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Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit vom 10. Mai 2023

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Wir informieren Sie gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 über unsere Beurteilung der Bedrohungslage.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

10. Mai 2023

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2023-1402

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Beurteilung der Bedrohungslage 1

Ausgangslage

Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 20151 (NDG) beurteilt der Bundesrat jährlich die Bedrohungslage der Schweiz und informiert die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit. Die Beurteilung bezieht sich auf die im NDG genannten Bedrohungen sowie auf sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland.

Eine umfassendere Lagedarstellung aus nachrichtendienstlicher Perspektive findet sich im jährlichen Lagebericht des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) «Sicherheit Schweiz»2. Die Prüfung der Frage, ob und inwieweit bei der Sicherheitspolitik und ihren Instrumenten wegen Lageveränderungen Anpassungsbedarf besteht, und die Festlegung von Prioritäten bleiben Aufgabe der regelmässigen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz.

Der aktuelle sicherheitspolitische Bericht wurde am 24. November 20213 vom Bundesrat verabschiedet und veröffentlicht. Der Bundesrat hat hierzu am 7. September 20224 einen Zusatzbericht mit einer erneuten Lagebeurteilung aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine vorgelegt. Der vorliegende Bericht fokussiert auf die Bedrohungen gemäss dem NDG und auf aktualisierte Einschätzungen zur bisherigen Beurteilung des strategischen Umfelds der Schweiz.

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Übersicht

Seit Februar 2022 prägt der Krieg Russlands gegen die Ukraine das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz. Russland und die Ukraine befinden sich inzwischen in einem Abnutzungskrieg. Russland wird wahrscheinlich immer wieder zumindest implizit, aber unmissverständlich mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohen. Es bleibt aber sehr unwahrscheinlich, dass Russland im Rahmen des Kriegs eine Nuklearwaffe einsetzen wird. Es zeichnet sich ein langwieriger Konflikt ab, ohne Aussicht auf eine von beiden Parteien akzeptierte Beendigung der Kampfhandlungen. Die Ukraine ist existenziell allerdings weiterhin von der westlichen Unterstützung abhängig.

Der russische Krieg gegen die Ukraine markiert einen Umbruch von globaler Bedeutung: Die Vorstellung eines einheitlichen europäischen Raums der Kooperation unter Einschluss Russlands ist definitiv gescheitert. Die Welt befindet sich in einer von Volatilität, Unvorhersehbarkeit, Bedrohungen und Unsicherheit gekennzeichneten

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SR 121 Abrufbar unter: www.vbs.admin.ch Über uns Organisation Verwaltungseinheiten
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BBl 2021 2895 Abrufbar unter: www.vbs.admin.ch Sicherheit Sicherheitspolitik Sicherheitspolitische Berichte 2021 Dokumente 7.9.2022 / Zusatzbericht des Bundesrates zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine.

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Übergangsperiode, die von der Rivalität der Grossmächte USA, China und Russland und der Herausbildung zweier antagonistischer Blöcke geprägt ist.

Der Krieg gegen die Ukraine stärkt damit den Trend in Richtung einer künftig wieder stärker bipolaren Weltordnung. Der von den USA und China angeführte Systemwettbewerb wird das laufende Jahrzehnt prägen. Auch Handelsbeziehungen in den Bereichen Technologie und Energie folgen immer mehr der sicherheitspolitischen Logik einer Blockbildung.

Das westliche Lager wird von den USA angeführt. Die USA sind der Haupttreiber der westlichen Reaktion auf Russlands Invasion, Europa beziehungsweise die EU bleibt strategisch von den USA abhängig. Von strategischer Autonomie ist die EU trotz steigenden Verteidigungsausgaben weit entfernt. Die EU hat insgesamt seit Februar 2022 über 49 Milliarden Euro für die finanzielle, militärische, humanitäre und ökonomische Unterstützung der Ukraine bereitgestellt. Zudem wurden erstmals Rückfinanzierungen von Waffenlieferungen getätigt, Projekte zur gemeinsamen Beschaffung von Rüstungsmaterial initiiert und die Kooperation mit der Nato ausgebaut. Europa ist es gelungen, seit Kriegsbeginn in der Ukraine die Abhängigkeit von fossilen russischen Energieträgern deutlich zu reduzieren.

