BBl 2023 www.fedlex.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

19.311 / 20.313 / 20.323 / 21.311 Standesinitiativen ZG. Politisches Mandat auch bei Mutterschaft.

Änderung der Bundesgesetzgebung BL. Teilnahme an Parlamentssitzungen während des Mutterschaftsurlaubs LU. Politikerinnen im Mutterschaftsurlaub BS. Wahrnehmung des Parlamentsmandates während des Mutterschaftsurlaubs Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 30. März 2023

Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf für eine Änderung des Erwerbsersatzgesetzes. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt Ihnen, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

30. März 2023

Im Namen der Kommission Der Präsident: Mathias Zopfi

2023-1012

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Übersicht Mit der vorliegenden Gesetzesänderung wird die Vereinbarkeit von Parlamentsmandat und Mutterschaft gefördert. Eine vom Volk gewählte Parlamentarierin soll nicht aufgrund Mutterschaft daran gehindert werden, ihr politisches Mandat erfüllen zu können.

Gemäss geltendem Gesetz verliert eine Parlamentarierin ihren Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung auch für ihre berufliche Tätigkeit, wenn sie während des Mutterschaftsurlaubs an einer Sitzung des Parlamentes teilnimmt. Mit der Änderung des Erwerbsersatzgesetzes soll die betreffende Bestimmung angepasst werden.

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Bericht 1

Ausgangslage

1.1

Rechtliche Rahmenbedingungen

Mit der Geburt des Kindes beginnt der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung gemäss Artikel 16c Absatz 1 des Bundesgesetzes über den Erwerbsersatz (Erwerbsersatzgesetz, EOG)1. Dieser Anspruch endet am 98. Tag nach seinem Beginn (Art. 16d erster Satz EOG). Artikel 25 der Erwerbsersatzverordnung2 in Verbindung mit Artikel 16d EOG hält fest, dass der Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung mit der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit vorzeitig endet. Der Gesetzgeber wollte explizit, dass der Mutterschaftsurlaub voll ausgeschöpft wird, weshalb eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit auch dann zum Ende des Anspruchs führt, wenn die Arbeit nur teilweise wieder aufgenommen wird.3 In seinem Entscheid von 20134 hat das Bundesgericht festgehalten, dass die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit mit geringfügigem Lohn (Stand 2021: 2300 Franken im Kalenderjahr, pro rata heruntergebrochen auf den betreffenden Zeitraum des Mutterschaftsurlaubs) gemäss Artikel 34d Absatz 1 der Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV)5 den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung nicht beendet.

Die parlamentarische Tätigkeit stellt nach AHV-rechtlichem Begriff eine Erwerbstätigkeit dar, da sowohl für die Entschädigung der Vorbereitungsarbeiten wie auch auf den Taggeldern für die Sitzungs- und Sessionsteilnahme Beiträge nach Artikel 5 Absätze 1 und 2 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)6 in Verbindung mit Artikel 7 Buchstabe i AHVV erhoben werden.

1.2

Regelungen und Praxis auf Bundesebene

Für jeden Arbeitstag, an dem ein Mitglied der eidgenössischen Räte (Ratsmitglied) an Sitzungen seines Rates oder einer Kommission teilnimmt, wird ihm als Einkommen ein Taggeld ausbezahlt (Art. 3 Abs. 1 des Parlamentsressourcengesetzes, PRG)7. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts ist geregelt, dass Parlamentarierinnen während des Mutterschaftsurlaubs weiterhin Anspruch auf Taggelder haben.8 Gemäss Artikel 8a Absatz 3 der Verordnung der Bundesversammlung zum Parlamentsressourcengesetz

1 2 3 4 5 6 7 8

SR 834.1 SR 834.11 BBl 2002 7546; BGE 139 V 250 E. 4.5 S. 257 BGE 139 V 250, E.4.6 S. 258 SR 831.101 SR 831.10 SR 171.21 02.423 Pa.Iv. Vorsorgeregelung für die Ratsmitglieder.

