zu 00.419 Parlamentarische Initiative Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft Bericht vom 18. August 2005 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates Stellungnahme des Bundesrates vom 9. November 2005

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, zum Bericht vom 18. August 2005 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates betreffend die parlamentarische Initiative «Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes (ParlG) nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. November 2005

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Samuel Schmid Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2005-2422

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Der Nationalrat hat am 7. Juni 2001 der von Frau Nationalrätin Ruth-Gaby VermotMangold eingereichten parlamentarischen Initiative zum «Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft» Folge gegeben. Daraufhin arbeitete die von der Rechtskommission (RK-N) beauftragte Subkommission einen Gesetzesentwurf aus, der am 12. November 2003 zusammen mit einem Begleitbericht in die Vernehmlassung geschickt wurde. Deren Auswertung lag im Mai 2004 vor. Mit Beschluss vom 1. Juli 2004 beauftragte die RK-N die Subkommission, den Vernehmlassungsentwurf im Lichte der Vernehmlassungsergebnisse zu überarbeiten.

Die RK-N stimmte am 18. August 2005 mit 18 zu 0 Stimmen bei 3 Enthaltungen dem überarbeiteten Entwurf zu.

Der neue Artikel 28b des Zivilgesetzbuchs (E ZGB) will Opfer von Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen durch gerichtlich angeordnete Annäherungs-, Aufenthalts- und Kontaktaufnahmeverbote schützen. Zudem erlaubt er eine zeitlich beschränkte Ausweisung einer gewaltausübenden Person aus der mit dem Opfer gemeinsam bewohnten Wohnung. Unter bestimmten Voraussetzungen soll das Gericht zudem Rechte und Pflichten aus einem Mietvertrag auf das Opfer übertragen können. Die vorgeschlagene Gesetzesänderung berücksichtigt sowohl die Anliegen der Initiative als auch Anliegen aus dem Vernehmlassungsverfahren wie beispielsweise den Einbezug von «Stalking»-Fällen.

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Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Grundsätzliche Zustimmung zum Entwurf der Kommission

Der Bundesrat begrüsst das Bestreben, durch einen Ausbau des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes (Art. 28 ff. ZGB) Opfer von Gewalt, Drohungen und Nachstellungen besser zu schützen. Artikel 28b E ZGB konkretisiert nicht nur die Generalklausel von Artikel 28 ZGB, sondern sieht auch flankierende Massnahmen betreffend die gemeinsam bewohnte Wohnung vor und verpflichtet alle Kantone, für den Krisenfall eine Interventionsmöglichkeit vorzusehen. Das Polizeirecht verschiedener Kantone enthält schon heute entsprechende Bestimmungen.

2.2

Ablehnung der Anträge der Kommissionsminderheit

2.2.1

Aufenthaltsbewilligung für Opfer im Familiennachzug während einer Entfernungsoder Fernhaltemassnahme (Art. 28b Abs. 3bis E ZGB)

Der Bundesrat unterstützt die Kommissionsmehrheit und lehnt den Antrag der Kommissionsminderheit ab. Systematisch ist es falsch, im Zivilgesetzbuch eine Rechtsgrundlage für die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung zu schaffen. Für die Bewilligungserteilung und das Verfahren ist vielmehr das 6898

Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) massgebend.

Heute kann eine Aufenthaltsbewilligung nach Auflösung der Ehe zur Vermeidung von Härtefällen verlängert werden (Art. 13 Bst. f BVO; SR 823.21). Die kantonale Behörde entscheidet im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Verträge mit dem Ausland nach pflichtgemässem Ermessen (Art. 4 ANAG). Steht fest, dass der im Familiennachzug zugelassenen Person, namentlich wenn sie misshandelt worden ist, eine Fortführung der ehelichen Beziehung nicht länger zugemutet werden kann, so ist dies beim Entscheid besonders zu berücksichtigen.

Materiell ist das Anliegen der Kommissionsminderheit zudem im Rahmen der Beratungen zum neuen Ausländergesetz (AuG) bereits diskutiert worden. Der Bundesrat hatte in seinem Entwurf zum AuG vorgeschlagen, dass nach Auflösung der Familiengemeinschaft der Anspruch der Ehegatten auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung weiter bestehe, wenn wichtige persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machten (Art. 49 AuG). Im Rahmen der parlamentarischen Behandlung wurden die Opfer ehelicher Gewalt ausdrücklich in diesen Artikel aufgenommen. Der besonderen Situation der Opfer wird im AuG zudem dadurch Rechnung getragen, dass ein Zusammenwohnen nicht verlangt wird, wenn für getrennte Wohnorte wichtige Gründe geltend gemacht werden und die Familiengemeinschaft weiter besteht (Art. 48 AuG1).

2.2.2

Verfahrensbestimmung (Art. 28b Abs. 4bis E ZGB)

Auch hier unterstützt der Bundesrat die Kommissionsmehrheit und lehnt den Minderheitsantrag ab.

