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22.075 Botschaft zur Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» vom 9. Dezember 2022

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. Dezember 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2022-4058

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Übersicht Die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» verlangt, dass jeder Eingriff in die körperliche und geistige Unversehrtheit einer Person der Zustimmung bedarf. Eine Verweigerung der Zustimmung darf weder bestraft werden noch dürfen daraus soziale oder berufliche Nachteile erwachsen. Nach Ansicht des Bundesrates geht die Initiative weit über die beabsichtigte Selbstbestimmung über eine Impfung hinaus. Zudem schränkt sie den Handlungsspielraum der Behörden bei der Pandemiebekämpfung zu stark ein. Der Bundesrat beantragt den eidgenössischen Räten daher, die Volksinitiative Volk und Ständen zur Abstimmung vorzulegen und sie ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen.

Ausgangslage Das Sars-Cov2-Virus hat während zwei Jahren das gesellschaftliche Leben in der Schweiz bestimmt. Diverse, teilweise einschneidende Massnahmen wurden erlassen, um die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen und die Überlastung der Gesundheitsversorgung zu vermeiden. Hierbei spielte die rasche Entwicklung von Impfstoffen weltweit sowie deren Verfügbarkeit für die Bevölkerung eine wichtige Rolle, weil die Impfung als wirksamstes Mittel zum Schutz vor übertragbaren Krankheiten gilt. Noch bevor ein Impfstoff in der Schweiz zugelassen wurde, lancierte die Freiheitliche Bewegung Schweiz am 1. Dezember 2020 die Initiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit».

Inhalt der Vorlage Die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» wurde am 16. Dezember 2021 fristgerecht mit 125 015 gültigen Unterschriften eingereicht. Die Initiative verlangt, dass in Artikel 10 der Bundesverfassung (Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit) ein neuer Absatz 2bis eingefügt wird. Dieser sieht vor, dass Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit einer Person deren Zustimmung bedürfen. Die betroffene Person darf aufgrund der Verweigerung der Zustimmung weder bestraft werden noch dürfen ihr soziale oder berufliche Nachteile erwachsen.

Vorzüge und Mängel der Initiative Der Bundesrat ist sich der Bedeutung der persönlichen Freiheit und insbesondere der körperlichen und geistigen Unversehrtheit im medizinischen Kontext bewusst. Jeder medizinische Eingriff setzt grundsätzlich eine rechtsgültige Einwilligung der betroffenen Person voraus. Liegt diese
nicht vor, so handelt es sich um eine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität. Mit der Initiative soll dieser bestehende Grundsatz explizit in die Bundesverfassung aufgenommen werden, ohne dass jedoch der Anwendungsbereich der Einwilligung auf medizinische Zwecke begrenzt wird. Der Initiativtext ist sehr weit gefasst und tangiert daher diverse andere Bereiche staatlichen Handelns (z. B. Polizeiwesen und Strafverfolgung, Militär, Ausländer- und Asylwesen, Kindes- und Erwachsenenschutz). Damit geht er weit über die Themen Impfen

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und Umgang mit dem Impfstatus hinaus, welche die Initiantinnen und Initianten zu erfassen beabsichtigten.

Im Ergebnis ist das Erfordernis der Zustimmung für einen Eingriff in die körperliche und geistige Unversehrtheit bereits im bestehenden Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) vorgesehen. Ausnahmen hiervon sind ausschliesslich nach den allgemeinen Kriterien für Grundrechtseinschränkungen möglich (Art. 36 BV). Nach geltendem Recht können Impfobligatorien nur unter Einhaltung enger Voraussetzungen für einen begrenzten Personenkreis und für eine begrenzte Zeit erlassen werden; für die Impfung braucht es auch bei einem Impfobligatorium die Einwilligung der betroffenen Person Die Annahme der Initiative würde zu einer grossen Rechtsunsicherheit führen, weil einerseits viele sehr unterschiedliche Rechtsbereiche tangiert werden und sich die Initiative andererseits nicht zu den geltenden Einschränkungsmöglichkeiten nach Artikel 36 BV äussert.

Antrag des Bundesrates Der Bundesrat beantragt den eidgenössischen Räten, Volk und Ständen zu empfehlen, die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag abzulehnen.

Der Bundesrat will zudem der derzeit in Erarbeitung stehenden Revision des Epidemiengesetzes und einer damit verbundenen Diskussion über die zulässigen Massnahmen bei der Pandemiebekämpfung nicht vorgreifen.

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Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» hat den folgenden Wortlaut: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 10 Abs. 2bis Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit einer Person bedürfen deren Zustimmung. Die betroffene Person darf aufgrund der Verweigerung der Zustimmung weder bestraft werden noch dürfen ihr soziale oder berufliche Nachteile erwachsen.

2bis

Art. 197 Ziff. 122 12. Übergangsbestimmung zu Art. 10 Abs. 2bis (Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit) Die Bundesversammlung erlässt die Ausführungsbestimmungen zu Artikel 10 Absatz 2bis spätestens ein Jahr nach dessen Annahme durch Volk und Stände. Treten die Ausführungsbestimmungen innerhalb dieser Frist nicht in Kraft, so erlässt der Bundesrat die Ausführungsbestimmungen in Form einer Verordnung und setzt sie auf diesen Zeitpunkt hin in Kraft. Die Verordnung gilt bis zum Inkrafttreten der von der Bundesversammlung erlassenen Ausführungsbestimmungen.

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» wurde am 17. November 2020 von der Bundeskanzlei vorgeprüft3 und am 16. Dezember 2021 mit der nötigen Anzahl Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 25. Januar 2022 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 125 015 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.4 Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 1 2 3 4

SR 101 Die endgültige Ziffer dieser Übergangsbestimmung wird nach der Volksabstimmung von der Bundeskanzlei festgelegt.

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20025 (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 16. Dezember 2022 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 16. Juni 2024 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen. Sie kann die Behandlungsfrist um ein Jahr verlängern, wenn die Voraussetzungen gemäss Artikel 105 ParlG erfüllt sind.

1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung (BV)6: a.

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.

b.

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.

c.

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

2.1

Schutzbereich der körperlichen und geistigen Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV)

Artikel 10 Absatz 2 BV garantiert jedem Menschen das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, als Teilgehalte des Grundrechts auf persönliche Freiheit.7 Die Bestimmung begründet in erster Linie gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte.

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ­ auch als körperliche Integrität oder physische Integrität bezeichnet ­ schützt den Zustand des menschlichen Körpers vor Einwirkungen jeglicher Art, ohne Bagatellschwelle. Es ist irrelevant, ob die Einwirkung schädigend oder heilend, schmerzhaft oder schmerzlos, dauerhaft oder vorübergehend, folgenreich oder folgenlos ist. Als solchen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit erfassen Praxis und Lehre jede dem Staat zurechenbare Einwirkung auf den Körper etwa durch: ­

5 6 7

8 9 10

Immissionen (z. B. Abfeuern von Feuerwerk und Knallkörpern am 1. August,8 Lärm und Schadstoffe durch Flugbewegungen von FA-18- und TigerKampfjets,9 Schiesslärm am Liestaler Banntag,10 Tabakrauch im öffentlichen SR 171.10 SR 101 Vgl. hierzu und im Weiteren Biaggini, OFK BV, 2. Aufl. 2017, Art. 10 N 20 ff; Tschentscher, BSK BV, 2015, Art. 10 N 51 ff.; Schweizer, St. Galler Kommentar zur BV, 3. Aufl. 2014, Art. 10 N 23 ff.

Vgl. BGer, Urteil 1C_601/2018 vom 4.09.2019, E. 8.3 f.

BVerwGer, Urteil A-101/2011 vom 7. 9.2011, E. 4.3.

BGE 126 II 300, S. 311 E. 4.e und S. 314 f. E. 5.

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Raum,11 Strahlen bei obligatorischer Röntgenuntersuchung zwecks Tuberkulosebekämpfung,12 geringe Fluoridierung des Trinkwassers zwecks Kariesbekämpfung,13 pathogene Organismen);

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

­

Berührung (z. B. Abtasten bei Durchsuchung an Sportveranstaltungen,14 Wangenschleimhautabstrich zwecks Erstellung eines DNA-Profils,15 Entnahme von Haarprobe zwecks Untersuchung auf Drogenkonsum,16 Abnahme von Fingerabdruck zwecks erkennungsdienstlicher Behandlung);

­

polizeilichen Zwang (z. B. Einsatz von Wasserwerfern, Polizeihunden, Tasern und Schusswaffen, Festhalten, Verhaftung, Vorführung, Hausarrest, Fesselung, Vollzug der Ausschaffung von ausländischen Straftäterinnen und Straftätern);

­

Strafverfolgung und Strafvollzug (z. B. Anordnung von Bartrasur zwecks Konfrontation eines Beschuldigten mit Zeugen,17 Blutentnahme zur Feststellung des Alkoholgehalts, Blutentnahme für DNA-Analyse zwecks Aufklärung schwerer Sexualdelikte,18 körperliche Eintrittsdurchsuchung von Gefangenen,19 Körperstrafen);

­

ausländer- und asylrechtliche Massnahmen (z. B. Erhebung biometrischer Daten, Durchsuchung, Festnahme, Zuweisung und Unterbringung, Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft, zwangsweise Rückführung ins Herkunftsland);

­

fürsorgerische Massnahmen (z. B. medikamentöse Zwangsbehandlung in psychiatrischer Klinik während fürsorgerischem Freiheitsentzug,20 Unterbringung eines drogenabhängigen Patienten in einem Sicherheitszimmer während fürsorgerischem Freiheitsentzug,21 Zwangsernährung von Häftling bei Hungerstreik22);

­

medizinische Behandlung (z. B. Hirnstrommessung mit Kopfhautsensoren, obligatorische Schulzahnkontrolle,23 obligatorische Impfung von Kindern gegen Pocken und Diphtherie,24 militärische Aushebungsuntersuchung, Operation, Notfallrettung, Pflege urteilsunfähiger Personen).

