05.025 Botschaft zum Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung vom 16. Februar 2005

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen einen Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung mit dem Antrag auf Zustimmung.

Gleichzeitig beantragen wir, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2003

P

02.3626

Transparenz und Kohärenz zwischen den verschiedenen Leistungen der Sozialversicherungen und dem KVG (N 20.6.03, Loepfe)

2003

P

02.3645

Bericht zu einem dual-fixen Modell (N 8.12.03, Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit NR 00.079)

2004

M

03.3597

Neuordnung der Pflegefinanzierung (N 8.12.03, S 3.6.04, Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit NR 00.079)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

16. Februar 2005

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Samuel Schmid Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2004-2199

2033

Übersicht Mit dem Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG), welches am 1. Januar 1996 in Kraft getreten ist, hat der Bereich der Pflege wesentliche sozialpolitisch erforderliche Erweiterungen erfahren: Im Gegensatz zu den oftmals geringen Pflegebeiträgen des alten Rechts vergütet die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Pflegemassnahmen, die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem Pflegeheim durchgeführt werden. Damit ist auch der Kreis der Leistungserbringer geöffnet worden: Waren es unter dem alten Recht lediglich auf eigene Rechnung tätige Krankenschwestern und -pfleger, so sind nun auch Pflegeheime und Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause als Leistungserbringer anerkannt.

Die vor Erlass des KVG geschätzten Mehrkosten für diese Leistungsausweitung wurden im Jahre 1999 erstmals überschritten und die Kosten steigen tendenziell weiter, auch wenn eine Abflachung des Kostenanstiegs und eine Annäherung an die durchschnittliche Kostenentwicklung in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung festzustellen ist. Für einen zunehmenden Anstieg der Pflegekosten spricht auch die demografische, medizinische und gesellschaftliche Entwicklung, die einen wachsenden Bedarf an Pflegeleistungen erwarten lässt.

Um diese finanzielle Entwicklung im Pflegebereich besser in den Griff zu bekommen, wurden im Jahre 1998 auf Verordnungsebene Rahmentarife eingeführt. Die Rahmentarife sind als zeitlich befristete Massnahme eingeführt worden und können keine mittel- bis langfristig taugliche Lösung darstellen. Die geltende Rahmentarifordnung ist daher durch eine Neugestaltung der Pflegefinanzierung ­ unter Einbezug der verschiedenen Sozialversicherungen und der weiteren Finanzierungsträger ­ zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat am 25. Februar 2004 im Rahmen seiner Reformplanung zur Krankenversicherung denn auch entschieden, bis Ende 2004 eine Botschaft zur Neuordnung der Pflegefinanzierung an das Parlament zu verabschieden.

Eine Neuordnung der Pflegefinanzierung hat sich dabei an zwei Reformzielen zu orientieren: Zum einen soll die sozialpolitisch schwierige Situation bestimmter Gruppen pflegebedürftiger Personen entschärft werden, zum anderen geht es darum, die Krankenversicherung, welche im geltenden System zunehmend altersbedingte
Pflegeleistungen übernimmt, finanziell nicht zusätzlich zu belasten. Mag im Pflegealltag die Unterscheidung zwischen krankheits- und altersbedingter Pflege kaum zu treffen sein, so ist dennoch nicht zu verkennen, dass das Alter das Pflegerisiko eindeutig erhöht. Im historisch gewachsenen, kausal, d.h. nach Risiken strukturierten schweizerischen Sozialversicherungssystem sollte diese altersbedingte Mehrbelastung nicht unbegrenzt von der Krankenversicherung getragen werden.

Die vorliegende Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung greift diese Reformziele auf und schlägt ein Modell zur Finanzierung der Pflegeleistungen in Abstimmung mit den verschiedenen Sozialversicherungen vor. Das vorgesehene Modell baut in der Krankenversicherung auf den bereits heute rechtlich verankerten Begriffen der Behandlungs- und Grundpflege auf. Grundidee

2034

des Modells ist, dass die Krankenversicherung die Kosten für jene medizinischen Massnahmen voll vergütet, welche ein therapeutisches oder palliatives Ziel zur Behandlung einer Krankheit verfolgen (Behandlungspflege), während an die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtete Grundpflege ein Beitrag entrichtet wird. Das vorgeschlagene Modell findet auf alle Versicherten bei Pflege zu Hause und im Heim Anwendung, nicht aber bei der stationären Pflege im Spital.

Es ist davon auszugehen, dass der Beitrag an die Grundpflege so festgelegt werden wird, dass die heutige Belastung der Krankenversicherung gemäss Rahmentarifordnung in etwa unverändert bleibt. Kurzfristig werden sich die Auswirkungen auf die pflegebedürftigen Personen daher in Grenzen halten, mittel- bis längerfristig ist aber bei einem unveränderten Grundpflegebeitrag zu erwarten, dass die Haushalte finanziell stärker belastet werden. Als zumindest teilweiser Ausgleich für die stärkere finanzielle Belastung der privaten Haushalte sind zwei begleitende sozialpolitische Massnahmen vorgesehen: Zum einen wird für Personen zu Hause eine Hilflosenentschädigung zur AHV für Hilflosigkeit leichten Grades eingeführt. Diese Entschädigung, die Mehrkosten von 20 Millionen Franken auslöst, soll ­ zusammen mit dem Beitrag der Krankenversicherung an die Grundpflege ­ für die Dritthilfe bei den täglichen Lebensverrichtungen verwendet werden. Zum anderen wird für Pflegebedürftige im Heim der heute geltende jährliche Höchstbetrag für den Anspruch auf Ergänzungsleistungen, welcher derzeit auf rund 30 000 Franken festgesetzt ist, aufgehoben. Diese Massnahme führt zu Mehraufwendungen von 236 Millionen Franken für den gesamten Ergänzungsleistungsbereich (158 Mio. Fr. für die Ergänzungsleistungen zur AHV, 78 Mio.

Fr. für die Ergänzungsleistungen zur IV).

Die Vorlage schlägt nicht nur Massnahmen auf der Finanzierungs-, sondern auch auf der Kostenseite vor (Prävention der Pflegebedürftigkeit, Verstärkung kostensteuernder Instrumente). Nicht zu verkennen ist allerdings, dass das Rationalisierungspotenzial im Pflegebereich geringer ist als in anderen Bereichen der sozialen Krankenversicherung.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Ausgangslage 1.1 Ist-Zustand der Pflege in der Schweiz 1.1.1 Alter und Pflege im gesellschaftlichen und sozialpolitischen Umfeld 1.1.2 Begriff und Gegenstand der Pflege 1.1.3 Die formelle Pflege und ihre rechtliche Regelung 1.1.3.1 Verfassungsrechtliche Rahmenordnung der Pflege 1.1.3.2 Primäre Pflegeleistungen der Sozialversicherungen 1.1.3.2.1 Heilbehandlungen 1.1.3.2.2 Hilfsmittel 1.1.3.2.3 Hilflosenentschädigungen 1.1.3.3 Subsidiäre Pflegeleistungen der übrigen Sozialleistungssysteme 1.1.3.3.1 Ergänzungsleistungen 1.1.3.3.2 Sozialhilfe 1.1.3.4 Koordinationsregeln 1.1.4 Informelle Pflege 1.1.5 Heutige Finanzierung der Pflege 1.1.5.1 Finanzierung auf der Makroebene 1.1.5.2 Finanzierung auf der Mikroebene 1.1.6 Exkurs: Abdeckung des Pflegerisikos in ausländischen Sozialsystemen 1.1.6.1 Ausländische Lösungsansätze im Überblick 1.1.6.2 Lösungsansätze ausgewählter Länder 1.2 Probleme und Herausforderungen im Pflegebereich 1.2.1 Das Leistungsniveau bei Pflegebedürftigkeit im Alter 1.2.2 Die mittel- und längerfristige Entwicklung der Pflegekosten 1.2.3 Starke finanzielle Belastung der Krankenversicherung 1.2.3.1 Belastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung 1.2.3.2 Verschiebung der Finanzierungsanteile 1.3 Vernehmlassungsverfahren 1.3.1 Grundzüge der Vernehmlassungsvorlage 1.3.2 Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens 1.3.2.1 Allgemein 1.3.2.2 Ergebnisse zu den wichtigsten Aspekten

2038 2038

2055 2055 2056 2057 2057 2058 2060 2060 2062 2062 2062 2064 2064 2064

2 Grundzüge der Vorlage 2.1 Grundidee des neuen Finanzierungsmodells 2.2 Definitionsfragen 2.2.1 Definition der Grund- und Behandlungspflege 2.2.2 Definition der Hilflosigkeit 2.3 Begleitmassnahmen 2.3.1 Kostendämpfende Begleitmassnahmen

2065 2065 2066 2066 2067 2067 2067

2036

2038 2039 2040 2040 2040 2041 2044 2046 2048 2048 2050 2051 2051 2053 2053 2054

2.3.1.1 Grundsätzliche Vorbemerkung zur Kostendämpfung im Pflegebereich 2067 2.3.1.2 Stärkung der Prävention 2068 2.3.1.3 Verstärkung kostensteuernder Instrumente 2071 2.3.2 Sozialpolitisch motivierte Begleitmassnahmen 2071 2.4 Nicht weiter verfolgte Revisionsansätze 2072 2.4.1 Pflegeversicherung 2072 2.4.2 Dual-fixe Finanzierung 2073 2.4.3 Modell der Leistungserbringer vom April 2004 2073 2.4.4 Beitragsmodell 2074 2.4.5 Ausdehnung der Anspruchs auf AHV-Betreuungsgutschriften 2075 2.4.6 Eidgenössische Erbschaftssteuer als ergänzende Finanzierungsquelle2076 2.5 Parlamentarische Vorstösse 2076 3 Erläuterungen der einzelnen Bestimmungen 3.1 Anpassungen in der Krankenversicherung 3.1.1 Anpassungen auf Gesetzesstufe 3.1.2 Ausblick: Anpassungen auf Verordnungsstufe 3.2 Anpassungen in der AHV 3.3 Anpassung der Ergänzungsleistungen

2077 2077 2077 2078 2079 2079

4 Auswirkungen 4.1 Finanzielle Auswirkungen 4.1.1 Allgemeine Bemerkungen 4.1.2 Finanzielle Auswirkungen auf die einzelnen Sozialwerke 4.1.3 Finanzielle Auswirkungen auf die öffentliche Hand 4.1.4 Finanzielle Auswirkungen auf die Haushalte bzw. die pflegebedürftigen Personen 4.2 Personelle Auswirkungen 4.3 Volkswirtschaftliche Auswirkungen

2079 2079 2079 2080 2081 2082 2082 2082

5 Verhältnis zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen

2083

6 Verhältnis zur Legislaturplanung

2085

7 Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungsmässigkeit 7.2 Verhältnis zum europäischen Recht 7.2.1 Das Recht der europäischen Gemeinschaft 7.2.2 Die Instrumente des Europarates 7.3 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 7.4 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

2085 2085 2085 2085 2085 2086 2086

Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung (Entwurf)

2095

2037

Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Ist-Zustand der Pflege in der Schweiz

1.1.1

Alter und Pflege im gesellschaftlichen und sozialpolitischen Umfeld

Noch nie in unserer Gesellschaft erreichten die Menschen im Durchschnitt ein so hohes Alter. Allein in den letzten 20 Jahren (1982 bis 2000) stieg die Lebenserwartung der Männer von 72,6 auf 76,9 Jahre und bei den Frauen von 79,3 auf 82,6 Jahre. Die Gründe für diese Entwicklung liegen im medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt: Höherer Lebensstandard, Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit, Verbesserung der Hygiene, Fortschritte in der präventiven und kurativen Medizin. In der öffentlichen Diskussion werden häufig die negativen Folgen dieser Entwicklung betont. Despektierlich ist von «Überalterung der Gesellschaft» und der «Altersfalle» die Rede, die Zunahme der Anzahl älterer Menschen wird als Bedrohung für die Finanzierung des Sozialstaates wahrgenommen. Alte Menschen werden mit Klischees wie konservativ, desorientiert, einsam, hilfsbedürftig und depressiv versehen. Diese Wahrnehmung entspricht dem traditionellen Defizit-Modell des Alters.

Es gibt eine ganz andere Optik: Die Gesellschaft wird nicht älter, sie bleibt länger jung. Die Menschen werden nämlich nicht nur älter, sie sind auch länger körperlich und geistig gesund. Die Situation und das Befinden älterer Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten laufend verbessert. Der frühere «Ruhestand» wird zunehmend zur ausgedehnten Lebensphase, die in hohem Mass gestaltbar ist und neue Lebenschancen bietet. Die Statistik bestätigt diese Tendenz: Zwischen 1981/82 und 1997/99 erhöhten sich die behinderungsfreien Lebensjahre bei Frauen um gut fünf Jahre, die Lebensjahre mit Behinderung gingen um zwei Jahre zurück. Bei den Männern erhöhten sich die behinderungsfreien Jahre in der gleichen Periode um mehr als vier Jahre, die behinderten Lebensjahre reduzierten sich um ein halbes Jahr.1 Für die Entwicklung des Pflegebedarfs ist diese Erkenntnis wichtig: Wenn ältere Menschen später hilfs- und pflegebedürftig werden, erhöht sich der Pflegebedarf langsamer, als dies aufgrund der demographischen Fortschreibung zu erwarten wäre.

Diese kommende «Gesellschaft des langen Lebens» hat auch Auswirkungen auf den Pflegebereich: Die Pflegebedürftigkeit, verstanden als dauernder, individueller Autonomieverlust in den alltäglichen Lebensverrichtungen, war lange Zeit ein Risiko, das durch Hilfeleistungen informeller Netzwerke (wie Familie,
Freunde oder Nachbarn) abgedeckt werden musste. Obwohl die Bedeutung dieser informellen Hilfe nach wie vor gross ist, ist die Pflegebedürftigkeit zunehmend als strukturelles Problem und unverschuldetes Lebensrisiko anerkannt worden, das grundsätzlich nicht individuell, sondern finanziell über kollektive Sicherungssysteme der sozialen Sicherheit gelöst werden muss. So sind mit dem Entstehen der ersten Systeme sozialer Sicherheit ab dem Ende des 19. Jahrhunderts sukzessive Sozialversiche1

François Höpflinger, Valérie Hugentobler, Pflegebedürftigkeit in der Schweiz, Bern 2003, S. 27.

2038

rungsleistungen für Situationen von Pflegeabhängigkeit eingeführt worden, die häufig mit dem Eintritt sozialversicherungsrechtlich geregelter Risiken ­ wie Alter, Invalidität, Krankheit oder Unfall ­ verbunden sind.

Dieses Zusammenspiel von formeller und informeller Hilfe wird gegenwärtig durch zwei Entwicklungen nachhaltig beeinflusst, die sich bereits seit einiger Zeit abzeichnen: Zum einen durch die demografische Entwicklung, die durch eine längere Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten geprägt ist, und die ­ mag auch das genaue Ausmass umstritten sein ­ annehmen lässt, dass mit dem Anteil älterer und betagter auch der Anteil pflegebedürftiger Menschen in der Gesellschaft steigen wird; diese Entwicklung gewinnt dadurch an Bedeutung, dass gleichzeitig mit den geringeren Kinderzahlen auch das Potenzial an informell pflegenden Personen schrumpfen wird. Zum anderen wirkt sich zunehmend ebenfalls der Wandel der Sozialstrukturen aus, in dem der Anteil der Einpersonen- und Kleinfamilienhaushalte, aber auch der Anteil der erwerbstätigen Frauen steigt, womit die informelle Hilfe tendenziell ab- und der Bedarf an institutioneller Pflege zunimmt. Dieser Wandel in den demografischen und sozialen Strukturen lässt es als Notwendigkeit erscheinen, das Gleichgewicht zwischen formeller und informeller Hilfe im Lichte dieser beiden Entwicklungen einer genaueren Prüfung zu unterziehen und allenfalls neu auszutarieren.

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklungen hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Jahr 2004 die Vorarbeiten für ein Projekt «Altern und Gesundheit» begonnen. Dies mit dem Ziel, bei den Diskussionen und Entscheiden zu gesundheitsrelevanten Themen für die ältere Bevölkerung eine aktive Rolle zu übernehmen. In einem ersten Schritt will das BAG mit externen Partnern (Bundesbehörden, Kantone, Fachkreise, Berufsverbände etc.) die zentralen Themen, die Handlungsschwerpunkte sowie die mögliche Aufgabenteilung unter den Partnern erarbeiten und klären. Ziel dieses Prozesses sollte es unter anderem sein, mit gezielter Prävention der Pflegebedürftigkeit sowie Anreizen für zweckmässige Strukturen in der Altersversorgung ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu fördern. Damit könnte einerseits ein Gewinn an Gesundheit und Lebensqualität der Betagten und
ihrer Angehörigen erreicht werden, andererseits würde das Wachstum der Pflegekosten gebremst und ein Beitrag zur langfristigen Sicherung der Pflegefinanzierung erbracht. Mit dem auf Anfang 2004 vollzogenen Transfer der Kranken- und Unfallversicherung vom Bundesamt für Sozialversicherung zum BAG wird es zudem erleichtert, gesundheitspolitische Themen ganzheitlich und «aus einer Hand» anzugehen.

1.1.2

Begriff und Gegenstand der Pflege

Pflege ist eine umfassende, ausgesprochen vielschichtige und mehrdimensionale Tätigkeit, die sich einer scharfen Definition weitgehend entzieht. Ausgehend von Ziel und Zweck der Pflege finden sich in der Literatur2 immerhin Definitionsansätze, die Pflege generell als menschliche Dienstleistung an einzelnen Menschen oder Gruppen im Spannungsfeld von Gesundheit und Krankheit umschreiben. Diese 2

Vgl. für einen Überblick den Bericht «Aufwertung der Pflegeberufe» des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie zum Postulat 02.3211 der Kommission des Ständerates für soziale Sicherheit und Gesundheit.

2039

Dienstleistung zielt darauf ab, mit den Mitteln der Pflege Gesundheit zu fördern, zu erhalten oder wiederherzustellen, Leiden zu lindern bzw. zu verhüten, mit wechselnden Gesundheitszuständen umgehen zu können oder ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Der Zweck der Dienstleistung ist es, Patienten und Patientinnen, deren Autonomie in ihren alltäglichen Lebensverrichtungen eingeschränkt ist, darin zu unterstützen, dass sie ihr Alltagsleben wieder aufnehmen, weiterführen, angepasst fortsetzen oder neu aufbauen können. Wie auch immer die Pflege aber umschrieben werden mag: Allen Definitionsansätzen gemein ist die starke Verknüpfung medizinischer, psychischer, sozialer und funktioneller Aspekte, der bei der Leistungserbringung im Einzelfall Rechnung getragen werden muss3.

1.1.3

Die formelle Pflege und ihre rechtliche Regelung

1.1.3.1

Verfassungsrechtliche Rahmenordnung der Pflege

Die geltende Bundesverfassung kennt nur eine Bestimmung, die ausdrücklich auf die Pflege bzw. Pflegebedürftigkeit Bezug nimmt: Gemäss dem in Artikel 41 Absatz 1 Buchstabe b BV4 verankerten Sozialziel setzen sich Bund und Kantone in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und Initiative dafür ein, dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält. Die mit der Pflegebedürftigkeit in der Regel einhergehende qualifizierte Schutzbedürftigkeit der betroffenen Personen erhöht die Bedeutung, die diesem Sozialziel, das als Handlungsmaxime des formellen Verfassungsrechts auch den Gesetzgeber bindet, zuzusprechen ist. Dies gilt auch für andere grundrechtliche Positionen, die eine besondere Nähe zur Pflegeproblematik aufweisen: Zu erwähnen sind namentlich der Grundsatz der Menschenwürde (Art. 7 BV), das durch die persönliche Freiheit geschützte Recht auf Selbstbestimmung (Art. 10 Abs. 2 BV) und das Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV), welches unter anderem gerade ältere oder behinderte und damit häufig auch pflegebedürftige Menschen vor qualifizierten, ausgrenzenden Ungleichbehandlungen schützt. Wie alle Grundrechte enthalten auch diese grundrechtlich geschützten Positionen eine programmatische Schicht, die der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verbindliche materielle Leitplanken setzt.

1.1.3.2

Primäre Pflegeleistungen der Sozialversicherungen

Als primäre Pflegeleistungen sind Geld-, Sach- oder Dienstleistungen zu verstehen, die bei Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit durch die Sozialversicherungen ausgerichtet werden. Im Vordergrund stehen drei Kategorien von Leistungen.

3

4

Vgl. hierzu die medizinisch-ethischen Richtlinien und Empfehlungen der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen, in: Schweizerische Ärztezeitung, 2004, 1452 ff., insbesondere Ziffer 2.1.

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 101.