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(VPRG)9 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 3 PRG10 erhalten sie während des Mutterschaftsurlaubs 100 Prozent des entgangenen Taggeldes ausbezahlt. Die Bemessung der Dauer des Mutterschaftsurlaubs orientiert sich dabei an Artikel 35a des Bundesgesetzes über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG)11.

Diese Bestimmung hält fest, dass Wöchnerinnen in den ersten acht Wochen nach der Niederkunft nicht und danach bis zur 16. Woche nur mit ihrem Einverständnis beschäftigt werden dürfen. Die Dauer des Mutterschaftsurlaubs einer Bundesparlamentarierin beläuft sich somit auf 16 Wochen. Während dieser Zeit wird ihr unabhängig davon, ob sie an Sitzungen teilnimmt oder nicht, eine Entschädigung für die Sitzung in Form eines Taggeldes ausbezahlt.

Erwähnt sei hier, dass das im Arbeitsgesetz festgehaltene achtwöchige Arbeitsverbot nicht für Parlamentarierinnen gilt, da sie dem Arbeitsgesetz nicht unterstehen. Auch wenn Bundesparlamentarierinnen während des Mutterschaftsurlaubs weiterhin ein Taggeld erhalten und seit 2010 auf den Abstimmungslisten als «entschuldigt» aufgeführt werden, so ergeben sich für sie Nachteile, wenn sie ihre Parlamentstätigkeit vorzeitig wieder aufnehmen. Ihr Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung nach Artikel 16b EOG wird mit der Wiederaufnahme der Parlamentstätigkeit auch für ihre hauptberufliche Tätigkeit beendet und entfällt von diesem Zeitpunkt an (Art. 16e EOG). Dies zeigt das Beispiel von Nationalrätin Kathrin Bertschy. Sie nahm in ihrem Mutterschaftsurlaub an einer Kommissionssitzung und an der Session teil. Die zuständige Ausgleichskasse wendete das geltende Recht an und sah gestützt darauf den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung als vorzeitig beendet an. Bertschy focht diesen Entscheid beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern an, welches die Beschwerde im Juli 2021 abwies. Bertschy zog das kantonale Urteil anschliessend an das Bundesgericht weiter. Mit Urteil vom 8. März 202212 bestätigt das Bundesgericht, dass der Anspruch einer Nationalrätin auf Mutterschaftsentschädigung vorzeitig endet, wenn sie während des Mutterschaftsurlaubs wieder am Parlamentsbetrieb teilnimmt. Konkret hält das Bundesgericht fest, dass die politische Tätigkeit eine umfassende Arbeitsleistung beinhalte, die entschädigt werde, und bei dieser Entschädigung von Einkommen
auszugehen sei. Bei der politischen Tätigkeit stehe zwar grundsätzlich nicht das Erzielen von Einkommen im Vordergrund. Daran vermöge nichts zu ändern, dass es sich beim Parlamentsmandat der Nationalrätin um eine Erwerbstätigkeit im Sinne von Artikel 16d Absatz 3 EOG handle. Auch dass sich die Nationalrätin bei der Ausübung des politischen Mandats nicht vertreten lassen könne, ändere daran nichts. Das Entgelt aus der Parlamentstätigkeit stelle grundsätzlich beitragspflichtigen Lohn nach Artikel 5 Absätze 1 und 2 AHVG in Verbindung mit Artikel 7 Buchstabe i AHVV dar. Mit der Wiederaufnahme des politischen Amtes ende der gesamte Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung.

