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23.045 Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 24. Mai 2023

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zu einem Bundesbeschluss über die Genehmigung und Umsetzung des Haager Abkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2021

M 21.3455

Die Schweiz als internationalen Gerichtsstandort weiter stärken

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

24. Mai 2023

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2023-1566

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Übersicht Ziel des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen ist es, die Rechtssicherheit zu erhöhen und den internationalen Handel zu fördern. Es regelt die internationale Zuständigkeit der Gerichte in Zivil- und Handelssachen, wenn die Parteien das zuständige Gericht benannt haben, sowie die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen. Der Bundesrat beantragt die Genehmigung dieses Übereinkommens durch die Schweiz. Damit wird der Auftrag erfüllt, den das Parlament dem Bundesrat in der Motion RK-S 21.3455 «Die Schweiz als internationalen Gerichtsstandort weiter stärken» erteilt hat.

Ausgangslage Im internationalen Handel ist es üblich, dass Parteien vereinbaren, wie mögliche Streitigkeiten zwischen ihnen gelöst werden sollen. Insbesondere die Bezeichnung des Gerichts, das über einen Streit entscheiden soll, reduziert rechtliche Risiken. Aufgrund der sehr unterschiedlichen nationalen Regelungen können die Parteien jedoch nicht sicher sein, dass diese Vereinbarungen von den angerufenen Gerichten in den verschiedenen Staaten auch tatsächlich beachtet werden. Beispielsweise könnte eine der Parteien ­ zum Nachteil der anderen Partei ­ ein anderes Gericht als das vereinbarte anrufen. Darüber hinaus ist nicht sichergestellt, dass eine Entscheidung, die vom vereinbarten Gericht gefällt wurde, von den Gerichten eines anderen Staates anerkannt und vollstreckt wird. Diese Rechtsunsicherheiten können den internationalen Handel behindern und Unternehmen, insbesondere auch KMU, in Schwierigkeiten bringen.

Das Übereinkommen löst diese Probleme und erhöht die Rechtssicherheit, indem die Wirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen international gestärkt wird. Damit verbessert es insbesondere für Unternehmen die Berechenbarkeit von grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten und senkt die Streitbeilegungskosten. Es ist daher für Staaten mit einer global ausgerichteten Wirtschaft wie der Schweiz besonders interessant. Die Internationale Handelskammer (International Chamber of Commerce, ICC) hat wiederholt die Bedeutung des Übereinkommens für den Welthandel hervorgehoben und alle Regierungen aufgefordert, es baldmöglichst zu ratifizieren. Bisher wurde das Übereinkommen von der Europäischen Union, Dänemark, Mexiko, Singapur, Montenegro sowie dem Vereinigten Königreich ratifiziert. Andere
Staaten (USA, China und Israel u.a.) haben das Übereinkommen bereits unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert.

Darüber hinaus ist das Übereinkommen für Staaten interessant, die sich auf internationaler Ebene als Gerichtsstandort positionieren. Dies trifft auf die Schweiz zu. In mehreren Kantonen wird derzeit die Einrichtung von Gerichten für internationale Handelsstreitigkeiten erwogen, wie dies in den letzten Jahren bereits mehrere Handelspartner der Schweiz wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Singapur getan haben. Die erhöhte Rechtssicherheit bei der Wahl der Gerichte sowie die Anerkennung und Vollstreckung der von ihnen getroffenen Entscheidungen im Ausland gehören in der Tat zu den wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg der internati-

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onalen Handelsgerichte. Das Übereinkommen ermöglicht es, diese Ziele zu erreichen.

Ein Beitritt liegt daher auch aus diesen Gründen im Interesse der Schweiz.

Grundzüge der Vorlage Das Übereinkommen soll den internationalen Handel und internationale Investitionen durch eine verstärkte gerichtliche Zusammenarbeit fördern (Präambel). Dafür legt es einheitliche Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit der Gerichte in Zivil- und Handelssachen fest, wenn die Parteien eines Rechtsstreits das zuständige Gericht benannt haben (Art. 5­7). Ausserdem regelt es die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, die von einem in einer solchen Vereinbarung benannten Gericht eines Vertragsstaats gefällt wurden (Art. 8­15). Die übrigen Bestimmungen des Übereinkommens betreffen insbesondere seinen Anwendungsbereich und enthalten darüber hinaus technische Regeln zur Umsetzung des Abkommens.