2040

1.1.3.2.1

Heilbehandlungen

Der Heilbehandlungsanspruch, wie er in verschiedenen Sozialversicherungszweigen gewährt wird, umfasst immer Pflegeleistungen, die stationär oder ambulant erbracht werden können, sich insbesondere in den Anspruchsvoraussetzungen und im Leistungsumfang aber doch deutlich unterscheiden: ­

Krankenversicherung Die Krankenversicherung übernimmt nach Artikel 25 KVG5 die Kosten für Leistungen, die generell «der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen». Darunter fallen nach Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe a KVG auch Pflegemassnahmen, «die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem Pflegeheim durchgeführt werden». Mit dieser allgemeinen Leistungsdefinition knüpft die Krankenversicherung ­ zumindest theoretisch ­ an die krankheitsbedingte Pflegebedürftigkeit, unter Ausschluss der rein altersbedingten Pflegebedürftigkeit, an. Diese allgemeine Leistungsdefinition wird gesetzlich bzw. verordnungsrechtlich wie folgt näher präzisiert: ­ Leistungen im Spital oder Pflegeheim: Mit dem Inkrafttreten des KVG am 1. Januar 1996 wurden bei erforderlichen spitalstationären Behandlungen anstelle der nach altem Recht auf zwei Jahre beschränkten eine zeitlich unlimitierte Leistungspflicht eingeführt, die neben der medizinischen Behandlung auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung6 umfasst. Bei einem Aufenthalt im Pflegeheim, das erst mit dem KVG als Leistungserbringerkategorie anerkannt worden ist, übernimmt der Versicherer die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause (Art. 50 KVG). Da nur bestimmte, abschliessend aufgezählte Pflegeleistungen vergütet werden, wird bei der Pflege im Heim ­ innerhalb der verordnungsrechtlich definierten Rahmentarife ­ ausschliesslich die Pflegetaxe, nicht aber die Taxe für Unterkunft und Verpflegung vergütet. Auch die Kosten für die Betreuung werden nicht erstattet.

­ Ambulante Leistungen ausserhalb stationärer Strukturen (Spitex): Das KVG hat auch eine Leistungsausweitung im Bereich der spitalexternen Krankenpflege gebracht, deren Leistungsumfang in der KLV7 abschliessend definiert wird: Zum Pflichtleistungsbereich gehört ­ neben den Massnahmen der Abklärung des Pflegebedarfs und der Beratung bei der Durchführung der Pflege (Art. 7 Abs. 2 Bst. a KLV) ­ die Behandlungspflege, welche die medizinischen Hilfeleistungen mit diagnostischer oder therapeutischer Zielsetzung umfasst (Art. 7 Abs. 2 Bst. b KLV). Unter der Grundpflege sind Leistungen nichtmedizinischer Art zu verstehen, welche nicht mehr Teil der ärztlichen Behandlung sind, sondern die Folgen der Hilflosigkeit der Pflegebedürftigen

5 6

7

Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung, SR 832.10.

Die Versicherten selbst leisten an die Hotellerie-Kosten des Spitalaufenthaltes einen Beitrag von 10 Fr./Tag (Art. 64 Abs. 5 KVG i.V.m. Art. 104 der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung [KVV, SR 832.102]).

Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, SR 832.112.31.

2041

­

­

ausgleichen. Die KLV umschreibt diese als Tätigkeiten, welche die Patienten nicht selber ausführen können, wie Beine einbinden, Kompressionsstrümpfe anziehen, Betten, Lagern usw. (Art. 7 Abs. 2 Bst. c KLV). Schliesslich sind auch die Leistungen der psychiatrischen und psychogeriatrischen Grundpflege im Katalog der KLV aufgeführt (Art. 7 Abs. 2 Bst. c Ziff. 2 KLV). Patienten mit psychischen Erkrankungen oder Altersdemenzen benötigen zu ihrem eigenen oder zum Schutz Dritter oft dauernde Überwachung und Betreuung. Besonders bei Langzeitpatienten mit psychischer Erkrankung stellt sich deshalb die Frage der Abgrenzung zwischen Spital- und Pflegebedürftigkeit.

Entscheidend ist dabei, ob die Behandlung der Krankheit oder die Betreuung des Patienten überwiegt.

Massnahmen der medizinischen Rehabilitation: Neben der eigentlichen Krankheitsbehandlung und der Pflegemassnahme sieht das KVG in Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe d auch Massnahmen der medizinischen Rehabilitation vor. Diese setzt dort an, wo die Behandlung der Krankheit an sich abgeschlossen ist und die durch die Krankheit beeinträchtigte berufliche, funktionale oder soziale Eingliederung wieder hergestellt werden soll. Wenn durch die medizinische Rehabilitation keine Verbesserung mehr zu erwarten ist, muss von einem Pflegefall gesprochen werden.

Unfallversicherung Nach Artikel 10 UVG8 hat die versicherte Person Anspruch auf die zweckmässige Behandlung der Unfallfolgen, welche unter anderem ­ die ambulante Behandlung (durch den Arzt, den Zahnarzt oder auf deren Anordnung durch eine medizinische Hilfsperson sowie durch den Chiropraktor9), ­ die Behandlung, Verpflegung und Unterkunft in der allgemeinen Abteilung eines Spitals und ­ eine ärztlich angeordnete Hauspflege, sofern diese durch eine krankenversicherungsrechtlich zugelassene Pflegefachperson oder Organisation der Krankenpflege und Hilfe zu Hause (Spitex) durchgeführt wird (Art. 18 Abs. 1 UVV10), umfasst. Im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung gibt es keinen Leistungskatalog analog Artikel 7 KLV.

Das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) hat jedoch den Begriff der Hauspflege definiert und die Leistungspflicht umschrieben11.

Gemäss EVG ist der Begriff der Hauspflege in der obligatorischen Unfallversicherung vielschichtig und kann im Wesentlichen wie folgt kategorisiert werden: ­ Heilanwendungen mit therapeutischer Zielrichtung, welche von einem Arzt vollzogen oder angeordnet werden;

8 9

10 11

Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung, SR 832.20.

Anders als in der Krankenversicherung (Kostenvergütungsprinzip) gilt in der Unfallversicherung das Sachleistungsprinzip, welches den Vorteil hat, dass der Versicherer direkt auf die Heilbehandlung ­ durch seine Mitsprache bei der Wahl der Heilanstalt, der Medizinalpersonen und der Behandlungsart ­ Einfluss nehmen kann.

Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung, SR 832.202.

Vgl. BGE 116 V 41; RKUV 1993 U 163, S. 55.

2042

­

medizinische Pflege im Sinne der Krankenpflege, der zwar die therapeutische (heilende) Zielrichtung fehlt, die aber für die Aufrechterhaltung des Gesundheitszustandes doch unerlässlich ist (wie z.B. Katheterisieren, Wundversorgung oder Infusionen; vgl.

Art. 21 Abs. 1 Bst. d UVG); ­ nichtmedizinische Pflege, sei es an der betroffenen Person selber in Form von Hilfeleistungen bei den alltäglichen Lebensverrichtungen (z.B. An- und Auskleiden, Körperpflege, Ernährung), sei es als Hilfestellungen in ihrer Umgebung durch Führung des Haushaltes oder Besorgung anderer alltäglicher Angelegenheiten.

Gemäss der Rechtsprechung des EVG ist die Leistungspflicht bei der Hauspflege auf die Heilbehandlung und die medizinische Pflege beschränkt. Kein Anspruch besteht auf die Übernahme der Kosten für die nichtmedizinische Pflege resp. der nichtmedizinischen Hilfestellung. Das Erfordernis der ärztlichen Anordnung ist zudem nicht in einem streng formellen Sinne zu verstehen, sondern es genügt vielmehr, dass die fraglichen medizinischen Vorkehren, die zu Hause durchgeführt werden, nach der Aktenlage medizinisch indiziert sind.

Die UVG-Versicherer übernehmen in der Regel darüber hinaus einen angemessenen Beitrag an die nichtmedizinische unfallkausale Pflege/Hilfestellung.

Der Anspruch auf Hauspflege besteht, solange der Anspruch auf die Heilbehandlung gegeben ist (d.h. solang als von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung eine namhafte Verbesserung des Gesundheitszustandes erwartet werden kann, Art. 19 Abs. 1 UVG e contrario). Nach der Festsetzung der Invalidenrente besteht ein Anspruch auf Heilbehandlungen nur noch unter den einschränkenden Voraussetzungen von Artikel 21 UVG.

­

Militärversicherung Die Militärversicherung haftet für alle Schädigungen der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit der versicherten Personen und für die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen solcher Schädigungen (Art. 4 Abs. 1 MVG12). Im Rahmen der Heilbehandlung hat die versicherte Person Anspruch auf eine zweckmässige und wirtschaftliche Heilbehandlung, die geeignet ist, ihren Zustand oder ihre Erwerbsfähigkeit zu verbessern oder vor weiterer Beeinträchtigung zu bewahren (Art. 16 Abs. 1 MVG). Die Heilbehandlungen umfassen die medizinische Untersuchung und Behandlung sowie die Pflege, die ambulant, zu Hause, teilstationär oder stationär durchgeführt werden können. Untersuchung und Behandlung haben mit Mitteln und nach Methoden zu erfolgen, für die der Wirkungsnachweis erbracht ist (Art. 16 Abs. 2 MVG). Die Militärversicherung definiert zudem, unter welchen Voraussetzungen die Leistungserbringer zugelassen sind. So gelten als Pflegeanstalten die öffentlichen oder anerkannten gemeinnützigen privaten Heime, die der Unterbringung, Pflege und Betreuung von gebrechlichen und betagten Personen dienen (Art. 11 Abs. 3 MVV13).

12 13

Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung, SR 833.1.

Verordnung vom 10. November 1993 über die Militärversicherung, SR 833.11.

2043

­

Invalidenversicherung IV-versicherte Personen haben bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf die zur Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendigen medizinischen Massnahmen (Art. 13 IVG14). Nach dem vollendeten 20. Lebensjahr übernimmt die Krankenversicherung die Behandlungskosten im Rahmen des KVG. Als medizinische Massnahmen gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV15). Die Invalidenversicherung gewährt zudem allen (d.h. minderjährigen und volljährigen) Versicherten medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Art. 12 IVG). Für die Leidensbehandlung ist die Krankenversicherung (bzw. die Unfallversicherung) zuständig. Nur medizinische Massnahmen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der beruflichen Eingliederung stehen, gehen zu Lasten der Invalidenversicherung.

1.1.3.2.2

Hilfsmittel

Hilfsmittel sind Gegenstände, deren Gebrauch den Ausfall gewisser Teile oder Funktionen des menschlichen Körpers zu ersetzen vermag im Hinblick auf die berufliche oder soziale Eingliederung oder die funktionelle Angewöhnung der anspruchsberechtigten Person. Die Anspruchsvoraussetzungen und der Leistungsumfang nach den einzelnen Sozialversicherungen sind unterschiedlich geregelt: ­

14 15 16

Die Invalidenversicherung stellt den versicherten Personen Hilfsmittel zur Verfügung, die sie wegen ihrer Invalidität zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder einer Tätigkeit im Aufgabenbereich (z.B. Haushalt), zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, für die Schulung, die Aus- oder Weiterbildung oder zum Zweck der funktionellen Angewöhnung bedürfen (Art. 21 Abs. 1 IVG). Versicherte, die für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedürfen, haben auch ohne Rücksicht auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel (Art. 21 Abs. 2 IVG).

Zusätzlich kann die IV anstelle der Abgabe von Hilfsmitteln auch bestimmte Ersatzleistungen gewähren (Art. 21bis IVG). Darunter fallen auch die Beiträge an die Kosten von Dienstleistungen Dritter, wenn versicherte Personen persönliche Hilfeleistungen an Stelle eines Hilfsmittels benötigen, beispielsweise um den Arbeitsweg zu überwinden, den Beruf auszuüben oder um besondere Fähigkeiten zu erwerben, welche die Aufrechterhaltung des Kontaktes mit der Umwelt ermöglichen (Art. 21bis Abs. 2 IVG; Art. 9 HVI16)

Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung, SR 831.20.

Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen, SR 831.232.21.

Verordnung vom 29. November 1976 über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung, SR 831.232.51.

2044

17 18 19

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In der Alters- und Hinterlassenenversicherung haben Altersrentnerinnen und -rentner mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz unter bestimmten Voraussetzungen für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge Anspruch auf Hilfsmittel (Art. 43ter Abs. 1 AHVG17). Die AHV sieht auch die Abgabe von Hilfsmitteln für Bezüger und Bezügerinnen von Altersrenten zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in ihrem Aufgabenbereich vor (Art. 43ter Abs. 2 AHVG). Die Liste der Hilfsmittel der AHV ist kürzer als diejenige der IV. Versicherten mit Besitzstandsgarantie (bereits im IV-Alter entsprechende Hilfsmittel gutgesprochen) bleibt der Anspruch auf Leistungen in Art und Umfang analog den Bestimmungen in der IV erhalten (Art. 4 HVA18).

­

Die durch die Unfallversicherung gewährten Hilfsmittel bezwecken, die durch Unfall oder Berufskrankheit bedingten körperlichen Schädigungen oder Funktionsausfälle auszugleichen (Art. 11 Abs. 1 UVG). Die Liste der abgegebenen Hilfsmittel ist im Anhang zur Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Unfallversicherung aufgeführt19.

­

In der Militärversicherung besteht ein Anspruch auf Hilfsmittel für die Verbesserung des Gesundheitszustandes, für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder für die Tätigkeit im Aufgabenbereich der versicherten Person, für die Schulung und Ausbildung, für die funktionelle Angewöhnung, für die Fortbewegung, für die Selbstsorge und für den Kontakt mit der Umwelt (Art. 21 Abs. 1 MVG). Für die nötigen Dienstleistungen Dritter anstelle der Hilfsmittel gewährt die Militärversicherung ebenfalls Beiträge (Art. 21 Abs. 4 MVG). Im Gegensatz zu den anderen Sozialversicherungszweigen kennt die Militärversicherung keinen abschliessenden Hilfsmittelkatalog.

­

Die Mittel und Gegenstände in der Krankenversicherung sind nicht mit den Hilfsmitteln der anderen Sozialversicherungen gleichzusetzen. Während die Hilfsmittel einen länger dauernden Ausfall körperlicher Funktionen ausgleichen, verfolgen die Mittel und Gegenstände diagnostische, therapeutische oder pflegerische Zwecke oder dienen der medizinischen Rehabilitation. Die Abgrenzung zu den Hilfsmitteln ist nicht in allen Fällen offensichtlich, da bestimmte Gegenstände wie Brillen, Hörgeräte, orthopädische Schuhe sowohl der Heilbehandlung als auch dem Ausgleich des Ausfalls von körperlichen Funktionen dienen können. Für die Abgrenzung ist auf die objektive Zweckbestimmung abzustellen. Die Mittel und Gegenstände sind in einer separaten Liste (MiGel) aufgeführt, welche den Anhang 2 zur KLV darstellt.

Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, SR 831.10.

Verordnung vom 28. August 1978 über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung, SR 831.135.1.

Verordnung vom 18. Oktober 1984 über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Unfallversicherung, SR 832.205.12.

2045

1.1.3.2.3

Hilflosenentschädigungen

Verschiedene Sozialversicherungszweige gewähren Menschen, «die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedürfen»20, eine Geldleistung, die als Hilflosenentschädigung bezeichnet wird und die ­ ausser bei der Militärversicherung ­ in typisierter Form, d.h. unabhängig von der Höhe der Kosten im Einzelfall ausgerichtet wird. Während der Begriff und der Zweck der Hilflosenentschädigung in allen Sozialversicherungszweigen grundsätzlich einheitlich ist, gibt es in den einzelnen Zweigen Unterschiede und Besonderheiten, so vorab im Bezügerkreis, in den Anspruchsvoraussetzungen und in der konkreten Leistungsdefinition: ­

Die Hilflosenentschädigung in der Invalidenversicherung: In der Invalidenversicherung wird die Hilflosenentschädigung an in der Schweiz wohnhafte, invalide versicherte Personen ab Geburt bis zum Erreichen des AHV-Rentenalters ausgerichtet (Art. 42 Abs. 1 IVG), wobei die Entschädigung nach drei Graden (leicht, mittelschwer und schwer) der Hilflosigkeit abgestuft wird. Mit der 4. IV-Revision, welche am 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist, wurden im Bereich der Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderungen einige materielle Verbesserungen eingeführt. Ziel dieser Revision war es, Menschen mit Behinderungen, die auf persönliche Hilfeleistungen angewiesen sind, vermehrt zu ermöglichen, selbstständig und selbstbestimmt zu leben. Im Bereich der Hilflosenentschädigung sind folgende Revisionspunkte hervorzuheben: ­ Einheitliche Hilflosenentschädigung: An die Stelle der bisherigen Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung für volljährige Personen, der Pflegebeiträge für Minderjährige und der Beiträge an die Kosten der Hauspflege ist mit der 4. IV-Revision eine einheitliche Hilflosenentschädigung getreten.

­ Erweiterung des Hilflosigkeitsbegriffs: Mit der 4. IV-Revision wurde der Hilflosigkeitsbegriff des ATSG für den Bereich der Invalidenversicherung erweitert. Neu gelten als hilflos auch Personen, welche zu Hause leben und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung ­ d.h. auf praktische Begleitung zur Bewältigung des Alltags ­ angewiesen sind (vgl. Art. 42 Abs. 3 IVG).

­ Erhöhung der Hilflosenentschädigung: Die Beträge der Hilflosenentschädigung für betreuungsbedürftige Personen, welche nicht in einem Heim wohnen, wurden mit der Gesetzesrevision im Vergleich zu bisher verdoppelt (Art. 42ter Abs. 1 IVG). Im Zuge dieser Erhöhung wurden auch die von den Ergänzungsleistungen gewährten Beträge für die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten, zu denen auch die ausgewiesenen Kosten für ambulante Hilfe, Pflege und Betreuung gehören, erhöht21. Für Versicherte, die sich in einem Heim aufhalten, beträgt die Hilflosenentschädigung die Hälfte der Ansätze für Personen, die nicht im Heim wohnen (Art. 42ter Abs. 2 IVG).

20 21

So die Legaldefinition der Hilflosigkeit in Art. 9 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG, SR 830.1).

Vgl. hierzu Ziffer 1.1.3.3.1.

2046

­

­

Einführung eines Intensivpflegezuschlags: Hilflose Minderjährige, welche eine intensive Betreuung brauchen und nicht in einem Heim wohnen, haben zusätzlich zur Hilflosenentschädigung Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag (Art. 42ter Abs. 3 IVG).

Die Hilflosenentschädigung in der AHV: In der AHV werden die Hilflosenentschädigungen an in der Schweiz wohnhafte Bezüger und Bezügerinnen von Altersrenten oder Ergänzungsleistungen ausgerichtet, die in schwerem oder mittlerem Grad hilflos sind. In betraglicher Hinsicht hat die 4. IVG-Revision keine Änderungen gebracht, ausser für Personen, die vor dem 65. Altersjahr bereits eine höhere Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung bezogen haben (sog. Besitzstandsfälle gemäss Art. 43bis Abs. 4 AHVG).

­

Die Hilflosenentschädigung in der Unfallversicherung: Die Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung wird frühestens beim Beginn eines UV-Rentenanspruches gewährt. Die Hilflosenentschädigung wird nach drei Graden der Hilflosigkeit bemessen und knüpft an den Höchstbetrag des versicherten Tagesverdienstes an, indem die monatliche Hilflosenentschädigung mindestens den doppelten und maximal den sechsfachen Höchstbetrag des versicherten Tagesverdienstes beträgt (Art. 38 Abs. 1 UVV).

­

Die Hilflosenentschädigung in der Militärversicherung: Ist einer militärversicherten Person, insbesondere einem oder einer Militär-, Zivilschutz- oder Zivildienstleistenden, Hauspflege oder ein privater Kuraufenthalt bewilligt worden und erwachsen ihr dabei durch die versicherte Gesundheitsschädigung oder durch Hilflosigkeit Mehrkosten für Unterkunft, Ernährung, Pflege oder Betreuung, so gewährt die Militärversicherung Zulagen. Weisungsrechtlich ist festgelegt, dass die Zulagen kostendeckend sein sollen, wobei der Bedarf ­ im Gegensatz zu den anderen Sozialversicherungszweigen ­ individuell abgeklärt wird.

Tabelle 1

Die Hilflosenentschädigung in den einzelnen Sozialversicherungszweigen im Überblick (Stand 1.1.2005) Höhe der Hilflosenentschädigung (HE) in Franken/Monat im Heim bei leichter Hilflosigkeit

IV + ev. IPZ AHV UV MV

ausserhalb eines Heims bei mittlerer Hilflosigkeit

215 0 586 konkrete Kosten

538 538 1172 konkrete Kosten

bei schwerer Hilflosigkeit

860 860 1758 konkrete Kosten

bei leichter Hilflosigkeit

bei mittlerer Hilflosigkeit

bei schwerer Hilflosigkeit

430 430­1290 0 586 konkrete Kosten

1075 430­1290 538 1172 konkrete Kosten

1720 430­1290 860 1758 konkrete Kosten

IPZ = Intensivpflegezuschlag

2047

1.1.3.3

Subsidiäre Pflegeleistungen der übrigen Sozialleistungssysteme

Die subsidiären Pflegeleistungen werden dann ausgerichtet, wenn Eigenmittel und primäre Pflegeleistungen der Sozialversicherungen nicht ausreichen, um den Pflegebedarf zu decken.