Vgl. BGE 133 I 110, S. 120 f. E. 5.2.3 (dort: Schutz vor Passivrauchen als Aspekt des Rechts auf Leben nach Art. 10 Abs. 1 BV).

BGE 104 Ia 480, S. 486 E. 4.a.

BGer, Urteil vom 29.06.1990, in: ZBl 1991, S. 25 ff.

Vgl. BGE 140 I 2 S. 30 ff. E. 10.3 ff. - Konkordat über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen.

BGE 128 II 259, S. 269 f. E. 3.3 BGer, Urteil 1P.528/1995 vom 19.12.1995, E. 2.b.

BGE 112 Ia 161, S. 162 ff E. 3.

BGE 124 I 80, S. 81 f. E. 2.c.

Vgl. BGE 123 I 221, S. 226 E. I.4 und S. 235 f. E. I:2.

BGE 130 I 16, S. 18 E. 3; BGE 127 I 6, S. 10 f. E. 5.a; BGE 126 I 112, S. 114 ff. E. 3.

BGE 134 I 209, S. 211 E. 2.31.

BGE 136 IV 97, S. 113 E. 6.3 - Rappaz.

BGE 118 Ia 427, S. 434 E. 4.b.

BGE 99 Ia 747, S. 749 E. 2.

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Sodann hängt das Recht auf geistige Unversehrtheit ­ auch als geistige Integrität oder psychische Integrität bezeichnet ­ eng mit der körperlichen Unversehrtheit zusammen. Es schützt den Zustand der Willens- und Entscheidungsfreiheit des Individuums - nicht aber den Inhalt oder die Folgen der in diesem Zustand getroffenen Entscheidungen. Die geschützte Willens- und Entscheidungsfreiheit wird namentlich dann beeinträchtigt, wenn der Staat zwangsweise oder heimlich bewusstseinsverändernde Substanzen verabreicht. Praktisch bedeutsam ist das Grundrecht vor allem bei der medikamentösen Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka und Neuroleptika, die sowohl in die körperliche als auch in die geistige Unversehrtheit eingreift.25 Die Garantien der körperlichen und geistigen Unversehrtheit nach Artikel 10 Absatz 2 BV bedeuten, dass grundsätzlich eine Zustimmung der betroffenen Person erforderlich ist, damit der Staat in den garantierten Schutzbereich eingreifen darf. Ein solcher Grundrechtsverzicht ist vor allem bei medizinischen Behandlungen bedeutsam. So stellt auch eine medizinische Behandlung, die gerade die Wiederherstellung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit bezweckt, einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der betroffenen Person dar, soweit sie dem Staat zuzurechnen ist. 26 Wenn die betroffene Person oder deren Vertretung nach hinreichender Aufklärung eine Einwilligung erteilt (Informed Consent), dann liegt im grundrechtlichen Sinne kein Eingriff und damit keine Grundrechtsverletzung vor.27

2.2

Zulässige Einschränkungen (Art. 36 BV)

Indessen gilt das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit - wie die übrigen verfassungsmässigen Freiheitsrechte - nicht absolut. Vom grundsätzlichen Zustimmungserfordernis sind Ausnahmen möglich unter den Voraussetzungen nach Artikel 36 BV. Solche zulässigen Einschränkungen von Grundrechten müssen: ­

auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen;

­

durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein;

­

verhältnismässig sein; und

­

den Kerngehalt des Grundrechts wahren.

Manchmal sind Einschränkungen von Grundrechten unter den oben dargelegten Bedingungen dennoch notwendig, um das staatliche Handeln, die wirtschaftliche Tätigkeit und das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz zu gewährleisten.

Exemplarisch können folgende Einschränkungen genannt werden: ­

25 26 27

Staatsgewalt: Das staatliche Gewaltmonopol ist notwendige Voraussetzung dafür, dass Bund, Kantone und Gemeinden ihre Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsgewalten verwirklichen können. Es umfasst das Recht und die Pflicht des Staates, die Durchsetzung des verfassungsmässigen Rechts, die Zum Ganzen Tschentscher, BSK BV, 2015, N. 53 f.; zur bundesgerichtlichen Praxis vgl. BGE 123 I 221, S. 226 E. I.4 und S. 235 f. E. II.2.

BGE 118 Ia 427, S. 434 E. 4.b mit weiteren Nachweisen.

Tschentscher, BSK BV, 2015, Art. 10 N 55.

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Aufrechterhaltung der verfassungsmässigen Ordnung sowie die Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit zu erzwingen gegen rechtswidrigen Widerstand - unter Umständen auch durch Anwendung von physischer Gewalt gegen Personen.28 Mit anderen Worten basiert die Staatsgewalt u.a. darauf, dass der Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben unter den Voraussetzungen von Artikel 36 BV auch ohne Zustimmung der betroffenen Person in deren körperliche Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV) eingreifen kann. Andernfalls wären z. B. funktionierende Polizei-, Militär-, Strafvollzugs- oder Asylwesen kaum vorstellbar.

­

Wirtschaft und Gesellschaft: Die meisten menschlichen Tätigkeiten beinhalten unter gewissen Umständen Einwirkungen auf den Körper von Dritten, z. B. durch Lärmimmissionen. Das gilt nicht nur für Tätigkeiten, die mit wirtschaftlicher Zielsetzung durchgeführt werden, sondern in einem gewissen Umfang auch für Vergnügungen wie Sportanlässe, Freiluftkonzerte, Festanlässe, Fasnachtsveranstaltungen und andere Brauchtumsanlässe oder Feuerwerke.29 Insofern ist ein funktionierendes Zusammenleben nur dann möglich, wenn die körperliche Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV) nicht absolut gilt, sondern unter den Voraussetzungen von Artikel 36 BV eingeschränkt werden kann, auch ohne Zustimmung der betroffenen Person. Wenn jede betroffene Person ein Vetorecht beispielsweise gegen dem Staat zurechenbare Lärmimmissionen hätte, dann wäre etwa eine funktionierende Infrastruktur (z. B. Bau, Betrieb und Unterhalt von Strassen, Schienennetz und Flughäfen) kaum vorstellbar.

Absolut unzulässig sind Eingriffe in den Kerngehalt von Grundrechten (Art. 36 Abs. 4 BV). Die persönliche Freiheit darf weder völlig unterdrückt werden noch ihres Gehaltes als fundamentale Institution der Rechtsordnung entleert werden. Gegen den Kerngehalt der körperlichen und geistigen Unversehrtheit verstossen würde z. B. der zwangsweise Einsatz von Lügendetektoren, Narkoanalysen oder Wahrheitsseren als prozessuale Beweismittel, die Zwangsmedikation zu Forschungszwecken (Art. 7 des Internationalen Pakts vom 16. Dez. 1966 über bürgerliche und politische Rechte30 [UNO-Pakt II]), die Zwangssterilisation von Urteilsfähigen, der erzwungene Schwangerschaftsabbruch,31 die erzwungene Duldung sexueller Handlungen oder die persönlichkeitszerstörende Isolationshaft in einer Einzelzelle.32 Sodann sind einige Kerngehaltsgarantien der körperlichen und geistigen Unversehrtheit konkretisiert in den Verboten der Folter und der erniedrigenden Behandlung nach Artikel 10 Absatz 3 BV.

28 29 30 31 32

Vgl. Gschwend, Gewaltmonopol, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), abrufbar unter www.hls-dhs-dss.ch > Artikel A­Z.

vgl. BGE 126 II 300, S. 311 f. E. 4.e.

SR 0.103.2 BGE 132 III 359, S. 371 E. 4.3.3 betreffend Schwangerschaftsabbruch als schadensabwendende Massnahme nach einer fehlgeschlagenen Sterilisation.

Tschentscher, BSK BV, 2015, Art. 10 N 58 mit weiteren Nachweisen.

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2.3

Lancierung der Initiative

Die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» ist im Kontext der ersten beiden Wellen der Covid-19-Pandemie entstanden. Im Frühling 2020 rief der Bundesrat erstmals die ausserordentliche Lage nach Artikel 7 des Epidemiengesetzes vom 28. September 201233 (EpG) aus und ordnete landesweite Massnahmen an. Parallel war die Entwicklung neuartiger Impfstoffe gegen Covid-19 in vollem Gange; ab Sommer 2020 kommunizierte der Bund den Abschluss von Verträgen zu deren Beschaffung. In den Sommer- und Herbstmonaten 2020 beschäftigten unter anderem Fragen zu den Chancen und Risiken des Einsatzes dieser neuen, sich noch in Entwicklung befindlichen Impfstoffen die Bevölkerung. Dabei stand einerseits die Frage im Fokus, ob die impfwillige Bevölkerung genügend rasch Zugang zur Covid-19-Impfung erhält. Andererseits bestand verschiedentlich eine gewisse Skepsis gegenüber der Wirkung und Sicherheit der neuartigen Impfstoffe.