Ein strategisches Umdenken hat im indopazifischen Raum stattgefunden: Japan definiert in seiner neuen Sicherheitsstrategie China als «grösste strategische Herausforderung seiner Geschichte» und baut seine militärischen Verteidigungskapazitäten gegenüber China und der wachsenden Bedrohung durch Nordkorea erheblich aus. Japan wird damit für die USA zu einem noch wichtigeren Allianzpartner im geopolitischen Ringen mit China.

Gleichzeitig ist China trotz grossen Herausforderungen daran, sich unter den gegen den sogenannten Westen eingestellten Staaten als Pol zu etablieren. Russland spielt in der chinesisch-russischen Partnerschaft eine immer schwächere Rolle. Präsident Xi Jinping erwähnte am 20. Parteitag der chinesischen Kommunistischen Partei in seiner Vision einer globalen Ordnung Russland mit keinem Wort.

Vor dem Hintergrund dieser Blockbildung versuchen Regionalmächte wie die Türkei, Indien, Saudi-Arabien oder Südafrika ihren eigenen Handlungsspielraum auszudehnen. Auch nichtwestliche Demokratien wollen keine Gestaltungs- und Deutungsdominanz «des Westens» mehr.

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Sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland

Die Bedrohungslage im strategischen Umfeld der Schweiz ist aktuell vor allem vom Krieg gegen die Ukraine geprägt. Russland stellt dabei imperialistische und territoriale Ambitionen über eigene ökonomische Interessen. Die westlichen Sanktionen scheinen auf Präsident Putins imperialistische Ambitionen bisher wenig Einfluss zu haben; auch ist das russische Bruttoinlandsprodukt 2022 weniger stark geschrumpft als erwartet. Dennoch machen sich die Sanktionen in verschiedenen Bereichen bemerkbar und die Effekte werden sich mit der Zeit noch verstärken. Obwohl der Krieg Russland gewaltige Kosten auferlegen wird, ist die Stabilität des Regimes bisher nicht 3 / 12

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ernsthaft gefährdet. Der staatliche Repressionsapparat ist intakt und eine politische Opposition ist de facto in den letzten Jahren zerschlagen worden.

Über die Ukraine hinaus soll aus russischer Sicht die Kontrolle in Osteuropa wie zu Sowjetzeiten wiederhergestellt werden, entweder durch territoriale Reintegration oder durch russische Dominanz in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Sicherheit. Zudem soll der Einfluss der USA an der russischen Westflanke zurückgedrängt werden.

Militärische Rückschläge in der Ukraine werden die russische Führung kaum davon abbringen.

Die mit dem Regime verbundene Wagner-Gruppe wurde mit zunehmender Dauer des Kriegs gegen die Ukraine immer präsenter. Russland setzt die Wagner-Gruppe seit 2014 regelmässig bei Militäroperationen im Ausland ein. Der Chef der WagnerGruppe hat zwar persönlich Kontakt zum Präsidenten, aber kaum Einfluss auf strategische Entscheidungen.

Seit Februar 2022 hat sich die amerikanische Verpflichtung zur Unterstützung der Ukraine verstärkt. Auf beiden Seiten haben sich sogenannte rote Linien immer wieder verschoben, und die westliche Militärhilfe wurde sowohl umfangreicher wie auch qualitativ hochstehender. Aber eine Eskalation zu einem Krieg zwischen den USA beziehungsweise der Nato und Russland soll vermieden werden. Auch wenn die USA über die Militärhilfe hinaus mit Sanktionen und Hightech-Embargos die russische Wirtschaft und die russischen Streitkräfte nachhaltig zu schwächen versuchen, ist die Hoffnung nicht, dass Russland implodiert oder auseinanderbricht. Ein Ringen verschiedener Machtgruppierungen oder ein Bürgerkrieg würde die Region auf Jahre hinaus destabilisieren. Die Beziehungen zwischen Russland und den USA werden nachhaltig konfrontativ bleiben, und das Risiko einer offen geführten militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Nato ist seit Kriegsbeginn grösser geworden.

