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Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend den Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und Grossbritannien.

(Vom 22. Mai 1874.)

Tit.!

Schon seit längerer Zeit hat sich das Bedürfniß zum Abschluß eines Auslieferungsvertrages mit Großbritannien immer dringender geltend gemacht, weil dieser Staat ohne einen solchen Vertrag jedes Auslieferungsgesuch von der Hand gewiesen hat. Es war aber bis in die jüngste Zeit wegen der Auffassung, welche in England mit dem Begriff des Asylrechtes verbunden war, nicht möglich, mit der britischen Regierung Auslieferungsverträge von Werth abzuschließen.

Es bestunden zwar solche Konventionen. So hat im Jahr1843Ì Frankreich mit England eine Konvention abgeschlossen, die, sich nur auf wenige Verbrechen ausdehnte ; aber da von den englischen Magistratspersonen bezüglich des Beweises in jedem Falle sehr rigorose Forderungen gestellt wurden, so konnte Frankreich vom Jahr 1843-- 1865 nicht eine einzige Auslieferung eines flüchtigen Verbrechers erhalten. Im Jahr 1865 kündete Frankreich den Vertrag; er blieb aber in Folge Verlängerung doch in Kraft. Im Jahr 1866 erließ das englische Parlament eine Bill, durch welche das BeweisverBundesblatt. Jahrg. XXVI. Bd. 1.

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fahren in etwas gemildert wurde, was zur Folge hatte, daß wirklich einige Auslieferungen an Frankreich- bewilligt wurden.

Im Jahr 1870 erließ das englische Parlament eine Akte betreuend die Abänderung des Gesezes über die Auslieferung von Verbrechern, welche eigentlich erst die Möglichkeit zu solchen Verträgen gewährte. Mit Schreiben vom 20. September 1870 theiltc die englische Gesandtschaft in Bern diese Parlamentsakte dem Bundesrathe mit, in Begleit der Erklärung, daß die Regierung Ihrer Majestät innerhalb den Einschränkungen und den Bestimmungen dieser Akte bereit sei, mit andern Staaten und auch mit der schweizerischen Eidgenossenschaft eine solche Uebereinkunft abzuschließen.

Der Bundesrath erklärte sich geneigt, auf Unterhandlungen einzutreten und ernannte zu diesem Zwecke, den Vorsteher des Justizund Polizeidepartements, Hrn. Bundesrath Knüsel, zu seinem Bevollmächtigten.

Mit Note vom 26. April 1871 übermittelte der englische Gesandte den Entwurf eines Auslieferungsvertrages, der im Wesentlichen gleichlautend ist mit den Verträgen, welche Großbritannien seither mit dem Deutchen Bunde, mit Belgien und mit Schweden und Norwegen abgeschlossen hat.

Alle diese Verträge, und auch der vorliegende, halten sich innerhalb der Grenzen des britischen Auslieferungsgesezes, was zur Folge hat, daß das Auslieferungsverfahren viel komplizirter, und schwieriger ist als be.i den Verträgen, welche die Kontincntalstaaten vielfach unter sich abgeschlossen haben. Das läßt sich nun aber einmal nicht ändern, und es konnte sich nur darum handeln, die diesseitigen Interessen nach allen Richtungen hin möglichst zu wahren. Wir glauben, es sei dieses geschehen, so daß das Abkommen einem in der Schweiz seit längerer Zeit empfundenen Bedurfnisse möglichst entspricht.

Bevor wir unsere Bemerkungen über einzelne Artikel des Vertrages anfügen, müssen wir uns erlauben, über den Gang der Vertragsunterhandlungen einiges mitzutheilea.

Die mißbeliebigen Erfahrungen, welche die Schweiz bezüglich des Auslieferungsvertrages mit Nordamerika gemacht hat, und die ungünstigen Berichte, welche unser Minister in Paris über den französisch-englischen Vertrag eingesandt hatte, geboten eine gewisse Vorsicht.

Unser Bevollmächtigte hielt es daher für angezeigt, den Abschluß der mit andern Staaten in Unterhandlung "o sich befindlichen Verträge abzuwarten. Nachdem im Jahr 1872 die Verträge 'o^- mit Deutschland und Belgien wirklich zum Abschluß gelaugt waren, wurden dem Herrn

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Generalkonsul in London diese beiden Verträge, nebst andern Aktenstüken übermittelt und derselbe vom Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements ersucht, dieselben zu prüfen und seine Bemerkungen darüber zu machen.