Die Gerichtsstandsvereinbarungen sind in der Schweiz heute bereits in anderen Erlassen geregelt, namentlich im Bundesgesetz vom 18. Dezember 1987 über das Internationale Privatrecht (IPRG). Es werden einige Änderungen der einschlägigen Artikel des IPRG vorgeschlagen, um den Wortlaut zu modernisieren und die innerstaatliche Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zu klären.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

5 5 6 8 8 9

Ausgangslage 1.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.2 Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen 1.3 Verhältnis zu anderen Erlassen 1.3.1 Lugano-Übereinkommen 1.3.2 IPRG 1.4 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates 1.5 Abschreibung parlamentarischer Vorstösse

9 10

2

Vernehmlassungsverfahren 2.1 Übersicht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens 2.2 Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

10 10 10

3

Konsultation parlamentarischer Kommissionen

11

4

Grundzüge des HGvÜ 4.1 Überblick 4.2 Bewertung 4.3 Sprachfassungen

11 11 12 12

5

Erläuterungen zu den Bestimmungen des HGvÜ

12

6

Vorbehalte und Erklärungen

29

7

Erläuterungen zu den Änderungen des IPRG

33

8

Auswirkungen 8.1 Auswirkungen auf den Bund 8.2 Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden 8.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

34 34 35 35

9

Rechtliche Aspekte 9.1 Verfassungsmässigkeit 9.2 Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz 9.3 Erlassform

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Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen (Entwurf)

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Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Handlungsbedarf und Ziele

Das Haager Übereinkommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen (hiernach HGvÜ) regelt die internationale Zuständigkeit von Gerichten in Zivil- oder Handelssachen sowie die Anerkennung von Urteilen, wenn Parteien für einen Rechtsstreit die Gerichte eines bestimmten Staates gewählt haben. Es ist seit 2015 in Kraft und gilt heute in der Europäischen Union, in Mexiko, Montenegro, Singapur und im Vereinigten Königreich. Weitere Staaten (USA, China, Israel u.a.) haben das HGvÜ unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert.

Das HGvÜ bietet den grossen Vorteil, dass alle Vertragsstaaten verpflichtet sind, die Entscheidung eines vereinbarten Gerichts anzuerkennen und zu vollstrecken. Dies erhöht die Berechenbarkeit grenzüberschreitender Rechtsstreitigkeiten für Unternehmen und senkt somit die Streitbeilegungskosten.

Das HGvÜ ist von grosser Bedeutung für den weltweiten Handel. Sein Ziel ist es, «den internationalen Handel und internationale Investitionen durch eine verstärkte gerichtliche Zusammenarbeit zu fördern».1 Die Internationale Handelskammer hat alle Regierungen aufgefordert, es baldmöglichst zu ratifizieren.2 In der Tat können Wirtschaftsbeziehungen langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn es im Streitfall effiziente Streitbeilegungsmechanismen gibt. Für die Schweiz mit ihrer exportorientierten Wirtschaft ist das HGvÜ deshalb von grossem Interesse.

Ein Beitritt der Schweiz zum HGvÜ ist auch deshalb angezeigt, weil das Vereinigte Königreich seit dem Austritt aus der Europäischen Union nicht mehr durch das Übereinkommen vom 30. Oktober 20073 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen, hiernach LugÜ) gebunden ist. Dies führt im Verhältnis zu einem wichtigen Handelspartner der Schweiz zu Rechtsunsicherheit. Mit dem HGvÜ kann diese Rechtsunsicherheit in einem für den Handel sehr relevanten Bereich eliminiert werden, da das Vereinigte Königreich dem Übereinkommen bereits beigetreten ist.

Das HGvÜ ist noch aus einem weiteren Grund für die Schweiz wichtig. In verschiedenen Kantonen (BE, GE, ZH) wird aktuell die Errichtung von spezialisierten Gerichten für internationale Handelsstreitigkeiten diskutiert.4 Solche Gerichte wurden in den letzten Jahren auch in Singapur, Frankreich, Deutschland, Belgien und den Niederlanden eingeführt. All diese Länder sind nicht nur wichtige Handelspartner der 1 2 3 4

Vgl. die Präambel des HGvÜ.

iccwbo.org > Media wall > News & Speeches > Search > «ICC calls on governments to facilitate cross-border litigation».