Gleichzeitig hat der russische Krieg gegen die Ukraine die Geschlossenheit des westlichen Lagers vorerst gestärkt. Die USA bleiben für die Verteidigung Europas zentral und bilden auch künftig das Rückgrat der Nato. Diese ist 2022 von einer Abschreckung durch Stolperdraht auf eine robuste Abschreckung durch Vereitelung übergegangen: An der militärisch verstärkten Nato-Ostgrenze sollen künftig kampfbereite Kräfte eine russische Invasion abschrecken
oder, falls nötig, stoppen oder zumindest stark verlangsamen. Der Beitritt Finnlands und Schwedens wird zudem die Glaubwürdigkeit, Legitimität und Attraktivität der Nato als Bündnis westlicher Staaten stärken. Militärisch werden Finnland und Schweden eine wichtige Rolle bei der Verteidigung des Ostseeraums inklusive des Baltikums spielen.

Längerfristig bleibt es jedoch ungewiss, ob die USA ihr Engagement in Europa wegen der geplanten strategischen Ausrichtung auf den asiatisch-pazifischen Raum und vor dem Hintergrund innenpolitischer Trends aufrechterhalten werden. Eine neue Präsidentschaft 2025 oder 2029 könnte wieder Unsicherheiten bezüglich der amerikanischen Bereitschaft zur Verteidigung Europas schüren. Zudem betont auch Präsident Bidens nationale Sicherheitsstrategie vom Oktober 2022, dass China in der amerikanischen Sicherheitspolitik zentral ist.

Das Ausmass der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine hat China überrascht. China hat Russland jedoch de facto unterstützt und sich als Haupthandels4 / 12

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partner etabliert. China erhält einen wachsenden Anteil russischen Öls zu Vorzugspreisen. Es wägt seine Äusserungen zum Krieg gegen die Ukraine allerdings ab und dürfte Russland nahegelegt haben, vom Einsatz von Atomwaffen abzusehen. Die materielle Unterstützung Chinas für den russischen Krieg gegen die Ukraine blieb bisher begrenzt.

China betrachtet seine Wirtschaftsbeziehungen zu westlichen Staaten wahrscheinlich als vitaler als seine Partnerschaft mit Russland. Deshalb hat Präsident Xi Jinping 2022 seine Beziehungen zu europäischen Staaten gepflegt. Ferner soll eine unkontrollierte Verschlechterung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen verhindert und die Kommunikation mit den USA auf höchster Ebene wiederhergestellt werden. Präsident Biden ergriff gegenüber China offensive wirtschaftliche Massnahmen, insbesondere im Technologiebereich. Auch die EU versucht, strategische Abhängigkeiten von China im Technologiebereich zu reduzieren, und ergreift Massnahmen, um negativen Konsequenzen externen Einflusses auf den Binnenmarkt entgegenzuwirken. Weitere Restriktionen bezüglich kritischer Zukunftstechnologien werden sehr wahrscheinlich folgen. Dabei bleibt Taiwan der weltweit grösste Exporteur von Halbleitern und beherrscht 90 Prozent der Halbleiterproduktion der neusten Generation. Ein bewaffneter Konflikt um Taiwan würde zu einem Zusammenbruch oder einer starken Störung der Halbleiterversorgungskette führen, was alle Industriesektoren der Welt betreffen würde. Bereits eine Blockade Taiwans würde weltweit enorme Kosten verursachen.

China hat 2022 seine militärischen Einschüchterungsversuche gegen Taiwan verstärkt. Die Spannungen um Taiwan wurden jedoch letztlich eingedämmt und die amerikanischen und chinesischen Provokationen anschliessend auf beiden Seiten sorgfältig kalibriert. Ein militärischer Angriff Chinas auf Taiwan ist derzeit sehr unwahrscheinlich, sofern nicht aus chinesischer Optik rote Linien wie zum Beispiel eine Unabhängigkeitserklärung überschritten werden.

Xi Jinping strebt zudem an, strategische Wirtschaftspartnerschaften mit Staaten wie Saudi-Arabien, die politisch affin sind und über natürliche strategische Ressourcen oder eine starke Finanzmacht verfügen, zu entwickeln.