Vor diesem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund lancierte das Initiativkomitee «STOPP Impfpflicht» der Freiheitlichen Bewegung Schweiz (FBS) am 1. Dezember 2020 die Unterschriftensammlung für die vorliegende Initiative. Kurze Zeit später wurden die mRNA-Impfstoffe (Messenger Ribonucleic Acid [Boten-Ribonukleinsäure]) von Pfizer/BioNTech (19. Dez. 2020) und von Moderna (12. Jan. 2021) vom Schweizerischen Heilmittelinstitut (Swissmedic) jeweils befristet zugelassen und die Covid-19-Impfkampagne gestartet.

Im weiteren Verlauf der Unterschriftensammlung wurden sodann unter anderem allfällige auf bestimmte Bevölkerungsgruppen bezogene Impfobligatorien und allfällige Differenzierungen nach dem Immun- oder Impfstatus Gegenstand der gesellschaftlichen und politischen Diskussion auch in der Schweiz, einerseits im Kontext der gesetzlichen Grundlagen für das Covid-19-Zertifikat («Nachweis einer Covid-19-Impfung, einer Covid-19-Genesung oder eines Covid-19-Testergebnisses» nach Art. 6a des Covid-19-Gesetzes vom 25. September 202034), die von den eidgenössischen Räten in der Frühlingsession 2021 verabschiedet und vom Stimmvolk in der Referendumsabstimmung vom 28. November 2021 angenommen wurden,35 andererseits im Kontext von geplanten oder diskutierten Impfpflichten im Ausland, beispielsweise für das Pflegepersonal in Frankreich (vgl. Ziff. 4.1).

Über die gesamte Zeitdauer der
Pandemie wurde in der öffentlichen Diskussion zudem wiederholt die Angemessenheit der Massnahmen thematisiert, die von Bund und Kantonen zur Bewältigung der Covid-19-Pandemiewellen in der Schweiz ergriffen wurden. Obschon aufgrund von Bevölkerungsumfragen von einer relativ hohen Akzeptanz der behördlichen Massnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ausgegangen werden konnte, äusserten sich doch bis zu einem Viertel der befragten Personen kritisch zum Vorgehen von Bund und Kantonen.36 Namentlich der Rückgriff 33 34 35 36

SR 818.101 SR 818.102 BBl 2022 894 Vgl. z. B. die Ergebnisse des regelmässig im Auftrag der SRG durchgeführten CoronaMonitorings; Bericht der letzten Erhebungswelle vom Oktober 2021 abrufbar unter www.sotomo.ch > Projektliste > Corona-Krise: Monitoring der Bevölkerung Oktober 2021 (eingesehen am 1.Sept. 2022).

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auf den Immunstatus durch das sogenannte Covid-19-Zertifikat (3G-Regeln [Geimpfte, Genesene und Getestete] und 2G-Regeln [Geimpfte und Genesene]) bezüglich der Zugangsregeln etwa zu Veranstaltungen gab wiederholt Anlass zu Diskussionen.

Die Einschränkung persönlicher Freiheiten hat in der Gesellschaft zu einer zunehmenden Sensibilisierung in Bezug auf Fragen zur Rolle des Staates und zu den Grenzen staatlichen Handelns geführt.

2.4

Begriffliche Abgrenzung: Impfzwang sowie Impfpflicht und Impfobligatorium

In diesem Zusammenhang gilt es Klarheit zu schaffen, wie die Begriffe «Impfzwang», «Impfpflicht» und «Impfobligatorium» vorliegend verstanden werden, da die Initiantinnen und Initianten hierzu keine Differenzierung vornehmen, sondern generell auf die freie Wahl abzielen, sich impfen zu lassen oder sich dagegen auszusprechen (vgl. 3.1): ­

Impfzwang: Ein «Impfzwang» läge vor, wenn eine Impfung mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt würde. Eine Verabreichung eines Arzneimittels unter körperlichem Zwang (z. B. Fixation) greift - soweit dem Staat zurechenbar - in den Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit ein. Sie ist zwar zur Therapie von kranken Personen unter sehr engen Grenzen zulässig, namentlich im Rahmen des fürsorgerischen Freiheitsentzuges oder der fürsorgerischen Unterbringung (vgl. Ziff. 2.1 und 2.2). Demgegenüber ist aber eine Verabreichung einer Impfung zur Prophylaxe bei grundsätzlich gesunden Personen mittels physischem Zwang unbestrittenermassen ausgeschlossen und für den Staat keine Handlungsoption. So dürfen auch obligatorisch erklärte Impfungen ausdrücklich nicht mittels physischem Zwang erfolgen (Art. 38 Abs. 3 der Epidemienverordnung vom 29. April 201537).

­

Impfpflicht und Impfobligatorium: Sowohl «Impfpflicht» als auch «Impfobligatorium» meinen eine rechtliche Pflicht zur Impfung. Teils werden beide Begriffe synonym verwendet. Teils werden sie danach differenziert, ob eine Verletzung der Vorgabe eine unmittelbare Rechtsfolge nach sich zieht (z. B.

repressive Sanktion wie Busse) oder ob eine Weigerung als solche keine unmittelbare Rechtsfolge nach sich zieht.

Das EpG sieht vor, dass unter engen Voraussetzungen eine Impfung bei bestimmten Personengruppen (z. B. Tätigkeit in der Gesundheitsversorgung) während beschränkter Zeit für obligatorisch erklärt werden kann. Es sieht keine Rechtsfolgen vor, wenn betroffene Personen eine obligatorisch erklärte Impfung nicht vornehmen. Entscheidet sich aber z. B. eine Gesundheitsfachperson in einem sensiblen Spitalbereich gegen eine obligatorische Impfung, so kann dies bedeuten, dass sie vom Arbeitgeber in anderen Bereichen eingesetzt wird. Demgegenüber kennen andere Länder Möglichkeiten, Impfpflichten mit unmittelbaren Sanktionen (z. B. Bussen) - sei es für die Bevölkerung allgemein, sei es für bestimmte Personengruppen - gesetzlich vorzuschreiben

37

SR 818.101.1

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oder behördlich anzuordnen (vgl. Ziff. 4.1). All diesen Konstellationen ist aber gemeinsam, dass eine Nichtbeachtung der Impfpflicht oder des Impfobligatoriums unter anderem berufliche oder soziale Nachteile nach sich ziehen kann.

Die Initiative richtet sich unter anderem gegen jegliche Form von potenzieller Impfpflicht oder potenziellem Impfobligatorium. Vor diesem Hintergrund werden vorliegend die Begriffe «Impfpflicht» und «Impfobligatorium» synonym verwendet und gegen den «Impfzwang» im skizzierten Sinne abgegrenzt.

3

Ziele und Inhalt der Initiative

3.1

Ziele der Initiative

Mit der Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» wollen die Initiantinnen und Initianten erreichen, dass jede Person frei entscheiden kann, ob sie sich impfen lassen will oder nicht. Die betroffene Person soll aufgrund ihres Entscheides, eine Impfung zu verweigern, weder bestraft werden noch soziale oder berufliche Nachteile haben.

Mit der Initiative soll gemäss den Initiantinnen und Initianten die freie Wahl geschützt werden, sich impfen zu lassen oder sich dagegen auszusprechen, dies auch, weil keine Impfung frei von Nebenwirkungen sei und folglich jede Person für sich abwägen können soll, ob eine Impfung oder keine Impfung den grösseren Schaden anrichtet. Daher müsse jeder frei und ohne Zwang und Repression entscheiden können, ob und was in den Körper gespritzt wird. Weder Politik noch die pharmazeutische Industrie dürften dies entscheiden.38 Die Initiantinnen und Initianten nennen die folgenden wichtigsten Argumente:39

38

39

­

Die Verweigerung einer Impfung sei ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.

­

Die Inhaltsstoffe der mRNA-Impfung seien noch nicht in Langzeitstudien getestet worden.

­

Ob eine Impfung einen Nutzen entfalte, sei eine Glaubensfrage.

­

Die Wirtschaft und Politik dürften nicht entscheiden, was in unsere Körper gespritzt werde.

­

Ein geimpfter Mensch sei hoffentlich gegen die Krankheit immun, weshalb ein Ungeimpfter diesen nicht mehr anstecken könne.

­

Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Ärztinnen und Ärzte stuften den genetischen Impfstoff als krebserregend ein.

Vgl. die Kampagnenseite der Freiheitlichen Bewegung Schweiz, abrufbar unter www.fbschweiz.ch > Kampagnen > «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit (STOPP Impfpflicht)» (eingesehen am 5.10.2022).

Siehe «Die wichtigsten Argumente», abrufbar unter www.wirbestimmen.ch > Volksinitiativen > Sammlung Zustandegekommen > Eidgenössische Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» (eingesehen am 5.10.2022).