SR 0.275.12 Martin Bernet / Arun Chandrasekharan, International Commercial Courts ­ the Projects in Zurich and Geneva, in: Müller/Besson/Rigozzi, New Developments in International Commercial Arbitration 2020, S. 167­190.

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Schweiz, sondern auch direkte Konkurrenten im Markt für juristische Dienstleistungen. Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg5 von Handelsgerichten für internationale Streitigkeiten ist die spätere Anerkennung und Vollstreckung ihrer Entscheidungen im Ausland. Nachdem in den letzten Jahren bereits die Attraktivität der Schweiz als Standort für Schiedsgerichte erhöht wurde,6 sollte nun auch die staatliche Gerichtsbarkeit gestärkt werden, damit die Schweiz ihre führende Position im Rechtsdienstleistungsbereich behalten kann.

Im Rahmen der Revision der Zivilprozessordnung (ZPO)7 verlangten mehrere Vernehmlassungsteilnehmer einen raschen Beitritt zum HGvÜ, um bei internationalen Handelsstreitigkeiten eine verbindliche Gerichtsstandswahl treffen zu können.8 Entsprechend kündigte der Bundesrat in seiner Botschaft zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 26. Februar 2020 an, dass «in Zukunft auch die Ratifikation des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen durch die Schweiz zu prüfen sein» werde, damit «der exzellente Ruf der Schweiz als neutraler und kompetenter 'Rechtshub' weiter stimuliert werden» und «ein sinnvoller Beitrag zum Justizdienstleistungsplatz Schweiz geleistet werden» könne.9 Vor diesem Hintergrund reichte die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S) am 12. April 2021 die Motion 21.3455 «Die Schweiz als internationalen Gerichtsstandort weiter stärken» ein, mit welcher der Bundesrat beauftragt wird, dem Parlament den Entwurf eines Bundesbeschlusses zur Genehmigung des HGvÜ vorzulegen. Der Bundesrat beantragte am 26. Mai 2021 die Annahme der Motion. Am 16. Juni 2021 wurde sie vom Ständerat und am 6. Dezember 2021 vom Nationalrat angenommen.10 Mit dieser Vorlage wird die Motion erfüllt.

1.2

Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen

Das HGvÜ wurde 2005 unter Vorsitz des Professors Andreas Bucher (Universität Genf) abgeschlossen. Es geht auf einen amerikanischen Vorschlag zurück, um weltweit die Urteilsanerkennung zu erleichtern und die Gerichtsstände zu vereinheitlichen. Die ersten Arbeiten im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht begannen 1992.11 Das HGvÜ sollte ursprünglich alle für das Zivil- oder Handelsrecht relevanten Zuständigkeiten abdecken. Im Laufe der Verhandlungen wurde es auf die für den inter-

5

6 7 8 9 10 11

Als Beispiel für die wirtschaftliche Relevanz der juristischen Dienstleistungen kann Singapur erwähnt werden: 2017 wurden dort im Rechtsbereich 2,1 Milliarden SG-$ (1,4 Mia. CHF) erwirtschaftet. Quelle: www.singstat.gov.sg.

BBl 2018 7163 SR 272 www.bj.admin.ch > Staat & Bürger > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Änderung ZPO > Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens Ziff. 6.7.

BBl 2020 2697 Ziff. 4.1.6 AB 2021 S 694, AB 2021 N 2383 www.hcch.net > Projets > Travail législatif > Projet concernant la compétence (nicht auf Deutsch verfügbar).

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nationalen Handel sehr wichtigen Gerichtsstandsvereinbarungen reduziert.12 Damit sollte im Bereich der staatlichen Gerichtsbarkeit das erreicht werden, was das Übereinkommen von New York vom 10. Juni 195813 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche im Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit leistet.14 Hervorzuheben ist auch, dass der Anwendungsbereich des HGvÜ im Laufe der Verhandlungen eingeschränkt wurde, um den Schutz sozial schwächerer Parteien sicherzustellen. So wurden die von Konsumentinnen und Konsumenten sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geschlossenen Gerichtsstandsvereinbarungen vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgeschlossen, da bei diesen sonst das Risiko besteht, dass die Arbeitgeberseite und professionelle Anbieter ihre stärkere Verhandlungsposition zum Nachteil der schwächeren Vertragspartner ausnutzen. Viele andere Bereiche, die von Spezialübereinkommen abgedeckt sind (z.B. Unterhalt, Testamente), einen starken territorialen Bezug zu einem einzigen Staat aufweisen (z.B. das Immobiliarsachenrecht), oder komplexe rechtliche Fragen aufwerfen (z.B. das Immaterialgüterrecht), wurden ebenfalls vom Anwendungsbereich ausgeschlossen.