In China selbst war das Jahr 2022 von einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums geprägt, die sowohl auf
die Nullcovidstrategie als auch auf strukturelle Schwächen des Landes zurückzuführen war. Nach landesweiten Protesten gab die chinesische Führung ihre Nullcovidstrategie zwar auf, doch bleibt die sozioökonomische Lage angespannt.

Die Türkei hat sich seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine vermittelnd positioniert und insbesondere beim Abschluss eines Abkommens über die Ausfuhr von ukrainischem Getreide zusammen mit der UNO eine zentrale Rolle gespielt. Sie hält die Beziehungen zu Russland und der Ukraine aufrecht, ohne ihre eigenen machtpolitischen Interessen in der Region zu gefährden oder sich den westlichen Sanktionen anzuschliessen. Die wirtschaftliche Lage wird fragil bleiben. Die Türkei wird ihre Beziehungen zu den westlichen Staaten beibehalten und an ihrem Status als Beitrittskandidat der EU festhalten, wird aber gleichzeitig die Beziehungen zu Russland und China stärken. Die wichtigsten Aktionszentren der Türkei bleiben wahrscheinlich der östliche Mittelmeerraum und Syrien.

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Südosteuropa ist weiterhin mit Spannungen konfrontiert. Vor Ort bleibt Konfliktpotenzial bestehen, etwa in den Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo sowie innerhalb von Bosnien und Herzegowina. Die Beteiligung westlicher Staaten an der militärischen Friedensförderung kommt als Folge des Kriegs gegen die Ukraine wegen der verstärkten Ausrichtung auf die Verteidigung generell unter Druck. Die Stabilität im Westbalkan bleibt aber eine Priorität, um den Destabilisierungsversuchen Russlands entgegenzutreten.

Der Krieg gegen die Ukraine und die westlichen Sanktionen gegen Russland haben der iranischen Führung die Gelegenheit gegeben, die Beziehungen zu Russland sowohl politisch und wirtschaftlich als auch militärisch zu vertiefen. Die Lieferung iranischer Drohnen zeigt, dass die iranische Führung sich selbst auf Kosten neuer westlicher Sanktionen als verlässlicher Partner Russlands profilieren will. Die beiden Staaten werden sehr wahrscheinlich ihre sicherheitspolitischen Beziehungen in Zukunft weiter ausbauen. Die Protestbewegung eines Teils der iranischen Bevölkerung stellt die Führung vor eine grosse, wenn auch nicht unmittelbar existenzielle Herausforderung. Ein grosser Teil der iranischen Diasporagemeinschaft im Ausland, auch in der Schweiz, unterstützt die Proteste und fordert einen Regimewechsel. In den kommenden Jahren könnte eine anhaltende Legitimitätskrise zu Machtverschiebungen in der Führung und im Sicherheitsapparat führen.

Als Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine erleben in Afrika der Panafrikanismus und das Non-aligned-Movement eine Wiedergeburt. Damit lassen sich gleichzeitig gewisse bestehende interne Uneinigkeiten überdecken. Während Ghana, Kenia und Nigeria die russische Aggression verurteilten, orientieren sich unter anderen Mali, Uganda und Eritrea zunehmend an Russland. Eine wichtige Rolle spielt Südafrika, das die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) vermehrt in den Fokus rückt. Das Interesse an Afrika hat infolge der strategischen Grossmächterivalität und des Kriegs Russlands gegen die Ukraine zugenommen. Russland entwickelt sich in Afrika zu einem politisch und militärisch relevanten Akteur, bleibt aber wirtschaftlich wenig relevant. Umgekehrt wird für Russland Afrika in der Positionierung gegenüber dem «Westen» in antikolonialen Narrativen und
in der Desinformation wichtiger. Der Einsatz der mit der russischen Führung verbundenen WagnerGruppe trägt dazu bei. Die Präsenz in Afrika eröffnet Russland auch Wege zur Umgehung internationaler Sanktionen. In Libyen stellt sie wegen des Erdöl- und Erdgasreichtums des Landes sowie der strategisch bedeutenden Position an einer wichtigen Migrationsroute nach Europa eine besondere Bedrohung dar. Die Dynamiken in Nordafrika bleiben unsicher.