Mit Schreiben vom 9. Oktober 1872 erwiderte der Herr Generalkonsul, daß der zwischen der britischen und deutschen Regierung abgeschlossene Vertrag am meisten den Erfordernissen der Schweiz entpreche; er scheine klar, bündig und mit genauer Sachkenntniß des englischen Justizverfahrens und der zu vermeidenden Hindernisse und Schwierigkeiten abgefaßt zu sein u. s. w. Die hierauf mit dem englischen Gesandten wesentlich auf Grundlage des englisch-deutschen Vertrages begonnenen Unterhandlungen führten nach verhältnißmäßig kurzer Zeit zu einem ersten Entwurf, wie er den Akten beigelegt ist.

Schweizerischerseits wurde dem Wunsche des Herrn Generalkonsuls entsprechend dieser Entwurf neuerdings nach London geschikt und durch den beigezogenen englischen Rechtskonsulcnten in Verbindung mit dem Herrn Generalkonsul einer genauen Prüfung unterworfen, und zwar namentlich mit Rüksicht auf diejenigen Punkte, welche etwa der englischen Gesezgebung zuwiderlaufen, oder in der Praxis zu falscher Auslegung oder zu Schwierigkeiten Anlaß bieten könnten. Andererseits gab der englische Gesandte auch seinem Ministerium von dem vorläufigen Uebereinkommen Kenntniß und erwartete weitere Instruktionen, welche aber erst nach ungefähr einem Jahr eintrafen. Nach englischen Gesezen kann ein Auslieferungsbegehren nur durch einen diplomatischen Agenten bei dem Staatssekretär der auswärtigen Angelegenheiten gestellt werden. Da die Schweiz in London nur einen Generalkonsul, aber keinen Gesandten akkreditirt hat, so mußte dieses Hindcrniß zuerst in einem neuen Parlamentsakte gehoben werden.

Jezt konnten die Unterhandlungen wieder aufgenommen werden, wobei diejenigen Aussezungen, welche das englische Ministerium an dem Entwurfe zu machen sich veranlaßt fand, in Betracht gezogen wurden, sowie andererseits die Bemerkungen und Wünsche unseres Hrn. Genes alkonsuls, soweit sie nach der englischen Gesezgobung berüksichtigt werden konnten.

Ueber einzelne Artikel des schließlich zu Stande gekommenen Vertrags können wir Folgendes bemerken : Der Artikel 2 zählt die Verbrechen auf, wegen welchen die Auslieferung stattfinden soll.
Diese Aufzählung weicht wenig von andern Verträgen ab.

Am meisten bot der Umstand Schwierigkeiten, daß die Terminologie des englischen Strafrechts oft mit der Bezeichnung eines Ver-

970 brecliens einen andern Begriff verbindet als wir, weßwegen darauf Bedacht genommen werden mußte, daß beide Texte in gehörige Uebereinstimmung gebracht werden.

In England wird der Versuch nur beim Morde bestraft, bei andern Verbrechen nicht, daher die Einschränkung im Artikel 2.

Der Art. 3 enthält die gewöhnliche Bestimmung, daß kein Staat seine eigenen Angehörigen ausliefert. Der Herr Generalkonsul macht liier mit Recht auf einen Umstand aufmerksam, der seine Nachtheile hat. Wenn nämlich ein Engländer in der Schweiz ein Verbrechen begeht, und es gelingt ihm, in sein Heimatland zu entkommen, so ist er straflos, weil nach der englischen Gesezgebung kein britischer Unterthan für außer Landes verübte Verbrechen belangt werden kann. Andere Staaten liefern zwar ihre eigenen Angehörigen auch nicht aus, bestrafen sie aber auf erfolgte Anzeige nach der eigenen Gesezgebung. Dieses ist in England nicht der Fall; es bleibt dem Beschädigten nur übrig, auf anderm Wege Schadloshaltung zu suchen.