Dank der aktiven Teilnahme der Schweizer Delegation an den Verhandlungen konnte sichergestellt werden, dass das HGvÜ mit dem für die Schweiz wichtigen LugÜ kompatibel ist und dass das Verhandlungsresultat mit der Schweizer Rechtsordnung vereinbar ist (vgl. auch Ziff. 1.3).

Zum Verhandlungsergebnis ist zu sagen, dass das 1992 begonnene Projekt der weltweiten Urteilsanerkennung und Vereinheitlichung der Gerichtsstände noch immer nicht abgeschlossen ist. Mit dem Haager Übereinkommen vom 2. Juli 2019 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile in Zivil- oder Handelssachen15 konnte zwar ein weiterer Meilenstein im Bereich der Urteilsanerkennung erreicht werden. Über die Frage, welche Gerichte zuständig sein sollen, um Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, und wie mit parallelen Prozessen zwischen denselben Parteien in verschiedenen Staaten umgegangen werden soll, wird aber noch immer weiter diskutiert.16 Die Bundesverwaltung nahm bereits 2014 erste Abklärungen zum HGvÜ vor, sistierte diese dann aber vor dem Hintergrund des damals sich abzeichnenden «baldigen» Abschlusses der Arbeiten bei der Haager Konferenz. Nun scheint es an der Zeit, dem HGvÜ auch unabhängig von den weiteren Verhandlungen bei der Haager Konferenz beizutreten.

12 13 14

15 16

Für weitere Einzelheiten über den Verlauf der Verhandlungen siehe Andreas Bucher, SZIER 1/2006, S. 29 ff.

SR 0.277.12 Siehe das Vorwort zum Erläuternden Bericht von Trevor Hartley und Masato Dogauchi zum Haager Übereinkommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen (nachfolgend «Bericht Hartley/Dogauchi»), abrufbar unter www.hcch.net > Autres langues > Deutsch > Instrumente > Konventionen und andere Instrumente > 2005 Choice of Court Convention > Explanatory Report > German.

www.hcch.net > Instruments > Conventions et autres instruments > Convention Jugements de 2019 > Translations > Deutsch.

www.hcch.net > Travail législatif > Projets > Travail législatif > Projet concernant la compétence (nicht auf Deutsch verfügbar).

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1.3

Verhältnis zu anderen Erlassen

Gerichtsstandsvereinbarungen werden in der Schweiz bereits durch verschiedene Rechtsgrundlagen geregelt, so insbesondere durch Artikel 23 LugÜ, Artikel 5 des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 198717 über das Internationale Privatrecht (IPRG) sowie - auf nationaler Ebene - Artikel 17 ZPO.

Das Verhältnis des HGvÜ zu den innerstaatlichen Bestimmungen ist klar: Als internationales Übereinkommen geht das HGvÜ den nationalen Rechtsvorschriften vor (vgl. Art. 1 Abs. 1 IPRG und Art. 2 ZPO). Das Verhältnis zum LugÜ ist hingegen komplexer und bedarf einiger Klarstellungen (vgl. Ziff. 1.3.1).

1.3.1

Lugano-Übereinkommen

Die Anwendungsbereiche des HGvÜ und des LugÜ können sich überschneiden, wenn in einem internationalen Sachverhalt eine Gerichtsstandsvereinbarung auf einen Staat verweist, in dem beide Übereinkommen anwendbar sind. Die materiellen Anwendungsbereiche der beiden Übereinkommen, die Zivil- und Handelssachen betreffen, sind praktisch identisch.