4

Die Bedrohungen im Einzelnen

4.1

Terrorismus

Die Terrorbedrohung in der Schweiz bleibt erhöht. Sie wird nach wie vor von der dschihadistischen Bewegung geprägt, deren wichtigste Exponenten der «Islamische Staat» und die Al-Qaïda sind. Die Anzahl dschihadistisch motivierter Gewaltakte in Europa hat zwar abgenommen, hingegen blieb die Anzahl polizeilicher Interventionen hoch. Wahrscheinlich konnten dadurch mehrere Anschläge verhindert werden. Insge6 / 12

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samt ist die Terrorbedrohung in Europa und damit auch in der Schweiz nochmals diffuser geworden.

Der «Islamische Staat» und die Al-Qaïda sind gegenwärtig kaum in der Lage, selbst Anschläge in Europa vorzubereiten oder zu verüben. Ihre Regionalgruppierungen und Ableger sind trotz primär regionaler Ausrichtung gewillt und fähig, bei Gelegenheit Anschläge auf westliche Ziele zu verüben. Auch wenn die Schweiz kein prioritäres Ziel darstellt, kann sie Ziel eines dschihadistisch motivierten Anschlags sein oder davon in Mitleidenschaft gezogen werden. Dies gilt auch für schweizerische Interessen im Ausland oder ausländische Interessen in der Schweiz.

Die grösste Bedrohung in der Schweiz geht weiterhin von dschihadistisch inspirierten Einzeltäterinnen und -tätern oder Kleingruppen aus, die spontan Gewaltakte mit einfachen Mitteln verüben. Solche Gewalttaten richten sich am wahrscheinlichsten gegen schwach geschützte Ziele. Insbesondere die Online-Propaganda des «Islamischen Staats» spielt als Inspirationsquelle für potenzielle Gewalttäterinnen und -täter weiterhin eine wichtige Rolle.

Einen permanenten Risikofaktor stellen aus europäischen Gefängnissen entlassene Dschihadistinnen und Dschihadisten sowie Personen dar, die sich im Gefängnis radikalisiert haben. Zudem geht von Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus Dschihadgebieten eine Bedrohung für die Sicherheit der Schweiz aus, da diese möglicherweise Kampferfahrung gesammelt haben und über teils weitreichende Netzwerke verfügen.

Weiter können Dschihadistinnen und Dschihadisten Migrationsbewegungen missbrauchen, um nach Europa zu gelangen. Dies betrifft auch die vom Krieg gegen die Ukraine verursachten Fluchtbewegungen. Der Krieg gegen die Ukraine hat aber bisher nicht zu einer unmittelbaren Erhöhung der Terrorbedrohung in der Schweiz geführt.

Der ethno-nationalistisch motivierte Terrorismus bleibt eine Bedrohung. In Europa, einschliesslich der Schweiz, finden weiterhin damit zusammenhängende Unterstützungshandlungen statt (Propaganda, Rekrutierung, Geldsammlungen).

4.2

Verbotener Nachrichtendienst

Weltweit wird unter Einsatz enormer Mittel Spionage betrieben. Eine Abnahme ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: In Krisen- und Kriegszeiten erhöht sich der Anreiz für Staaten, die eigenen Nachrichtendienste auszubauen und deren Kompetenzen zu erweitern. Sanktionen, Verschärfungen in der Visumspolitik, anderweitige Reiseerschwernisse und ein zunehmendes Misstrauen zwischen konkurrierenden oder sogar verfeindeten Staaten erschweren den Austausch von Informationen und Gütern. Nachrichtendienste können dies teilweise kompensieren, indem sie politische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Informationen und Güter über die eigenen Kanäle beschaffen.

Von diesen nachrichtendienstlichen Aktivitäten ist die Schweiz nach wie vor stark betroffen. Sie bleibt auf lange Sicht ein lukrativer Standort für ausländische Nachrichtendienste. Sowohl die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungen als auch

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die Präsenz zahlreicher internationaler Organisationen sowie die Rolle bei der Durchführung internationaler Konferenzen tragen dazu bei.