9 10 11 12

SR 171.211 SR 171.21 SR 822.11 BGE 9C_469/2021

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1.3

Erfahrungen in den Kantonen

Wie Beispiele zeigen, kam es in der Vergangenheit zu Unsicherheiten, wie mit Politikerinnen, die während des Mutterschaftsurlaubs an Sitzungen teilnehmen (wollen), umzugehen ist. Auf kantonaler und kommunaler Ebene wurde die Bundesgesetzgebung nicht einheitlich ausgelegt. Dies führte zu einem uneinheitlichen Umgang mit dieser Thematik. So wurde beispielsweise in einem Kanton einer Parlamentarierin geraten, während des ganzen Mutterschaftsurlaubs nicht an Sitzungen teilzunehmen, damit keine Probleme entstehen. Bei einer anderen Parlamentarierin im gleichen Kanton wurde eine Lösung, die sich rechtlich im Graubereich befindet, umgesetzt, damit der Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung mit der Teilnahme an einer Sitzung nicht wegfällt. In einem anderen Kanton wurde eine Möglichkeit gesucht, die Mutterschaftsentschädigung, die durch eine Wiederaufnahme der Parlamentstätigkeit vor Ende des Mutterschaftsurlaubs wegfällt, finanziell auszugleichen. Diese Lösung ändert aber nichts an der Tatsache, dass gemäss geltender Bundesgesetzgebung die Teilnahme an einer parlamentarischen Sitzung den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung an sich beendet. Andere Beispiele zeigen, dass Parlamentarierinnen in Kritik geraten können, wenn sie über längere Zeit hinweg abwesend sind, vor allem bei kontroversen Themen und knappen Abstimmungen. Es zeigt sich, dass es die geltende Bundesgesetzgebung Müttern erschwert, ihr politisches Mandat nach der Geburt des Kindes wahrzunehmen.

2

Entstehungsgeschichte

2.1

Standesinitiativen Zug, Baselland, Luzern und Basel-Stadt

Die Standesinitiativen Zug, Baselland, Luzern und Basel-Stadt (19.311, 20.313, 20.323 und 21.311) verlangen eine Änderung der Bundesgesetzgebung, damit Frauen nach der Geburt eines Kindes auf allen föderalen Legislativebenen ihre politischen Mandate während des Mutterschaftsurlaubs wahrnehmen können, ohne dadurch den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung und den Mutterschutz aus der beruflichen Tätigkeit zu verlieren.

2.2

Vorprüfung durch die Staatspolitischen Kommissionen

Die Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerates beriet die drei ersten Initiativen der Kantone Zug, Baselland und Luzern an ihrer Sitzung vom 9. November 2020 vor und gab ihnen mit 11 zu 1 Stimmen bei 1 Enthaltung Folge. Am 8. April 2022 gab die Kommission auch der Initiative des Kantons Basel-Stadt mit 11 zu 0 Stimmen bei 1 Enthaltung Folge.

Die Kommission erachtet die aktuelle Situation als unbefriedigend und ist der Ansicht, dass sozialversicherungsrechtliche Bestimmungen gewählte Parlamentarierinnen nicht daran hindern sollten, ihr Mandat als Vertreterinnen des Volkes auszuüben.

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Die heutige Situation ist nicht nur für die betroffenen Frauen unbefriedigend, sondern auch für die Institution Parlament und die Wählerinnen und Wähler.

Indem die nationalrätliche Schwesterkommission an ihren Sitzungen vom 21. Januar 2021 und vom 30. Juni 2022 dem Beschluss der SPK des Ständerates einstimmig bzw.

mit 13 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung (21.311) zustimmte, machte sie den Weg frei für die Ausarbeitung eines Erlass- und Berichtsentwurfes durch die erstberatende Ständeratskommission.

2.3

Umsetzung der Vorlage durch die SPK

An ihrer Sitzung vom 26. April 2021 nahm die SPK des Ständerates Kenntnis von der Zustimmung ihrer Schwesterkommission zu den ersten drei Standesinitiativen und entschied über das weitere Vorgehen. Bereits im Rahmen der Vorprüfung wurde festgestellt, dass für die Umsetzung des Anliegens eine Änderung im EOG vorgenommen werden müsse, wonach die freiwillige Teilnahme an Ratssitzungen von Parlamenten auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene ­ unabhängig von einer allfälligen Entschädigung ­ nicht zur Beendigung des Anspruchs auf Mutterschaftsentschädigung führe. So erteilte die Kommission ihrem Sekretariat und der Verwaltung den Auftrag, ihr einen Vorentwurf zu unterbreiten. Dieser Vorentwurf wurde mit der Initiative des Kantons Basel-Stadt ergänzt.