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Als Begründung für die neue Verfassungsregelung hinsichtlich der Bestrafung und der sozialen oder beruflichen Nachteile führen die Initiantinnen und Initianten weiter aus, dass jeder Mensch das Recht auf körperliche Unversehrtheit habe. Wenn ein Arzneimittel subkutan injiziert werde, dann bedeute dies, dass man diesen Eingriff auch verweigern können sollte, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Der Grundsatz regle jedoch nicht, was geschehe, wenn aufgrund der Verweigerung andere Einschränkungen erlassen würden. Um derartige Einschränkungen zu verhindern, sei die vorgeschlagene Erweiterung von Artikel 10 BV um einen Absatz 2bis BV notwendig.

3.2

Inhalt der vorgeschlagenen Regelung

In gewissem Kontrast zu den angestrebten Zielen der Initiantinnen und Initianten (vgl.

Ziff. 3.1) steht der Inhalt und die Tragweite der vorgeschlagenen Regelung: Die Initiative sieht vor, dass jegliche Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit einer Person deren Zustimmung bedürfen. Die betroffene Person darf aufgrund der Verweigerung der Zustimmung weder bestraft werden noch dürfen ihr soziale oder berufliche Nachteile erwachsen.

Thematisch zielt die Initiative gemäss den Initiantinnen und Initianten auf Impfungen ab, namentlich gegen Covid-19. Allerdings sehen Wortlaut und Systematik der eingereichten Initiative weder irgendeine Anknüpfung an die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (vgl. Art. 118 Abs. 2 Bst. b BV) noch irgendeine Einschränkung auf Impfungen vor. Einen Hinweis liefert zwar der Name des Initiativkomitees («STOPP Impfpflicht»); der eingereichte Initiativtext äussert sich aber weder zur Impfung noch zur Impfpflicht. Vielmehr knüpft die Initiative am grundrechtlichen Schutz der körperlichen und geistigen Unversehrtheit nach Artikel 10 Absatz 2 BV an, wodurch sie ganz unterschiedliche Lebensbereiche und Rechtsgebiete betrifft (vgl. Ziff. 2.1). Insofern ist der Initiativtext thematisch umfassend formuliert, weshalb äusserst unterschiedliche gesellschaftliche und politische Themen berührt sind, vom Schutz gegen Lärmimmissionen über asylrechtliche Massnahmen bis zur Schulzahnpflege. Soweit ersichtlich haben die Initiantinnen und Initianten all diese über eine Impfung hinausgehenden Gegenstände von Artikel 10 Absatz 2 BV nicht in Betracht gezogen.40 Womöglich war es auch nicht die Absicht der Initiantinnen und Initianten, sämtliche dieser Lebensbereiche und Rechtsgebiete zu erfassen. Dies ändert aber nichts daran, dass sie Inhalt der von ihnen vorgeschlagenen Regelung - und folglich auch Gegenstand der Abstimmung darüber - sind.

Gleichzeitig beschränkt sich der Initiativinhalt auf Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit einer Person im Sinne von Artikel 10 Absatz 2 BV. Diese Grundrechte sind in erster Linie gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte. Als Eingriff in diese Rechte sind nur dem Staat zurechenbare Einwirkungen auf die körperliche oder geistige Unversehrtheit erfasst (vgl. Ziff. 2.1). Mit anderen Worten erfasst 40

Vgl. die Kampagnenseite der Freiheitlichen Bewegung Schweiz, abrufbar unter www.fbschweiz.ch > Kampagnen > «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit (STOPP Impfpflicht)» (eingesehen am 5.10.2022), in welcher nur auf die Impfung an sich Bezug genommen wird.

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die Initiative grundsätzlich nur diejenigen Konstellationen, in denen der Staat in die körperliche oder geistige Unversehrtheit eingreifen will; nur für diese Konstellationen sieht die Initiative ein Einwilligungserfordernis durch die betroffene Person vor; nur für diese Konstellationen schliesst die Initiative Strafen sowie berufliche oder soziale Nachteile aus. Insofern findet die Initiative zweifellos auf staatliches Handeln Anwendung. Damit ist an sich noch nichts gesagt über Verhältnisse zwischen Privaten. Inwiefern die Initiative allenfalls auch Wirkung unter Privaten entfalten könnte, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Somit ist - mangels staatlichem Eingriff fraglich, inwiefern die Initiative im privaten Bereich allfällige Impfanforderungen oder allfällige Differenzierungen nach dem Impf- oder Immunstatus verbieten könnte.

3.3

Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes

Gemäss schweizerischer Lehre und Praxis sind Verfassungsbestimmungen grundsätzlich nach denselben methodologischen Regeln zu interpretieren wie Normen des einfachen Gesetzesrechts. Ziel der Auslegung ist die Ermittlung des Sinngehalts der Norm. Auszugehen ist vom Wortlaut, doch kann dieser nicht allein massgebend sein.

Besonders wenn der Text unklar ist oder verschiedene Deutungen zulässt, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung der weiteren Auslegungselemente. Diese umfassen namentlich die Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck; wichtig ist auch die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung stets von einem flexiblen Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf die wörtliche Auslegung abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei eine sachlich richtige Lösung ergab.41 Die Initiantinnen und Initianten schlagen vor, die Bundesverfassung mit einem neuen Artikel 10 Absatz 2bis zu ergänzen. Ausserdem wird in Artikel 197 Ziffer 12 eine Übergangsbestimmung hinzugefügt: Art. 10 Abs. 2bis Die vorgeschlagene Bestimmung sieht zunächst vor, dass Eingriffe in die verfassungsmässigen Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit einer Person deren Zustimmung bedürfen. Sodann darf die betroffene Person aufgrund der Verweigerung der Zustimmung weder bestraft werden noch dürfen ihr soziale oder berufliche Nachteile erwachsen.

Gemäss dem ersten Satz dürfte z. B. die Polizei keine Verdächtigen mehr ohne deren Zustimmung festnehmen. Die vorgeschlagene Regelung würde mitunter an Absurdität grenzen, wenn man sie derart isoliert betrachten würde. Es ist hier daher die wahre Tragweite der Regelung zu ermitteln.

Dabei stellt sich erstens die Frage nach der thematischen Eingrenzung der erfassten Eingriffe. Der Initiativtext schränkt die Art des Eingriffs nicht weiter ein, weshalb der Begriff umfassend zu verstehen ist und nicht auf medizinische Eingriffe generell oder 41

BGE 124 II 372, S. 375 f. E. 5 mit weiteren Nachweisen.

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auf Impfungen im Besonderen begrenzt werden kann. Mit der Anknüpfung an das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und mangels Einschränkung des Geltungsbereichs geht die Initiative thematisch weit über eine Impfpflicht und Differenzierungen nach dem Impf- oder Immunstatus hinaus (vgl. Ziff. 2.1). Lediglich diese beiden konkreten Punkte wollten die Initiantinnen und Initianten gemäss ihren Aussagen jedoch verhindern. Da jegliche staatliche Massnahme, die eine Einwirkung auf den menschlichen Körper beinhaltet, die körperliche Unversehrtheit betrifft, ist unklar, wie der Wille der Initiantinnen und Initianten umgesetzt werden soll. Die Frage muss vorliegend aber nicht abschliessend geklärt werden.

Denn zweitens ist das Zustimmungserfordernis für Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit unbestrittenermassen nichts Neues: Es ist im Grundsatz bereits den bestehenden Rechten der körperlichen und geistigen Unversehrtheit nach Artikel 10 Absatz 2 BV inhärent (vgl. Ziff. 2.1). Nach geltendem Recht sind aber Ausnahmen von diesem Zustimmungserfordernis möglich unter den Voraussetzungen nach Artikel 36 BV (Einschränkung von Grundrechten; vgl. Ziff. 2.2). Der Initiativtext sieht nichts vor, was die Anwendbarkeit von Artikel 36 BV in irgendeiner Weise einschränken würde. Auch die ausdrückliche Hervorhebung des bereits geltenden Zustimmungserfordernisses für Eingriffe in die körperliche und geistige Unversehrtheit bedeutet keine Ausnahme von der Anwendbarkeit von Artikel 36 BV. Selbst wenn die Initiantinnen und Initianten dem Zustimmungserfordernis einen absoluten Charakter hätten verleihen wollen, käme dieser Wille nicht im Wortlaut der Initiative zum Ausdruck und kann nicht massgebend sein. Es ist daher davon auszugehen, dass die Initiative die Gesetzgebung nicht daran hindern würde, weiterhin Einschränkungen des Zustimmungserfordernisses für Eingriffe in die körperliche und geistige Unversehrtheit oder Ausnahmen davon vorzusehen.

Gemäss dem zweiten Satz dürfte sodann die Verweigerung der Zustimmung zum Eingriff für die betroffene Person weder eine Bestrafung noch soziale oder berufliche Nachteile nach sich ziehen. Die Formulierung dieser Bestimmung ist denjenigen anderer Verfassungsbestimmungen ähnlich, die bestimmte Einschränkungen von Grundrechten ausdrücklich untersagen und
sich explizit auf einen Teil des Kerngehalts eines Grundrechts beziehen, der unantastbar ist und daher keinen Einschränkungen unterliegen kann (Art. 36 Abs. 4 BV). So konkretisiert z. B. das Verbot der Folter und jeder anderen Art grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (Art. 10 Abs. 3 BV) bereits Teile des Kerngehaltes der körperlichen und geistigen Unversehrtheit.