1.1.3.3.1

Ergänzungsleistungen

Ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen, die aus einer monatlich ausgerichteten Geldleistung und der Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten bestehen, steht, vereinfacht formuliert, grundsätzlich Personen zu, die bestimmte Leistungen der AHV oder IV beziehen (Renten, Hilflosenentschädigungen, Taggelder) und deren anerkannte Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen bzw. deren allfällige Krankheits- und Behinderungskosten nicht gedeckt sind. Für Personen, die Pflegeleistungen beanspruchen, unterscheidet sich die Anspruchsermittlung bei einem Aufenthalt zu Hause und bei einem dauernden Heimaufenthalt jedoch in verschiedenen Punkten: ­

Personen zu Hause Neben der jährlichen Ergänzungsleistung, die als Geldleistung monatlich ausbezahlt wird, besteht für Personen, die zu Hause leben, zudem ­ im Rahmen der Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten ­ ein Anspruch auf die Deckung von ausgewiesenen Kosten für «Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause sowie in Tagesstrukturen» (Art. 3d Abs. 1 Bst. b ELG22). In der departementalen Ausführungsverordnung23 wird präzisiert, dass die Kosten für Hilfe, Pflege und Betreuung, die infolge Alter, Invalidität, Unfall oder Krankheit notwendig sind und von öffentlichen oder gemeinnützigen Trägern erbracht werden, vergütet werden. Pflege- und Betreuungskosten, die in einem öffentlichen oder gemeinnützigen Tagesheim, Tagesspital oder Ambulatorium entstanden sind, werden ebenfalls vergütet. Kosten für Leistungen privater Träger werden vergütet, soweit sie den Kosten öffentlicher oder gemeinnütziger Träger entsprechen. Die Vergütung ist in jedem Fall aber auf folgende Jahresbeträge begrenzt (Art. 3d Abs. 2 ELG):

22 23

Bundesgesetz vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenenund Invalidenversicherung, SR 831.30.

Verordnung vom 29. Dezember 1997 über die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten bei den Ergänzungsleistungen, SR 831.301.1.

2048

Tabelle 2 Jährliche Maximalbeträge für die Vergütung von Krankheitsund Behinderungskosten Alleinstehende, verwitwete Personen, Ehegatten von in Heimen wohnenden Personen (Art. 3d Abs. 2 ELG) Ehepaare (Art. 3d Abs. 2 ELG) Vollwaisen (Art. 3d Abs. 2 ELG) Alleinstehende Bezüger einer Hilflosenentschädigung der IV oder der UV ­ schwere Hilflosigkeit (Art. 3d Abs. 2bis ELG) ­ mittelschwere Hilflosigkeit (Art. 19b ELV24) Ehepaare mit Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der IV oder der UV (je nach Anzahl Ehegatten, die eine HE beziehen und je nach Grad der Hilflosigkeit) (Art. 19b Abs. 2 ELV)

­

25 000 Franken 50 000 Franken 10 000 Franken 90 000 Franken 60 000 Franken 85 000 bis 180 000 Franken

Personen im Heim Während die Pflegekosten von Personen, die zu Hause leben, im EL-System schwergewichtig über die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten abgedeckt werden, erfolgt der finanzielle Ausgleich für Heimbewohner und Heimbewohnerinnen insbesondere über die monatliche Geldleistung, welche durch die Gegenüberstellung der Ausgaben (insbesondere Heimtaxe) und der anrechenbaren Einkünfte ermittelt wird. Für Heimbewohner und -bewohnerinnen bedeutet dies, dass die gesamten Heimkosten, d.h. insbesondere auch die Kosten für Pflege und Betreuung, in die Berechnung der Geldleistung einfliessen, so dass die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten für in Heimen wohnende Personen von Gesetzes wegen auf jährlich 6000 Franken begrenzt wird (Art. 3d Abs. 3 ELG). Zu beachten ist allerdings, dass die Ergänzungsleistung einer doppelten Begrenzung unterliegt: ­ Zum einen haben die meisten Kantone25 von der gesetzlich (Art. 5 Abs. 3 Bst. a ELG) eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Kosten, die wegen des Aufenthaltes in einem Heim berücksichtigt werden, zu begrenzen: Die Obergrenze26 für die Heimtaxen schwankt dabei zwischen rund 28 000 Franken (Tessin) und rund 79 000 Franken (Basel-Stadt), der gesamtschweizerische Durchschnittswert liegt bei rund 59 000 Franken.

­ Zum anderen darf die jährliche Ergänzungsleistung (Art. 3a Abs. 3 ELG) für Heimbewohner und Heimbewohnerinnen nicht mehr als 30 90027 Franken betragen.

24 25 26

27

Verordnung vom 15. Januar 1971 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, SR 831.301.

Von ihrer Kompetenz haben bisher einzig die Kantone Neuenburg, Basel-Landschaft und St. Gallen gar keinen Gebrauch gemacht.

Es handelt sich dabei um einen Durchschnittswert aus den Heimtaxen der Alters-, Invalidenwohn- und Pflegeheime sowie Spitäler und/oder der verschiedenen Pflegebedarfsstufen.

Ohne den jährlichen Pauschalbetrag für die obligatorische Krankenpflegeversicherung.

2049

Grafik 1 Überblick über die individuellen Pflegeleistungen des Sozialversicherungsrechts Individuelle Pflegesozialleistungen

Sach- und Dienstleistungen

Heilbehandlung (KV,IV,UV,MV)

Spitalpflegeleistungen

1.1.3.3.2

Hilfsmittel (KV,AHV,IV,UV,MV)

Heimpflegeleistungen

Geldleistungen

Hilflosenentschädigung (AHV,IV,UV,MV)

Ergänzungsleistungen

Spitex

Sozialhilfe

Die kantonalrechtlich geregelte Sozialhilfe hat zum Zweck, insbesondere wirtschaftliche Notlagen ­ unabhängig von den Ursachen ­ im Einzelfall zu beheben, sofern keine (oder bloss ungenügende) Eigenmittel oder Leistungen anderer Leistungssysteme, wie insbesondere Sozialversicherungen, vorhanden sind (Primat der Sozialversicherungen bzw. Subsidiarität der Sozialhilfe). Im Rahmen des verfassungsrechtlich verankerten Rechts auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) sind dabei diejenigen Mittel zuzusprechen, «die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind», womit grundsätzlich auch Pflegekosten durch die Sozialhilfe finanziert werden müssen, sofern andere Leistungen der Sozialversicherungen und die privaten Quellen nicht ausreichen.

Die Bemessung der sozialhilferechtlichen Leistungen orientiert sich in der Praxis grundsätzlich an den Grundbedürfnissen, die sich an den zivilisatorischen, sozialen und kulturellen Errungenschaften der Gesellschaft messen (sog. soziales Existenzminimum, welches über das absolute Existenzminimum hinaus auch die Teilnahme am Sozial- und Arbeitsleben garantiert). Nach den Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) sollte die Sozialhilfe deshalb ­ neben den ungedeckten Heim- oder Spitexkosten ­ für bedürftige Personen zu Hause auch einen Beitrag zur freien Verfügung bzw. für bedürftige Personen in stationären Einrichtungen wie Heimen und Kliniken, in therapeutischen Wohngemeinschaften oder in Pensionen eine Pauschale zur Deckung der nicht im Pensionsarrangement enthaltenen Ausgabepositionen gewähren. Die Höhe der Pauschale ist nach der körperlichen und geistigen Mobilität abzustufen und beträgt gemäss den geltenden SKOS-Richtlinien 255 bis 510 Franken im Monat.

2050

1.1.3.4

Koordinationsregeln

Die Koordination der Leistungen der verschiedenen Sozialversicherungszweige ist in dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) geregelt. Daneben existieren Koordinationsbestimmungen in den Spezialgesetzen. Das ATSG koordiniert grundsätzlich nur die Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung (Kongruenzprinzip). Für die Pflege ist zudem die Koordination beim Zusammentreffen der verschiedenen Geldleistungen aus den verschiedenen Quellen bedeutsam, was im ATSG unter dem allgemeinen Verbot von Überentschädigungen beim Zusammentreffen von Leistungen verschiedener Sozialversicherungen (Art. 69) geregelt wurde. Nach dem Kongruenzprinzip dürfen nur Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung bei der Berechnung der Überentschädigung berücksichtigt werden. Bemerkenswert ist dabei, dass das ATSG die Vergütungen für Heilungs- und Eingliederungskosten und die Vergütungen für Pflegekosten in Bezug auf Hilflosigkeit nicht als gleichartig betrachtet (Art. 74 Abs. 2 Bst. a und d). Nach der herrschenden Lehre bedeutet dies, dass die durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung bezahlten Grundpflegeleistungen mit den durch die Hilflosenentschädigungen abgedeckten (betreuungsähnlichen) Leistungen kumuliert werden können.

1.1.4

Informelle Pflege

Das Gesamtbild des Pflegesektors wäre unvollständig, wenn neben der formellen, insbesondere sozialversicherungsrechtlich geregelten Pflege die informellen Hilfeleistungen nicht in die Betrachtungen mit einbezogen würden. Veranlassung dazu gibt schon alleine das beachtliche wertmässige Volumen, welches für das Jahr 2000 auf 1,2 Milliarden Franken oder rund 20 Prozent der Pflegekosten geschätzt wurde28. Die vorliegenden Studien, die sich mit der Quantifizierung der informellen Hilfeleistungen auseinandergesetzt haben29, liefern zwar kein abschliessendes Bild, bestätigen aber die Bedeutung der informellen Hilfe für das schweizerische Gesundheitswesen.

­

Umfang des an informeller Pflege beteiligten Personenkreises: Gemäss den Ergebnissen der schweizerischen Gesundheitsbefragung leisteten 2002 rund 1 Million Personen an über einer halben Million Menschen häufig, d.h. mindestens einmal pro Woche, Hilfe. Der Vergleich mit Spitex zeigt die Bedeutung der informellen Hilfe deutlich auf: 9 Prozent der Wohnbevölkerung erhielten in den 12 Monaten vor der Gesundheitsbefragung freiwillige Hilfe, lediglich 2,5 Prozent der Wohnbevölkerung erhielten Spitexleistungen.

Aus Sicht der Empfängerinnen und Empfänger wird informelle Hilfe vor allem durch Personen aus dem eigenen Familienkreis erbracht: 77 Prozent der Leistungen erfolgen durch den Partner/die Partnerin, die Tochter, die

28 29

Vgl. hierzu auch unten Ziffer 1.2.2.

Bundesamt für Statistik, Schweizerische Gesundheitsbefragung, Gesundheit und Gesundheitsverhalten in der Schweiz 2002, Neuchâtel 2004; Eidgenössisches Büro für Gleichstellung von Frau und Mann/Bundesamt für Gesundheit (Hrsg.), Geschlecht und Gesundheit nach 40, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 1997; Paul Camenzind, Claudia Meier, Gesundheitskosten und Geschlecht ­ Eine genderbezogene Datenanalyse für die Schweiz, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2004.

2051

Mutter oder andere Familienmitglieder, während 23 Prozent von Nachbarinnen und Nachbarn und Bekannten aufgebracht wird.

Bei den Erbringerinnen und Erbringern von freiwilligen Leistungen sind deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern auszumachen: Rund doppelt so viele Frauen wie Männer leisten häufig, d.h. mindestens einmal pro Woche, Hilfe. Frauen bauen ihre Tätigkeiten zudem ab dem 40. Altersjahr stark aus, während bei den Männern die Zunahme im selben Lebensabschnitt weit geringer ausfällt.

­

Umfang der informellen Pflege: Die Datenlage bezüglich des Ausmasses der geleisteten Stunden für die Pflege ist zwar lückenhaft, aber gemäss einer Studie über die unbezahlte Arbeit in der Schweiz30 wurden im Jahre 2000 für die Betreuung von pflegebedürftigen erwachsenen Haushaltmitgliedern 34,1 Millionen Stunden aufgewendet, während von der Spitex im selben Jahr für kassenpflichtige Pflegeleistungen 4,9 Millionen Stunden geleistet wurden31.

Trotz unvollständiger Erhebungen muss der Stellenwert unbezahlter Arbeit im Gesundheitswesen damit als hoch eingestuft werden. Ob ergänzend oder als parallele Form zur organisierten Hilfe durch die Spitex, dank der Arbeit durch Familienangehörige und Nachbarinnen und Nachbarn können viele pflegebedürftige Menschen (länger) auf stationäre Pflege verzichten. Die Thematik der informellen Pflegeleistungen ist auch im Zusammenhang mit der Ratifizierung des UNO-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) zu sehen, mit der sich die Schweiz zur Herstellung der Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern verpflichtet hat: Zur Umsetzung des UNO-Übereinkommens und im Nachgang zur Welt-Frauenkonferenz in Beijing hat sich der Bundesrat im Jahre 1999 einen Aktionsplan gegeben, in welchem die Gesundheit ein zentrales Thema darstellt. Im Bereich der informellen Pflege ist vorgesehen, die nicht bezahlten Leistungen von Frauen für die Pflege und Gesundheit anderer Personen zu erfassen und deren Kosten zu berechnen (Massnahme C 16). Dabei wird zwischen kassenpflichtigen und nicht kassenpflichtigen Leistungen unterschieden. Mittelfristig sollten die unbezahlten Pflegeleistungen in der Schweiz daher systematisch untersucht werden, was in einem nächsten Schritt zu prüfen erlauben wird, ob und ­ wenn ja ­ welche weiteren Massnahmen zur Anerkennung und eventuell Förderung der unbezahlten Pflegeleistungen anzustreben sind.

30 31

Bundesamt für Statistik, Satellitenkonto Haushaltsproduktion. Pilotversuch für die Schweiz, Neuchâtel 2004.

Bundesamt für Sozialversicherung, Spitex-Statistik 2000, Bern 2002, Tabelle 6.3, S. 13.

2052

1.1.5

Heutige Finanzierung der Pflege

1.1.5.1

Finanzierung auf der Makroebene

Die folgende Darstellung zeigt die Finanzierung des Pflegesektors (im Heim und zu Hause) im Jahr 2002 nach Finanzierungsträgern: Tabelle 3 Finanzierung der Pflege im Jahr 2002 (Ist-Zustand) Finanzierungsträger

Pflegeheime

Pflege zu Hause

Total

Mio. Fr.

in %

Mio. Fr.

in %

Mio. Fr.

in %

KV (Krankenversicherung, Netto) AHV ­ davon direkte Subventionen ­ davon Hilflosenentschädigung IV (Invalidenversicherung) ­ davon direkte Subventionen ­ davon Hilflosenentschädigung EL (Ergänzungsleistungen) ­ davon EL zur AHV ­ davon EL zur IV UV (Unfallversicherung) MV (Militärversicherung) Privatversicherung Andere private Finanzierung Kantone/Gemeinden (Subventionen) Sozialhilfe Haushalte (inkl. Kostenbet. KV)

1186,6 317,2 0,0 317,2 0,0 0,0 0,0 956,8 956,8 0,0 0,0 1,6 0,0 92,6 565,6 99,7 2751,8

19,9 5,3 0,0 5,3 0,0 0,0 0,0 16,0 16,0 0,0 0,0 0,0 0,0 1,6 9,5 1,7 46,1

247,2 245,2 165,9 79,3 15,4 0,0 15,4 0,0 0,0 0,0 12,8 0,4 25,5 44,0 375,3 1,6 9,6

25,3 25,1 17,0 8,1 1,6 0,0 1,6 0,0 0,0 0,0 1,3 0,0 2,6 4,5 38,4 0,2 1,0

1433,8 562,4 165,9 396,5 15,4 0,0 15,4 956,8 956,8 0,0 12,8 2,0 25,5 136,6 940,9 101,3 2761,4

20,6 8,1 2,4 5,7 0,2 0,0 0,2 13,8 13,8 0,0 0,2 0,0 0,4 2,0 13,5 1,5 39,7

Total

5971,9 100,0

Unentgeltliche Hilfe

977,0 100,0

a) b) c) d) e) f) g) h) i) j) a) a) a) a) a) k) l)

6948,9 100,0 a) 1223,0

m)

Quellen und Erläuterungen a) BFS, Kosten des Gesundheitswesens 2002, Neuchâtel 2004; das BFS ermittelt das Total der Pflegeheime aufgrund der Betriebsausgaben der Pflegeheime gemäss der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen, das Total der Pflege zu Hause aufgrund der Einnahmen der Spitex-Organisationen gemäss Spitex-Statistik des BSV.

b) Summe von c) und d) c) BFS, Kosten des Gesundheitswesens 2002/Basis: AHVG Art. 101bis d) BSV, AHV-Statistik 2003 (total 396,5 Mio.); BAG-/BSV-intern geschätzte Aufteil.

Heime/Spitex: 80 %/20 % e) Summe von f) und g) f) Annahme, dass keine IV-Subvention in Pflegeheime und Spitex fliessen g) BAG-/BSV-interne Schätzung (gem. INFRAS-Bericht): ca. 40 % der HE IV für BezügerInnen «zu Hause»; davon ca. 25 % Spitex-BezügerInnen; Basis IV-Statistik 2003 (HE = 154,2 Mio.)

h) Summe von i) und j) i) BSV, EL-Statistik 2001; EL für HeimbewohnerInnen j) Annahme, dass IV-EL nur an BewohnerInnen von Behindertenheimen ausgerichtet werden k) Schätzung BAG-intern gemäss Aufteilung bei den Haushalten l) Residualgrösse (Total der Kosten abzüglich aller anderen Finanzierungen) m) BFS- und BSV-interne Schätzung für das Jahr 2000

2053

1.1.5.2

Finanzierung auf der Mikroebene

Die nachfolgende Grafik32 zeigt, als beispielhafte Annäherung an den Finanzierungsbedarf, der sich dem einzelnen Heimbewohner und der einzelnen Heimbewohnerin stellen kann, die durchschnittlichen Aufenthaltskosten von 130 privaten und öffentlichen Heimen im Kanton Bern im Jahre 2003. Vergleichbare gesamtschweizerische Auswertungen sind gegenwärtig nicht verfügbar.

Grafik 2 Durchschnittliche Aufenthaltskosten im Pflegeheim pro Bewohnertag im Kanton Bern 350

291

300

235

250

201

178

Fr.

200

125

150

125 80

100 50

136125

125

30 23

30

46

30

30

0 Stufe 1

Stufe 2

Stufe 3

Stufe 4

Betreuung Pflege KVG Pension Total Tageskosten Die gesamten Tageskosten teilen sich auf die Kosten für die eigentliche Pflege (im KVG-Bereich insbesondere die Grund- und Behandlungspflegeleistungen), für die Betreuung (soziale Begleitung der pflegebedürftigen Person) und für die Pension (Verpflegung und Unterkunft) auf.

32

Beat Wenger, Finanzierung der stationären Langzeitpflege, sipp focus 1/2003, S. 1 ff; die publizierten Daten wurden auf Wunsch des BAG vom Autor aktualisiert.

2054

1.1.6

Exkurs: Abdeckung des Pflegerisikos in ausländischen Sozialsystemen

1.1.6.1

Ausländische Lösungsansätze im Überblick

Angesichts der Bedeutung, welche die Langzeitpflege in der Gesundheitspolitik der OECD-Länder in den letzten Jahren gewonnen hat, hat die OECD die verschiedenen Systeme für Langzeitpflege in 19 Ländern33 unter dem Blickwinkel der vergangenen und künftigen Reformen bezüglich Finanzierung und Leistungen untersucht und in einer Studie34 publiziert. Folgende allgemeine Aussagen lassen sich aus dem Bericht entnehmen.

Die meisten der untersuchten Länder haben ein System entwickelt, das bedürftigen älteren Personen ermöglicht, Pflege in einer Institution zu erhalten, wenn auch die Pflegeleistungen in sehr unterschiedlichen Formen angeboten werden (Geldleistungen, Sachleistungen, Abgeltung der informellen Hilfe etc.). Ebenso vielfältig sind die Finanzierungssysteme der Langzeitpflege für ältere Leute aufgebaut (Steuern, Beiträge, Eigenleistungen). Ein gemeinsames zentrales Anliegen der Reformbemühungen in allen Ländern stellt jedoch die Koordination der Pflegeleistungen und -institutionen für Pflegebedürftige dar. In einer Mehrheit von Ländern dienen die Steuern als Hauptquelle zur Finanzierung der Pflege, während eine Minderheit ein Sozialversicherungssystem für die Deckung der Langzeitpflegekosten und anderer aussergewöhnlicher Ausgaben errichtet hat (Österreich, Deutschland, Japan, Niederlande und Luxemburg). In einigen wenigen Ländern werden die Pflegeleistungen in Spitälern in beschränktem Masse durch die Krankenversicherung finanziert, mangels speziell für die Langzeitpflege errichteter Institutionen (Ungarn, Korea, Mexiko und Polen).

Von den 19 untersuchten Ländern kennen sieben (Österreich, Deutschland, Japan, die Niederlande, Norwegen, Luxemburg und Schweden) ein bedarfsunabhängiges Leistungssystem mit einer allgemeinen Deckung, welche die Langzeitpflege in der gleichen Art wie andere gesundheitliche Bedürfnisse im gesamten Sozialversicherungssystem regelt. Die zwölf anderen Länder haben ein ganz oder teilweise bedarfsabhängiges System, welches auf dem Einkommen und/oder Vermögen beruht. Innerhalb dieser beiden Gruppierungen sind die Systeme sehr heterogen aufgebaut.

Der Bericht kommt zum Schluss, dass eine zunehmende Anzahl von Ländern dazu tendiert, die Prinzipien der öffentlichen Finanzierung der akuten Krankheitspflege auch auf die Langzeitpflege anzuwenden. In diesen Ländern findet die
Idee einer obligatorischen Versicherung analog der Versicherung für akute Krankheiten zunehmende Akzeptanz. Andere Länder sind bezüglich eines Systemwechsels von einer bedarfsabhängigen und beschränkten Deckung des Pflegerisikos zu einer bedarfsunabhängigen Deckung noch zurückhaltend. Doch auch in den Ländern mit einem bedarfsunabhängigen Leistungssystem sind die privaten Haushalte zur Betei-

33

34

Australien, Österreich, Kanada, Deutschland, Ungarn, Irland, Japan, Korea, Luxemburg, Mexiko, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Spanien, Schweden, Schweiz, Vereinigtes Königreich, USA.