Am 22. August 2022 verabschiedete die Kommission ihren Vorentwurf einstimmig zuhanden der Vernehmlassung. Nach Durchführung der Vernehmlassung nahm die Kommission Kenntnis von deren Ergebnissen, stimmte dem Erlassentwurf mit 8 zu 2 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu und verabschiedete die Vorlage am 30. März 2023 zuhanden des Ständerats. Gleichzeitig stellte sie den Erlassentwurf und den Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme zu.

2.4

Geprüfte Alternativen

2.4.1

Ausweitung auf Exekutive und/oder Judikative

Die Kommission diskutierte eingehend die Erweiterung dieser Ausnahmeregelung auf die Exekutive und/oder Judikative bei Bund, Kantonen und Gemeinden. Dies würde bedeuten, dass auch Mütter, die Mitglieder einer Exekutive oder Judikative sind, bei einer Teilnahme an Sitzungen den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung nicht verlieren würden.

Die Mitglieder der Exekutive werden durch ein Gremium oder das Volk gewählt.

Auch sie haben kein Arbeitsverhältnis. Deshalb ist das Arbeitsgesetz für sie nicht anwendbar, und das achtwöchige Arbeitsverbot (Art. 35a ArG) gilt für sie nicht. In Exekutivorganen vertreten sich die Mitglieder jeweils gegenseitig.

Mitglieder der Exekutive vertreten an Regierungssitzungen ihre Dossiers. Dies bedarf einer Vorbereitung und ist mehr als nur eine Stimmabgabe, wie sie für die Parlamentarierinnen an einer Ratssitzung möglich ist. In der Praxis ist es deshalb kaum denkbar, dass ein Regierungsmitglied während des Mutterschaftsurlaubs sporadisch an Regie6 / 14

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rungssitzungen teilnimmt. Die Regierungstätigkeit verlangt ein erweitertes Engagement, das sich schlecht mit einem Mutterschaftsurlaub kombinieren lässt. Die hier umzusetzenden Standesinitiativen betreffen denn auch alle die Tätigkeit von Müttern, die einer Legislative angehören. Analoge Probleme von Müttern in Exekutivämtern sind nicht bekannt.

Vollamtlich tätige Mitglieder der Judikative haben zwar in der Regel ein Arbeitsverhältnis, sind aber bei der öffentlichen Verwaltung angestellt und gehören somit zu einem Personenkreis, auf den das Arbeitsgesetz nicht anwendbar ist. Das Gleiche gilt für nebenamtliche Mitglieder der Judikative mit Arbeitsverhältnis. Für nebenamtliche Mitglieder der Judikative, die kein Arbeitsverhältnis haben, gilt das Arbeitsgesetz nicht. Das achtwöchige Arbeitsverbot (Art. 35a ArG) gilt somit nicht direkt für diesen Personenkreis.

Allerdings könnte eine Ausweitung auf die Judikative in Konflikt geraten mit den für vollamtliche Mitglieder der Judikative anwendbaren Personalgesetzen einzelner Kantone. Sie sehen teilweise ein achtwöchiges Arbeitsverbot nach der Niederkunft vor oder erklären das Arbeitsverbot gemäss Arbeitsgesetz als anwendbar. Ausserdem stehen Mitglieder der Judikative mehrheitlich in einem Arbeitsverhältnis, weshalb die Ungleichbehandlung gegenüber anderen Müttern mit öffentlich-rechtlichem Arbeitsvertrag kaum begründet werden könnte.

Hinzu kommt, dass kein Anspruch auf einen bestimmten Spruchkörper besteht und es deshalb nicht notwendig ist, dass die Mutter den Mutterschaftsurlaub unterbricht, um das Funktionieren der Gerichtsbehörde zu gewährleisten. Denn gemäss Rechtsprechung ist eine Veränderung der Besetzung einzelfallbezogen zulässig, beispielsweise wenn ein Mitglied des Gerichts sein Amt wegen einer länger dauernden Krankheit nicht ausüben kann (vgl. Bundesgerichtsurteil 6P.102/2005 vom 26. Juni 2006 E. 2.2, in: ZBl 108/2007, S. 44).