Somit stellt sich die Frage, inwiefern der Schutzbereich der körperlichen und geistigen Unversehrtheit nach Artikel 10 Absatz 2 BV die im Initiativtext genannten Nachteile (Bestrafung, soziale oder berufliche Nachteile) erfasst. Dabei gehen die Initiantinnen und Initianten gerade davon aus, dass das bestehende Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit nicht vor Bestrafung und beruflichen oder sozialen Nachteilen schützt. Trotzdem - oder gerade deswegen - scheinen die Initiantinnen und Initianten das Verbot der Bestrafung und der sozialen oder beruflichen Benachteiligung bei Verweigerung eines Eingriffs gewissermassen als unantastbaren Kerngehalt der körperlichen und geistigen Unversehrtheit festschreiben zu wollen (vgl. Ziff. 3.1). Die verwendeten Formulierungen, insbesondere «soziale oder berufliche Nachteile», sind jedoch so unpräzise, dass sie nicht als Teil des Kerngehalts der persönlichen Freiheit 14 / 26

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verstanden werden können. Das Verbot der Bestrafung und der sozialen oder beruflichen Benachteiligung bei Verweigerung eines Eingriffs ist daher wohl als Konkretisierung der persönlichen Freiheit zu betrachten, die unter den Voraussetzungen nach Artikel 36 BV eingeschränkt werden kann.

Art. 197 Ziff. 12 Die vorgeschlagene Übergangsbestimmung sieht vor, dass die Bundesversammlung die Ausführungsbestimmungen zu Artikel 10 Absatz 2bis spätestens ein Jahr nach dessen Annahme durch Volk und Stände erlässt. Treten die Ausführungsbestimmungen innerhalb dieser Frist nicht in Kraft, so erlässt der Bundesrat die Ausführungsbestimmungen in Form einer Verordnung und setzt sie auf diesen Zeitpunkt hin in Kraft. Die Verordnung gilt bis zum Inkrafttreten der von der Bundesversammlung erlassenen Ausführungsbestimmungen.

Demnach sollen die Ausführungsbestimmungen bereits innerhalb eines Jahres vom Parlament verabschiedet werden, sonst muss der Bundesrat mittels Verordnung handeln. Die Initiative betrifft aber, wie bereits erwähnt, u.a. jegliche staatliche Massnahme, die eine Einwirkung auf den menschlichen Körper mit sich zieht, was verschiedenste Lebensbereiche und Rechtsgebiete berührt (vgl. Ziff. 2.1). Entsprechende Ausführungsbestimmungen würden eine vorgängige Festlegung voraussetzen, in welcher Art man die Initiative überhaupt konkretisieren soll, und möglicherweise ziemlich komplexe Abklärungen bedingen, die weite Teile der Rechtsordnung beträfen.

Dabei ist in inhaltlicher Hinsicht zu berücksichtigen, dass für die betroffenen Rechtsgebiete mitunter gar keine oder nur punktuelle Rechtsetzungskompetenzen des Bundes bestehen (so sind beispielsweise für das Polizei- und das Gesundheitswesen im Wesentlichen die Kantone zuständig). Dies bedeutet, dass die Bundesversammlung oder der Bundesrat die Ausführungsbestimmungen mitunter gar nicht erlassen könnte.

Soweit Rechtsetzungskompetenzen des Bundes bestehen, erscheint es nach dem Gesagten in zeitlicher Hinsicht wiederum kaum realistisch, dass die erforderlichen Ausführungsbestimmungen innert Frist erlassen werden könnten. Schliesslich bleibt hinsichtlich Gewaltenteilung für den allfälligen Erlass von Ausführungsbestimmungen durch den Bundesrat anzumerken, dass solche Ausführungsbestimmungen die bestehenden formell-gesetzlichen Regelungen zur zulässigen Einschränkung
des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit (vgl. Ziff. 2.2) nicht übersteuern könnten.

Vor diesem Hintergrund lässt sich zurzeit noch kaum ermitteln, was der Sinngehalt respektive die wahre Tragweite der vorgeschlagenen Ausführungsbestimmung sein könnte.

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4

Würdigung der Initiative

4.1

Würdigung der Anliegen der Initiative

Eine Würdigung des Initiativanliegens erweist sich insofern als schwierig, als die vorgebrachten Anliegen der Initiantinnen und Initianten entscheidend vom massgeblichen Inhalt des vorgeschlagenen Normtextes abweichen: ­

Einerseits beschränken sich die Ziele der Initiantinnen und Initianten auf Impfungen (vgl. Ziff. 3.1), während der eingereichte Initiativtext keinerlei thematische Einschränkung enthält und eine grosse Bandbreite an äusserst unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Themen berührt (vgl.

Ziff. 3.2). Insofern sind die Anliegen der Initiative mindestens auf kommunikativer Ebene thematisch sehr viel enger als der tatsächliche Inhalt der vorgeschlagenen Verfassungsregelung. Diese zielt weit über Impfungen hinaus und erfasst alle staatlichen Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit.

­

Andererseits zielen die Initiantinnen und Initianten auf die ­ bereits von Artikel 10 Absatz 2 BV garantierte ­ Wahlfreiheit in Bezug auf Impfungen ab wobei die Initiative aber nichts daran ändert, dass der Staat unter den Voraussetzungen von Artikel 36 BV in die garantierten Rechte eingreifen kann (vgl.

Ziff. 3.3). Insofern gehen die mit der Initiative geäusserten Anliegen im Ergebnis sehr viel weiter als der Inhalt der vorgeschlagenen Regelung. Die Initiative vermag das Zustimmungserfordernis nicht in jedem Fall zu gewährleisten und zielt damit an den geweckten Erwartungen vorbei. Sie erfasst die staatlichen Möglichkeiten nicht, die Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit gemäss Artikel 36 BV einzuschränken.

­

Dabei gilt stets zu berücksichtigen, dass die Initiative grundsätzlich nur staatliche Eingriffe erfasst (vgl. Ziff. 3.3). Es ist fraglich, inwiefern sie im privatrechtlichen Bereich allfällige Impfanforderungen oder allfällige Differenzierungen nach dem Impf- oder Immunstatus verbieten könnte.

Vor diesem Hintergrund werden die Anliegen der Initiative vorerst isoliert betrachtet und so gewürdigt, wie sie von den Initiantinnen und Initianten vorgebracht werden: Mit der Initiative sollen einerseits Impfzwänge, -pflichten und -obligatorien und andererseits negative Folgen bei einer Ablehnung der Impfung ausgeschlossen werden.

Inwiefern diese Anliegen im Falle einer Annahme der Initiative erfüllt wären oder werden könnten, wird in einem weiteren Schritt zu untersuchen sein (vgl. Ziff. 4.2).

Impfobligatorien gemäss EpG Das EpG sieht die Möglichkeit vor, dass die Kantone oder der Bund Impfungen für gefährdete Bevölkerungsgruppen, für besonders exponierte Personen und für Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, obligatorisch erklären können (Art. 22 EpG sowie Art. 6 Abs. 2 Bst. d und Art. 7 EpG). Ein Impfobligatorium für bestimmte Personenkreise (z. B. im Bereich der Gesundheitsversorgung) könnte sich bei einer schweren, sich rasch verbreitenden und in vielen Fällen tödlich endenden Infektionskrankheit aufdrängen. Angesichts des beträchtlichen Grundrechtseingriffs, der mit einem solchen Impfobligatorium einhergeht, ist diese strategische Option für den Fall 16 / 26

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vorbehalten, dass das anvisierte Ziel mit anderen, milderen Massnahmen nicht erreicht werden kann. Dieses Ziel wäre die substanzielle Erhöhung der Durchimpfung in der vom Obligatorium betroffenen Bevölkerungsgruppe und die Erfüllung der damit angestrebten Ziele der öffentlichen Gesundheit (z. B. Schutz vor Übertragung, Verminderung von schweren und tödlich verlaufenden Fällen, Sicherstellung der Gesundheitsversorgung). Erst wenn alle anderen Mittel zur Erhöhung des Anteils geimpfter Personen bereits ausgeschöpft sind (z. B. Aufklärung, Kampagnen), kann die Einführung eines Impfobligatoriums als Ultima Ratio eingesetzt werden. In einer solchen Situation könnte beispielsweise in sensiblen Bereichen von Spitälern ein Impfobligatorium beim Personal angezeigt sein, um Patientinnen und Patienten vor gefährlichen Infektionskrankheiten zu schützen. Entscheidet sich eine Person gegen eine Impfung, so kann dies bedeuten, dass sie in anderen Bereichen eingesetzt wird.

Die Kantone können Impfungen für obligatorisch erklären, sofern eine «erhebliche Gefahr» für die Gesundheit besteht (Art. 22 EpG). Zur Feststellung, ob eine «erhebliche Gefahr» besteht, müssen die Kantone mehrere, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit konkretisierende Kriterien beurteilen: den Schweregrad einer möglichen Erkrankung, das Risiko einer Weiterverbreitung der Krankheit, die Gefährdung besonders gefährdeter Personen, die epidemiologische Situation auf kantonaler, nationaler und internationaler Ebene unter Einbezug des Bundesamts für Gesundheit, die zu erwartende Wirksamkeit eines Impfobligatoriums und die Eignung und Wirksamkeit anderer (milderer) Massnahmen zur Eindämmung der Gesundheitsgefahr.

