gewährt.

5.2

Auswirkungen auf die Kantone

Die vorgeschlagene neue Regelung überträgt den Kantonen die Kompetenz, bei einer Unterversorgung Zulassungen zur Tätigkeit zulasten der OKP zu erteilen, ohne dass der Nachweis einer dreijährigen Tätigkeit im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte erbracht werden muss. Betroffen sind die Fachgebiete «Allgemeine Innere Medizin als einziger Weiterbildungstitel», «praktischer Arzt oder praktische Ärztin als einziger Weiterbildungstitel», «Kinder- und 13

SR 811.11

9 / 12

BBl 2022 3125

Jugendmedizin» sowie «Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie». Die Umsetzung wird deshalb punktuell zu einem Mehraufwand für die Kanone führen.

Dank dieser Massnahme können die Kantone jedoch eine Unterversorgung in den betroffenen Fachgebieten verhindern und so eine umfassende medizinische Versorgung auf ihrem Gebiet sicherstellen.

5.3

Andere Auswirkungen

Falls in einem der erwähnten Fachgebiete eine Unterversorgung vorliegt, wird die medizinische Versorgung der Versicherten verbessert.

Mit weiteren Auswirkungen ist nicht zu rechnen.

6

Verhältnis zum europäischen Recht

Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union (EU-Vertrag)14 überträgt der Europäischen Union die Aufgabe, die soziale Gerechtigkeit und den sozialen Schutz zu fördern. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen innerhalb der Union ist in Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt15. Das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA)16 ist am 1. Juni 2002 in Kraft getreten. Ziel des Abkommens ist es insbesondere, den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz ein Recht auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien einzuräumen (Art. 1 Bst. a FZA). Artikel 1 Buchstabe d des Abkommens setzt als Ziel fest, dass den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz gleiche Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländerinnen und Inländer eingeräumt werden. In Übereinstimmung mit Anhang I des Abkommens ist vorgesehen, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden (Art. 2 FZA) und dass das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit eingeräumt wird (Art. 4 FZA). Dementsprechend sieht das Abkommen in Artikel 7 Buchstabe a vor, dass die Vertragsparteien insbesondere das Recht auf Gleichbehandlung mit den Inländerinnen und Inländern in Bezug auf den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und deren Ausübung sowie die Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen regeln.

Die Personenfreizügigkeit verlangt eine Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit, wie dies in Artikel 48 AEUV festgelegt ist. Das Recht der Europäischen Union sieht jedoch keine Harmonisierung der nationalen Systeme der 14 15 16

ABl. C 191 vom 29. Juli 1992.

ABl. C 306 vom 17. Dezember 2007.

SR 0.142.112.681

10 / 12

BBl 2022 3125

sozialen Sicherheit vor. Die Mitgliedstaaten können die Ausgestaltung, den persönlichen Geltungsbereich, die Finanzierungsmodalitäten sowie die Organisation ihrer Systeme der sozialen Sicherheit weiterhin bestimmen. Die Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit wird durch die Verordnung (EG) Nr. 883/200417 und die Durchführungsverordnung Nr. 987/200918 umgesetzt, zu deren Vollzug die Schweiz nach den Artikeln 8 und 16 Absatz 1 und nach Anhang II FZA verpflichtet ist.

Das Recht der Europäischen Union setzt zwar auf dem Gebiet der Personenfreizügigkeit Normen fest; es bestehen jedoch keine Normen betreffend einer Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Die Schweiz ist demzufolge auch unter dem FZA frei, diese Fragen nach ihren eigenen Vorstellungen zu regeln.

Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht nur direkte, sondern auch indirekte Diskriminierungen.

Die vom Parlament verabschiedete Regelung in Artikel 37 Absatz 1 erster Satz KVG, welche seit dem 1. Januar 2022 in Kraft ist und wonach Ärzte und Ärztinnen mindestens drei Jahre im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben müssen, könnte eine indirekte Diskriminierung darstellen (Art. 2 FZA in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 Anhang I FZA). Die Regelung lässt sich jedoch mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit rechtfertigen, da sie zum einen eine gewisse Qualität der Versorgungsleistungen sichert und zum anderen dank einem besseren Management der Gesundheitskosten die Bereitstellung bezahlbarer medizinischer Leistungen für alle ermöglicht (vgl. E. 9.6 Urteil BVGer C-4852/2015 vom 8. März 2018). Durch die Ausnahmebestimmung betreffend die Anforderung, während mindestens drei Jahren an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet zu haben, wird die Gefahr einer potenziellen indirekten Diskriminierung in Bezug auf bestimmte Fachgebiete gemildert. Diesbezüglich wird während der Geltungsdauer von Artikel 37 Absatz 1bis nKVG das Interesse, eine Unterversorgung zu vermeiden und damit den Zugang der Versicherten zur Behandlung innert nützlicher Frist zu ermöglichen, höher gewichtet als dasjenige des Nachweises einer dreijährigen Tätigkeit an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte. Es obliegt dem Gesetzgeber, in diesem Fall eine solche Interessenabwägung vorzunehmen.

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Diese Vorlage beruht auf Artikel 117 BV, der dem Bund eine umfassende Kompetenz in Bezug auf die Organisation der Krankenversicherung erteilt.

17 18

SR 0.831.109.268.1 SR 0.831.109.268.11

11 / 12

BBl 2022 3125

7.2

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Der Bundesrat kann Ausführungsbestimmungen zum KVG erlassen (Art. 96 KVG).

7.3

Erlassform

Die neue Regelung von Artikel 37 Absatz 1bis, 2 und 3 nKVG soll in Form eines zeitlich befristeten dringlichen Bundesgesetzes erlassen werden. Ein Bundesgesetz kann nach Artikel 165 Absatz 1 BV dringlich erklärt werden, wenn sein Inkrafttreten keinen Aufschub duldet. Die Dringlichkeit ist in diesem Fall durch eine drohende Unterversorgung in bestimmten medizinischen Fachgebieten gegeben, welche die Versorgungslage der Versicherten verschlechtern kann. Ein dringliches Bundesgesetz erlaubt ein Inkrafttreten, bevor sich die Lage verschärft, und ermöglicht, den Zugang der Versicherten zur Behandlung innert nützlicher Frist sicherzustellen.

12 / 12