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zu 22.431 Parlamentarische Initiative Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversorgung Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 29. November 2022 Stellungnahme des Bundesrates vom 25. Januar 2023

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 29. November 20221 betreffend die parlamentarische Initiative 22.431 «Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversorgung» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

25. Januar 2023

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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2023-0222

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Im Frühling 2018 hat der Bundesrat dem Parlament einen Entwurf zur Änderung des Bundesgesetzes vom 18. März 19942 über die Krankenversicherung (KVG) (Zulassung von Leistungserbringern) unterbreitet.3 Mit der Vorlage sollten die Anforderungen an die zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) tätigen Leistungserbringer erhöht und dadurch die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der von ihnen erbrachten Leistungen gesteigert werden.

Als eine weitere mögliche Zulassungsvoraussetzung sah der Bundesrat in Artikel 37 Absatz 1 E-KVG vor, dass Ärztinnen und Ärzte den Nachweis der für die Qualität der Leistungserbringung notwendigen Kenntnisse des schweizerischen Gesundheitssystems erbringen müssen. Der Bundesrat hätte diesbezüglich ein Prüfungsverfahren festlegen können. Die Prüfung wäre in der Amtssprache der Region erfolgt, für die die Zulassung beantragt wird. Leistungserbringer, die mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben, wären von der Prüfung dispensiert gewesen. Eine gleiche Ausnahmebestimmung betreffend die dreijährige Tätigkeit bestand bereits im alten Recht in Artikel 55a4, wonach für die Zulassung zulasten der OKP kein Bedürfnisnachweis erforderlich war für Personen, die mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben.

Während der Bundesrat in seinem Entwurf eine Ausnahmebestimmung für die Pflicht zum Nachweis der Kenntnisse des schweizerischen Gesundheitssystems vorsah, bestand eine solche im alten Recht einzig für den Bedürfnisnachweis nach Artikel 55a KVG betreffend Zulassung zulasten der OKP. Dieser Bedürfnisnachweis konnte zudem ausgesetzt werden, wenn die Kantone in einem bestimmten medizinischen Fachgebiet eine Unterversorgung feststellten und damit die Regelung von Artikel 55a KVG nicht zur Anwendung brachten (Art. 4 der Verordnung vom 3. Juli 20135 über die Einschränkung der Zulassung von Leistungserbringern zur Tätigkeit zulasten der OKP, in Kraft bis zum 30. Juni 2021).

Der Entwurf des Bundesrates betreffend die besonderen Zulassungsvoraussetzungen für Ärztinnen und Ärzte in Artikel 37 E-KVG wurde im Verlauf der parlamentarischen Beratung angepasst und am 19. Juni 20206 verabschiedet. Aus der oben erwähnten Ausnahmebestimmung wurde eine Grundsatzbestimmung,
wonach Ärztinnen und Ärzte mindestens drei Jahre im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben müssen (Art. 37 Abs. 1 KVG). Sie müssen zudem die in ihrer Tätigkeitsregion notwendige Sprachkompetenz mittels einer in der Schweiz abgelegten Sprachprüfung nachweisen. Diese Nachweispflicht 2 3 4 5 6

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SR 832.10 BBl 2018 3169 AS 2019 1211 AS 2013 2255 AS 2021 413

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entfällt für Ärztinnen und Ärzte, die über bestimmte Abschlüsse (z. B. schweizerische Maturität) in der Amtssprache der jeweiligen Tätigkeitsregion verfügen. Begründet wurde die Formulierung in Artikel 37 Absatz 1 KVG unter anderem damit, dass sich sämtliche Ärztinnen und Ärzte mit dem schweizerischen Gesundheitssystem vertraut machen müssen und die jeweilige Sprache im Tätigkeitsgebiet gut beherrschen müssen, damit im Interesse der Patientensicherheit eine Arbeit von hoher Qualität garantiert werden kann.