Ad Hoc Group on the OECD Health Project, Long-term Care (zur Veröffentlichung vorgesehen).

2055

ligung an den Kosten verpflichtet, und dies in stärkerem Masse als bei der Pflege für akute Krankheiten.

1.1.6.2

Lösungsansätze ausgewählter Länder35

Die Vielseitigkeit der nationalen Lösungen im Pflegebereich erschwert es, ein genaues Bild über die Deckung des Risikos der Pflegebedürftigkeit in ausländischen Systemen zu erhalten. Nachfolgend soll deshalb am Beispiel von zwei Nachbarstaaten, Deutschland und Frankreich, aufgezeigt werden, wie die Problematik der Pflegebedürftigkeit in einem System, das analog dem schweizerischen auf dem Prinzip einer beitragsfinanzierten sozialen Krankenversicherung beruht, angegangen wird: Deutschland:

35

­

Definition und Leistungen: Pflegebedürftig im Sinne des Gesetzes von 1995 über die soziale Pflegeversicherung sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmässig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, d.h. voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Masse der Hilfe bedürfen. Die Pflegebedürftigkeit bezieht sich auf die Bereiche Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung. Die Leistungen der Pflegeversicherung bezwecken, dass die pflegebedürftige Person und ihre Familie möglichst nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die versicherte Person zahlt Beiträge und erwirbt sich damit einen Anspruch auf bedarfs- und altersunabhängige Leistungen. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung stellt fest, ob eine Pflegebedürftigkeit vorliegt und wenn ja, in welcher Stufe.

­

Leistungsberechtigte: Leistungsberechtigt sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmässig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Masse der Hilfe bedürfen.

­

Pflege in häuslicher Umgebung oder Heimunterbringung: Das Gesetz nennt ausdrücklich die Angehörigen als primäre Hilfequelle für pflegebedürftige Personen und unterstützt dabei die häusliche Pflege. Aus Kostengründen werden die Leistungen für Pflegebedürftigkeit aber erst ab einem hohen Pflege- und Betreuungsbedarf und nur bis zu einem bestimmten Betrag übernommen. Die Leistungen werden entweder von ambulanten Diensten im Namen der Pflegekassen in der häuslichen Umgebung erbracht (Sachleistungen), oder die Angehörigen werden für ihre Pflegeleistungen entschädigt.

Bei einer notwendigen Heimunterbringung übernimmt die Versicherung die Kosten für die Grundpflege, die soziale Betreuung sowie die medizinische Behandlungspflege. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung tragen die pflegebedürftigen Personen. Die Investitionskosten gehen zu Lasten der Länder.

Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf: Institut de droit de la santé, Soins de longue durée, soins de dépendance, Contribution aux débats relatifs à la révision de la LAMal, Médecine & Hygiène Genève, 2004.

2056

Frankreich: ­

Definition und Leistungen: Pflegebedürftig sind nach dem Gesetz36 in Frankreich lebende ältere Personen, die nicht in der Lage sind, die Folgen eines körperlich oder seelisch bedingten Verlusts der Selbstständigkeit zu tragen. Es besteht in solchen Fällen ein Anspruch auf eine individuelle Zulage (allocation personnalisée d'autonomie, APA) für eine bedürfnisgerechte Pflege. Diese Leistungen werden an Personen ausgerichtet, die für die wichtigsten alltäglichen Verrichtungen auf Hilfe angewiesen sind oder deren Gesundheitszustand eine regelmässige Aufsicht erfordert. Die individuelle Zulage deckt unterschiedliche Auslagen im Zusammenhang mit der Selbstständigkeit der versicherten Person, ausgenommen die medizinischen Leistungen, die zu Lasten der Krankenversicherung gehen.

­

Leistungsberechtigte: Personen, die das 60. Altersjahr erreicht haben. Die Pflegebedarfseinschätzung erfolgt anhand einer landesweit geltenden Skala (Autonomie Gérontologie Groupe Iso-Ressources, AGGIR). Je nach dem, ob die Pflege im häuslichen Umfeld oder in einer Pflegeeinrichtung erbracht wird, fällt die Art und die Höhe der Leistung unterschiedlich aus. Die APA wird bedarfsunabhängig und auf Antrag an Personen mit mittlerem Pflegebedarf ausgereichtet.

1.2

Probleme und Herausforderungen im Pflegebereich

Die unter Ziffer 1.1 dargestellte geltende Ordnung der Pflege und ihrer Finanzierung wirft verschiedene Probleme auf, die auf unterschiedlichen Leistungs- (Ziff. 1.2.1) und Finanzierungsebenen (Ziff. 1.2.2 und 1.2.3) anzusiedeln sind, und daher auch unterschiedliche Lösungsstrategien erfordern werden.

1.2.1

Das Leistungsniveau bei Pflegebedürftigkeit im Alter

Die Tatsache, dass Pflegebedürftigkeit kein eigenständiges sozialversicherungsrechtlich geregeltes Risiko darstellt, sondern über die kausal orientierten primären Sozialversicherungen mitgeregelt wird, führt dazu, dass die Leistungen bei einer alters-, krankheits- oder unfallbedingten Pflegebedürftigkeit grundsätzlich unterschiedlich ausfallen37. Bei der Analyse der einzelnen Leistungsordnungen fällt auf, dass das Leistungsniveau gerade bei einer altersbedingten Pflegebedürftigkeit de lege lata begrenzt ist:

36 37

­

Die AHV kennt keine Hilflosenentschädigung bei einer leichten Hilflosigkeit.

­

Das finale Korrektiv der Ergänzungsleistungen ist mehrfach begrenzt, was insbesondere bei schwer pflegebedürftigen Personen wegen der grossen finanziellen Last zu einem erhöhten Sozialhilferisiko führt. Hier gilt es insbesondere die EL-Begrenzung bei Heimbewohnern und -bewohnerinnen zu Code de l'action sociale et des familles, livre II, titre III, chapitre 2, section 1.

Vgl. hierzu eingehend Hardy Landolt, Das soziale Pflegesicherungssystem, Bern 2002, S. 109 ff.

2057

erwähnen: Gemäss Artikel 3a Absatz 3 ELG darf die jährliche Ergänzungsleistung für Personen, die dauernd oder für längere Zeit in einem Heim oder Spital leben, nicht mehr als 175 Prozent des Höchstbetrages für den Lebensbedarf von Alleinstehenden nach Artikel 3b Absatz 1 Buchstabe a ELG betragen (30 900 Franken/Jahr oder 2575 Franken/Monat).

1.2.2

Die mittel- und längerfristige Entwicklung der Pflegekosten

Im Jahr 2002 flossen knapp 7 Milliarden Franken in den Pflegebereich (Pflegeheime und Spitex). Im Vergleich mit dem Jahr 1995, in welchem der Pflegebereich Kosten von 4,9 Milliarden Franken auslöste, bedeutet dies eine Zunahme von über 40 Prozent. Nicht eingeschlossen ist die unentgeltliche Hilfe für Pflegebedürftige, deren Wert für das Jahr 2000 auf 1,2 Milliarden Franken geschätzt wird38 und deren Integration in die Gesamtkosten eine deutliche Erhöhung (rund 20 Prozent) bewirken würde.

Tabelle 4 Entwicklung der Kosten im Pflegebereich (Mio. CHF) Jahr

Pflegeheime

Pflege zu Hause (Spitex)

Pflege insgesamt

Zunahme

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002

4206,9 4429,1 4593,3 4830,1 4935,2 5194,8 5578,9 5971,9

702,3 772,5 768,4 814,5 848,4 889,3 935,8 977,0

4909,2 5201,6 5361,7 5644,6 5738,6 6084,1 6514,7 6948,9

3,96 % 3,08 % 5,28 % 1,67 % 6,02 % 7,07 % 6,66 %

Quelle: Bundesamt für Statistik, Auswertung der in «Kosten des Gesundheitswesens» erfassten Daten

Unter der Annahme, dass die vermutete Tendenz zu weniger unentgeltlicher Pflege weitergeht, sowie unter Verwendung des Bevölkerungsszenarios «Trend» des Bundesamts für Statistik, kann die künftige Entwicklung der Anzahl Pflegebedürftigen sowie der Pflegekosten hochgerechnet werden.

Eine Schätzung der oben erwähnten Gesamtkosten des Pflegebereichs auf der Basis des Bevölkerungsszenarios «Trend» sowie einer von 1995 bis 2000 beobachteten Zeitreihe für die nichtdemografiebedingten Faktoren ergibt einen gesamten Kostenzuwachs von 83 Prozent im Zeitraum von 2000 bis 2020 und einen solchen von 208

38

Hans Schmid, Alfonso Sousa-Poza, Rolf Widmer, Monetäre Bewertung der unbezahlten Arbeit, eine empirische Analyse für die Schweiz aufgrund der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung, Statistik der Schweiz, Neuchâtel 2002.

2058

Prozent von 2000 bis 2040 (Tabelle 5). Dabei wird der demografiebedingte Kostenzuwachs bedeutend tiefer eingeschätzt als der nicht demografiebedingte.

Eine alternative Schätzung für die Kosten des Pflegebereichs bis 2030 zeigt ähnliche Ergebnisse (Tabelle 6): Bis 2030 ist mit einer Zunahme von 128 % zu rechnen.

Auch in dieser Schätzung fällt der direkte demografiebedingte Kostenzuwachs weniger ins Gewicht als der nicht demografiebedingte.

Solche Schätzungen zeigen die begrenzte Aussagekraft von Hochrechnungen auf.

Ein mechanistischer Ansatz vermag weder der gesundheitspolitischen noch der medizinischen Entwicklung Rechnung zu tragen. So ist gemäss Höpflinger/Hugentobler anzunehmen, dass eine moderate Reduktion der Pflegebedürftigkeit ­ etwa aufgrund geriatrisch präventiver Programme oder vermehrter rehabilitativer Erfolge ­ den rein demografischen Effekt wesentlich abzuschwächen vermag. Eine diesbezügliche demografische Projektion ergibt für die Periode 2000 bis 2020 eine Zunahme der Zahl der älteren Pflegebedürftigen von maximal einem Drittel39.

Tabelle 5 Projektionen für das Jahr 2020 und 2040

Kosten der Pflege im Jahr 2000 (Mio. Fr.).

Demografiebedingter Kostenzuwachs (Mio. Fr.)

Nicht demografiebedingter Kostenzuwachs (Mio. Fr.)

Gesamtkosten Pflege (Mio. Fr.)

Zunahme in Prozent

2000­2020

2000­2040

6 084 1 902 3 154

6 084 4 651 7 981

11 141 83 %

18 716 208 %

Quelle: Bundesamt für Sozialversicherung (2003): Pflegefinanzierung und Pflegebedarf: Schätzung der zukünftigen Entwicklung

Tabelle 6 Schätzung der Kosten (Mio. CHF) für das Jahr 2030 2001

2030

Zunahme

Pflegeheime Spitex

5 578,9 935,8

12 518,5 2 313,1

124 % 147 %

Total Nur Effekt der Demografie

6 514,7 6 514,7

14 831,6 9 372,7

128 % 44 %

Quelle: Obsan/IRER (2004): Impact économique des nouveaux régimes de financement des soins de longue durée, Rapport à l'attention de l'OFSP

39

François Höpflinger, Valérie Hugentobler, Pflegebedürftigkeit in der Schweiz, Bern 2003, S. 44.

2059

1.2.3

Starke finanzielle Belastung der Krankenversicherung

1.2.3.1

Belastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP)

In der Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung40 wurde die Verlagerung der Kosten zur Krankenversicherung für den Pflegeheimbereich auf 560 Millionen Franken geschätzt. Diese geschätzten Mehrkosten wurden, ausgehend von den entsprechenden Leistungsausgaben der Krankenversicherung im Jahr 1995, im Jahr 1999 erstmals übertroffen. Die rückwirkende Betrachtung der zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung verrechneten Kosten zeigt nun, dass der Kostenanstieg von 1999 an zurückging und sich im Trend an die durchschnittliche Kostenentwicklung in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung annähert. Dies dürfte zumindest teilweise mit den am 1. Januar 1998 in Kraft getretenen Rahmentarifen zu erklären sein, die ursprünglich solange zur Anwendung gelangen sollten, bis die Leistungserbringer im Pflegebereich die verordnungsrechtlich41 geforderten Transparenzinstrumente eingeführt haben, welche als Grundlage für die Bestimmung der Kosten und Leistungen der stationären, teilstationären, ambulanten und Langzeitbehandlungen zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung dienen (Art. 2 VKL). Zwischenzeitlich hat das Parlament am 8. Oktober 2004 für die Jahre 2005 und 2006 eine Änderung des Krankenversicherungsgesetzes verabschiedet42, welche die Rahmentarife ­ unabhängig von der erreichten Transparenz ­ auf alle Leistungserbringer im Pflegebereich für anwendbar erklärt. Nach diesen Rahmentarifen erfolgt die Vergütung der Heimpflegeleistungen pro Tag, unterteilt in vier Pflegebedarfsstufen, welche von leichter bis zu schwerer Pflegebedürftigkeit reichen43 (Art. 9a Abs. 2 KLV); die Leistungen von Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause werden nach Rahmentarifen pro Stunde44 vergütet (Art. 9a Abs. 1 KLV).

Tabelle 7 Ausgaben (Bruttoleistungen, d.h. vor Abzug der Kostenbeteiligung) der obligatorischen Krankenpflegeversicherung in Mio. Franken Jahr

Pflegeheime

Pflege zu Hause

Pflege insgesamt

Zunahme Pflege/OKP

Kostenentwicklung OKP

1996 1997 1998 1999

666 890 1092 1170

132 193 224 235

798 1083 1316 1405

35,7 % 21,4 % 6,8 %

5,5 % 6,7 % 4,3 %

40 41 42 43 44

BBl 1992 I 220 Verordnung vom 3. Juli 2002 über die Kostenermittlung und die Leistungserfassung durch Spitäler und Pflegeheime in der Krankenversicherung (VKL, SR 832.104).

AS 2004, 4375 Erste Pflegebedarfsstufe: 10­20 Franken; zweite Pflegebedarfsstufe: 15­40 Franken; dritte Pflegebedarfsstufe: 30­65 Franken; vierte Pflegebedarfsstufe: 40­80 Franken.

Für einfache und stabile Situationen: 30­47 Franken; für instabile und komplexe Situationen: 45­68 Franken; für Abklärungen und Beratungen: 50­73 Franken.

2060

Jahr

Pflegeheime

Pflege zu Hause

Pflege insgesamt

Zunahme Pflege/OKP

Kostenentwicklung OKP

2000 2001 2002

1215 1258 1392

253 270 290

1468 1528 1682

4,5 % 4,1 % 10,1 %

5,9 % 5,9 % 4,3 %

Quelle: Bundesamt für Gesundheit, Krankenversicherungsdatenbank KKDB, Stand Oktober 2003.

Eine Hochrechnung der von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommenen Pflegekosten (Pflegeheime und Spitex) bis 2030 ergibt eine Zunahme von rund 200 % (Tabelle 8). Das Wachstum ist gegenüber den Gesamtkosten im Pflegebereich (Tabelle 6) deutlich höher, weshalb sich in diesem Modell der Finanzierungsanteil zukünftig zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung deutlich verschieben wird. Auch für die Hochrechung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ergibt sich, dass der rein demografiebedingte Effekt weniger ins Gewicht fällt. Dieser Effekt steht zudem in Wechselwirkung mit der Annahme über die zukünftige Pflegebedürftigkeit. Wie bereits in Ziffer 1.2.2 erwähnt, existieren einschlägige Publikationen, die für eine moderatere Reduktion der Pflegebedürftigkeit sprechen. Im Anhang 2 sind deshalb für die obligatorische Krankenpflegeversicherung beispielhaft Szenarien aufgeführt, die den Kosteneffekt von Verschiebungen zwischen den Pflegebedarfsstufen aufzeigen. Fazit ist, dass auch die Schätzungen zur Entwicklung der Pflegekosten in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung unter Vorbehalten stehen und stark von den getroffenen Annahmen abhängig sind.

Tabelle 8 Schätzung der Entwicklung der Pflegekosten (brutto) in der OKP (Mio. Fr.)45 2001

2030

Zunahme

Pflegeheime Pflegeheime nur Demografie Spitex Spitex nur Demografie

1258,0 1258,0 270,0 270,0

3877,0 1848,6 750,7 357,6

208 % 47 % 178 % 32 %

Total Total nur Demografie

1528,0 1528,0

4627,7 2206,2

202 % 44 %

Quelle: Obsan/IRER (2004): Impact économique des nouveaux régimes de financement des soins de longue durée, Rapport à l'attention de l'OFSP.

45

Diese Schätzung basiert auf einer Hochrechnung der aktuellen Situation unter Berücksichtigung der demografischen Veränderung sowie eines demografieunabhängigen Realwachstums auf den Pflegekosten; folglich kann in Tabelle 8 der Demografieeffekt auch separat ausgewiesen werden.

2061

1.2.3.2

Verschiebung der Finanzierungsanteile

Die Kosten des Pflegebereichs werden durch mehrere direkte Finanzierungsquellen gedeckt. Etwas weniger als zwei Drittel übernehmen die privaten Haushalte. Falls deren Mittel nicht ausreichen, was vor allem beim Aufenthalt im Pflegeheim häufig der Fall ist, können sie Ergänzungsleistungen zur AHV (gegebenenfalls zur Invalidenversicherung) beanspruchen. Etwa ein Fünftel der Pflegekosten wird durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung gedeckt; rund ein Achtel durch Kantone und Gemeinden. Die noch verbleibenden Kosten werden durch andere Sozialversicherungen und durch private Finanzierungen (Spenden, Legate) gedeckt. Der Anteil der obligatorischen Krankenpflegeversicherung an der Finanzierung des Pflegebereichs hat sich vom Inkrafttreten des KVG bis 1999 nahezu verdoppelt, nachher ist er stabil geblieben. Der Anteil der öffentlichen Hand hat sich zuerst verringert, nun aber in etwa auf das ursprüngliche Niveau zurückentwickelt. Zurückgegangen ist der Finanzierungsanteil der privaten Haushalte.

Tabelle 9 Finanzierungsanteile Gesamtkosten Pflegebereich (Heime und Spitex) in Prozent 1995

Anteil OKP (Netto46) Andere Soz.-vers.

Kantone/Gemeinden Haushalte47 Übrige priv. Finanz.

Pflege insgesamt

10,5 2,5 13,2 71,8 2,0 100

1996

10,6 2,5 13,3 71,6 2,0 100

1997

17,6 3,0 10,8 66,7 1,9 100

1998

19,8 2,9 10,2 65,4 1,7 100

1999

20,6 2,8 10,0 64,9 1,7 100

2000

20,5 2,8 9,1 65,8 1,8 100

2001

20,0 2,7 12,6 62,7 2,0 100

2002

20,6 2,6 13,5 61,3 2,0 100

Quelle: Bundesamt für Statistik, Auswertung der in «Kosten des Gesundheitswesens» erfassten Daten.

1.3

Vernehmlassungsverfahren

1.3.1

Grundzüge der Vernehmlassungsvorlage

Der Bundesrat hat vom 23. Juni bis zum 24. September 2004 eine Vernehmlassung zur Neuordnung der Pflegefinanzierung durchgeführt. Um eine breite Diskussion zu ermöglichen, hat er den Kantonen, den politischen Parteien und den interessierten Kreisen zwei Modelle vorgeschlagen, die beide das Ziel verfolgen, die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Sozialversicherungen neu festzulegen. Das Modell A schlug eine Zuordnung über die Definition der Leistung vor, während das Modell B ein zeitliches Kriterium vorsah: 46

47

Die Kostenbeteiligung (Selbstbehalt und Franchise) in der OKP ist in diesem Wert nicht enthalten, deshalb «netto». In dieser Aufstellung ist die Kostenbeteiligung OKP konsequenterweise Bestandteil der Finanzierungsquelle Haushalte.

Die Finanzierungsquelle Haushalte enthält hier ­ im Gegensatz zur Darstellung in Tabelle 3 ­ auch die Leistungen der AHV, IV und EL.

2062

­

Modell A: Anknüpfungspunkt für dieses Modell war die Unterscheidung zwischen Behandlungspflege und Grundpflege. Die Krankenversicherung hätte die Grundpflege nur noch in Zusammenhang mit einer Behandlungspflege vergütet. Im weiteren sah Modell A eine Koordination zwischen der Krankenversicherung und der AHV vor: ­ In einfachen Pflegesituationen (Situationen, in denen ausschliesslich Grundpflege erforderlich ist) hätte die Krankenversicherung keine Leistungen mehr übernommen; als Korrektiv wurde vorgeschlagen, einerseits eine AHV-Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades für Personen zu Hause einzuführen und anderseits die Karenzfrist, die für den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung erfüllt sein muss, von einem Jahr auf neun Monate zu verkürzen.

­ In komplexen Pflegesituationen (Situationen, in denen Behandlungsund Grundpflege erforderlich ist) hätte die Krankenversicherung die vollen Kosten sowohl für die Grund- wie auch für die Behandlungspflege übernommen. Folgerichtig schlug das Modell vor, die AHVHilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren und schweren Grades für Personen im Heim abzuschaffen (die Hilflosenentschädigung für Personen zu Hause wäre jedoch ­ als Anreiz, möglichst lange zu Hause zu bleiben ­ beibehalten worden).

Gegenüber den heutigen Kosten, welche hauptsächlich durch die Rahmentarife bestimmt werden, hätte das Modell A die Krankenversicherung um 63 Millionen Franken im Jahr entlastet; in der AHV hätten 147 Millionen Franken im Jahr eingespart werden können.