Zwischen den in den beiden Übereinkommen vorgesehenen Lösungen bestehen einige Unterschiede. Der bedeutendste Unterschied ist, dass bei parallelen Verfahren das HGvÜ dem vereinbarten Gericht Vorrang einräumt, während nach dem LugÜ das zuerst angerufene Gericht Vorrang hat. Daher ist es wichtig, die Anwendungsbereiche der beiden Instrumente zu klären. Die folgenden Erläuterungen konzentrieren sich auf die wichtigsten Situationen, die in der Schweiz entstehen können.18 In Bezug auf die Zuständigkeit lässt sich das Verhältnis zwischen dem HGvÜ und dem LugÜ wie folgt zusammenfassen: Das HGvÜ soll Anwendung finden, sobald ein Gericht eines Vertragsstaats gewählt wird, während das LugÜ zusätzlich verlangt, dass eine der Parteien ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat (ausser im Hinblick auf die Derogationswirkung der Gerichtsstandsvereinbarungen, die nach Artikel 23 Absatz 3 LugÜ ungeachtet des Wohnsitzes der Parteien eintritt). Das HGvÜ hat also einen breiteren Anwendungsbereich als das LugÜ, lässt diesem aber in den in seinem Artikel 26 genannten Situationen den Vorrang.

In vielen für die Schweiz relevanten Fällen werden die Regeln des LugÜ weiterhin zur Anwendung kommen. So lässt das HGvÜ dem LugÜ bei Fragen der direkten Zuständigkeit gemäss Artikel 26 Absatz 2 HGvÜ Vorrang, wenn beide Parteien ihren Wohnsitz in einem durch das LugÜ gebundenen Staat haben, oder wenn nur eine der Parteien ihren Wohnsitz in einem durch das LugÜ gebundenen Staat hat, während sich die andere Partei nicht in einem HGvÜ-Vertragsstaat aufhält. Bei Unvereinbar17 18

SR 291 Für weitere Einzelheiten zu möglichen Konflikten zwischen dem HGvÜ und dem LugÜ wird auf die Stellungnahmen der Universitäten Bern, Genf und Lausanne verwiesen, die im Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens zusammengefasst sind (hiernach «Vernehmlassungsbericht»), Ziffer 3.4. Die Stellungnahmen und der Bericht sind verfügbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2022 > EJPD.

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keit des HGvÜ mit den sich aus dem LugÜ ergebenden Pflichten gegenüber anderen LugÜ-Staaten gibt Artikel 26 Absatz 3 HGvÜ dem LugÜ als früherem Übereinkommen den Vorrang.

In Bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung werden mögliche Konflikte zwischen den beiden Übereinkommen dadurch abgewendet, dass das HGvÜ die Anwendung anderer Vertragstexte (insbesondere des LugÜ) nicht berührt, wenn sie eine gleichwertige Anerkennung ermöglichen. Das anerkennungsfreundliche LugÜ lässt sich also in den meisten Fällen auf die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen eines durch das LugÜ gebundenen Staates anwenden.

Alle Vernehmlassungsteilnehmer, die sich zur Vereinbarkeit des HGvÜ mit dem LugÜ äusserten, kamen zum Schluss, dass die beiden Instrumente zwar nicht in allen Punkten vollständig vereinbar seien, das LugÜ der Genehmigung des HGvÜ aber nicht entgegenstehe. Es kann den Gerichten überlassen werden, in echten Konfliktsituationen - die in der Praxis eher selten vorkommen dürften - angemessene Lösungen zu finden, die den legitimen Erwartungen der Parteien und der von ihnen im Verfahren gewählten Strategie Rechnung tragen.

1.3.2

IPRG

Mit Inkrafttreten des HGvÜ für die Schweiz wird das IPRG in Bezug auf die Gerichtsstandswahl nur noch jene Fälle regeln, in denen ein Gericht eines Staates gewählt wird, der durch keines der beiden Abkommen (HGvÜ und LugÜ) gebunden ist, sowie jene Fälle, die einen Sachverhalt betreffen, der vom sachlichen Anwendungsbereich ausgeschlossen ist.

Die Vernehmlassungsteilnehmer, die sich zur Vereinbarkeit des HGvÜ mit dem IPRG äusserten, haben auf einige kleinere Unterschiede hingewiesen. Sie kamen aber zum Schluss, dass eine Änderung des IPRG für die Genehmigung des HGvÜ nicht nötig ist, auch wenn dies gemäss einigen Vernehmlassungsteilnehmern wünschenswert wäre.19 In Bezug auf die vorgeschlagenen Anpassungen und die entsprechende Würdigung des Bundesrates wird auf die Ziffern 2.1, 2.2 und 6 verwiesen.