Die neuen Zulassungsregeln für die Ärztinnen und Ärzte und die weiteren Leistungserbringer im ambulanten Bereich sind seit dem 1. Januar 2022 in Kraft. Zudem ist seit dem 1. Juli 2021 der geänderte Artikel 55a KVG in Kraft, wonach die Kantone in einem oder mehreren medizinischen Fachgebieten oder in bestimmten Regionen die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte, die im ambulanten Bereich zulasten der OKP tätig sind, beschränken können. Die Verordnung vom 23. Juni 20217 über die Festlegung der Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich sieht diesbezüglich vor, dass die von den Kantonen festgelegten Höchstzahlen auf der Ermittlung des Angebots an Ärztinnen und Ärzten und der Herleitung eines Versorgungsgrads nach Region und Fachgebiet beruhen. Die Kantone können für die Festlegung der Höchstzahlen einen Gewichtungsfaktor vorsehen. Für die Festlegung der regionalen Versorgungsgrade ist das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) zuständig, für die beiden anderen Grössen sind es die Kantone. Die Verordnung des EDI vom 28. November 20228 über die Festlegung der regionalen Versorgungsgrade je medizinisches Fachgebiet im ambulanten Bereich ist am 1. Januar 2023 in Kraft getreten.

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Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Generelle Würdigung der parlamentarischen Initiative

Mit der Änderung von Artikel 37 Absatz 1 KVG wurden die Zulassungsvoraussetzungen für die Ärztinnen und Ärzte erhöht. Unabhängig von einer allfälligen Zulassungsbeschränkung nach Artikel 55a KVG ist es Ärztinnen und Ärzten aus dem Ausland trotz eines anerkannten Facharzttitels im ambulanten Bereich nicht mehr möglich, direkt und sofort zulasten der OKP tätig zu werden, weder über eine selbstständige Tätigkeit noch über eine Tätigkeit in einer Einrichtung, die der ambulanten Krankenpflege durch Ärztinnen und Ärzte dient. Sie müssen zuerst mindestens drei Jahre im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben.

Nach dem Inkrafttreten dieser Regelung am 1. Januar 2022 äusserten die Kantone die Befürchtung, dass dadurch in einzelnen Regionen und medizinischen Fachgebieten die Versorgung gefährdet sein könnte. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) hat das Anliegen der Kantone aufgenommen und schlägt mit ihrem Entwurf zur Änderung von Artikel 37 KVG für eine befristete Zeit eine Ausnahmeregelung vor. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die 7 8

SR 832.107 SR 832.107.1

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Zulassungsbedingungen für die Ärztinnen und Ärzte für eine beschränkte Geltungsdauer aufgrund möglicher Unterversorgungssituationen in bestimmten medizinischen Fachgebieten und Regionen geändert werden sollen. Ob solche Unterversorgungen in einzelnen Regionen und medizinischen Fachgebieten aufgrund der Vorgaben in Artikel 37 Absatz 1 KVG tatsächlich bestehen, kann der Bundesrat nicht abschliessend beurteilen, da ihm keine genauen Daten dazu vorliegen.

Die SGK-N weist in ihrem Bericht darauf hin, dass sich die Kantone, um eine allfällige Unterversorgung nachweisen zu können, auf ein Bündel von Indikatoren abstützen können und sich dabei unter anderem an den Bestimmungen zur Umsetzung der Zulassungsbeschränkung nach Artikel 55a KVG orientieren können, namentlich an der Verordnung vom 23. Juni 20219 über die Festlegung der Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzten im ambulanten Bereich und der darauf beruhenden Verordnung des EDI vom 28. November 202210 über die Festlegung der regionalen Versorgungsgrade je medizinisches Fachgebiet im ambulanten Bereich. Aus einem Versorgungsgrad von unter 100 Prozent kann indessen nicht direkt geschlossen werden, dass eine Unterversorgung vorliegt. Der Hauptgrund dafür ist, dass das Modell zur Festlegung der Versorgungsgrade aus methodischen Gründen auf der impliziten Annahme beruhen muss, dass das Versorgungsangebot auf nationaler Ebene genau dem Bedarf entspricht; davon kann aber nicht für alle Fachgebiete ausgegangen werden. Somit muss die konkrete Versorgungssituation in einem Fachgebiet und in einer Region abschliessend von den Kantonen beurteilt werden. Diese müssen neben den vom EDI festgelegten Versorgungsgraden auch das Angebot an Ärztinnen und Ärzten aufgrund von deren Arbeitszeit in Vollzeitäquivalenten ermitteln und können einen Gewichtungsfaktor vorsehen.