­

Modell B: In diesem Modell wurde im Bereich der Krankenversicherung eine strikte Trennung zwischen Akut- und Langzeitpflege vorgeschlagen. Es war vorgesehen, bei der Akutpflege die Pflegekosten von der Krankenversicherung voll, bei der Langzeitpflege hingegen nur bis zu einem bestimmten Betrag zu übernehmen. Der Überschuss hätte von der öffentlichen Hand (durch Ergänzungsleistungen) und von den privaten Haushalten getragen werden müssen. Modell B stützte sich im Grundsatz auf die Vorschläge der Experten im Rahmen der Vorarbeiten für die 3. KVG-Revision48 ab; es beschränkte sich auf Korrekturen im Bereich der Krankenversicherung und verzichtete auf eine Koordination mit den anderen Sozialversicherungen, insbesondere mit der AHV. Für die Krankenversicherung hätten sich grundsätzlich keine finanziellen Folgen ergeben, da es vorgesehen war, den Beitrag der Krankenversicherung im aktuellen Umfang festzulegen.

Im Weiteren wurden für beide Modelle als begleitende Massnahmen vorgeschlagen, einerseits den Anspruch auf Ergänzungsleistungen zu erweitern und andererseits die Prävention zu stärken: ­

48

Erweiterung der Ergänzungsleistungen: Um die finanziellen Folgen der Modelle A und B für die privaten Haushalte zu mindern, wurde vorgeschlagen, die Obergrenze der Ergänzungsleistung für Personen im Heim aufzuheben. Diese Massnahme ist bereits im Rahmen der Neugestaltung des Finanz-

Iten/Hammer, Finanzierung der Pflege, Zürich 2003.

2063

ausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantone vorgesehen49.

­

Stärkung der Prävention: Im Bereich der Pflege ist das Potenzial zur Rationalisierung weniger gross als in den übrigen Bereichen der Krankenversicherung. Damit die Kosten effizient gedämpft werden können, muss somit die Prävention gestärkt werden. Die Vorlage schlug daher vor, die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz damit zu beauftragen, die Prävention im Alter als einen der Schwerpunkte ihrer Tätigkeit zu behandeln.

1.3.2

Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens

1.3.2.1

Allgemein

Die Auswertung der Vernehmlassung hat klar gezeigt, dass die Notwendigkeit einer Reform der aktuellen Pflegefinanzierung unbestritten ist. Die Mehrzahl der Teilnehmenden hat die Vorschläge des Bundesrates aber ­ aus unterschiedlichen Gründen ­ als unbefriedigend beurteilt. Nachdem beide Vernehmlassungsmodelle auf zum Teil erheblichen Widerstand gestossen sind, werden sie in der bisher diskutierten Form nicht weiterverfolgt.

1.3.2.2

Ergebnisse zu den wichtigsten Aspekten

Die Kantone, politischen Parteien und konsultierten Kreise haben Modell A in seiner Gesamtheit deutlich abgelehnt. Angezweifelt wurde in erster Linie die Praxistauglichkeit des Modells, insbesondere in Bezug auf die Abgrenzung zwischen einfachen und komplexen Situationen bzw. zwischen krankheits- und altersbedingter Pflege.

Mehrere Teilnehmende haben darauf hingewiesen, dass die finanzielle Belastung für Personen, die zwar überhaupt keine Behandlungspflege benötigen, die aber auf intensive Grundpflege angewiesen sind, sehr hoch sein würde. In diesem Zusammenhang wurde zugleich die Befürchtung geäussert, Modell A könnte die Ärzteschaft dazu bewegen, gewisse Fälle einzig aus sozialen Gründen als komplex einzustufen. Der Vorschlag, eine AHV-Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades einzuführen, wurde mehrheitlich begrüsst. Hingegen stiess die Streichung der Hilflosenentschädigung für Heimbewohner auf klare Ablehnung, insbesondere bei den Kantonen.

Modell B konnte auch nicht überzeugen, wobei die Kritiken weniger hart ausfielen als bei Modell A. Eine Mehrheit der Kantone und Gemeinden unterstützten gar das Modell B, allerdings lediglich im Grundsatz und unter verschiedenen Bedingungen.

Die Teilnehmenden warfen dem Modell B wiederholt einen systemfremden Einbruch im schweizerischen Krankenversicherungssystem vor: Die Limitierung der Kostenübernahme von medizinischen Leistungen durch die soziale Krankenversicherung könnte Präjudizcharakter haben, was sozialpolitisch unerwünscht sei. Negativ hervorgehoben wurde ebenfalls die unvermeidliche Willkür einer zeitlichen Abgrenzung zwischen Akut- und Langzeitpflege.

49

Vgl. hierzu unten Ziffer 5.

2064

Der Ausbau der Ergänzungsleistungen wurde mehrheitlich begrüsst. Die Kantone haben jedoch Korrekturmassnahmen auf der Finanzierungsseite gefordert: Als Kompensation für die Verlagerung der Kosten auf die Ergänzungsleistungen verlangten sie eine Erhöhung der Bundesbeteiligung an die Ergänzungsleistungen.

Die Ergebnisse in Bezug auf die Stärkung der Prävention waren gemischt. Zwar ist die Bedeutung der Prävention unbestritten, die Fokussierung der Tätigkeit der Institution nach Artikel 19 KVG auf die Prävention der Pflegebedürftigkeit wird aber mehrheitlich als kontraproduktiv angesehen, da die Bevorzugung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nur auf Kosten anderer Gruppen erfolgen könne. Zudem ist verschiedentlich betont worden, die Prävention der Pflegebedürftigkeit müsse, um wirksam zu sein, bereits in früheren Lebensphasen einsetzen.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Grundidee des neuen Finanzierungsmodells

Die Neuordnung der Pflegefinanzierung verfolgt grundsätzlich zwei Reformziele, die sich zumindest teilweise widersprechen: Zum einen soll die sozialpolitisch schwierige Situation bestimmter Gruppen pflegebedürftiger Personen entschärft werden, zum anderen geht es darum, die Krankenversicherung, welche im geltenden System zunehmend altersbedingte Pflegeleistungen übernimmt, finanziell nicht zusätzlich zu belasten. Zwar sollte die Krankenversicherung von ihrem Zweck her grundsätzlich nur für krankheitsbedingte Leistungen ­ im Bereich der Pflege: für krankheits-, nicht aber für altersbedingte Pflegeleistungen ­ aufkommen. Im Pflegealltag lässt sich die Unterscheidung zwischen krankheits- und altersbedingter Pflege aber kaum treffen, da im Alter bei jedem Pflegefall wohl auch eine somatische Ursache gefunden werden kann. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass das Alter das Pflegerisiko eindeutig erhöht: Bei einem bestimmten Krankheitsbild wird sich eine jüngere Person allenfalls ohne (oder mit wenigen) Pflegeleistungen erholen, während eine ältere Person ­ beim identischen Krankheitsbild ­ altersbedingt zum vorübergehenden oder dauernden Pflegefall werden kann. Im historisch gewachsenen, kausal, d.h. nach Risiken strukturierten schweizerischen Sozialversicherungssystem sollte diese altersbedingte Mehrbelastung nicht unbegrenzt von der Krankenversicherung getragen werden. Es drängt sich daher auf, die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Sozialversicherungszweigen neu zu definieren. Die vorgeschlagene Neudefinition orientiert sich dabei an folgenden Grundsätzen: ­

Die Krankenversicherung soll im Pflegebereich ihre Leistungen deutlicher auf ihre eigentliche Kernaufgabe ausrichten, krankheitsbedingte medizinische Leistungen zu vergüten. Weil in der Praxis die Pflege als Ganzes wahrgenommen wird und eine Trennung von alters- und krankheitsbedingter Pflege nicht praktikabel ist, soll im vorgeschlagenen Modell die «medizinnahe» Behandlungspflege voll zulasten der Krankenversicherung gehen, während an die «medizinfernere» Grundpflege, die schwergewichtig allgemeine Pflegemassnahmen zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse umfasst, ein Beitrag ausgerichtet werden soll. Dieser Ansatz erweist sich als doppelt systemkonform: Zum einen stützt sich schon das geltende Recht auf das Begriffspaar der Grund- und Behandlungspflege, zum anderen ist die Beitragslösung zwar an sich systemfremd ­ die Tarife und Preise der Krankenversicherung decken grundsätzlich die volle Leistung ab ­, doch trifft sie 2065

einen Bereich (Grundpflege), der nicht sehr «medizinnah» ist; damit erscheint die Beitragslösung vergleichbar mit anderen Beitragslösungen des geltenden Rechts (so bei Badekuren oder Rettungs- und Transportkosten).

­

Gegenüber dem geltenden Recht führt der Reformvorschlag in der Krankenversicherung zu einer Leistungsplafonierung in der Grundpflege, da an diese bloss noch ein Beitrag ausgerichtet werden soll. Als sozialpolitische Kompensation ­ und als Anreiz, möglichst lange keine stationären Infrastrukturen zu beanspruchen ­ wird in der AHV daher vorgeschlagen, für Personen, die zu Hause leben, eine Hilflosenentschädigung für leichte Hilflosigkeit einzuführen (heute wird in der AHV eine Hilflosenentschädigung ausschliesslich bei Hilflosigkeit schweren und mittleren Grades ausgerichtet).

Abschliessend bleibt festzuhalten, dass zwar der sozialpolitische wie der finanzielle Problemdruck für die Krankenversicherung im Bereich der Alterspflege am grössten ist, die vorgeschlagenen Anpassungen in der Krankenversicherung aber für alle grundversicherten Personen, unabhängig des Alters, gelten.

2.2

Definitionsfragen

2.2.1

Definition der Grund- und Behandlungspflege

Das Begriffspaar der Grund- und Behandlungspflege wird in der Pflegewissenschaft zwar überwiegend kritisch gesehen und als überholt bezeichnet, hat sich als rechtliches Begriffspaar aber etabliert und gilt auch in der Literatur als juristisch verfestigt50. Das Ziel einer krankenversicherungsrechtlichen Definition besteht denn auch nicht in der möglichst realitätsnahen Umschreibung der Pflegetätigkeit, sondern in der Festlegung einer Grundlage für die Vergütung der Pflegekosten durch die Krankenversicherer. Dieser Ansatz wird durch die Tatsache untermauert, dass die Begriffe der Grund- und Behandlungspflege in den sozialrechtlichen Grundlagen verschiedener Länder des deutschsprachigen Raums ­ so insbesondere in Deutschland51, ansatzweise in Österreich52 ­ positivrechtlich verankert worden sind. Die beiden Begriffe lassen sich wie folgt umschreiben: ­

50 51 52

Grundpflege: Obwohl die Grundpflege in der Literatur nicht einheitlich umschrieben wird, lässt sich ihr Kernzweck in der Aufrechterhaltung der allgemeinen täglichen Lebensverrichtungen (ATL) erkennen, welche grundsätzlich selbst ausgeführt werden und sechs Bereiche betreffen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichten der Notdurft; Fortbewegung). Die Grundpflege kann in verschiedenen Formen gewährt werden, so als Unterstützung, teilweise oder vollständige Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder Beaufsichtigung sowie Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen.

Vgl. die Ausführungen zu den Stichworten «Behandlungspflege» bzw. «Grundpflege» in: Pschyrembel Wörterbuch Pflege, Berlin/New York 2003, S. 86 f. und 282 f.

Vgl. § 37 SGB V (Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch: Gesetzliche Krankenversicherung), § 80a SGB XI (Sozialgesetzbuch, Elftes Buch: Soziale Pflegeversicherung).

Vgl. § 151 Abs. 3 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes.

2066

­

Behandlungspflege: Die Behandlungspflege verfolgt in der Regel ein therapeutisches oder palliatives Ziel zur Behandlung von Krankheiten oder zur Bekämpfung derer Folgen. Damit sind behandlungspflegerische Massnahmen krankheitsspezifisch, d.h. sie sind an ärztliche Diagnosen gebunden.

2.2.2

Definition der Hilflosigkeit

Eine Person gilt als hilflos, wenn sie wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Die Abstufung der Grade an Hilflosigkeit richtet sich nach den Definitionen der Invalidenversicherung. Eine schwere Hilflosigkeit liegt vor, wenn eine Person in allen alltäglichen Lebensverrichtungen in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 37 Abs. 1 IVV53). Bei mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit ist eine Person nur in einer gewissen Anzahl (4 bzw. 2) von alltäglichen Lebensverrichtungen auf die Hilfe Dritter angewiesen (Art. 37 Abs. 2 und 3 IVV).

2.3

Begleitmassnahmen

2.3.1

Kostendämpfende Begleitmassnahmen

2.3.1.1

Grundsätzliche Vorbemerkung zur Kostendämpfung im Pflegebereich

Das KVG ist zwischen 1996 und 2001 einer breit angelegten Gesetzesevaluation zur Beurteilung der gesetzgeberischen Zielerreichung unterzogen worden. Die Resultate dieser Wirkungsanalyse haben gezeigt, dass zwei der drei wesentlichen Ziele des KVG ­ die Stärkung der Solidarität zwischen den Versicherten und die Gewährleistung des rechtsgleichen Zugangs zu medizinischen Leistungen ­ als erreicht betrachtet werden können. Für das dritte Teilziel des historischen Gesetzgebers, die Eindämmung der Kostenentwicklung, gilt dies nicht: Seit Inkrafttreten des KVG im Jahre 1996 weisen sowohl die Gesamtausgaben der Krankenversicherung wie auch die Krankenversicherungskosten für den Pflegebereich jährliche Steigerungsraten aus, die deutlich über der durchschnittlichen Lohn- und Preisentwicklung liegen.

Wird die Kostenentwicklung in ihre Komponenten zerlegt (Kosten = Menge×Preis), so ist festzustellen, dass die Preise wegen den bestehenden Rahmentarifen im Pflegebereich generell eine untergeordnete Rolle spielen, und die Kostenzunahme daher schwergewichtig auf der Mengenentwicklung beruht. Zu unterscheiden sind allerdings die Gründe für die Mengenentwicklung: Während gesundheitsökonomische Experten im Gesamtsystem der Krankenversicherung ein beachtliches Rationalisierungspotential ausmachen ­ gemäss internationalen Studien sind bis zu 30 Prozent der erbrachten Leistungen aus medizinischer Sicht ohne Nutzen ­, weil nichtmedizinische Motive (wie die Auslastung bestehender Kapazitäten, die Einkommensoptimierung der Leistungserbringer und -erbringerinnen, das Anspruchsverhalten der Patientinnen und Patienten oder Mehrfachbehandlungen wegen fehlender Koordina53

Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung, SR 831.201.

2067

tion in der Behandlungskette etc.) die Leistungserbringung beeinflussen, so sind diese Motive ­ und damit die Rationalisierungsmöglichkeiten ­ im Pflegebereich in ihrer Bedeutung stark zu relativieren. Gerade schwer pflegebedürftige Personen haben kaum eine Wahlfreiheit oder einen Spielraum, um Konsumpräferenzen zu formulieren; die Pflegeleistungen werden schwergewichtig von nichtärztlichen Leistungserbringern und -erbringerinnen auf ärztliche Verordnung nach einer Bedarfsabklärung erbracht und in den Pflegeheimen bestehen kaum Überkapazitäten. Dieser unterschiedliche Erklärungshintergrund für die Kostensteigerung entbindet nun nicht davon, kostensteuernde Ansätze auch im Pflegebereich zu entwickeln, doch neben der Vermeidung medizinisch wenig oder nicht indizierter Diagnoseoder Therapieleistungen muss zwingend die Förderung der Prävention im Vordergrund stehen.

2.3.1.2

Stärkung der Prävention

Die möglichen Ursachen einer Pflegebedürftigkeit sind vielfältig: Angeborene Behinderungen, Akuterkrankungen oder Unfälle, Kumulation von chronischen Erkrankungen, altersbedingte körperliche und geistige Funktionsstörungen. Geht man davon aus, dass im höheren Alter chronische Krankheiten und ungünstiges Gesundheitsverhalten (Ernährung, Bewegung, Alkohol, Tabak, soziales Umfeld, etc.) zentrale Faktoren für Behinderungen und damit die Pflegebedürftigkeit darstellen, drängen sich zwei grundsätzliche Ansätze auf: ­

Lebenslange Gesundheitsförderung und Prävention;

­

Präventionsmassnahmen, die es den Betroffenen trotz funktionalen Beeinträchtigungen erlauben, ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen.

Dass gezielte Präventionsprogramme für die ältere Bevölkerung zweckmässig und wirksam sein können, ist wissenschaftlich belegt: Forschungsergebnisse und aktuelle Praxiserfahrungen in mehreren Kantonen54 zeigen, dass durch geeignete und auf schweizerische Verhältnisse abgestimmte Verfahren die Selbstständigkeit im Alter gefördert und dadurch Pflegeheimeinweisungen vermieden werden können. Die Resultate einer breit angelegten, im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Alter» (NFP 32) durchgeführten Studie haben gezeigt, dass präventive Hausbesuche Behinderungen im Alter wirksam vorbeugen können. Dies bestätigen auch Studien, welche in Skandinavien, Nordamerika und Australien durchgeführt wurden.

Langfristig angelegte präventive Hausbesuchsprogramme reduzieren die Häufigkeit von Pflegebedürftigkeit und führen dadurch zu einem Drittel weniger Pflegeheimeinweisungen55.

Die geriatrische Prävention ist aber, zumindest für Nichtbehinderte, nicht nur medizinisch wirksam, sondern auch kosteneffizient, wenn auch nur mittelfristig: Die in diversen Kantonen und im Ausland durchgeführten Studien haben ergeben, dass ­ 54 55

Andreas Stuck, Stephan Born, Gesundheitsförderung im Alter. Managed Care 2001.

Heidi Schmocker, Willy Oggier, Andreas Stuck (Hg.), Gesundheitsförderung im Alter durch präventive Hausbesuche, SGGP-Schriftenreihe, No.62, Muri 2000; Stuck AE, Egger M, Hammer A, Minder CE, Beck JC. Home visits to prevent nursing home admission and functional decline in elderly people: Systematic review and meta-regression analysis.

JAMA 2002; 287:1022-8.

2068

dank der Gesundheitsförderung und Prävention ­ bei Personen ab 75 Jahren sich nicht nur die Einweisungen in Pflegeheime reduzierten, sondern dass zudem gesundheitliche Beschwerden früher erkannt und bereits in der hausärztlichen Betreuung angegangen wurden. Deshalb steigen die Gesundheitskosten pro Person zu Beginn kurzfristig um 800 Franken. Ab dem dritten Jahr ergaben die Studien jedoch eine Einsparung von jährlich 2000 Franken pro Person.

Die NFP-Studie hat gezeigt, dass die Qualität der interdisziplinäre Kenntnisse voraussetzenden Hausbesuche ein entscheidender Faktor für den Erfolg des Programms ist. Eine breitere Umsetzung in die Praxis erfordert deshalb Massnahmen auf verschiedenen Ebenen der Ausbildung sowie der Leistungs- und Qualitätskontrolle. In der Schweiz existieren weder im nichtärztlichen noch im ärztlichen Bereich ausreichende Ausbildungsangebote. Mit der bestehenden Ausbildung der Fachpersonen im Gesundheitswesen wird das Anforderungsprofil nur ungenügend abgedeckt. Auch im ärztlichen Bereich stellt die Realisierung eines solchen Programms erhöhte Anforderungen: Um die geriatrische Kompetenz der Haus- und Fachärzte zu erhöhen, ist zu prüfen, inwieweit spezielle Fort- und Weiterbildungsangebote geschaffen werden sollten. Schliesslich wären auch gemeinsame Ausbildungsbestandteile (z.B.

angehende Ärzte und Ärztinnen mit angehenden Pflegenden) in Erwägung zu ziehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, die Prävention der Pflegebedürftigkeit auf verschiedenen Ebenen zu fördern. Eine von der Weltgesundheitsorganisation WHO (Regionalbüro für Europa) publizierte internationale Studie56 kommt zu vier Grundsatzempfehlungen: ­

Entwicklung strategischer Präventionspläne auf landesweiter und kommunaler Ebene;

­

Förderung der gerontologischen und geriatrischen Fortbildungsangebote für die einschlägigen Berufsgruppen;

­

Entwicklung von Programmen, die ältere Menschen instand setzen, mit Risikofaktoren für Behinderungen und chronischen Erkrankungen umzugehen;

­

Anregung von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zum Thema «Behinderungen im Alter».

Das BAG-Projekt «Altern und Gesundheit» verfolgt unter anderem den Ansatz, die erfolgversprechendsten Massnahmen zu definieren und umzusetzen ­ und zwar zusammen mit jenen Fachleuten, die mit der Zielgruppe in direktem Kontakt stehen, also Ärztinnen und Ärzten, Gemeindeschwestern, Sozialdiensten, Spitex-Diensten.

Anzusprechen sind aber auch die Betroffenen selber, ihre Angehörigen oder die politischen Behörden. Ziel der Bemühungen muss es sein, Behinderungen vorzubeugen und Einweisungen in stationäre Pflegeinstitutionen zu vermeiden oder hinauszuzögern. Die möglichen Massnahmen können in zwei Kategorien unterteilt werden: ­

56

Ebene der Gesundheitsförderung und generellen Prävention: Das Ziel auf dieser Ebene ist die Reduktion von Risikofaktoren für chronische Krankheiten sowie von altersspezifischen Risiken, die zur Pflegebedürftigkeit führen können. Mit gezielter Information könnten die ältere Bevölkerung, ihre

Eino Heikkinen, Disability in Old Age, Burden of Disease Network Project, Finish Center of Interdisciplinary Gerontology, University of Jyväskylà (2004).