1.4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 29. Januar 202020 zur Legislaturplanung 2019­2023 noch im Bundesbeschluss vom 21. September 202021 über die Legislaturplanung 2019­2023 angekündigt. Der Auftrag für die Ausarbeitung der Vorlage wurde dem Bundesrat mit der Motion 21.3455 vom 12. April 2021 erteilt.

19 20 21

Vgl. Vernehmlassungsbericht Ziff. 3.5.

BBl 2020 1777 BBl 2020 8385

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1.5

Abschreibung parlamentarischer Vorstösse

Mit dem vorliegenden Gesetzgebungsprojekt wird die Motion RK-S 21.3455 «Die Schweiz als internationalen Gerichtsstandort weiter stärken» erfüllt. Der Bundesrat beantragt folglich deren Abschreibung.

2

Vernehmlassungsverfahren

2.1

Übersicht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens

Das Vernehmlassungsverfahren wurde am 30. März 2022 eröffnet und endete am 7. Juli 2022. 90 Vernehmlassungsadressaten wurden eingeladen, sich zu den Ausführungen des erläuternden Berichts und insbesondere zur Frage zu äussern, ob die Schweiz in Bezug auf das HGvÜ Vorbehalte anbringen oder Erklärungen abgeben soll. Insgesamt sind 46 Rückmeldungen eingegangen (26 Kantone, 17 Organisationen, darunter 4 Universitäten, und 3 politische Parteien).

Die grosse Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer hat die Vorlage zur Genehmigung des HGvÜ begrüsst22; verschiedene Stellungnahmen haben Fragen in Zusammenhang mit Artikel 5 IPRG aufgeworfen.23

2.2

Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Die meisten Vernehmlassungsteilnehmer (einschliesslich der grossen Mehrheit der Kantone) haben bestätigt, dass mit dem HGvÜ die angestrebten Ziele vollständig oder teilweise erreicht werden können. Dies gilt insbesondere für zwei Ziele, nämlich die Attraktivität der Schweiz als internationalen Gerichtsstandort weiter zu stärken und die Rechtsunsicherheit, die zurzeit im Verhältnis mit Nichtvertragsstaaten des LugÜ und ausserhalb des europäischen Rechtsraums besteht, zu reduzieren. Die allgemeinen, neutralen oder kritischen Bemerkungen, die weit weniger zahlreich waren, widersprachen dem nicht. Sie bezogen sich auf die Lücken und die mangelnde Genauigkeit einiger Bestimmungen des HGvÜ sowie die Anwendung des HGvÜ durch die Gerichte der Kantone, die kein international ausgerichtetes Handelsgericht errichten wollen (vgl. Ziff. 6).

Die Schweizer Universitäten und einige andere Vernehmlassungsteilnehmer haben weitere Fragen aufgeworfen, namentlich zu den Vorbehalten und Erklärungen, die die Schweiz anbringen beziehungsweise abgeben könnte (vgl. Ziff. 6), sowie zum Verhältnis zum LugÜ (vgl. Ziff. 1.3.1) und zum innerstaatlichen Recht (vgl. Ziff. 1.3.2).

Die Vernehmlassungsergebnisse haben bestätigt, dass die Genehmigung des HGvÜ im Interesse der Schweiz ist.

22 23

Der Vernehmlassungsbericht ist verfügbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2022 > EJPD.

Vgl. Vernehmlassungsbericht Ziff. 3.5.

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Wie im Rahmen der Vernehmlassung vorgeschlagen, soll in Artikel 5 IPRG geklärt werden, welches Gericht bei einer Wahl der «Schweizer Gerichte» zuständig ist (vgl.

Ziff. 6). Nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 200524 (VlG) findet bei der Vorbereitung von Gesetzesvorlagen grundsätzlich ein Vernehmlassungsverfahren statt; es kann jedoch darauf verzichtet werden, wenn wie vorliegend die Voraussetzungen von Artikel 3a Buchstabe b VIG erfüllt sind. So wurde die Möglichkeit einer Änderung von Artikel 5 IPRG in dem in die Vernehmlassung gegebenen erläuternden Bericht diskutiert, zum damaligen Zeitpunkt aber nicht umgesetzt. Über den Gegenstand des Vorhabens wurde also bereits eine Vernehmlassung durchgeführt. Der Vorschlag, der schliesslich in den vorliegenden Entwurf aufgenommen wird, stützt sich auf die in der Vernehmlassung eingegangenen Stellungnahmen in Bezug auf die Genehmigung des HGvÜ. Es waren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten, weil die Positionen der interessierten Kreise bekannt sind. Aus diesem Grund wurde keine neue Vernehmlassung zur Änderung des IPRG durchgeführt.