Der geänderte Artikel 55a KVG bietet den Kantonen die Möglichkeit, für bestimmte medizinische Fachgebiete oder Regionen Höchstzahlen festzulegen. Sie können daher auch beschliessen, für ein Fachgebiet mit Versorgungsknappheit keine Höchstzahl festzulegen. Zudem kann eine Unterversorgung in einem bestimmten Fachgebiet oder in einer Region über Zulassungsbeschränkungen für andere Fachgebiete oder Regionen, in denen ein grosses Versorgungsangebot besteht, indirekt gesteuert werden. Der Bundesrat begrüsst es
daher, dass die vorgesehene Gesetzesänderung befristet sein soll. Denn es ist zu erwarten, dass das in Artikel 55a KVG vorgesehene System der Höchstzahlen für bestimmte medizinische Fachgebiete und Regionen zu einer besseren Verteilung der Ärztinnen und Ärzte führen wird.

2.2

Ausnahmebestimmung für bestimmte medizinische Fachgebiete

Die SGK-N sieht vor, dass die Ausnahmebestimmung im Zusammenhang mit der Pflicht zum Nachweis einer dreijährigen Tätigkeit im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte einzig für vier medizinische Fachgebiete gelten soll und befristet ist. Damit gewichtet die SGK-N das Interesse der 9 10

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Verhinderung einer Unterversorgung in bestimmten Regionen höher als die Sicherstellung der Qualität der Leistungserbringung in den von der Ausnahmeregelung betroffenen medizinischen Fachgebieten. Der Bundesrat unterstützt die Ausnahmebestimmung, da sie befristet ist und somit das Ziel, die Qualität der Leistungserbringung sicherzustellen, nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Der Entwurf der SGK-N sieht in Artikel 37 Absatz 1bis E-KVG zudem vor, dass neben den Personen mit eidgenössischen Weiterbildungstiteln in den oben erwähnten vier Fachgebieten auch Personen mit einem «als gleichwertig anerkannten ausländischen Weiterbildungstitel (Art. 21 MedBG)» von der Ausnahmebestimmung profitieren können sollen. Diese Ergänzung ist nicht notwendig: Die Gleichwertigkeit von ausländischen Weiterbildungstiteln mit eidgenössischen Weiterbildungstiteln muss nicht im KVG stehen, da sie in Artikel 21 Absatz 2 des Medizinalberufegesetzes vom 23. Juni 200611 bereits geregelt ist. Der Bundesrat verzichtet diesbezüglich jedoch auf einen expliziten Änderungsantrag.

2.3

Verhältnis zum europäischen Recht

Im Rahmen der Ausarbeitung der Botschaft vom 9. Mai 201812 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Zulassung von Leistungserbringern) wurden verschiedene Lösungen geprüft, mit denen das bisherige System der Zulassungsbeschränkung für Ärztinnen und Ärzte hätte ersetzt werden können. Der Bundesrat unterbreitete dem Parlament schliesslich einen Entwurf, den er als mit dem Abkommen vom 21. Juni 199913 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA) vereinbar erachtete. In der parlamentarischen Beratung wies der Vorsteher des EDI darauf hin, dass die vom Parlament geänderten Bestimmungen als nicht im Einklang mit dem FZA stehend betrachtet werden könnten. In Kenntnis dieser Bedenken beschloss das Parlament, die Vorlage in der seit dem 1. Januar 2022 geltenden Form zu verabschieden, im Interesse des gesamten Gesundheitssystems und um eine finanziell tragbare Versorgung von hoher Qualität zu gewährleisten.