2069

Angehörigen sowie die Fachleute für Aspekte der altersspezifischen Gesundheitsförderung und Prävention sensibilisiert werden (z.B. körperliche Aktivität, soziale Kontakte, Ernährung, Suchtverhalten, Sturzprävention, Grippe-Impfung). Diese Programme müssten wie bisher mit öffentlichen Geldern, über zweckgebundene Fonds oder ­ im Bereich der Krankenversicherung ­ von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz (Art. 19 KVG) (mit-)finanziert werden, wobei bundesseitig in erster Linie die Möglichkeiten einer Finanzierung im Rahmen der bestehenden Ressourcen aufgrund von entsprechenden Prioritäten- und Posterioritätensetzungen auszuschöpfen wären.

­

57 58

Ebene der individuellen Prävention: ­ Auf der Ebene der individuellen Primärprävention existiert bereits eine gesetzliche Grundlage: Nach Artikel 26 KVG übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten u.a. «für vorsorgliche Massnahmen zugunsten von Versicherten, die in erhöhtem Masse gefährdet sind», wobei die vorsorglichen Massnahmen von einem Arzt oder einer Ärztin durchgeführt oder angeordnet werden müssen. Dazu könnten die präventiven Hausbesuche gehören. Inzwischen hat die Berner Geriatrische Universitätsklinik das Modell zu einem präventiven «Gesundheitsprofil-Verfahren» ausgebaut. Mit einem Fragebogen werden anhand konkreter Situationen im Alltag alle wichtigen Bereiche der Gesundheit und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfasst. Das Resultat ist ein persönlicher Gesundheitsbericht mit Massnahmen, die allein oder betreut umgesetzt werden können. Bevor eine Leistungspflicht der Krankenversicherer in diesem Bereich auf Verordnungsebene beschlossen werden könnte, müssten in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungen einer vertieften Prüfung durch die zuständigen Fachkommissionen des Bundes unterzogen werden (Leistungsumfang, Ausbildung der leistungserbringenden ärztlichen wie nichtärztlichen Personen, Tarifierung, etc.), wobei dem Kosten-Nutzen-Verhältnis besondere Beachtung zu schenken wäre, um eine kurzfristige finanzielle Mehrbelastung der Krankenversicherung ohne mittel- bis längerfristigen Nutzen zu vermeiden.

­ Auf der Ebene der individuellen Sekundärprävention soll insbesondere verhindert werden, dass chronische Krankheiten zu Behinderungen und Pflegebedürftigkeit führen. Erfolge versprechen zum Beispiel so genannte «Self-Management»-Angebote57, wie sie in den USA entwickelt werden. Diese Programme werden für spezielle funktionale Störungen entwickelt (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Asthma, Rheuma, etc.) und unterstützen die Betroffenen bei Problemen im Alltag und fördern damit ihre Selbstständigkeit. Weitgehend brach liegt auch das Potenzial von Managed-Care-Modellen. Eine Studie in Italien58 hat gezeigt, dass ein Case-Management mit medizinischer, pflegerischer und sozialer Betreuung von älteren Menschen das Risiko einer Einweisung ins Spital oder Pflegeheim um 20 bis 30 Prozent reduzieren kann.

Kate R. Lorig, Self-Management Education: History,
Definition, Outcomes and Mechanisms, Annals of Behavioral Medicine, 2003, Vol. 26, No. 1, 1­7.

Roberto Bernabei, Randomised trial of impact of model of integrated care and case management for older people living in community, BMJ, 1998; Vol. 316, 1348­1351.

2070

2.3.1.3

Verstärkung kostensteuernder Instrumente

Obwohl der Spielraum für die Kostendämpfung im Pflegebereich geringer ist als im Gesamtsystem der Krankenversicherung, soll durch eine Verstärkung an sich bereits bestehender Instrumente versucht werden, sowohl auf den Faktor Preis wie auf den Faktor Menge einzuwirken, um die Kostenentwicklung positiv zu beeinflussen: ­

Auf der Ebene des Preises: Die Tarifpartner sollen gesetzlich verpflichtet werden, für die Behandlungspflege eine pauschale Vergütung zu vereinbaren. Damit wird gegenüber dem geltenden Recht, das die pauschale Vergütung lediglich in einer deklaratorischen Kann-Vorschrift erwähnt (Art. 50 Satz 2 KVG), die Möglichkeit einer Einzelleistungstarifierung, die erfahrungsgemäss tendenziell die Mengenausweitung fördert, explizit ausgeschlossen. Der Bundesrat wird zudem die ihm in Artikel 43 Absatz 7 KVG eingeräumte Möglichkeit ausschöpfen, wonach er auf Verordnungsebene Grundsätze für eine wirtschaftliche Bemessung und eine sachgerechte Struktur der Tarife aufstellen kann. In diesem Zusammenhang wird insbesondere zu prüfen sein, inwieweit für die Tarifierung der Behandlungspflege eine einheitliche, gesamtschweizerisch geltende Abgeltungsstruktur vorgegeben werden kann.

­

Auf der Ebene der Menge: Das geltende Recht sieht bereits vor, dass (a) die ärztliche Anordnung von Pflegeleistungen auf einer Bedarfsabklärung und einer Pflegeplanung beruhen muss und (b) die ärztliche Anordnung zu befristen und einem Kontroll- und Schlichtungsverfahren zu unterstellen ist59. Diese Massnahmen könnten in ihrer Wirkung verstärkt werden, in dem beispielsweise geriatrische Fachärzte und -ärztinnen in diese Abklärungsund Kontrollprozesse einbezogen würden.

2.3.2

Sozialpolitisch motivierte Begleitmassnahmen

Da die Neuregelung der Krankenversicherungsleistungen tendenziell zu einer stärkeren Belastung der privaten Haushalte führt, erscheint eine Korrektur durch typisierte Bedarfsleistungen, wie sie die Ergänzungsleistungen darstellen, sozialpolitisch grundsätzlich angezeigt. Im Rahmen der vorliegenden Gesetzesrevision wird die Aufhebung der Leistungsbegrenzung aufgegriffen, da diese Massnahme im Projekt zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA)60 ebenfalls vorgeschlagen wird. Die Ergänzungsleistung sollte in der Höhe also nicht mehr beschränkt sein, wobei unterstellt wird, dass die Kantone einen Höchstbetrag für die massgebenden Heimtaxen vorsehen61. Bei Heimen mit Pflegekosten innerhalb der definierten Taxgrenzen könnten die Pflegekosten voll übernommen und das Sozialhilferisiko praktisch ausgeschlossen werden.

59 60 61

Art. 8 und 8a KLV.

Vgl. Ziffer 5.

Bis heute haben nur drei Kantone keinen Höchstbetrag für die Alters-, Invalidenwohnund Pflegeheime eingeführt: Neuenburg, St.Gallen und Basel-Landschaft.

2071

2.4

Nicht weiter verfolgte Revisionsansätze

2.4.1

Pflegeversicherung

Die Absicherung gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pflegebedürftigkeit kann als eigenständige Sozialversicherung organisiert werden, wobei verschiedene Spielarten sowohl beim Leistungsumfang als auch bei der Versicherungspflicht und der Finanzierung denkbar sind, die unterschiedlich miteinander kombiniert werden können: ­

Leistungsumfang: Das Pflegerisiko kann, wie dies etwa in Deutschland der Fall ist, als für die ganze Bevölkerung obligatorischer Sozialversicherungszweig organisiert werden, der neben den medizinisch indizierten auch die übrigen Pflegeleistungen, unabhängig von ihrer Ursache, abdeckt. Diskutiert werden aber auch Modelle einer Pflegeversicherung, welche nur die medizinisch indizierten Pflegeleistungen nach KVG umfasst.

­

Versicherungspflicht: Die Versicherungspflicht kann sich auf die ganze Bevölkerung oder nur auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, insbesondere bestimmte Altersgruppen (z.B. die über 50-, 60- oder 70-Jährigen), erstrecken.

­

Finanzierung: Bei der Finanzierung kommen ­ neben den für Sozialversicherungssysteme üblichen Lohnprozenten und allgemeinen Steuermitteln ­ insbesondere Kopfprämien in Frage, die einheitlich (Intergenerationensolidarität) oder risikodifferenziert (Intragenerationensolidarität) ausgestaltet werden können.

Die Einführung einer Pflegeversicherung ist in der Schweiz bereits mehrmals diskutiert und verworfen worden. So wurde Anfang der Neunzigerjahre, d.h. vor Inkrafttreten des KVG, in der parlamentarischen Initiative Tschopp vom 30. November 1992 eine von der obligatorischen Krankenversicherung unabhängige Bundesversicherung vorgeschlagen, welche die Gesundheits-, Hauswirtschafts-, und Betreuungskosten der über 75-jährigen Betagten übernimmt («AHV plus»).

In seinem Bericht vom 13. Januar 1999 als Antwort auf das Postulat der sozialpolitischen Kommission des Nationalrates über die Sicherung und Finanzierung von Pflege- und Betreuungsleistungen bei Pflegebedürftigkeit kommt der Bundesrat zum Schluss, dass die vom KVG für die medizinischen Pflegemassnahmen eingerichtete Solidarität zwischen den Generationen bewahrt werden müsse und die vom Rest der Bevölkerung getrennte Behandlung des «4. Alters» aus sozialer Sicht nicht wünschenswert sei, vielmehr seien alle betroffenen Personen, unabhängig von der Altersklasse, gleich zu behandeln. Die Entlastung von Familien und Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen müsse über Massnahmen zur Kostenkontrolle und über die individuelle Prämienverbilligung erreicht werden. Hinsichtlich der Kostenübernahme bei Pflegebedürftigkeit (Pflege, Unterkunft, soziale Betreuung, Unterstützung) sollten nach Auffassung des Bundesrates die Ergänzungsleistungen mit der Krankenversicherung, der Hilflosenentschädigung und der (damals vorgesehenen) Assistenzentschädigung der 4. IVG-Revision koordiniert werden. Diese Auffassung des Bundesrates wird bestätigt durch die im Sommer 2004 durchgeführte Vernehmlassung zur Neuordnung der Pflegefinanzierung, in der sich eine Mehrheit der Teilnehmenden deutlich gegen die Einführung einer eigenständigen Pflegeversicherung ausgesprochen hat.

2072

2.4.2

Dual-fixe Finanzierung

In Anlehnung an die Neugestaltung der Spitalfinanzierung, die gegenwärtig parlamentarisch beraten wird62, wurde die dual-fixe Finanzierung auch als mögliches Finanzierungsmodell für die stationären Leistungen im Pflegebereich in die politische Diskussion eingebracht. Dieses Finanzierungsmodell63 sieht die Abgeltung der gesamten Pflegekosten im Heim (inklusive Investitionsanteil und Pflege- und Betreuungsleistungen) in Form von Pauschalen vor, welche je zu 50 Prozent durch die Krankenversicherer und durch die öffentliche Hand übernommen werden.

Zugleich entfallen die Hilflosenentschädigungen zur AHV/IV im Heim. Die Pauschalen für die stationären Pflegeleistungen sollen unter den Krankenversicherern, der öffentlichen Hand und den Heimen bzw. den kantonalen Verbänden ausgehandelt werden. Für die ambulanten Pflegeleistungen wird eine vollständige Finanzierung durch die Krankenversicherer vorgesehen.

In einem Expertenbericht64 zur Finanzierung der Pflege, der im Sommer 2002 im Hinblick auf eine weitere KVG-Revision in Auftrag gegeben worden war, werden die finanziellen Auswirkungen der dual-fixen Pflegefinanzierung auf Basis der Kosten im Jahre 2000 dargestellt: Gegenüber dem Status Quo würde die Krankenversicherung mit jährlich 140 Millionen Franken und die öffentliche Hand (Kantone) mit 585 Millionen Franken zusätzlich belastet. Entlastet würden die privaten Haushalte um jährlich 495 Millionen Franken. Diese gewichtigen finanziellen Auswirkungen auf die öffentliche Hand lassen die politische Akzeptanz des Modells jedoch von vornherein als gering erscheinen. Die Umverteilung von den privaten Haushalten auf die öffentliche Hand hätte zudem den sozialpolitischen Nebeneffekt, dass die Leistungen verstärkt nach dem Versicherungsprinzip und weniger bedarfsorientiert ausgerichtet würden.

2.4.3

Modell der Leistungserbringer vom April 2004

Im Vorfeld des Vernehmlassungsverfahrens zur Neuordnung der Pflegefinanzierung haben verschiedene Leistungserbringerverbände ein gemeinsames Finanzierungsmodell65 formuliert, das dann verschiedentlich in der Vernehmlassung zur Umsetzung empfohlen worden ist. In diesem Modell werden vier Pflegephasen definiert, nämlich die Akutpflege, die Übergangspflege, die Langzeitpflege 1 und die Langzeitpflege 2. Die Akutpflege, die Übergangspflege und die Langzeitpflege 1 sind zeitlich befristet auf insgesamt 365 Tage; nach diesem Zeitpunkt wird Pflege im Pflegeheim und zu Hause als Langzeitpflege 2 bezeichnet. Die Leistungserbringer schlagen vor, dass die während der ersten drei Phasen erbrachten Pflegeleistungen, unabhängig davon, ob sie im Spital, im Pflegeheim oder zu Hause erbracht werden, durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung zu Vollkosten vergütet werden.

In der Langzeitpflegephase 2 soll die obligatorische Krankenpflegeversicherung einen Beitrag an die Pflegekosten leisten. Während der Langzeitpflege 2 sollen die Patientinnen und Patienten höchstens 20 Prozent der Kosten übernehmen, wobei 62 63 64 65

Vgl. die Botschaft des Bundesrates vom 15. September 2004 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Spitalfinanzierung), AS 2004 5551.

Willy Oggier, Die Pflegefinanzierung in der Schweiz, Zürich 2002.

Rolf Iten/Stephan Hammer, Finanzierung der Pflege, Zürich 2003.

Finanzierung der Pflege ­ Gemeinsame Standpunkte der Leistungserbringer, Bern/Zürich 2004.

2073

eine soziale Abfederung durch andere Sozialversicherungen erfolgen soll. Ein allfälliges Defizit hätte die öffentliche Hand zu tragen. Zusammengefasst: Für das erste Jahr der Pflegebedürftigkeit wird faktisch eine Pflegeversicherung errichtet, dann werden die Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung auf einen Beitrag reduziert und die nicht gedeckten Kosten gehen zu Lasten der Versicherten, anderer Sozialversicherungen und der öffentlichen Hand.

Der Bundesrat sieht davon ab, dieses Modell weiter zu verfolgen: Dies insbesondere, weil in der ersten, einjährigen Phase ­ trotz der neuen (allerdings diffusen) Definition von Phasen und deren Abgrenzung ­ letztlich sämtliche Pflegekosten grundsätzlich von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu decken sind und das von den Leistungserbringern vorgeschlagene Regelwerk zur Abgrenzung der Phasen und der Kostendeckung lediglich eine Umverteilung der Mittel zwischen den betroffenen Institutionen bewirkt, welche abhängig davon ist, wie lange die verschiedenen, den einzelnen Pflegephasen zugeordneten pflegebedürftigen Personen in der Institution gepflegt werden. Die Reduktion der Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung auf einen Beitrag ab dem 366. Tag der Pflegebedürftigkeit erscheint zudem als willkürlich, denn sie erfolgt ohne Rücksichtnahme auf den gesundheitlichen Zustand der versicherten Person.

Mit einer solchen Regelung würden zwei Kategorien von Pflegebedürftigen geschaffen: solche, bei denen die Versicherung die Vollkosten deckt und solche, welche lediglich einen Beitrag erhalten. Es ist nicht davon auszugehen, dass jene Pflegebedürftigen, welche schon seit einem Jahr Pflege erhalten, das Ausmass, in welchem sie gepflegt werden müssen, nennenswert steuern können. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, weshalb gerade diese Personen schlechter gestellt werden sollen. Falls die Frist von 365 Tagen wegen des ab diesem Zeitpunkt möglichen Anspruchs auf Hilflosenentschädigungen der AHV gewählt wurde, wäre zu prüfen, ob die Leistungen der Sozialversicherungen nicht auf andere Weise koordiniert werden können.

2.4.4

Beitragsmodell

Nach Abschluss des Vernehmlassungsverfahrens ist vom Zentralsekretariat der Gesundheitsdirektorenkonferenz ein Modell in die Diskussion eingebracht worden, welches sich an einen vom Parlament im Rahmen der 2. KVG-Revision diskutierten, letztendlich aber verworfenen Reformvorschlag anlehnt: Dieses Finanzierungsmodell sieht sowohl für die Behandlungs- wie für die Grundpflege, d.h. für ein gegenüber heute grundsätzlich unverändertes Leistungsspektrum, eine Beitragslösung vor: Die Krankenversicherung leistet lediglich einen Beitrag, der in Prozent der «anrechenbaren» Kosten definiert (vorgeschlagen worden sind 60 Prozent) und in gesamtschweizerisch geltende Tarife umgelegt wird. Die anrechenbaren Kosten beruhen dabei auf der durchschnittlichen Kostenstruktur ausgewählter (auch regional) repräsentativer Referenzbetriebe, wobei die Kosten für Pflegeheime und Spitex separat ermittelt werden, um der unterschiedlichen Kostenstruktur Rechnung zu tragen. Die Anwendung des gesetzlich verankerten Prozentsatzes (von beispielsweise 60 Prozent) ergibt dann den nach Pflegebedarfsstufen und nach Leistungserbringerkategorien (Pflegeheim/Krankenpflege zu Hause) differenzierten Tarif. Die Tarife werden auf Verordnungsstufe definiert und jährlich der Kostenentwicklung angepasst, die ebenfalls gestützt auf die erhobenen standardisierten Kostenstrukturen festgelegt wird. Der nicht von der Krankenversicherung getragene Restbetrag wird dem Leis2074

tungsbezüger oder der Leistungsbezügerin in Rechnung gestellt und über Eigenmittel (u.a. Renten und Hilflosenentschädigungen) sowie bedarfsorientierte Sozialleistungen (EL, Sozialhilfe) finanziert.

Der Hauptgrund, weshalb dieses Reformmodell nicht weiterzuverfolgen ist, liegt, ausgehend von der prozentualen Beteiligung, im jährlichen Tarifanpassungsmechanismus, der die Krankenversicherung automatisch an der dynamischen Kostenentwicklung im Pflegebereich partizipieren lässt und so mittel- bis langfristig keine Stabilisierung der Krankenversicherungsausgaben zulässt. Schätzungen für das Jahr 2030 ergeben, dass dieses Modell ­ gegenüber der in dieser Botschaft vorgeschlagenen Reform ­ zu Mehrausgaben von weit über einer Milliarde Franken für die Krankenversicherung führen würde. Doch auch andere Reformelemente lassen es als gerechtfertigt erscheinen, von diesem Modell Abstand zu nehmen, so die gesamtschweizerische Tarifvereinheitlichung, die jegliche Tarifverhandlung ausschliesst und in Anbetracht der bestehenden kantonalen Unterschiede eine Nivellierung auf mittlerem Niveau erwarten lässt, das komplexe Tariffestsetzungs- und Tarifanpassungsverfahren oder heikle Definitionsfragen (insbesondere die Definition der «Vollkosten», d.h. der 100 Prozent entsprechenden Kosten).

2.4.5

Ausdehnung der Anspruchs auf AHV-Betreuungsgutschriften

Seit Inkrafttreten der 10. AHV-Revision im Jahre 1997 haben versicherte Personen, welche im gemeinsamen Haushalt lebende Angehörige betreuen, die einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung der AHV/IV von mindestens mittlerem Grad haben, Anspruch auf so genannte Betreuungsgutschriften66. Die Gutschrift für Betreuungsarbeiten muss bei der kantonalen Ausgleichskasse angemeldet werden. Am 1. Januar 1998 waren 1116, am 1. Januar 2004 1852 Anmeldungen auf Betreuungsgutschriften eingegangen67. Die eher tiefe Zahl der Anmeldungen dürfte auf die relativ hohen Anspruchsanforderungen zurückzuführen sein. Die in der Volksabstimmung vom 16. Mai 2004 abgelehnte 11. AHV-Revision sah deshalb eine Ausdehnung des Anspruchs auf Betreuungsgutschriften vor: Berücksichtigt worden wären auch Hilflosenentschädigungen der Unfall- und der Militärversicherung. Zusätzlich wäre das Erfordernis des gemeinsamen Haushaltes durch eine «unschwere Erreichbarkeit» ersetzt worden (Art. 29septies Abs. 1 E-AHVG68). Der bloss mittelbare Zusammenhang mit der Pflegethematik spricht dafür, die Frage einer allfälligen Anpassung der Betreuungsgutschriften in einer eigenständigen Revision der AHV-Gesetzgebung aufzugreifen.

66 67 68

Bei der Betreuungsgutschrift handelt es sich um einen fiktiven Jahresbetrag, der im Zeitpunkt der Rentenberechtigung für die Rentenberechnung berücksichtigt wird.

Erhebungen des Bundesamtes für Sozialversicherung.