Der Bund kann in zwei Situationen Impfungen für obligatorisch erklären: in einer «besonderen Lage» nach Anhörung der Kantone (Art. 6 Abs. 2 Bst. d EpG) und in einer «ausserordentlichen Lage» (Art. 7 EpG). Die für die Kantone geltenden Kriterien zur Beurteilung, ob die Voraussetzungen für ein Impfobligatorium gegeben sind, gelten auch für den Bund.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte am 8. April 2021 im Fall 47621/13, dass ein Impfobligatorium grundsätzlich zulässig und mit Artikel 8 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten42 (EMRK) vereinbar ist, wenn es im Interesse
der allgemeinen Gesundheitsvorsorge und verhältnismässig ist. Dieses Urteil des EGMR bestätigt, wie auch schon entsprechende Urteile des Bundesgerichts, dass ein Impfobligatorium im öffentlichen Interesse und verhältnismässig sein kann. Die Verhältnismässigkeit ist jedoch stets mit Blick auf die konkret in Frage stehende übertragbare Krankheit und die betroffene Personengruppe zu prüfen.

Auch unter einem Impfobligatorium dürfte eine Impfung unter keinen Umständen mittels physischen Zwangs erfolgen. Niemandem kann unter Zwang oder gegen seinen Willen eine Impfung verabreicht werden. Jede Person entscheidet selber, ob sie sich dem Obligatorium fügt und sich gegen eine Krankheit impfen lassen will oder nicht. Allerdings nimmt eine Person, die sich bei einem Impfobligatorium nicht impfen lässt, bewusst gewisse Einschränkungen in Kauf. Dazu gehört beispielsweise, dass sie allenfalls für eine bestimmte Zeit ihrer angestammten beruflichen Tätigkeit nicht nachkommen oder gewisse Aktivitäten nicht ausüben kann, sollten diese nur

42

SR 0.101

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geimpften Personen zugänglich sein. Das EpG sieht hingegen keine Strafbestimmungen vor für ein Nichtbefolgen des Impfobligatoriums.

Während der Covid-19-Pandemie, wie auch während der pandemischen Grippe H1N1 im Jahr 2009, wurde weder vom Bund noch von den Kantonen je ein Impfobligatorium ins Auge gefasst. Es zeigte sich die hohe Sensibilität und Verantwortung der zahlreichen Entscheidungsträger auf den verschiedenen Staatsebenen der Schweiz, dass sie von den bestehenden Möglichkeiten eines Impfobligatoriums keinen Gebrauch gemacht haben. So wurden die übrigen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie jeweils kritisch geprüft und diesbezüglich als ausreichend empfunden.

Folglich wurde es in der Schweiz - im Gegensatz zu anderen Ländern (vgl. weiter unten «Situation in den Nachbarstaaten») - zu keiner Phase der Covid-19-Pandemie als erforderlich erachtet, zur Ultima Ratio zu greifen und ein allfälliges Impfobligatorium anzuordnen.

Differenzierung nach Impf- oder Immunstatus Neben der Zustimmung zu einem Eingriff in die körperliche und geistige Unversehrtheit wird mit der Initiative auch angestrebt, dass bei deren Verweigerung keine sozialen oder beruflichen Nachteile für die betroffene Person entstehen. Zu diesem Aspekt der Initiative ­ bezogen auf die Covid-19-Impfung ­ hat sich das Volk mit der Annahme des Covid-19-Gesetzes und der Einführung des Impf-, Test- und Genesungsnachweises geäussert. Es erschien den Stimmberechtigten vertretbar, dass geimpfte und ungeimpfte Personen unter Umständen unterschiedlich behandelt werden dürfen.

Die Einschränkungen aufgrund des Impf- oder Immunstatus müssen aber stets so ausgestaltet sein, dass der Zugang zu staatlichen Leistungen sowie zur Grundversorgung grundsätzlich möglich bleibt, so etwa unter Einbezug des Nachweises eines aktuellen Infektionsstatus mittels Test. Eine Massnahme muss zudem immer dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Verhältnismässigkeitsprinzip genügen. Wäre eine Differenzierung nach Impf- oder Immunstatus nicht mehr erlaubt, dürften selbst sachlich gebotene Unterscheidungen nicht mehr getroffen werden. Auch könnten sich bei einem Verbot der Differenzierung weitergehende Eindämmungsmassnahmen wie zum Beispiel Schliessungen als erforderlich erweisen. Letztlich würden Schliessungen und vergleichbar einschneidende Massnahmen einen noch
grösseren Eingriff unter anderem in die persönliche Freiheit darstellen und unter Umständen noch mehr Personen betreffen, weshalb eine Differenzierung nach dem Impf- oder Immunstatus das mildere Mittel darstellt.

Zu beachten gilt schliesslich, dass unabhängig von einem Impfobligatorium Massnahmen an den Impfstatus geknüpft werden können. So können etwa nicht geimpfte Schülerinnen und Schüler zur Vermeidung eines Masernausbruchs zeitweise vom Präsenzunterricht ausgeschlossen werden.43 Situation in den Nachbarstaaten In den Nachbarstaaten der Schweiz gibt es verschiedene Beispiele für Impfpflichten sowie Differenzierungen nach dem Impf- oder Immunstatus:

43

BGer, Urteil 2C_395/2019 vom 8.6.2020, E. 3.

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In Deutschland gilt seit 1. März 2020 eine bundesweite gesetzliche Pflicht der Masernimpfung für Kinder sowie für das Personal in Gemeinschafts- oder Gesundheitseinrichtungen. Italien hat im Jahr 2017 ein Gesetz über Pflichtimpfungen für Kinder geschaffen. Die Pflicht gilt für die Impfung gegen insgesamt zehn Krankheiten, darunter Masern, Hirnhautentzündung, Tetanus, Kinderlähmung, Mumps, Keuchhusten und Windpocken. In Frankreich gilt seit 30. Dezember 2017 eine Pflicht für Kinder bis 14 Jahre zur Impfung gegen elf Krankheiten, darunter Masern, Mumps, Röteln, Keuchhusten, Hepatitis B, Tetanus und Kinderlähmung.

Auch zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie wurden in den Nachbarländern Impfpflichten und Differenzierungen nach Impf- oder Immunstatus eingeführt, wobei diese unterschiedlich ausgestaltet waren und noch sind.

In Deutschland, Frankreich und Italien gab beziehungsweise gibt es zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie berufsspezifische Impfobligatorien. In Deutschland gilt seit 15. März 2022 eine Pflicht für das Gesundheitspersonal in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen zur Impfung gegen Covid-19. In Frankreich gilt seit 15. September 2021 ein berufsspezifisches Obligatorium der Covid-19-Impfung für das Personal in gesundheitlichen und sozialmedizinischen Einrichtungen und Diensten (Betreuerinnen und Betreuer, Pflegefachkräfte, Freiwillige, Feuerwehr usw.). In Italien gilt seit April 2021 ein berufsspezifisches Obligatorium der Covid-19-Impfung für das Gesundheitspersonal. Von Mitte Dezember 2021 bis zum 15. Juni 2022 galt in Italien auch ein Obligatorium der Covid-19-Impfung für weitere Berufsgruppen wie Lehrpersonen sowie für das Militär, die Polizei und die öffentliche Verwaltung.

In den genannten Ländern bestehen Ausnahmen von der Impfpflicht für genesene Personen und für Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können. Weniger häufig wurden im Kontext der Covid-19-Krise Impfpflichten erlassen, die sich nicht auf spezifische Berufsgruppen beziehen. In Italien galt vom 15.

Februar 2022 bis zum 15. Juni 2022 neben dem berufsspezifischen Impfobligatorium auch eine Impfpflicht für Menschen ab 50 Jahren. Eine allgemeine Pflicht zur Covid19-Impfung für die gesamte Bevölkerung wurde nur in Österreich eingeführt, wobei es auch hier gewisse Ausnahmen von der
Impfpflicht vorgesehen waren. Allerdings wurde die allgemeine Impfpflicht ab 14 Jahren in Österreich nach gut einem Monat Gültigkeit ausgesetzt und Ende Juli 2022 ausser Kraft gesetzt.

Zusätzlich zu oder statt einer Impfpflicht setzten die Nachbarstaaten der Schweiz während der Covid-19-Pandemie zeitweise auf weitere Massnahmen zur Differenzierung nach dem Impf- oder Immunstatus. Beispiele dafür sind 3G-Regeln am Arbeitsplatz und im öffentlichen Verkehr, 2G-Regeln bei der Einreise und im öffentlichen Leben (mit Ausnahme von Geschäften des täglichen Bedarfs) oder Kontaktbeschränkungen für private Zusammenkünfte, an denen nicht geimpfte oder nicht genesene Personen teilnahmen.