Zudem lassen insbesondere autoritäre Regierungen ­ sofern sie denn über die notwendigen Mittel verfügen ­ geflüchtete Staatsangehörige überwachen. Dazu tragen als Asylsuchende eingeschleuste Personen bei. Die beschafften Informationen dienen unter anderem dazu, einzuschüchtern oder Aktionen durchzuführen, die bis hin zur gezielten Tötung reichen. Oft genügt es, an einigen Personen ein Exempel zu statuieren, um in einer Flüchtlingsgemeinschaft Furcht auszulösen.

4.3

NBC-Proliferation

Für Rüstungskontrolle unter den Grossmächten gibt es wegen des offenen Antagonismus und tiefsitzenden Misstrauens zwischen den USA und Russland kaum mehr Raum.

Hinsichtlich des Kriegs gegen die Ukraine geht es darum, die Güter zu erkennen, die die kriegführenden Parteien zugunsten einer sanktionierten militärischen Verwendung einsetzen könnten, und deren Weitergabe zu verhindern. Aufgrund der strukturellen Defizite, insbesondere im Bereich Elektronik und Halbleiter, wird Russland über teils seit Sowjetzeiten bestehende oder neue Beschaffungsstrukturen versuchen, an die notwendigen westlichen Güter zu gelangen. Dabei geraten auch Drittstaaten in den Fokus, die enge Wirtschaftsbeziehungen mit Russland unterhalten und sich als Umwegdestinationen anbieten.

Im Atomstreit mit dem Iran achten die Parteien primär darauf, nicht den politischen Preis für ein formelles Ende des Joint Comprehensive Plan of Action bezahlen zu müssen. Praktisch alle vertrauensbildenden Massnahmen des Abkommens sind faktisch ausser Kraft. Innenpolitisch ist die iranische Führung mit einem anhaltend hohen Protestpotenzial und einer Legitimitätskrise beschäftigt, während aussenpolitisch das Selbstbewusstsein als Lieferant von Rüstungsgütern für Russlands Krieg gegen die Ukraine gestiegen ist. Beide Einflussfaktoren schaffen zusätzliche Spannungen mit den westlichen Staaten. Mit fortschreitender Zeit nimmt der Nutzen des Abkommens zudem laufend ab.

Nordkorea hat 2022 eine präzedenzlose Serie von Flugkörpertests durchgeführt: Das Land testete zahlreiche ballistische Raketen aller Reichweiten sowie Marschflugkörper. Das Einsatzspektrum wurde zum Beispiel um Raketenstarts aus statischen Unterwasserabschusssystemen erweitert. Zentral bei all diesen Tests war, dass es sich nicht um Entwicklungstests oder um politisch motivierte Symbolik handelte: So verknüpfte Nordkorea seltener als früher seine Tests mit symbolischen Daten oder Ereignissen, sondern schulte intensiv das Militär in der Handhabung und im Einsatz der Mittel.

Auf dem indischen Subkontinent werden die Nuklear- und Raketenprogramme der Rivalen Indien und Pakistan stetig erweitert. Pakistan baut seine Fähigkeit zur Anreicherung von Uran aus und stattet seine U-Boote mit nuklearfähigen Marschflugkörpern aus. Damit verschafft sich das Land eine rudimentäre Zweitschlagfähigkeit. Das indische Militär seinerseits testete eine Interkontinentalrakete, die im Prinzip Ziele in ganz Europa treffen kann.

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4.4

Angriffe auf kritische Infrastrukturen

Zwei Entwicklungen prägen derzeit im Cyberbereich die Bedrohung und Sicherheit kritischer Infrastrukturen: der Krieg Russlands gegen die Ukraine und mit zunehmender Intensität Ransomware-Angriffe.

Der Krieg gegen die Ukraine zeigt, wie Cybermittel in bewaffneten Konflikten eingesetzt werden, nämlich vor allem für Cybersabotage und Cyberspionage. Diese Cyberangriffe gelten primär Kommunikationsmitteln, die militärischen Zwecken dienen. Hingegen zeigen breit angelegte Cybersabotagekampagnen auf Infrastrukturen im Krieg kaum nachhaltige Wirkung; kinetische Mittel sind oft effizienter. Zudem können Cyberangriffe auch zu Kollateralschäden ausserhalb des Kriegsgebiets führen.