BBl 2003 6629

2075

2.4.6

Eidgenössische Erbschaftssteuer als ergänzende Finanzierungsquelle

In den letzten Jahren wurde verschiedentlich die Idee der Finanzierung der Sozialversicherungen, insbesondere der AHV, durch eine eidgenössische Erbschaftssteuer vorgebracht. Der Bundesrat lehnte diese Vorschläge mit der Begründung ab, dass die Finanzierung der Sozialwerke über eine eidgenössische Erbschaftssteuer das Steuersubstrat der Kantone schwächen und den Zielen der Reform des Finanzausgleichs zwischen Bund und Kantonen zuwiderlaufen würde (vgl. Motion 96.3213 Hafner Eidgenössische Erbschafts- und Schenkungssteuer als Finanzierungsbeitrag für die AHV). Unbestritten ist aber, dass allfällige Verbesserungen der EL eine Form von Erbenschutz darstellen, da verbleibendes Vermögen nicht für Pflegeleistungen eingesetzt werden muss, sondern gegebenenfalls den Erben weitergegeben werden kann.

2.5

Parlamentarische Vorstösse

Durch die Verabschiedung des Bundesgesetzes über die Neuordnung der Pflegefinanzierung können folgende parlamentarische Vorstösse abgeschrieben werden: ­

Mit dem Postulat Loepfe vom 4. Oktober 2002 (02.3626; N 20.6.2003) wurde der Bundesrat insbesondere ersucht, in einem Bericht die Aufteilung der verschiedenen Leistungen der Sozialversicherungen im Pflegefall aufzuzeigen. Die bundesrätliche Botschaft enthält eine umfassende qualitative wie quantitative Darstellung des Ist-Zustandes der Pflege in der Schweiz (Ziff.

1.1) und wird damit dem Anliegen des Postulanten gerecht.

­

Das Postulat vom 14. November 2002 der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (02.3645; N 8.12.03) fordert den Bundesrat auf, im Zusammenhang mit der Spitalfinanzierung die dual-fixe Finanzierung auch für den Pflegeheimbereich zu prüfen. Nachdem dieses Finanzierungsmodell in zwei Expertenberichten breit diskutiert worden ist, kann der Prüfungsauftrag damit als erfüllt gelten, auch wenn die dual-fixe Finanzierung im Pflegeheimsektor, insbesondere wegen den finanziellen Auswirkungen, im Rahmen dieser Botschaft nicht weiterverfolgt wird.

­

In einer Motion vom 4. Dezember 2003 (03.3597; N 8.12.2003, S 3.6.2004) haben die Eidgenössischen Räte den Bundesrat beauftragt, dem Parlament im Jahr 2004 einen Vorschlag zur Neuordnung der Pflegefinanzierung zu unterbreiten, der einerseits der Problematik der Langzeitpflege, andererseits der Koordination mit der Leistungspflicht anderer Sozialversicherungen (einschliesslich der Ergänzungsleistungen) besondere Beachtung schenkt.

Mit seiner Botschaft erfüllt der Bundesrat, zeitlich leicht verzögert, die Verpflichtungen der Motion.

2076

3

Erläuterungen der einzelnen Bestimmungen

3.1

Anpassungen in der Krankenversicherung

Die Umsetzung des vorgeschlagenen Modells setzt rechtliche Anpassungen sowohl auf Gesetzes- wie auf Verordnungsstufe voraus. Das geltende Recht bezeichnet die nichtärztlichen Leistungen nur im Grundsatz auf Gesetzesebene, so für die Pflege in Artikel 25 Absatz 2 Buchstabe a KVG, während die einzelnen Leistungen in Positivlisten auf Verordnungsebene definiert werden. Für die Umsetzung des Modells bedeutet dieses Prinzip der krankenversicherungsrechtlichen Leistungsdefinition, dass auf Gesetzesebene lediglich die Grundsätze des Modells festzuschreiben sind, während die Neudefinition der kassenpflichtigen Pflegeleistungen in der departementalen Leistungsverordnung vorzunehmen ist.

3.1.1

Anpassungen auf Gesetzesstufe

Art. 25 Abs. 2 Bst. a und abis KVG Auf Gesetzesstufe ist in der Umschreibung der allgemeinen Leistungen von Artikel 25 KVG zum einen das Begriffspaar der Grund- und Behandlungspflege einzuführen, zum anderen der Grundsatz zu verankern, dass an die Grundpflege lediglich ein Beitrag ausgerichtet wird.

Art. 50 KVG Während der Beitrag an die Grundpflege gemäss der geltenden Delegationsordnung in der KLV zu definieren sein wird, wird die Vergütung der Behandlungspflege nach den geltenden krankenversicherungsrechtlichen Tarifgrundsätzen erfolgen, d.h. zwischen den Versicherern und Leistungserbringern vertraglich ausgehandelt und festgelegt werden. Die grundsätzlich bestehende Vertragsautonomie soll aber im Pflegeheimbereich69 insoweit eingeschränkt werden, als die Tarifpartner gesetzlich verpflichtet werden, für die Vergütung der Behandlungspflege eine Pauschale zu definieren. Dies ist unter dem Aspekt der Kostensteuerung deshalb angezeigt, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass der Einzelleistungstarif gewisse Anreize zur Leistungserbringung und damit zur Mengenausweitung in sich trägt.

Art. 104a KVG Weil in der Einführungsphase des KVG eine ungenügende Kostentransparenz im Spitex- und Pflegeheimbereich festgestellt wurde, ist im Herbst 1997 eine Delegationsnorm in die KVV (Art. 59a) aufgenommen worden. Diese stützt sich auf Artikel 43 Absatz 7 KVG, wonach der Bundesrat «Grundsätze für eine wirtschaftliche Bemessung und eine sachgerechte Tarifstruktur sowie für die Anpassung der Tarife aufstellen» kann, und sie ermächtigt das Departement, bei mangelhafter Kostentransparenz in den Bereichen Spitex und Pflegeheime Rahmentarife festzulegen, die nicht überschritten werden dürfen. Die Einschätzung als Einführungsproblematik liess den Gesetzgeber im Jahr 2000 in den Übergangsbestimmungen mit Artikel 69

Im Spitexbereich dürfte sich eine solche zwingende Vorschrift weniger aufdrängen, da dort üblicherweise Zeittarife vereinbart werden.

2077

104a KVG eine formellgesetzliche Grundlage erlassen, welche die Kompetenz des Bundes, eine Regelung zu erlassen, auch noch ausdrücklich festhielt. Mit Inkrafttreten der Neuordnung der Pflegefinanzierung hat diese Delegationsnorm für den Erlass von Rahmentarifen keine Berechtigung mehr und ist daher ersatzlos aufzuheben.

3.1.2

Ausblick: Anpassungen auf Verordnungsstufe

Alle übrigen rechtlichen Anpassungen in der Krankenversicherung sind gemäss der geltenden Systematik des Krankenversicherungsrechts auf Verordnungsebene vorzunehmen. Der Gesetzgeber hat in Artikel 33 KVG dem Bundesrat die Kompetenz eingeräumt, u.a. die in Artikel 25 Absatz 2 KVG umschriebenen Leistungen näher zu bezeichnen bzw. durch das Departement oder das Bundesamt näher bezeichnen zu lassen. In Anlehnung an das geltende Recht ist davon auszugehen, dass der Bundesrat seine Erlasskompetenz weiterdelegieren wird, so dass sowohl die (Neu-)Definition der Grund- und Behandlungspflege wie auch der Beitrag an die Grundpflege und die Verstärkung der kostensteuernden Instrumente in der KLV festgelegt werden können. Für die Anpassung der KLV stehen folgende Revisionspunkte im Vordergrund:

70

­

Neudefinition der Grund- und der Behandlungspflege (Art. 7 KLV): Die heute geltenden Definitionen der Grund- und der Behandlungspflege, die in Artikel 7 KLV verankert sind, gehen weitgehend auf altrechtliche Vorgängernormen zurück, auf die beim Erlass der KLV im Jahre 1995 zurückgegriffen worden ist. Es erscheint daher angezeigt, die Definitionen zu überprüfen und allenfalls so weit zu präzisieren, dass sie der herrschenden Lehre und Praxis entsprechen. Generell wird bei der Aktualisierung der Definitionen darauf zu achten sein, dass die Bedürfnisse von pflegebedürftigen Personen in besonderen Situationen (wie beispielsweise die Palliativpflege oder die Pflege bei demenziellen und psychischen Krankheiten), nicht ausser Acht gelassen werden. Die Grundpflege dürfte zudem im Leistungsumfang an die international anerkannte ATL-Definition anzupassen sein70.

­

Definition des Vergütungsbeitrages an die Grundpflege: Der von den Versicherern zu vergütende Beitrag an die Grundpflege dürfte, wie dies im geltenden Recht bereits für die Beiträge an die Kosten von Badekuren (Art. 25 KLV) und an die Transport- und Rettungskosten (Art. 26 f. KLV) der Fall ist, auf Stufe der Departementsverordnung festgelegt werden. In Anlehnung an die heute geltenden Rahmentarife ist davon auszugehen, dass ein absoluter Frankenbetrag (je Tag oder Stunde), allenfalls differenziert nach Pflegebedarfsstufen, festgelegt wird.

­

Überprüfung der Bedarfsabklärungen und Kontrollverfahren: Um die Entwicklung der Leistungsmengen im Pflegebereich kontrollieren zu können, wird es unumgänglich sein, die heute in Artikel 8 und 8a definierten Mechanismen der Bedarfsabklärung und der Kontrollverfahren (so insbesondere die Befristung mit Wiederholungsmöglichkeit) zu überprüfen und allenfalls zu ergänzen, etwa durch den Einbezug geriatrischer Fachärzte und -ärztinnen.

Vgl. oben Ziffer 2.2.1.

2078

3.2

Anpassungen in der AHV

Art. 43bis AHVG Bezügern und Bezügerinnen einer Altersrente, die in leichtem Grad hilflos sind, wird neu für die allgemeinen täglichen Lebensverrichtungen (Grundpflege) eine Hilflosenentschädigung gewährt. Damit können, zusammen mit dem von der Krankenversicherung vergüteten Beitrag an die Grundpflege, Spitex-Leistungen abgedeckt werden. Die Hilflosenentschädigung für leichte Hilflosigkeit wird allerdings nur an Personen gewährt, die zu Hause wohnen, nicht aber bei einem Aufenthalt im Heim. Damit soll ein Anreiz gesetzt werden, möglichst lange auf die Beanspruchung stationärer Pflegeinfrastrukturen zu verzichten.

3.3

Anpassung der Ergänzungsleistungen

Art. 3a Abs. 3 ELG Für Personen, die dauernd oder für längere Zeit in einem Heim oder Spital leben, darf die jährliche Ergänzungsleistung nach geltendem Recht nicht mehr als 175 Prozent des Höchstbetrages für den Lebensbedarf von Alleinstehenden nach Artikel 3b Absatz 1 Buchstabe a ELG betragen, was gegenwärtig einem Jahresbetrag von 30 900 Franken bzw. einem Monatsbetrag von 2575 Franken entspricht. Mit der Neuregelung soll diese Leistungsbegrenzung abgeschafft werden. Dabei wird unterstellt, dass die Kantone in der Regel eine Obergrenze für die als anerkannte Ausgaben zu berücksichtigenden Tagestaxen vorsehen. Schon heute haben 23 von 26 Kantonen von der vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Anrechnung von Heimtaxen zu begrenzen.

Festzuhalten gilt, dass der Wegfall der Leistungsbegrenzung zeitlich mit der Umsetzung der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen zu koordinieren ist (vgl. hierzu eingehend Ziff. 5).

4

Auswirkungen

4.1

Finanzielle Auswirkungen

4.1.1

Allgemeine Bemerkungen

Bei der allgemeinen Entwicklungsdynamik der Kosten bzw. Ausgaben im Pflegesektor stehen exogene Variabeln im Vordergrund. Der Pflegesektor wird vorab durch die demografische Entwicklung sowie den medizinischen Fortschritt beeinflusst werden, wobei zwischen diesen zwei Variabeln Wechselwirkungen bestehen.

Dieser Zuwachs ist jedoch schwer zu quantifizieren (siehe auch Ziffer 1.2.2 und insbesondere die eigens eingeholte Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums). In einer längerfristigen Betrachtung ist aber grundsätzlich davon auszugehen, dass der ganze Pflegesektor aufgrund der exogenen Faktoren eine steigende Kostenentwicklung erleben wird, die sich auf alle Finanzierungsträger auswirken und somit auch die öffentliche Hand zusätzlich belasten wird.

2079

Zu den modellbedingten finanziellen Auswirkungen ist festzuhalten, dass bereits heute die nicht von der Krankenversicherung übernommenen Pflegekosten durch andere Finanzierungsquellen gedeckt werden, nämlich vor allem durch die Haushalte sowie durch die Kantone bzw. Gemeinden über die Ergänzungsleistungen und die Sozialhilfe. Demzufolge führt die Neuregelung mehrheitlich nicht zu echten Mehrkosten, sondern zu Verschiebungen zwischen den Finanzierungsquellen, wobei dies zur Hauptsache zwischen den privaten Haushalten und der öffentlichen Hand (Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe) der Fall sein wird.

4.1.2

Finanzielle Auswirkungen auf die einzelnen Sozialwerke

Die finanziellen Auswirkungen der Revisionsvorlage können für die einzelnen Sozialwerke wie folgt zusammengefasst werden71:

71 72

­

Finanzielle Auswirkungen in der Krankenversicherung: Es ist davon auszugehen, dass der Beitrag an die Grundpflege so festgelegt werden wird, dass die heutige Belastung der Krankenversicherung gemäss Rahmentarifordnung (rund 1,4 Mrd. Fr.) in etwa unverändert bleibt. Wird allerdings unterstellt, dass die Rahmentarife wohl im Zeitpunkt ihrer Einführung (am 1.1.1998) eine vollständige Kostendeckung der Pflichtleistungen im Pflegebereich ermöglichten, heute aber nicht mehr, so ist bereits im Ist-Zustand mit hypothetischen Mehrkosten zu rechnen, die auf ca. 500 Millionen Franken geschätzt werden können72 (womit die heutigen Kosten auf 1,9 Mrd. Fr.

ansteigen würden). Wird weiter folgerichtig unterstellt, dass sich diese Mehrkosten gleich entwickeln wie die übrigen KV-Kosten, dann könnten sich diese Mehrkosten bis 2030 rund verdreifachen, d.h. 1,5 Milliarden Franken betragen. Das vorgeschlagene Finanzierungsmodell hat somit für die Kosten- und Prämienentwicklung in der Krankenversicherung einen dämpfenden Effekt, der angesichts der demografischen Entwicklung und der damit verbunden erhöhten Inanspruchnahme von Pflegeleistungen zentral ist.

­

Finanzielle Auswirkungen in der AHV: Die Mehrkosten der Einführung einer Entschädigung an Rentner und Renterinnen, die in leichtem Grad hilflos sind, werden auf 20 Millionen Franken geschätzt.

­

Finanzielle Auswirkungen bei den Ergänzungsleistungen und in der Sozialhilfe: Unter Einbezug der EL-Änderung dürften die Kantone (und der Bund) einerseits durch die EL zusätzlich belastet werden (geschätzte Mehrkosten

Für eine Schätzung der längerfristigen Auswirkungen vgl. Anhang 1.

Das Ausmass der vollständigen Kostendeckung ist schwer zu schätzen, da eine solche Schätzung im heutigen System entscheidend von der Grenzziehung zwischen Pflichtleistungen und nichtpflichtigen Leistungen in der Grundpflege abhängt, ist doch der Begriff der Grundpflege nach Art. 7 KLV sehr offen definiert. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren schätzt die Mehrkosten auf mehr als 1 Milliarde Franken im Pflegeheimbereich, wobei sie eine eher extensive Definition des Grundpflegebegriffs zu unterstellen scheint. Ausgehend von einer weniger extensiven Definition, die dem Geist des KVG mit Sicherheit näher steht, sind die Mehrkosten aber deutlich tiefer zu schätzen.

2080

von 236 Millionen Franken73), auf der anderen Seite dürfte die kantonale bzw. kommunale Sozialhilfe durch die höheren EL-Beiträge (geschätzt auf rund 100 Millionen Franken) weitgehend entlastet werden, sowie allenfalls der Subventionierungsbedarf von öffentlichen Pflegeheimen und öffentlicher Spitex zurückgehen. Netto dürfte aber der Ausbau der EL überwiegen, so dass für die öffentliche Hand mit echten Mehrkosten zu rechnen ist.

4.1.3

Finanzielle Auswirkungen auf die öffentliche Hand

Bund und Kantone werden durch die Neuregelung durch die Änderungen bei den EL und die Einführung einer Entschädigung für leichte Hilflosigkeit in der AHV zusätzlich belastet werden. Die geschätzten jährlichen Kosten für AHV und EL verteilen sich gemäss den heute geltenden Finanzierungsschlüsseln (d.h. ohne Berücksichtigung der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, vgl. hierzu Ziff. 5) wie folgt auf Bund und Kantone: Tabelle 10 Finanzielle Auswirkungen auf Bund und Kantone (in Mio. Fr.)

Bund

Kantone

OKP AHV-HE74 EL zur AHV EL zur IV

0 + 3,3 + 35,5 + 17,5

0 + 0,7 + 122,5 + 60,5

Total I Entlastung Sozialhilfe

+ 56,3 0

+ 183,7 ­ 100

Total II

+ 56,3

+ 83,7

Legende: AHV-HE EL OKP

Hilflosenentschädigung der AHV Ergänzungsleistungen obligatorische Krankenpflegeversicherung

Mittel- bis langfristig ist davon auszugehen, dass diese jährlichen Mehrkosten für Bund und Kanton real zwar ansteigen werden, jedoch weniger dynamisch als die Gesundheitskosten. Gemäss Schätzungen für das Jahr 2030 (vgl. hierzu Anhang 1) ist aber zu erwarten, dass der Anstieg im Verhältnis zur Entwicklung der Pflegekosten unterproportional verläuft. Folglich wird der durch Ergänzungsleistungen und

73

Die Aufhebung der Begrenzung des EL-Betrages bei Personen im Heim führt total zu geschätzten Mehrkosten von 236 Millionen Franken bezogen auf EL zur AHV und IV.

Die Mehrkosten bezogen einzig auf die EL zur AHV werden auf 158 Millionen Franken veranschlagt.

74 Im geltenden Recht beteiligt sich die öffentliche Hand (Bund und Kantone) insgesamt zu 20 Prozent an den Ausgaben der AHV, d.h. hier mit total 4 Millionen Franken an den Mehrausgaben von 20 Millionen Franken.

2081

Hilflosenentschädigungen getragene Finanzierungsanteil im Pflegesektor zurückgehen und somit proportional auch die Belastung für die öffentliche Hand.

4.1.4

Finanzielle Auswirkungen auf die Haushalte bzw. die pflegebedürftigen Personen

Bereits heute werden die nicht von der Krankenversicherung übernommenen Kosten anderweitig gedeckt. Kurzfristig würde somit die neue Pflegefinanzierung zu keiner Mehrbelastung für die Haushalte führen, vielmehr sollte der Ausbau der Ergänzungsleistungen und die Einführung einer Entschädigung für leichte Hilflosigkeit gesamthaft zu einer leichten Entlastung der pflegebedürftigen Personen führen. Da die Ergänzungsleistungen aber bedarfsabhängig gewährt werden, wird es von der Situation des einzelnen Haushaltes abhängen, ob eine Entlastung eintritt oder nicht (vgl. hierzu die Fallbeispiele im Anhang 3).

Angesichts des vorgeschlagenen Beitrages an die Grundpflege in der Krankenversicherung ist aber mittel- bis langfristig zu erwarten, dass die Haushalte einer zunehmenden Belastung ausgesetzt sein werden (vgl. hierzu die Tabellen zu den langfristigen Entwicklungen in Anhang 1). Es ist nämlich davon auszugehen, dass sich dieser Beitrag unterproportional mit der Entwicklung der Kosten im Pflegesektor entwickeln wird, so dass langfristig der Finanzierungsanteil der Krankenversicherung relativ gesehen zurückgehen wird. Die Situation der Haushalte dürfte sich auch dadurch verschärfen, dass die Anpassungsdynamik der verschiedenen Einkommensbestandteile älterer Personen (AHV-Renten nach dem Mischindex, BVG-Renten ohne obligatorische Teuerungsanpassung) vermutlich geringer ausfallen wird als die Entwicklung der Kosten im Gesundheits- und Pflegesektor.

4.2

Personelle Auswirkungen

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Umsetzung des vorgeschlagenen Modells zu einer Zunahme von EL-Fällen führt, die in den Kantonen einen leicht erhöhten Personalbedarf nach sich zieht.

4.3

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

Der Vorschlag zur Neuordnung der Pflegefinanzierung wirkt sich, wenn überhaupt, nur marginal auf das Kostenvolumen aus, welches durch die Pflegeleistungen verursacht wird. Geändert wird indessen die Aufteilung der Kosten auf die Kostenträger.

Bereits heute werden die nicht von der Krankenversicherung übernommenen Pflegekosten über andere Finanzierungsquellen gedeckt. Bei statischer Betrachtung ist einzig von einer Verschiebung zwischen den Finanzierungsquellen auszugehen.

Können die Kosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die Langzeitpflege auf Grund des geringeren Beitrags an die Grundpflege stabilisiert oder sogar gesenkt werden, so müssen die nicht übernommenen Kosten durch eine andere Finanzierungsquelle gedeckt werden, wobei dies zur Hauptsache durch die Haushalte, die Ergänzungsleistungen der AHV und die öffentliche Hand erfolgt. In Folge der

2082

vorgeschlagenen Änderung werden indessen keine Mittel frei, welche für andere Zwecke verwendet werden können.