Die Einführung der gesetzlichen Impfpflichten gegen diese Krankheiten (Covid-19, Masern usw.) und weiterer Massnahmen zur Differenzierung nach dem Impf- oder Immunstatus wurde aus verfassungsrechtlicher Sicht eingehend analysiert. So haben sich die Verfassungsgerichte in Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland explizit damit auseinandergesetzt: Sie alle kamen zum Schluss, dass die Abwägung zwischen dem zu erwartenden Nutzen für das Gemeinwohl mit den Beeinträchtigungen der Grundrechte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zum Zeitpunkt des 19 / 26

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Urteils verhältnismässig und zielführend war. Inzwischen gibt es auch mehrere Urteile des EGMR, wonach eine hinreichend begründete Impfpflicht nicht im Widerspruch zu den von der EMRK gewährleisteten Grundrechten steht.

Die Einführung der Impfpflichten und Massnahmen zur Differenzierung nach dem Impf- oder Immunstatus wurden jeweils kontrovers diskutiert Es kam zu Protesten und es wurden Gegeninitiativen lanciert. In Frankreich wurde beispielsweise eine Sammelklage von Feuerwehrleuten bis an den EGMR getragen. In Österreich gibt es Volksbegehren, welche den Bundesverfassungsgesetzgeber dazu auffordern, eine Impfpflicht zu verbieten und jegliche Art der Diskriminierung von Menschen ohne Impfung zu verhindern. Diese werden und wurden im österreichischen Nationalrat abschliessend diskutiert, ohne dass derzeit weitere Beschlüsse oder rechtliche oder politische Folgen bekannt wären. Erfolgreiche Bestrebungen, eine Impfpflicht und eine Differenzierung nach dem Impf- oder Immunstatus generell und verfassungsmässig auszuschliessen, sind in den Nachbarländern der Schweiz derzeit nicht bekannt.

4.2

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

Die Initiantinnen und Initianten wollen mit ihrer Initiative eine Impfpflicht und eine Differenzierung nach dem Impfstatus ausschliessen. Es ist daher davon auszugehen, dass nach ihrem Willen eine Einschränkung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit nach den Voraussetzungen von Artikel 36 BV in diesem Bereich ausgeschlossen sein soll. Nur diese Interpretation lässt ihr Anliegen als schlüssig erscheinen hinsichtlich der Verhinderung einer Impfpflicht oder einer Differenzierung nach dem Impfstatus, an welche soziale oder berufliche Folgen geknüpft werden. Dies betrifft namentlich die Möglichkeit des Staates, eine Impfpflicht aus gesundheitspolizeilichen Gründen vorzusehen (Epidemienrecht) oder an den Impfstatus anknüpfende Regelungen im sozialen und beruflichen Bereich festzulegen. Damit wären nach dem Willen der Initiantinnen und Initianten etwa die Möglichkeit eines Impfobligatoriums oder die Festlegung von Zugangs- und Einreisebeschränkungen, die an einen Impfnachweis (z. B. Covid-19-Zertifikat für geimpfte Personen im Sinne von Art. 6a des Covid-19-Gesetzes) anknüpfen, unzulässig.

Der Geltungsbereich der von der Initiative vorgesehenen Norm geht weit über das Thema Impfung hinaus. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass die Initiantinnen und Initianten eine so restriktive Regelung in den vielen anderen betroffenen Bereichen, wie z. B. dem Polizeirecht, durchsetzen wollten. Angesichts des sehr weiten Anwendungsbereichs der Initiative kann sinnvollerweise nicht davon ausgegangen werden, dass die Güterabwägung nach Artikel 36 BV in allen Bereichen, wo staatliche Einwirkungen auf den menschlichen Körper stattfinden, durch die neue Bestimmung übersteuert werden. Vielmehr müssen Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit (z. B. durch Polizei, Militär, Strafverfolgung, Ausländer- und Asylwesen, Kindes- und Erwachsenenschutz oder im Gesundheitswesen) weiterhin möglich bleiben, wenn sie die Voraussetzungen nach Artikel 36 BV erfüllen. Der allfällige Wille der Initiantinnen und Initianten kann zur Auslegung der neuen Bestimmung für den Impfbereich nicht massgebend sein. Da sich der vorgeschlagene Wortlaut nicht auf die Impfung bezieht, ist eine Differenzierung zwischen diesem von den Initiantinnen 20 / 26

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und Initianten klar anvisierten Bereich und den anderen von der Initiative betroffenen Bereichen nicht möglich.

Eine neue Verfassungsbestimmung wird in einen normativen Rahmen eingebettet und muss in Abstimmung mit dem Rest der Verfassung ausgelegt werden. Im vorliegenden Fall kann die von der Initiative vorgesehene Norm nicht unabhängig vom Rest des ersten Kapitels der BV über die Grundrechte interpretiert werden. Dem mutmasslichen Willen der Initiantinnen und Initianten steht entgegen: Wenn sie die Anwendbarkeit von Artikel 36 BV (allgemeine Kriterien für die Einschränkung von Grundrechten) hätten einschränken wollen, dann hätten sie dies im Initiativtext klar zum Ausdruck bringen müssen. Auslöser für die Initiative waren die Impfung und andere mit der Pandemiebekämpfung im Zusammenhang stehende Eingriffe in die persönliche Freiheit. Der Initiativtext geht aber in seiner Formulierung weit darüber hinaus und tangiert thematisch viele andere Rechtsbereiche.

Dabei wäre die Frage, ob und gegebenenfalls inwiefern der neue Artikel 10 Absatz 2bis BV gemäss den Voraussetzungen von Artikel 36 BV eingeschränkt werden kann oder ob er absolut gilt, letztlich vom Gesetzgeber und allenfalls von den Gerichten zu beurteilen. Falls sich die öffentliche Diskussion entsprechend den bisherigen Äusserungen der Initiantinnen und Initianten auf die Fragen nach einer Impfpflicht und einer Differenzierung nach dem Impfstatus konzentrieren, könnte bei einer Annahme der Initiative aus politischer Sicht gefolgert werden, dass zumindest die bestehende Möglichkeit eines Impfobligatoriums (vgl. Ziff. 4.1) oder der Festlegung von Zugangs- und Einreisebeschränkungen, die an einen Impfnachweis (z. B. Covid-19Zertifikat für geimpfte Personen im Sinne von Art. 6a des Covid-19-Gesetzes) anknüpfen, nach dem Willen des Stimmvolks als unzulässig erachtet werden und deshalb vom Gesetzgeber angepasst werden müssten.

Aus rechtlicher Sicht hingegen ist ein Konflikt in der Umsetzung der Bestimmung zu erwarten. Es ist zwar davon auszugehen, dass sich rasch ein breiter Konsens darüber einstellen würde, dass der neue Artikel 10 Absatz 2bis BV einerseits nicht nur das Impfen betrifft und andererseits den allgemeinen Einschränkungsbedingungen nach Artikel 36 BV unterliegen muss. Der Bestimmung kommt folglich nicht der absolute Charakter zu,
den sein isoliert betrachteter Wortlaut vermuten lässt. Die neue Verfassungsbestimmung führt aber dennoch zu einer grossen Rechtsunsicherheit, da die konkreten Auswirkungen bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmung durch die rechtsanwendenden Behörden, namentlich die Verwaltung und die Gerichte, derzeit nicht vorhersehbar ist. So würden sich eine Vielzahl von heiklen Fragen neu stellen.

Angesichts der strikten Formulierung des neuen Artikels 10 Absatz 2bis BV besteht ein erhebliches Risiko, dass Ausnahmen vom Zustimmungserfordernis für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und vom Verbot der Bestrafung und Benachteiligung bei Verweigerung der Zustimmung als schwerwiegende Einschränkungen eingestuft werden müssten, die eine formalgesetzliche Grundlage erfordern. Daher müssten Bund und Kantone in sehr weiten Rechtsbereichen prüfen, ob eine ausreichende formalgesetzliche Grundlage für solche Ausnahmen besteht. Falls nicht, müssten sie zusätzliche Regelungen schaffen, um den Anforderungen nach Artikel 36 Absatz 1 BV zu genügen. Neben der Problematik des Erfordernisses einer formalgesetzlichen Grundlage hätte der neue Artikel 10 Absatz 2bis BV zudem Einfluss auf die Prüfung der Verhältnismässigkeit von Massnahmen. Die ausdrückliche Regelung eines 21 / 26

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bestimmten Aspekts der persönlichen Freiheit durch die Verfassung ist ein Zeichen für die Bedeutung, die der Verfassungsgeber diesem Aspekt beimisst. Diese grössere Bedeutung sorgt für eine strengere Prüfung der Verhältnismässigkeit. Die Folgen dieser strengeren Prüfung in den vielen Bereichen, die vom neuen Artikel 10 Absatz 2bis BV betroffen wären, lassen sich nicht ohne Weiteres abschätzen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Initiative Erwartungen weckt, die nicht erfüllt werden können. Wird der Normtext wörtlich genommen, führt er zu erheblicher Rechtsunsicherheit. Wird er in Abstimmung mit den anderen Verfassungsbestimmungen interpretiert, führt er zumindest aus rechtlicher Sicht höchstens zu einer Erhöhung der Anforderungen an eine formalgesetzliche Grundlage für Einschränkungen des Zustimmungserfordernisses und zu einer etwas restriktiveren Interessenabwägung.