Ein rasches Verfahren ist bereits durch die Interventionsmöglichkeit im Krisenfall (Art. 28b Abs. 4 E ZGB) sowie den Erlass von superprovisorischen Massnahmen ohne Anhörung der Gegenpartei (Art. 28d Abs. 2 ZGB) und von vorsorglichen Massnahmen, bei denen ein Glaubhaftmachen der Persönlichkeitsverletzung genügt (Art. 28c ZGB), gewährleistet. Im Übrigen wird es Aufgabe der geplanten Schweizerischen Zivilprozessordnung sein, die Verfahrensart festzulegen.

Die Kantone generell zu einem unentgeltlichen Verfahren zu verpflichten, geht zu weit. Von dieser Vorschrift würden nicht nur die Opfer profitieren, sondern auch Personen, die wegen Gewalt, Drohung oder Nachstellung verurteilt werden und deshalb die Prozesskosten übernehmen müssen. Gleich wie bei Eheschutzverfahren sollte der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege genügen. Dem Opfer gewähren zudem die Opferhilfestellen finanzielle (wie auch andere) Unterstützung.

1

Nach dem neuen Ausländergesetz ist das Zusammenwohnen in allen Fällen Bewilligungsvoraussetzung: Art. 41­43 AuG.

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2.3

Vorbehalt gegenüber Beratungsstellen (Art. 28b Abs. 5 E ZGB)

Die Notwendigkeit von Beratungsstellen, insbesondere im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, steht grundsätzlich ausser Frage; dies bestätigt auch der Evaluationsbericht über die Interventionsprojekte in den Kantonen St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden2. Im Vernehmlassungsverfahren ist indessen die Überwälzung der Kosten auf die Kantone mehrheitlich abgelehnt worden. Zum Teil wurde die partielle Übernahme der Kosten durch den Bund gefordert; mehrere Kantone plädierten dagegen für die Streichung der Bestimmung, hauptsächlich aus Kostengründen, aber auch, weil der Eingriff in die kantonale Hoheit aus staatspolitischer Sicht als bedenklich empfunden wurde.

Zu diskutieren bleibt deshalb, ob der Bund im Zivilgesetzbuch, das grundsätzlich die Verhältnisse unter Privaten regelt, den Kantonen die öffentlich-rechtliche Verpflichtung auferlegen darf, für Beratungsstellen zu sorgen.

Zu erinnern ist einmal an die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, die von Volk und Ständen beschlossen, allerdings noch nicht in Kraft gesetzt ist. Sie ist dem Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz verpflichtet und könnte in Zukunft dazu führen, dass der Bund den Kantonen in Bundesgesetzen nur noch dann neue, über den reinen Vollzug hinausgehende Aufgaben überbinden darf, wenn er sich an den Kosten beteiligt3.

Materiell sollen die Beratungsstellen gemäss Kommissionsbericht gewaltausübende Personen vor einem Rückfall bewahren. Dieses Ziel kann aber wohl kaum mit blosser Beratung erreicht werden, sondern setzt in aller Regel therapeutische Massnahmen voraus. Was die Opfer von Gewalt und Drohung betrifft, so besteht für sie bereits ein breites Unterstützungsangebot durch die bundesrechtlich verankerten Opferhilfestellen. Lücken für die verletzte Person gibt es allerdings dort, wo keine Straftat vorliegt. Ob in diesen Fällen die Beratungsstellen zur Durchsetzung des materiellen Zivilrechts wirklich unerlässlich sind und damit auf die Zivilrechtskompetenz des Bundes abgestützt werden dürfen (vgl. dazu Ziff. 8 des Kommissionsberichts), muss das Parlament beurteilen. Die präjudizielle Wirkung des Entscheids darf indessen nicht übersehen werden. Folgt man hier der Kommission, so könnten die Kantone hinsichtlich Beratungsstellen mit ebenso guten, wenn nicht noch besseren Gründen auch
in verschiedenen anderen Bereichen des Zivilgesetzbuchs (z.B.

Kindererziehung, Kindesschutz, Erwachsenenschutz) in die Pflicht genommen werden. In all diesen Bereichen ist es heute den Kantonen überlassen, in welcher Form und in welchem Umfang sie das bestehende Beratungs- und Unterstützungsangebot ergänzen und regeln wollen.

2

3

Wyss Eva, Gegen häusliche Gewalt ­ Interventionsprojekte in den Kantonen St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden: Erste Erfahrungen mit der Umsetzung der polizeilichen Wegweisung ­ Evaluation, S. 24 ff., Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, Bern 2005.

Artikel 47 Absatz 2 BV i.V.m. Artikel 43a Absatz 2 BV, von Volk und Ständen in der Abstimmung vom 28. November 2004 angenommen; Botschaft zum NFA, BBl 2002 2339, 2458 f.

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Sollte das Parlament die Bestimmung als unerlässlich erachten, so ist klarzustellen, dass sich gewaltbetroffene und gewaltausübende Personen je an verschiedene Beratungsstellen wenden können. Nicht nur sind für den Umgang mit der jeweiligen Personengruppe vertiefte Kenntnisse notwendig, die von einer einzigen Stelle kaum abgedeckt werden können. Es muss auch vermieden werden, dass sich Opfer und verletzende Person bei der Beratungsstelle begegnen. Ohne Klarstellung könnte der Wortlaut des Entwurfs missverstanden werden.

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