Bis auf einzelne Angriffe zu Beginn der Invasion und punktuell während des Kriegs wurden denn auch mit Cybermitteln keine kritischen Infrastrukturen erfolgreich angegriffen, wohl aber physisch. Dies ist zum einen den Abwehrbemühungen der Ukraine geschuldet, da einzelne Operationen sehr wohl geplant, aber in ihrer Wirkung vereitelt wurden. Zum anderen hat der Krieg gegen die Ukraine die Bedeutung von Technologiefirmen gezeigt. Die Ukraine wurde zum Beispiel in ihrem Umgang mit Cyberangriffen von Microsoft unterstützt und nutzte das von Starlink angebotene satellitengestützte Internet.

Ausserhalb der Ukraine bleibt die Bedrohung durch Spillover-Effekte einzelner staatlicher Aktionen im Rahmen des Kriegs gegen die Ukraine erhöht. Schweizer Betreiber kritischer Infrastrukturen sind dabei nicht das Ziel, aber Abhängigkeiten können zu einer Störung, einem Teilausfall oder einem Unterbruch der kritischen Dienstleistungen führen. Ein direkter Angriff auf Schweizer kritische Infrastrukturen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine bleibt unwahrscheinlich.

Im Umfeld der Kriegsparteien formierten sich pro-russische und pro-ukrainische Gruppierungen, die hauptsächlich das Ziel verfolgen, der jeweils anderen Seite im Cyberraum Schaden zuzufügen. Entsprechende russische Gruppierungen sehen auch die EU- und Nato-Staaten als Gegner. Diese nicht-staatlichen Akteure identifizieren ihre Ziele selbst und stellen damit eine Bedrohung unter anderem für das Funktionieren von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik dar. Die Aktivitäten dieser Gruppierungen kreieren vor allem Aufmerksamkeit, indem sie die Verfügbarkeit von Webseiten stören. Sie sind
jedoch bislang strategisch nicht bedeutsam und richten keinen nachhaltigen Schaden an. Sollte eine solche Gruppierung jedoch kritische Infrastrukturen empfindlich stören oder schädigen, ist unklar, wie der geschädigte Staat reagiert.

Diese Gruppierungen sind zumindest indirekt in das Kriegsgeschehen involviert und in einzelnen Fällen ist unklar, wie unabhängig von den Kriegsparteien sie tatsächlich agieren. Dies erschwert zum einen die Attribution, also die Zuordnung einer Aktion zu ihrem Urheber, zum anderen können von privaten Akteuren ausgehende Cyberoperationen gegen kritische Infrastrukturen zu einer Eskalation führen. Die Nato hat Cyberoperationen als möglichen Grund einer militärischen Reaktion definiert.

Mit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine gingen die Meldungen über RansomwareAngriffe zurück; zum einen wohl deshalb, weil sich diverse hinter diesen Angriffen stehende Gruppierungen neu im russisch-ukrainischen Konflikt engagieren, und zum anderen, weil sich Gruppierungen mit russischen und ukrainischen Mitgliedern zer9 / 12

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stritten. Unterdessen erreicht die Zahl der Angriffe wieder das Niveau vor Kriegsbeginn. Sie können beträchtliche Konsequenzen haben: Ransomware-Angriffe auf die Verwaltung von Costa Rica und eine deutsche Gemeinde haben 2022 dazu geführt, dass der Notstand ausgerufen wurde. Die finanziell motivierten Gruppierungen, die hinter den Ransomware-Angriffen stehen, wählen ihre Opfer opportunistisch, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen bei einem Ausfall kritischer Infrastrukturen. Im Fokus sind jeweils jene Sektoren, die lagebedingt bereits unter Belastung stehen, so zum Beispiel der Energiesektor. Die von diesen Gruppierungen ausgehende Bedrohung bleibt erhöht.

Dass meist finanzielle Motive hinter den festgestellten Cyberangriffen stehen, schliesst andere Motive nicht aus. Gewalttätig-extremistische, terroristische, nachrichtendienstliche oder machtpolitische Motive sind auch möglich. Entsprechend verfolgt die Täterschaft damit andere Ziele, die bis hin zu Sabotage reichen können. Bedrohungen für kritische Infrastrukturen gehen nicht allein von Cybermitteln aus. Auch physische Angriffe aus allen genannten Motiven sind möglich.