Im Vergleich zum Bruttoinlandprodukt (433 Mrd. Fr. im Jahr 2003) sind die zwischen den Kostenträgern verschobenen Finanzierungslasten derart gering, dass nicht von einer Auswirkung auf die Volkswirtschaft auszugehen ist. Weil sich wegen des Vorschlags zudem weder die Menge noch die Qualität der erbrachten Leistung ändert, ist auch keine Wirkung auf den Arbeitsmarkt zu erwarten.

5

Verhältnis zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen

Der Bundesbeschluss vom 3. Oktober 2003 zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA)75, der in der Volksabstimmung vom 28. November 2004 angenommen worden ist, wirkt sich für die vorgeschlagene Neuordnung der Pflegefinanzierung im Bereich der Ergänzungsleistungen und der AHV-Hilflosenentschädigungen sowie im Spitex-Bereich aus. Der Aufgabenbereich der Ergänzungsleistungen wird teilentflochten, was ­ gemäss dem Ausblick auf die spezialgesetzlichen NFA-Auswirkungen in der bundesrätlichen Botschaft76 ­ zur Folge haben wird, dass der Bund künftig im Rahmen der EL vorwiegend für die Existenzsicherung zuständig ist (5/8 der Kosten) und die Kantone neben einer Beteiligung an der Existenzsicherung (3/8 der Kosten) vollständig die EL übernehmen, die im Zusammenhang mit Krankheits- und Behinderungskosten stehen. Die Kantone haben dabei den Betrag der Heimkosten, der den Existenzbedarf überschreitet, voll zu übernehmen. Die Kantone können die Tagestaxe begrenzen, die wegen des Aufenthalts in einem Heim oder Spital entsteht, und damit die Höhe der von ihnen zu tragenden EL beeinflussen. Die Festsetzung einer Obergrenze für die jährliche EL für Heimbewohner ergibt in diesem System keinen Sinn, weshalb diese aufgehoben werden soll. Die Kantone können mit der NFA den Vermögensverzehr weiterhin stärker oder schwächer berücksichtigen.

75 76

BBl 2003 6591 ff.

BBl 2002 2434 ff.

2083

Tabelle 11 Finanzielle Auswirkungen auf Bund und Kantone unter Berücksichtigung der NFA (in Mio. Fr.)77 Bund

Kantone

OKP AHV-HE78 EL

0 +4 0

0 0 + 236

Total I Entlastung Sozialhilfe

+4 0

+ 236 ­ 100

Total II

+4

+ 136

Legende: AHV-HE EL OKP

Hilflosenentschädigung der AHV Ergänzungsleistungen obligatorische Krankenpflegeversicherung

Mit der NFA wird die Finanzierungsverantwortung für die Heimkosten auch im ELBereich weitgehend auf die Kantone übertragen. Die Kantone tragen damit die erwähnten Belastungen aus den Ergänzungsleistungen vollumfänglich. Die Belastung im Bereich der Hilflosenentschädigungen fällt dagegen neu ganz beim Bund an. Im Spitex-Bereich geht die Verantwortung weitestgehend auf die Kantone über.

Sämtliche finanziellen Belastungen und Entlastungen werden in der NFA-Globalbilanz kompensiert, so dass die Aufgabenentflechtung für den Bund und die Gesamtheit der Kantone haushaltsneutral ausfällt. Um finanzpolitisch problematische Auswirkungen auf die NFA-Globalbilanz zu verhindern, ist es zwingend geboten, die Aufhebung der EL-Obergrenze zeitgleich mit der NFA in Kraft zu setzen.

Würde die Leistungsbegrenzung vor Inkrafttreten der NFA aufgehoben, käme es nämlich zu einer Verstärkung der bestehenden Inkongruenz zwischen den Aufgaben- und Finanzierungsverantwortlichkeiten von Bund und Kantonen im EL-Bereich. Dies würde zu unerwünschten Mehrausgaben für den Bundeshaushalt und die Kantonshaushalte vor Inkrafttreten der NFA mit entsprechenden Auswirkungen auf die NFA-Globalbilanz führen. Dies gilt es im Interesse der öffentlichen Haushalte und eines reibungslosen Übergangs zur NFA-Vorlage zu verhindern. Die zeitliche Verknüpfung mit der NFA ist daher ausdrücklich in den Schlussbestimmungen zu verankern.

77 78

Modellbedingte Mehr- bzw. Minderbelastungen werden in der NFA-Globalbilanz ausgeglichen.

Vgl. Anmerkung 74; mit der NFA wird der gesamte Anteil der öffentlichen Hand vom Bund getragen.

2084

6

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist im Bericht vom 25. Februar 2004 über die Legislaturplanung 2003 bis 2007 angekündigt und als Richtliniengeschäft aufgeführt (BBl 2004 1176).

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf die Kompetenznormen der Bundesverfassung, die den Bund zur Rechtsetzung im Bereich der verschiedenen Sozialversicherungen ermächtigen (Art. 112 BV für die AHV/IV, Art. 117 BV für die Kranken- und Unfallversicherung, Übergangsbestimmung zu Art. 112 BV für die Ergänzungsleistungen).

7.2

Verhältnis zum europäischen Recht

7.2.1

Das Recht der europäischen Gemeinschaft

Für die im vorliegenden Revisionsentwurf behandelten Bereiche sind keine gemeinschaftsrechtlichen Normen vorgesehen. Finanzierungsstruktur und -modalitäten von Krankenpflegesystemen und Systemen der Langzeitpflege fallen nicht unter den «Acquis communautaire». Die Staaten können diese Aspekte nach eigenem Ermessen bestimmen. Indes lädt die Empfehlung vom 27. Juli 199279 über die Annäherung der Ziele und der Politiken im Bereich des sozialen Schutzes die Mitgliedstaaten ein, geeignete Maßnahmen der sozialen Sicherung zu treffen, um den spezifischen Bedürfnissen älterer Personen Rechnung zu tragen, wenn diese von der Pflege und den Diensten anderer abhängig sind. Zudem wird in verschiedenen Mitteilungen der Kommission auf das ökonomische und soziale Interesse an einem obligatorischen Versicherungsschutz für die Bevölkerung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit hingewiesen80. Die Langzeitpflegebedürftigkeit ist ein erhebliches soziales Risiko, das die Sozialschutzsysteme decken müssten. Die älteren pflegebedürftigen Personen müssen über eine medizinische und paramedizinische Versorgung und über Haushaltshilfen zur Bewältigung der Alltagsbedürfnisse verfügen können. Die Mitgliedstaaten werden aufgerufen, die Selbstständigkeit der Betroffenen zu fördern und Anreize zu schaffen, damit sie möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können.

7.2.2

Die Instrumente des Europarates

Die Schweiz hat die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 1964 am 16. September 197781 ratifiziert. Sie hat jedoch Teil II über die medizinische Betreuung noch nicht angenommen. Jeder Staat, der den aus Teil II der Ordnung hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen will, ist insbesondere ver79 80 81

Abl EG Nr. 245 vom 26. August 1992, S. 49.

Insbesondere Mitteilung der Kommission, 12.03.1997 «Modernisierung und Verbesserung des Sozialschutzes in der Europäischen Union» KOM(97)102.

AS 1978 1491

2085

pflichtet, den geschützten Personen bei Krankheit ohne Rücksicht auf ihre Ursache medizinische Versorgung zu gewährleisten. Über die Langzeitpflege für ältere Personen sind in der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit keine besonderen Bestimmungen enthalten.

Die Vorschläge im Revisionsentwurf sind mit den Empfehlungen des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten im Bereich der Langzeitpflege82 vereinbar. Die Empfehlung Nr. (98) 9 des Europarates zur Pflegebedürftigkeit legt namentlich fest, dass sowohl Sach- wie auch Geldleistungen für pflege- und betreuungsbedürftige Personen zu Hause und in Pflegeheimen bedürfnisgerecht auszurichten sind.

7.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Gemäss Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b der Bundesverfassung bedarf Artikel 43bis AHVG und Artikel 3a ELG der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder beider Räte, da der Beschluss neue wiederkehrende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken pro Jahr nach sich zieht.

7.4

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

In Artikel 96 KVG, Artikel 154 Absatz 2 AHVG und Artikel 19 Absatz 2 ELG werden die Regelungskompetenzen für das Verordnungsrecht, das zum Vollzug der verschiedenen von dieser Revision betroffenen Sozialversicherungen notwendig ist, an den Bundesrat delegiert. Die Vorlage stützt sich auf die bestehende Delegationsordnung und überträgt dem Bundesrat keine neuen Rechtsetzungsbefugnisse.

82

Resolution Nr. (74) 31 vom 22. September 1974 über medizinische und soziale Leistungen für zu Hause gepflegte Personen, Empfehlung Nr. R (80) 15 vom 14. November 1980 über eine bessere Verteilung der medizinischen Versorgung innerhalb und ausserhalb der Spitäler, Empfehlung Nr. R (86) 5 vom 17. Februar 1986 über die allgemeine Verfügbarkeit der medizinischen Versorgung, Empfehlung Nr. (98) 9 vom 18. September 1998 über die Pflegebedürftigkeit, Empfehlung Nr. (2000) 18 vom 21. September 2000 über die Kriterien zum Aufbau einer Politik zur Förderung der Gesundheit.

2086

Anhang 1

Tabellen zu den langfristigen Prognosen Tabelle A Pflegeheime: Auswirkungen der neuen Finanzierung und Schätzung der Entwicklung bis 2030 2001 (Ausgangslage) Finanzierungsträger

2001 (neue Finanzierung)

Prognose 2030 (neue Finanzierung) in Mio. Fr.

in %

2 002,0 6 891,0 2 498,6 1 076,4 0,0 1 422,2 413,0 521,8 521,8 0,0 4,0 188,0

15,99 55,05 19,96 8,60 0,00 11,36 3,30 4,17 4,17 0,00 0,03 1,50

in Mio. Fr.

in %

in Mio. Fr.

in %

KV (netto) Haushalte Kantone/Gemeinden ­ davon Beiträge/Subv. usw.

­ davon Sozialhilfe ­ davon Anteil EL Bund (Anteil EL) AHV ­ davon HE ­ davon direkte Subventionen Andere Vers. (UV, MV, Priv.)

Andere private Finanzierung

1 071,8 2 640,9 1 270,3 479,7 97,0 693,6 201,4 308,9 308,9 0,0 1,8 83,8

19,21 47,34 22,77 8,60 1,74 12,43 3,61 5,54 5,54 0,00 0,03 1,50

1 071,8 2 617,9 1 266,3 479,7 0 786,6 228,4 308,9 308,9 0,0 1,8 83,8

19,21 46,93 22,70 8,60 0,00 14,10 4,09 5,54 5,54 0,00 0,03 1,50

Total

5 578,9 100,00

5 578,9 100,00

*

** *** ***

12 518,5 100,00

Quellen: Bericht Obsan/IRER (2004); eigene Berechnungen Bemerkungen: * Beibehaltung heutiges Finanzvolumen ** Entlastung Sozialhilfe, Ausbau EL *** Ausbau EL: Gemäss Berechnung des Obsan beträgt der EL-Ausbau im Jahr 2001 total 120 Mio. Fr. (gegenüber den vom BSV geschätzten und in der Botschaft genannten 158 Mio. Fr. für 2003)

2087

Tabelle B Spitex: Auswirkungen der neuen Finanzierung und Schätzung der Entwicklung bis 2030 2001 (Ausgangslage) Finanzierungsträger

2001 (neue Finanzierung)

Prognose 2030 (neue Finanzierung) in Mio. Fr.

in %

387,8 309,6 847,8 842,6 5,2 0,0 0,0 560,8 164,3 396,5 93,2 113,9

16,77 13,38 36,65 36,43 0,22 0,00 0,00 24,24 7,10 17,14 4,03 4,92

in Mio. Fr.

in %

in Mio. Fr.

KV (netto) Haushalte Kantone/Gemeinden ­ davon Beiträge/Subv. usw.

­ davon Sozialhilfe ­ davon Anteil EL Bund (Anteil EL) AHV ­ davon HE ­ davon direkte Subventionen Andere Vers. (UV, MV, Priv.)

Andere private Finanzierung

230,3 41,1 343,4 341,3 2,1 0,0 0,0 237,2 77,2 160,0 37,7 46,1

24,61 4,39 36,70 36,47 0,22 0,00 0,00 25,35 8,25 17,10 4,03 4,93

230,3 21,1 343,4 341,3 2,1 0,0 0,0 257,2 97,2 160,0 37,7 46,1

Total

935,8 100,00

935,8 100,00

Quellen: Bericht Obsan/IRER (2004); eigene Berechnungen Bemerkungen: * Beibehaltung heutiges Finanzvolumen ** Einführung einfache HE: + 20 Mio.

2088

in %

24,61 * 2,25 36,70 36,47 0,22 0,00 0,00 27,48 10,39 ** 17,10 4,03 4,93

2 313,1 100,00

Tabelle C Pflegeheime und Spitex: Auswirkungen der neuen Finanzierung und Schätzung der Entwicklung bis 2030 2001 (Ausgangslage) Finanzierungsträger

2001 (neue Finanzierung)

Prognose 2030 (neue Finanzierung)

in Mio. Fr.

in %

in Mio. Fr.

in %

in Mio. Fr.

in %

KV (netto)83 Haushalte Kantone/Gemeinden ­ davon Beiträge/Subv. usw.

­ davon Sozialhilfe ­ davon Anteil EL Bund (Anteil EL) AHV ­ davon HE ­ davon direkte Subventionen Andere Vers. (UV, MV, Priv.)

Andere private Finanzierung

1 302,1 2 682,0 1 613,7 821,0 99,1 693,6 201,4 546,1 386,1 160,0 39,5 129,9

19,99 41,17 24,77 12,60 1,52 10,65 3,09 8,38 5,93 2,46 0,61 1,99

1 302,1 2 639,0 1 609,7 821,0 2,1 786,6 228,4 566,1 406,1 160,0 39,5 129,9

19,99 40,51 24,71 12,60 0,03 12,07 3,51 8,69 6,23 2,46 0,61 1,99

2 389,8 7 200,6 3 346,4 1 919,0 5,2 1 422,2 413,0 1 082,6 686,1 396,5 97,2 301,9

16,11 48,55 22,56 12,94 0,04 9,59 2,78 7,30 4,63 2,67 0,66 2,04

Total

6 514,7 100,00

6 514,7 100,00

14 831,6 100,00

Quellen: Bericht Obsan/IRER (2004); eigene Berechnungen /

83

Im Vergleich zur Schätzung in Tabelle 8 weichen diese Ergebnisse für die KV aus zwei Gründen stark ab: Erstens berücksichtigten die obigen Berechnungen die Kostenbeteiligung nicht, zweitens wird auf Grund des neuen Finanzierungsmodells für die Grundpflege nur noch der Demografieeffekt berücksichtigt.

2089

Anhang 2

Beispielhafte Hochrechnungen der OKP-Pflegekosten im Heim aufgrund der demografischen Entwicklung und der Verteilung des Pflegeaufwandes Basisszenario: In der Zukunft erfolgt keine Verschiebung der Anteil Fälle in den Pflegestufen Anzahl 2030

Personen in Alters- & Pflegeheimen

119 292

davon mit Pflege

95,9 %

Pflegestufen

Preis/Tag

Kosten/Jahr

1 2 3 4

20 40 60 70

7 300 14 600 21 900 25 550

Anteil Fälle

114 401 Kosten 2030

25,0 % 33,5 % 25,2 % 16,2 %

208 990 415 559 855 138 632 455 054 473 859 530

100,0 %

1 875 160 138

Szenario A: Medizinischer Fortschrift + Prävention führen zu einer Reduktion der Pflegebedürftigkeit (Verschiebung der Fälle zu Lasten Stufe 1 + 2 um je 5 Prozentpunkte) Anzahl 2030

Personen in Alters- & Pflegeheimen

119 292

davon mit Pflege

95,9 %

Pflegestufen

Preis/Tag

Kosten/Jahr

1 2 3 4

20 40 60 70

7 300 14 600 21 900 25 550

2090

Anteil Fälle

114 401 Kosten 2030

30,0 % 38,5 % 20,2 % 11,2 %

250 746 653 643 367 616 507 186 338 327 712 695

100,0 %

1 729 013 303

Szenario B: Die demografische Entwicklung führt zu einer Erhöhung der Pflegebedürftigkeit (Verschiebung der Fälle zu Lasten Stufe 3 + 4 um je 5 Prozentpunkte) Anzahl 2030

Personen in Alters- & Pflegeheimen

119 292

davon mit Pflege

95,9 %

Pflegestufen

Preis/Tag

Kosten/Jahr

1 2 3 4

20 40 60 70

7 300 14 600 21 900 25 550

Anteil Fälle

114 401 Kosten 2030

20,0 % 28,5 % 30,2 % 21,2 %

167 234 176 476 342 661 757 723 770 620 006 366

100,0 %

2 021 306 973

Quellen: ­ Anteil Fälle je Pflegestufe im Basisszenario approximativ ermittelt gemäss Pflegeaufwand in der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen des BFS.

­ Preis/Tag entspricht den maximalen Rahmentarifen je Stufe (Stand 1.1.2004).

­ Geschätzte Anzahl Personen in Pflegeheimen gemäss Demografieszenario «Trend» des BFS.

2091

Anhang 3

Fallbeispiele Vorbemerkung: Die beiden Fallbeispiele zielen darauf ab, die grundsätzlichen Auswirkungen des neuen Finanzierungsmodells gegenüber dem geltenden Recht aufzuzeigen, weshalb gewisse Vereinfachungen (etwa in der Berechnung der Ergänzungsleistungen) in Kauf genommen werden. Die Auswirkungen (bzw.

Nichtauswirkungen) auf die Leistungen der Sozialversicherungszweige, die mit dem neuen Modell angepasst werden, sind grau unterlegt.

Fallbeispiel 1: Alleinstehende AHV-Rentnerin im Pflegeheim (Stichtag 1.12.2004) Für eine allein stehende Rentnerin, die im Pflegeheim lebt und deren Renteneinkommen gesamtschweizerischen Durchschnittswerten entsprechen, ändert das neue Finanzierungsmodell an der Leistung, die sie von der Krankenversicherung vergütet erhält ­ zumindest kurzfristig ­ nichts. Nach geltendem Rahmentarif erhält die Rentnerin, die in mittlerem Grad hilflos ist, pro Tag 60 Franken für Behandlungsund Grundpflege (= 21 900 Fr./Jahr), mit dem Reformvorschlag fällt der gleiche Betrag an, allerdings unterschiedlich aufgeteilt nach Grundpflege (Beitrag von 45 Fr./Tag) und Behandlungspflege (volle Vergütung, hier geschätzt auf pauschal 15 Fr./Tag). Mittel- bis langfristig wird der Beitrag an die Grundpflege von 45 Franken pro Tag, sofern er nicht erhöht wird, einen zunehmend geringeren Teil der Ausgaben decken und so zu einer finanziellen Zusatzbelastung der Rentnerin führen.

Im Bereich der Ergänzungsleistungen fällt mit dem neuen Modell die Leistungsbegrenzung weg, so dass die Rentnerin nicht mehr an die Sozialhilfebehörde gelangen muss.

Geltendes Recht

Reformvorschlag

Einkommen ­ Rente 1. Säule ­ Rente 2. Säule ­ Hilflosenentschädigung ­ KV-Leistungen

20 500 16 000 6 300 21 900

20 500 16 000 6 300 21 900

Total Einkommen

64 700

64 700

Ausgaben ­ Heimtaxe ­ Persönliche Auslagen ­ KV-Prämien

90 000 3 500 3 000

90 000 3 500 3 000

Total Ausgaben

96 500

96 500

Ausgabenüberschuss

31 800

31 800

Ergänzungsleistungen

30 300

31 800

1 500

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Sozialhilfe 2092

Fallbeispiel 2: Alleinstehende AHV-Rentnerin, Pflege zu Hause (Stichtag 1.12.2004) Die Rentnerin, die von ihrem Renteneinkommen der ersten und zweiten Säule lebt, ist leicht hilfsbedürftig und benötigt täglich zwei Stunden Spitexdienstleistungen, wovon 1 Stunde für die Grundpflege (45 Fr.) und 1 Stunde für hauswirtschaftliche Leistungen (22 Fr.) eingesetzt wird. Der Beitrag der Krankenversicherung an die Grundpflegekosten ist gleich hoch wie unter geltendem Recht (365×45 Fr. = ~ 16 400 Fr.). Auch hier gilt aber, dass der Beitrag an die Grundpflege von 45 Franken pro Tag, sofern er nicht erhöht wird, mittel- bis langfristig einen zunehmend geringeren Teil der Ausgaben decken und so zu einer finanziellen Zusatzbelastung der Rentnerin führen wird. Neu erhält die Rentnerin mit dem Reformvorschlag von der AHV eine Entschädigung für ihre Hilflosigkeit leichten Grades.

Geltendes Recht

Reformvorschlag

Einkommen ­ Rente 1. Säule ­ Rente 2. Säule ­ Hilflosenentschädigung ­ KV-Leistungen

22 500 22 500 0 16 400

22 500 22 500 2 500 16 400

Total Einkommen

61 400

63 900

17 300 13 200

17 300 13 200

16 400 8 000 3 000

16 400 8 000 3 000

57 900

57 900

3 500

6 000

Ausgaben ­ Allg. Lebensbedarf ­ Mietzins ­ Spitex-Leistungen ­ Grundpflege ­ Hauswirtschaft ­ KV-Prämien Total Ausgaben Einnahmenüberschuss

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