Eine Ausweitung der Ausnahmeregelung auf die Exekutive und/oder die Judikative könnte dazu führen, dass für weitere Bereiche eine Ausnahmeregelung gefordert wird, zum Beispiel für Selbstständigerwerbende. Eine Öffnung für weitere Bereiche würde aber zu einer Aushöhlung der EOG-Bestimmung führen, die klar vorschreibt, dass der Entschädigungsanspruch endet, wenn die Erwerbstätigkeit während des Mutterschaftsurlaubs
wieder aufgenommen wird.

Jede Ausnahmeregelung führt zu einer Ungleichbehandlung zwischen dem Personenkreis, für den die Ausnahmeregelung gilt, und den übrigen erwerbstätigen Müttern.

Wenn eine Stellvertretung möglich ist, lässt sich die unterschiedliche Behandlung von Müttern, die ein aufwendiges politisches Amt innehaben, und Müttern, die eine Erwerbstätigkeit mit einem hohen Erwerbspensum ausüben, kaum rechtfertigen.

Die Kommission ist klar der Meinung, dass es bei dieser Ausnahmeregelung nicht zu einer Aufweichung des Mutterschutzes kommen darf. Der Schutz der Mutterschaft ist eine unverzichtbare Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft. Der Mutterschaftsurlaub dient unter anderem dazu, diesen Schutz zu gewährleisten. Deshalb ist der Kreis der Berechtigten für eine solche Ausnahme so klein wie möglich zu halten.

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2.4.2

Ausweitung auf alle Frauen

Verworfen wurde auch die Idee, dass die Regelung für alle Frauen, also nicht nur für Politikerinnen, gelten soll. Denn Mütter, die dem Arbeitsgesetz unterstellt sind, dürfen während acht Wochen nach der Niederkunft nicht und danach bis zur 16. Woche nur mit ihrem Einverständnis beschäftigt werden (Art. 35a Abs. 3 ArG). Der Mutterschaftsurlaub hat einen sehr engen Konnex mit dem Arbeitsverbot und der Begrifflichkeit von Urlaub im Sinne der Erholung und der Möglichkeit, sich dem Kind zu widmen. Die Kommission betont, dass der Mutterschutz und die Mutterschaftsversicherung grosse Errungenschaften sind, die hoch zu gewichten sind und nicht untergraben werden dürfen.

2.4.3

Anteilmässige Reduktion der Mutterschaftsentschädigung

Diskutiert wurde auch ein System, in welchem die Mutterschaftsentschädigung im gleichen Umfang reduziert würde, wie die Mutter ihre Tätigkeit vorzeitig wieder aufnimmt. Nebst den oben erwähnten Argumenten des Mutterschutzes kann dies aber aus verschiedenen Gründen nicht eingeführt werden: Die Ausgleichskassen, die für die Umsetzung der Mutterschaftsentschädigung zuständig sind, kennen den Beschäftigungsgrad einer Person nicht und können ihn auch nicht überprüfen. Ebenso wenig gibt es eine Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenerwerb; massgebend ist einzig, ob die Person selbstständig, unselbstständig oder nicht erwerbstätig ist. Hinzu kommt, dass bei einem politischen Mandat in aller Regel kein Beschäftigungsgrad definiert ist und unterschiedliche Regelungen in Bezug auf die Entschädigungsformen für das politische Mandat gelten (Jahrespauschale und/oder Sitzungsgeld). Die Ausgleichskassen verfügen über kein System, um die Mutterschaftsentschädigung im gleichen Ausmass zu reduzieren, wie die Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Ausserdem stellt die Mutterschaftsentschädigung ein Massengeschäft dar. Es würde somit einen hohen Aufwand für die Ausgleichskassen bedeuten, wenn die Entschädigung im gleichen Umfang reduziert werden müsste, wie ein politisches Mandat ausgeübt wird.

2.5

Ergebnisse der Vernehmlassung

Die Kommission hat vom 22. August bis am 25 November 2022 eine Vernehmlassung durchgeführt.

53 Stellungnahmen sind eingegangen. Insgesamt haben 25 Kantone, sieben politische Parteien, sechs Dachverbände der Wirtschaft, der Städteverband und die Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen sowie 13 Organisationen und weitere interessierte Kreise eine Stellungnahme eingereicht.