4.5

Gewalttätiger Extremismus

Die gewalttätigen links- und rechtsextremistischen Szenen sowie gewalttätige monothematisch inspirierte Extremistinnen und Extremisten prägen die Landschaft des gewalttätigen Extremismus in der Schweiz. Jahr für Jahr passen sie sich den gesellschaftlichen Entwicklungen an und betten ihre Kämpfe in diese Entwicklungen ein.

Nachdem 2021 insbesondere die coronaextremistische Szene ihre Aktivitäten intensiviert hatte, standen 2022 die rechts- und die linksextremistische Szene im Bereich Extremismus wieder im Vordergrund. Deren Rivalität untereinander führte zu mehreren gewaltsamen Zusammenstössen zwischen ihren jeweiligen Mitgliedern. Gegenseitige Provokationen erhöhen die Volatilität der Lage ebenso wie das Risiko der Gewaltausübung bei einem zufälligen oder geplanten Zusammentreffen.

Es besteht das Risiko, dass gewisse Teile dieser Szenen terroristische Aktionen durchführen werden. Dies können zum Beispiel ausserhalb der bekannten Strukturen stehende, rechtsextremistisch motivierte, online radikalisierte Personen sein. Konkrete Vorbereitungshandlungen für terroristische Aktionen wurden bisher in der Schweiz nicht festgestellt.

Die einende Idee der Coronaextremistinnen und Coronaextremisten war die Ablehnung der Massnahmen zur Bekämpfung der Coronaepidemie. Sie wandelt sich mittlerweile zur Ablehnung aller Massnahmen, die als «Diktatur» einer gewissen «Elite» angesehen werden. Je nach Thema kann diese Szene Personen mit hoher Gewaltbereitschaft zusammenführen.

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Auswirkungen auf die Schweiz

Der Krieg gegen die Ukraine hat Veränderungen im sicherheitspolitischen Umfeld der Schweiz zur Folge, wie sie seit dreissig Jahren nicht mehr gesehen wurden. Kooperative Sicherheitsmechanismen westlicher Staaten mit Russland sind wirkungslos geworden. Voraussichtlich werden sich die westlichen Staaten und Russland noch lange gegenseitig als Bedrohung wahrnehmen, und ihr Verhältnis wird konfrontativ bleiben.

Der russische Krieg gegen die Ukraine ist nur Teil einer von Volatilität, Unvorhersehbarkeit, Bedrohungen und Unsicherheit gekennzeichneten Übergangsperiode. Diese ist geprägt von der Herausbildung zweier antagonistischer Blöcke. China ist daran, sich unter den gegen «den Westen» eingestellten Staaten als Pol zu etablieren. Die dabei schon jetzt entstehenden Spannungen werden sichtbar beim Umgang mit Taiwan und dem Handel mit technologischen Gütern mit tendenziell auch unterhalb der Kriegsschwelle sehr weitreichenden Folgen zum Beispiel für die Versorgungssicherheit. Angesichts des Schwenks der USA nach Asien im Zeichen der Systemrivalität mit China sowie der fortbestehenden Konfrontation mit Russland steht Europa vor der Aufgabe, mehr Verantwortung in sicherheitspolitischen Fragen zu übernehmen.

Parallel dazu wurde eine neue Dynamik in der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation in Europa eingeleitet. Diese bietet auch der Schweiz neue Möglichkeiten für einen Ausbau ihrer sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit mit der EU, der Nato und auf bilateraler Ebene. Während des Einsitzes im UNO-Sicherheitsrat übernimmt die Schweiz zudem 2023/2024 grössere Verantwortung für die internationale Gouvernanz. Die UNO und die OSZE haben im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine als internationale Foren zur Gewährleistung von Frieden und Sicherheit weiter an Wirkung verloren: Im UNO-Sicherheitsrat sitzt mit Russland ein ständiges Mitglied, das in der Ukraine die UNO-Charta verletzt und nicht nur in der Ukraine Völkerrecht gebrochen hat. In einer Zeit, in der sich der verstärkte machtpolitische Wettbewerb auch im UNO-Sicherheitsrat spiegelt, ist die Schweiz noch stärker gefordert, zur Milderung internationaler Spannungen beizutragen und globalen Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen.

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