4.3

Vorzüge und Mängel der Initiative

Ein Vorzug der Initiative ist, dass das Thema eines Impfobligatoriums und der Differenzierung nach Impfstatus erneut breit diskutiert werden wird. Die körperliche und geistige Unversehrtheit ist ein zentrales Grundrecht. In dieses Grundrecht darf ohne Einwilligung nur unter den engen Voraussetzungen von Artikel 36 BV eingegriffen werden. Da die Initiative aber über ein reines Impfobligatorium und die Differenzierung nach dem Impfstatus hinausgeht, erscheint sie ein ungeeignetes Instrument zur Diskussion der Anliegen der Initiantinnen und Initianten. Vielmehr ist es angezeigt, diese Themen als Teil der Bekämpfungsmassnahmen gegen eine Pandemie anlässlich der Revision des EpG zu evaluieren und zu diskutieren, anstatt das Anliegen in einer viel zu umfassenden Art und Weise auf Verfassungsebene zu heben.

Die Initiative verkennt zudem, dass es derzeit in der Schweiz weder ein allgemeines Impfobligatorium noch eine Rechtsgrundlage für einen Impfzwang gibt und insofern eine derartige Verfassungsbestimmung von vornherein als nicht notwendig erscheint.

Der Initiativtext ist nicht hinreichend in das verfassungsrechtliche Normgefüge eingepasst. Die Konsequenzen einer Annahme der Initiative lassen sich zurzeit kaum verlässlich abschätzen. Ein grosses Problem bei der Initiative ist die Rechtsunsicherheit, die entsteht, weil viele sehr unterschiedliche Rechtsbereiche tangiert werden.

Schliesslich ist in Bezug auf die Forderung, dass keine Differenzierung nach Impfoder Immunstatus erfolgen darf, anzumerken, dass die Initiantinnen und Initianten soweit ersichtlich diese Differenzierung für Handlungen sowohl von Privaten als auch der öffentlichen Institutionen erfassen wollen. Die vorgeschlagene Verschärfung in Artikel 10 Absatz 2bis BV findet aber grundsätzlich nur auf staatliches Handeln Anwendung und vermag Differenzierungen nach Impf- oder Immunstatus im privaten Bereich nicht zu verbieten.

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4.4

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Der von der Volksinitiative vorgesehene Artikel 10 Absatz 2bis BV berührt die Schutzbereiche verschiedener durch internationale Menschenrechtsübereinkommen gewährleisteten Garantien, so beispielsweise das Recht auf Leben (Art. 2 der Konvention vom 4. November 195044 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [EMRK]; Art. 6 des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 196645 über bürgerliche und politische Rechte [UNO-Pakt II]), das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 4 EMRK; Art. 8 UNO-Pakt II), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK; Art. 9 UNO-Pakt II), das Folterverbot (Art. 3 EMRK; Art. 7 UNO-Pakt II), das Recht, sich frei zu bewegen und den Wohnsitz frei zu wählen (Art. 12 UNOPakt II) oder auch das Verbot unrechtmässiger Ausweisungen (Art. 13 UNO-Pakt II).

Betroffen sind auch das Übereinkommen vom 20. November 198946 über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention), welches namentlich in Artikel 3 Absatz 1 gewährleistet, dass bei allen von öffentlichen oder privaten Einrichtungen getroffenen Massnahmen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu beachten ist, sowie das Übereinkommen vom 13. Dezember 199647 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Letztere verlangt in Artikel 3 Buchstabe a «die Achtung der [...] individuellen Autonomie, einschliesslich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen». In diesen Fällen ist die Initiative kaum problematisch, denn ihrer Stossrichtung nach geht sie über die dort geschützten Individualrechte hinaus, indem sie das Zustimmungserfordernis der einzelnen Person ins Zentrum stellt. Die zulässigen Einschränkungen der Garantien in der EMRK und im UNO-Pakt II knüpfen nicht an die Zustimmung der betroffenen Person an, sondern an das öffentliche Interesse oder an den Schutz von Rechten Dritter. Zulässig sind namentlich Einschränkungen, die auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und in einer demokratischen Gesellschaft für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, den Schutz der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit und Sittlichkeit oder die Wahrung der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind (vgl. z.B. Art. 9 und 10 EMRK). In Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a­ f EMRK werden zahlreiche Fälle aufgeführt, bei denen ein Freiheitsentzug ohne Zustimmung der betroffenen Person rechtmässig ist: so nach der
Verurteilung durch ein zuständiges Gericht, bei Festnahmen zur Untersuchung mutmasslich begangener Straftaten, zum Zweck der überwachten Erziehung Minderjähriger, zur Verhinderung unerlaubter Einreisen oder bei Auslieferungs- und Ausweisungsverfahren. In diesen Fällen belassen die EMRK und der UNO-Pakt II dem Staat tendenziell grössere Spielräume als die Initiative.

Alle zuvor genannten Massnahmen können ohne die Zustimmung der davon betroffenen Person ergriffen werden. Eine Unvereinbarkeit des von der Volksinitiative vorgesehenen Artikels 10 Absatz 2bis BV mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz ist dennoch nicht anzunehmen. Denn die Volksinitiative ist, wie zuvor ausführlich erläutert wurde, nicht losgelöst von anderen, zentralen Verfassungsbestimmungen zu interpretieren, denen auch die von der Schweiz eingegangenen inter44 45 46 47

SR 0.101, in Kraft getreten für die Schweiz am 28. November 1974.

SR 0.103.2, in Kraft getreten für die Schweiz seit am 18. September 1992.

SR 0.107, in Kraft getreten für die Schweiz am 26. März 1997.

SR 0.109, in Kraft getreten für die Schweiz am 15. Mai 2014.

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nationalen Verpflichtungen entsprechen. Nicht überall, wo die Initiative für die Schweiz verbindliche Verpflichtungen in internationalen Übereinkommen thematisch berührt, gibt es materielles Kollisionspotenzial. Dort, wo ein solches vorhanden ist, kann es nach der Ansicht des Bundesrates entschärft werden, indem die Schweiz bei der Umsetzung internationaler Verpflichtungen die individuellen Interessen betroffener Personen etwas stärker gewichtet.

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Schlussfolgerungen

Der Bundesrat anerkennt, dass medizinische Eingriffe wie eine Impfung einer Einwilligung bedürfen. Allerdings hätte die Annahme der Initiative unerwünschte Folgen weit über das Thema der Impfungen und des Gesundheitswesens hinaus. Die Initiative ist zudem ungenügend in das verfassungsrechtliche Normgefüge eingepasst, was zur Folge hätte, dass bei einer Annahme der neuen Bestimmung viele Rechtsunsicherheiten bestünden.

Der Bundesrat ist daher der Auffassung, dass die Initiative, die sehr weitreichende Auswirkungen auf die Einschränkung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit in zentralen Bereichen des staatlichen Handelns hat, zu weit geht. Mit Bezug auf das Impfobligatorium hat sich das Volk bereits in der Volksabstimmung vom 22. September 201348 im Rahmen des Referendums zum EpG klar für die geltende Möglichkeit eines auf bestimmte Personengruppen beschränktem Impfobligatoriums ausgesprochen und somit bestätigt, dass dieses Instrument für die Bekämpfung zukünftiger Epidemien zur Verfügung stehen soll. Der Bundesrat erachtet es auch als angemessen ­ wie dies auch vom Volk bestätigt wurde ­, dass im Kontext der Pandemiebekämpfung Personen ohne Impf- oder Immunnachweis gewisse Einschränkungen der Teilnahme am öffentlichen Leben erfahren können.

Der Bundesrat lehnt die Initiative deshalb ab und ist der Ansicht, dass weder ein direkter Gegenentwurf noch ein indirekter Gegenvorschlag erforderlich sind. Wie bereits dargelegt erlauben die bestehenden rechtlichen Grundlagen eine Einführung eines Impfobligatoriums, jedoch nur unter restriktiven Voraussetzungen und als UltimaRatio-Massnahme. Es ist auch festzuhalten, dass die Differenzierung nach Impf- oder Immunstatus eine zielführende Massnahme in der Pandemiebekämpfung war und einen weniger weitgehenden Grundrechtseingriff darstellt, als dies bei Schliessungen von Einrichtungen der Fall wäre.

Der Bundesrat erachtet es derzeit für zielführend, hinsichtlich der gesetzlichen Regelung des Impfobligatoriums auf die anstehende Revision des EpG zu verweisen. Die entsprechenden Arbeiten wurden aufgenommen und ein breiter Einbezug der Akteure erfolgte und erfolgt bereits vor der Vernehmlassung, welche zurzeit für das letzte Quartal 2023 geplant ist. Allfällige Einwände an der aktuell geltenden Regelung, nicht nur hinsichtlich des Impfobligatoriums aber
auch beispielsweise der Zertifikatspflicht, werden in diesem Rahmen entgegengenommen. Sodann wird sich auch das Parlament in der parlamentarischen Beratung der Revision intensiv mit diesen Fragen auseinandersetzen können.

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Der Bundesrat beantragt den eidgenössischen Räten daher, die Volksinitiative Volk und Ständen zur Abstimmung vorzulegen und sie ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen.

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