Im Rahmen des Gemischten Ausschusses zum FZA machte die Europäische Union (EU) geltend, dass Artikel 37 KVG gegen das Nichtdiskriminierungsgebot gemäss Artikel 2 FZA und gegen Artikel 55 der Richtlinie 2005/36/EG14 (Anhang III FZA) verstösst. Die EU verlangt, dass die Konformität des KVG mit dem FZA mit Blick auf Artikel 37 KVG gewährleistet wird, bevor Anhang III des FZA revidiert werden kann. Die seit mehreren Jahren pendente Revision von Anhang III würde es der Schweiz ermöglichen, wichtige Entwicklungen des EU-Rechts zu übernehmen, wie beispielsweise die digitalisierte Verwaltungszusammenarbeit, elektronische Anerken11 12 13 14

SR 811.11 BBl 2018 3125 SR 0.142.112.681 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255 vom 30. September 2005, S. 22.

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nungsverfahren sowie ein Vorwarnmechanismus für Berufsausübungsverbote. Der grenzüberschreitende Vorwarnmechanismus zielt insbesondere darauf ab, die zuständigen Behörden in Echtzeit und auf elektronischem Weg über allfällige Berufsausübungsverbote zu informieren, die insbesondere gegen Gesundheitspersonal verhängt wurden.

Gemäss ihrem Bericht ist die SGK-N der Ansicht, dass das Ziel einer Versorgung von hoher Qualität während einer beschränkten Dauer für bestimmte medizinische Fachgebiete eingeschränkt werden soll und die Verhinderung einer allfälligen Unterversorgung in diesen Fachgebieten als wichtiger zu erachten ist. Für die Ärztinnen und Ärzten in den übrigen medizinischen Fachgebieten soll die Pflicht zum Nachweis der dreijährigen Tätigkeit jedoch bestehen bleiben. Zudem sollen die übrigen Zulassungsvoraussetzungen, wie der Nachweis genügender Sprachkenntnisse und die Pflicht, sich einer Gemeinschaft oder Stammgemeinschaft nach dem Bundesgesetz vom 19. Juni 201515 über das elektronische Patientendossier anzuschliessen, für sämtliche Ärztinnen und Ärzte nach wie vor gelten. Damit unterstreicht die SGK-N, dass Artikel 37 KVG mit den Zulassungsvoraussetzungen, die von der EU als zumindest teilweise FZA-widrig betrachtet werden, für die Ärztinnen und Ärzte grundsätzlich Bestand haben soll. Eine wie von der EU geforderte FZA-konforme Regelung in Artikel 37 KVG würde bedingen, dass dessen Regelungsinhalt ganz grundsätzlich überdacht wird. Unabhängig davon, wie die rechtliche Analyse der Situation ausfällt, fordert der Bundesrat die eidgenössischen Räte auf, über eine Anpassung der entsprechenden Bestimmung nachzudenken. Eine Neufassung von Artikel 37 KVG mit dem Ziel, die Anliegen der EU aufzunehmen, würde die Möglichkeit schaffen, eine Änderung von Anhang III FZA zu erwirken, die den Zugang der Schweiz zum europäischen Vorwarnmechanismus zu Berufsausübungsverboten im Bereich der Gesundheitsberufe und der Betreuung von Minderjährigen öffnen würde.

3

Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt, dem Entwurf der SGK-N zuzustimmen. Gleichzeitig macht er die Bundesversammlung ausdrücklich auf die Zusammenhänge mit dem europäischen Recht aufmerksam. Den Antrag der Minderheit zu Artikel 37 Absatz 1bis Buchstabe d lehnt er ab.

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SR 816.1