Art. 9 besagt, daß das Auslieferangsbegehren nicht auf ein Kontumazurtheil gestüzt werden könne. Diese Bestimmung, welche mit den englischen Ansichten und der dortigen Gesezgebung übereinstimmt, findet sich in allea Auslieferungsverträgen, welche England mit andern Staaten abschließt.

Der Art. 10 ist ursprünglich in Uebereinstimmung mit den Vorschriften der Parlamentsakte vom 9. August 1870 von englischer Seite vorgeschlagen ,,(vide Artikel II des ersten englischen Entwurfes) und auch in weitläufiger Weise in dem englischbelgischen Vertrage aufgenommen worden. Später glaubte das äußere Amt in London, es wäre besser, solche Bestimmungen, welche sich auf das Procedere beziehen, auszumerzen und jedem Lande die Freiheit zu lassen, in Auslieferungsfällen seine eigene Praxis und seine eigene Prozedur zu beobachten. Wir glaubten jedoch, an der Aufnahme in verkürzter Form festhalten zu sollen, indem dadurch immerhin die provisorische Verhaftung, wenn auch in sehr beschränkter Weise, als zuläßig erklärt wird. Ferner wird zugestanden, daß solche Requisitionen auf Verhaftung durch die Post oder durch den Telegraphen gemacht werden können. Welchen Werth diese leztere Zusage hat, muß sich in den einzelnen Fällen zeigen ; eine von uns vorgeschlagene Redaktion erhielt die jenseitige Zustimmung nicht. Lord Granville äußert1 sich
darüber in einer Zusch ift au den englischen Bevollmächtigten folgendermaßen : ,,Sie sind reauftragt, der schweizerischen Regierung das Bedauern der RegieKing Ihrer Majestät auszusprechen, daß unsere Geseze ihr n'cht r erlauben, zu einer Bestimmung ihre Einwilligung zu geben,

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wodurch die Berechtigung zur Verhaftung auf Telegramm stipulirt würde, wie im Art. X. des schweizerischen Vertragsentwurfes vorgeschlagen wurde. Ein Gesuch mag zwar durch den Telegraphen befördert werden; gemäß der Gesezgebung dieses Landes kann aber kein Befehl zum Verhaft eines flüchtigen Verbrechers auf Grund eines Beweises, der durch solche Mittel geleistet wird, erlassen werden, und in Folge dessen könnte die Regierung in keinen Vertrag eintreten, der eine entgegenstehende Bestimmung enthalten würde." Wir haben indessen Grund, anzunehmen, daß wenn auch eine bestimmte Zusicherung nicht in den Vertrag gebracht werden konnte, einem solchen telegraphischen.Verlangen- auf vorläufige Verhaftung immerhin eine gewisse Bedeutung zukommen wird, z. B.

Ueberwachung des Verbrechers, Verhinderung der Flucht, oder ähnliche Maßregeln.

Ein gewisses Gewicht auf die Beibehaltung dieses Artikels legten wir auch deßwegen, weil bei unsern Behörden vielfach noch die Meinung obwaltet, ein direktes Telegramm um Verhaftung eines Flüchtigen an den Generalkonsul in London genüge, um sofort die Verhaftung zu erwirken. Sie mögen sich nun selbst überzeugen, daß hiezu etwas mehr nothwendig ist, wie auch, daß zur wirklichen Auslieferung ein schriftliches Begehren mit der bloßen Angabe, es sei Jemand eines bestimmten Verbrechens angeklagt und verdächtig, nicht genügt.

Der Art. 12 enthält eine wesentliche Errungenschaft; er sichert den Zeugenaussagen, Haftbefehlen und Urtheilen der schweizerischen Behörden volle Beweiskraft in England.

O Die übrigen nicht genannten Artikel bedürfen keiner nähern Erörterung.

Nach diesen Auseinandersezungen gibt sich der Bundesrath die.

Ehre, der hohen Bundesversammlung nachstehenden Beschlussesentwurf zur Genehmigung zu unterbreiten, und benuzt diesen Anlaß zur erneuerten Versicherung seiner vollkommensten Hochachtung.

B e r n , den 22. Mai 1874.

Im Namen des Schweiz, Bundesrathes, der 15u n d e s p r ä s i d e n t :

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Schiess.

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Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend den Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und Grossbritannien. (Vom 22. Mai 1874.)

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