22 Kantone unterstützen die Vorlage, wovon vier Kantone sie ergänzen möchten. Drei Kantone lehnen die Vorlage ab. Sechs politischen Parteien sprechen sich für die Vorlage aus, die SVP lehnt sie ab. Der Städteverband begrüsst die vorgeschlagene Änderung. Die Verbände der Wirtschaft unterstreichen, dass die Vereinbarkeit von Parla8 / 14

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mentsmandat und Mutterschaft grundsätzlich zu fördern ist. Vier von sechs lehnen die Vorlage aber ab. Die Organisationen und weitere Interessierte begrüssen, dass die Problematik erkannt wurde und befürworten die Absicht, eine Lösung für Parlamentarierinnen zu finden, machen aber andere, mehrheitlich weitergehende Lösungsvorschläge.

Es wurden zwei Varianten in die Vernehmlassung geschickt. Die Vernehmlassungsteilnehmer unterstützten mehrheitlich die ursprüngliche Variante der Mehrheit. Die ursprüngliche Minderheit wurde in erster Linie abgelehnt, weil sie in der Umsetzung komplizierter sei. Beide Varianten verfolgen aber am Ende das gleiche Ziel: die Ausnahmeregelung soll nur für Sitzungen gelten, an denen keine Stellvertretung vorgesehen ist.

Verschiedene Vernehmlassungsteilnehmer betonen, dass der Mutterschutz und der Mutterschaftsurlaub wichtige Errungenschaften sind und die Ausnahmeregelung nicht zu einer Aufweichung des Mutterschutzes führen darf. Aus diesem Grund müsse der Kreis der Berechtigten möglichst klein gehalten werden. Ausserdem müsse die Ausnahmeregelung ihren freiwilligen Charakter behalten und dürfe nicht zu einem Druck auf die Parlamentarierin führen, an Rats- und Kommissionssitzungen teilzunehmen. Andere Vernehmlassungsteilnehmer lehnen die Vorlage ab, weil damit der Mutterschutz aufgeweicht wird.

Gewisse Teilnehmer begrüssen zwar die Absicht, eine Lösung für Parlamentarierinnen zu finden, sprechen sich aber gegen die Vorlage aus, weil sie eine einseitige Privilegierung für Parlamentarierinnen darstellt oder weil sie die Einführung eines Stellvertretungssystems auf Bundesebene bevorzugen. Wiederum andere lehnen die Vorlage ab, weil sie mit den vorgeschlagenen Varianten nicht einverstanden sind.

Die Kommission sprach sich nach der Vernehmlassung für die Regelung aus, wonach die Teilnahme an Rats- und Kommissionssitzungen, an denen keine Vertretung vorgesehen ist, nicht zur Beendigung des Anspruchs auf die Mutterschaftsentschädigung führt. Die Kommission erachtet diese Lösung als konsequent, da sie nicht nach Arbeit im Plenum oder einer Kommission unterscheidet, sondern sich durchgängig am entscheidenden Kriterium orientiert, ob eine Stellvertretung möglich ist oder nicht.

3

Grundzüge der Vorlage

Gemäss geltendem Recht endet der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung am Tag der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit, unabhängig vom Beschäftigungsgrad.

Als Erwerbstätigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn gilt, wie bereits erwähnt, auch ein Parlamentsmandat. Dies hat zur Folge, dass eine Parlamentarierin den Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung nach Artikel 16b EOG auch für ihre hauptberufliche Tätigkeit verliert, wenn sie während des Mutterschafsurlaubs ­ auch nur vereinzelt ­ an Sitzungen des Parlamentes teilnimmt.

Ziel dieser Vorlage ist es, für eine bessere Vereinbarkeit von Parlamentsmandat und Mutterschaft zu sorgen. Mit dieser Regelung wird bewusst eine Ungleichbehandlung

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zwischen Parlamentarierinnen und den übrigen erwerbstätigen Müttern geschaffen.13 Dies ist gerechtfertigt, da eine vom Volk gewählte Parlamentarierin nicht aufgrund ihrer Mutterschaft daran gehindert werden soll, ihr vom Volk erteiltes politisches Mandat erfüllen zu können. Eine Politikerin kann sich in aller Regel an Ratssitzungen nicht durch eine andere Person vertreten lassen, da es im Rat mehrheitlich14 keine Stellvertreterlösungen gibt. Für Kommissionssitzungen ist ­ mit wenigen Ausnahmen15 ­ eine Stellvertretung vorgesehen. Die heutige Situation ist nicht nur für die betroffenen Frauen unbefriedigend, sondern auch für die Wählerinnen und Wähler, deren Interessen nicht gewahrt werden können, wenn das von ihnen gewählte Parlamentsmitglied seine Stimme nicht einbringen kann. Zudem ist es dem Parlament als Institution nicht förderlich. Die Parlamentstätigkeit ist in der Schweiz keine hauptberufliche Tätigkeit, und die Parlamentarierinnen gehen meist einer beruflichen Tätigkeit nach. Es kann nicht sein, dass sie den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung aus dieser beruflichen Tätigkeit verlieren.

Aus diesem Grund soll eine Teilnahme von Parlamentarierinnen auf allen föderalen Ebenen an Rats- und Kommissionssitzungen, an denen keine Vertretung vorgesehen ist, nicht zur Beendigung des Anspruchs auf die Mutterschaftsentschädigung führen.

Mit der vorliegenden Gesetzesänderung wird die betreffende Bestimmung im EOG dahingehend angepasst.

Der Erwerbsausfall während des Vater- und Mutterschaftsurlaubs wird zwar in beiden Fällen über die Erwerbsersatzordnung (EO) entschädigt; die Urlaube an sich sind aber unterschiedlich ausgestaltet. So beginnt der Mutterschaftsurlaub direkt mit der Geburt des Kindes, dauert 14 Wochen und kann nur am Stück bezogen werden (Art. 329f Obligationenrecht, OR)16. Der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub kann dagegen innerhalb einer Rahmenfrist von sechs Monaten ab der Geburt des Kindes am Stück, wochen- oder tageweise bezogen werden (Art. 329g OR). Parlamentarier, die einen Vaterschaftsurlaub beziehen wollen, können diesen somit für Tage geltend machen, an denen sie nicht an Ratssitzungen teilnehmen müssen. Mütter haben diese Flexibilität nicht. Aus diesem Grund bezieht sich die vorgeschlagene Regelung nur auf die Mutterschaftsentschädigung.

13 14 15

16

18.4390 Ip. Arslan. Verlust der Mutterschaftsentschädigung bei der Teilnahme an Parlamentssitzungen.

In den Kantonen Genf, Graubünden, Jura, Neuenburg und Wallis ist eine Stellvertretung vorgesehen.

Auf Bundesebene ist bspw. für Mitglieder der Geschäftsprüfungskommission und einer parlamentarischen Untersuchungskommission sowie von deren Subkommissionen keine Stellvertretung möglich (Art. 18 des Geschäftsreglements des Nationalrates; Art. 14 des Geschäftsreglements des Ständerates).

SR 220

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Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

4.1

Erwerbsersatzgesetz (EOG)

Art. 16d Abs. 3 Nimmt eine Mutter während des Mutterschaftsurlaubs an Rats- und Kommissionssitzungen von Parlamenten auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene teil, an denen keine Stellvertretung vorgesehen ist, so gilt das neu nicht mehr als Aufnahme der Erwerbstätigkeit. Deshalb wird Absatz 3 angepasst. Die Teilnahme an diesen Sitzungen führt somit nicht dazu, dass der Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung nach Artikel 16b vorzeitig endet. Diese Regelung gilt unabhängig davon, ob die Mutter für die Teilnahme eine Entschädigung erhält oder nicht (Jahrespauschale und/oder Sitzungsgeld). Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob das politische Amt im Nebenerwerb oder im Haupterwerb ausgeübt wird.

Diese Regelung bezieht sich nur auf Mütter, die einer Legislative angehören, und gilt sowohl für Rats- als auch für Kommissionssitzungen, wenn für diese Sitzungen keine Stellvertretungsmöglichkeit vorgesehen ist.

Die betroffenen Mütter müssen der Ausgleichskasse zusammen mit der Anmeldung für die Mutterschaftsentschädigung eine Bestätigung der zuständigen Stelle einreichen, wonach die Stellvertretung für die Sitzungen, an denen sie teilgenommen haben, nicht vorgesehen ist. Denn den Ausgleichskassen ist nicht bekannt, ob sich die betreffende Mutter bei der politischen Tätigkeit vertreten lassen kann. Den Ausgleichskassen kann es im Rahmen des Massengeschäfts der Mutterschaftsentschädigung nicht aufgebürdet werden, entsprechende Kontrollen durchzuführen, umso mehr als in der Schweiz auf Kantons- und insbesondere auf Gemeindeebene ein heterogenes System in Bezug auf die Stellvertretung bei Legislativmandaten gilt.

5

Auswirkungen

5.1

Finanzielle Auswirkungen auf die Erwerbsersatzordnung

Aktuell bestehen keine entsprechenden Daten. Es kann auch keine effektive Schätzung zu den Kosten gemacht werden. Die Kosten dürften aber marginal sein, weil nur Mütter betroffen sind, die während des Mutterschaftsurlaubs ein politisches Mandat auf nationaler, kantonaler oder kommunaler Ebene ausüben.

5.2

Finanzielle Auswirkungen auf den Bund und die Kantone

Die Leistungen der Erwerbsersatzordnung (EO) werden über paritätische Versicherten- und Arbeitgeberbeiträge finanziert. Der Bund und die Kantone beteiligen sich somit einzig als Arbeitgeber an der Finanzierung der EO.

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Es ist möglich, dass die Änderung geringe Auswirkungen auf die administrativen Prozesse bei den Durchführungsstellen hat und die Änderung unter Umständen zu einer leichten Mehrbelastung bei den Ausgleichskassen führt, weil diese kontrollieren müssen, ob die betroffene Mutter die Bestätigung, dass die Stellvertretung für die Sitzung nicht vorgesehen ist, eingereicht hat. Unter Umständen müssen sie diese Bestätigung nachfordern.

5.3

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die neue Regelung gilt nur für Mütter, die während des Mutterschaftsurlaubs ein parlamentarisches Mandat ausüben. Auf Mütter, die während des Mutterschaftsurlaubs ihre Erwerbstätigkeit vorzeitig aufnehmen möchten, findet diese Ausnahme keine Anwendung.

6

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Auf internationaler Ebene betrifft die Vorlage das Übereinkommen Nr. 183 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über den Mutterschaftsschutz17. Die Schweiz stützt sich auf Artikel 2 Absatz 2 des Übereinkommens und wendet das Übereinkommen nicht auf Arbeitnehmerinnen und Tätigkeiten an, die nicht in den Geltungsbereich des ArG fallen. Politische Funktionen sind nicht mit einem Arbeitsverhältnis gleichzusetzen und fallen demzufolge nicht unter das ArG. Vor diesem Hintergrund ist das Übereinkommen Nr. 183 der IAO nicht auf diese Vorlage anwendbar, sodass die vorliegende Gesetzesänderung kein Problem hinsichtlich der internationalen Verpflichtungen der Schweiz darstellt.

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Die vorgeschlagene Änderung des EOG basiert auf Artikel 116 Absatz 3 der Bundesverfassung18. Diese Bestimmung definiert weder Art noch Umfang der Versicherungsleistung bei Mutterschaft und lässt damit dem Gesetzgeber einen grossen Gestaltungsspielraum offen. Die Gesetzesänderung, die durch die Kommission vorgeschlagen wird, ist verfassungskonform.

17 18

SR 0.822.728.3 SR 101

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7.2

Erlassform

Das Gesetz ergeht in der Form des ordentlichen Bundesgesetzes nach Artikel 164 der Bundesverfassung.

7.3

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Änderung sieht keine Delegationsnormen für den Bundesrat vor.

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