3

Konsultation parlamentarischer Kommissionen

Nach Artikel 152 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200225 (ParlG) konsultiert der Bundesrat die für die Aussenpolitik zuständigen Kommissionen zu den Richt- und Leitlinien zum Mandat für bedeutende internationale Verhandlungen, bevor er dieses festlegt oder abändert. Im vorliegenden Fall erfüllen die Verhandlungen zur Ausfertigung des HGvÜ die Voraussetzungen von Artikel 152 Absatz 3 ParlG nicht; diese wurden im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht geführt, einer internationalen Organisation, bei der die Schweiz Mitglied ist und die die Entwicklung des internationalen Rechts zum Ziel hat. Daher bestand zum damaligen Zeitpunkt keine Notwendigkeit, die parlamentarischen Kommissionen zu konsultieren.

4

Grundzüge des HGvÜ

4.1

Überblick

Das HGvÜ legt einheitliche Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit der Gerichte in Zivil- oder Handelssachen fest, wenn die Parteien eines Rechtsstreits das zuständige Gericht benannt haben (Art. 5­7). Es regelt ausserdem die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, die von einem in einer solchen Vereinbarung benannten Gericht eines Vertragsstaats gefällt wurden (Art. 8­15). Diese Bestimmungen bilden den Kern des HGvÜ.

Die übrigen Bestimmungen des HGvÜ betreffen insbesondere seinen Anwendungsbereich (z. B. die Definition eines internationalen Sachverhalts, vom Anwendungsbereich ausgeschlossene Rechtsgebiete oder die Definition der ausschliesslichen Ge24 25

SR 172.061 SR 171.10

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richtsstandsvereinbarung und der Entscheidung). Darüber hinaus enthalten sie technische Regeln (u. a. zu Erklärungen, die Staaten abgeben können, zum Verhältnis zu anderen internationalen Rechtsinstrumenten, zum Beitritt zum Übereinkommen und zur Kündigung, zum Inkrafttreten und zum Depositar).26

4.2

Bewertung

Das HGvÜ fördert den internationalen Handel und internationale Investitionen durch eine verstärkte gerichtliche Zusammenarbeit und die Schaffung der nötigen Rechtssicherheit durch klare und vorhersehbare Zuständigkeits- und Anerkennungsregeln, die für die Parteien und Gerichte verbindlich sind. Ein Beitritt liegt daher im Interesse der Schweiz.

4.3

Sprachfassungen

In Einklang mit Artikel 13 Absatz 2 des Sprachengesetzes vom 5. Oktober 200727 wurde eine Originalfassung des HGvÜ in Französisch erstellt.

5

Erläuterungen zu den Bestimmungen des HGvÜ

Art. 1

Anwendungsbereich

Das HGvÜ ist grundsätzlich nur bei internationalen Sachverhalten auf ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten der Gerichte eines Vertragsstaats anzuwenden, die in Zivil- oder Handelssachen geschlossen werden, beziehungsweise auf die gestützt darauf ergangenen Urteile.

Definition des «internationalen Sachverhalts» zur Bestimmung der Zuständigkeit Zur Bestimmung der Zuständigkeit ist das HGvÜ anzuwenden, wenn mindestens eine der beiden folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: Die Parteien haben ihren Aufenthalt nicht im selben Vertragsstaat, oder ein für den Rechtsstreit massgebliches Element weist eine Verbindung zu einem anderen Staat auf. Zur Bestimmung des Aufenthalts von natürlichen und juristischen Personen siehe die Erläuterungen zu Artikel 4.

Die Internationalität im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 und damit der Anwendungsbereich des HGvÜ hat zum Schutz der schwächeren Partei Grenzen: So wird ein rein innerstaatlicher Sachverhalt nicht allein deshalb international, nur weil die Parteien ein ausländisches Gericht vereinbart haben. Solche Beziehungen unterliegen weiterhin den anderen im betreffenden Staat geltenden Regeln.

26

27

Eine Übersicht des HGvÜ, herausgegeben vom Ständigen Büro der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, ist abrufbar unter www.hcch.net > Instruments > Conventions et d'autres instruments > Aperçu de la Convention (nicht auf Deutsch verfügbar).

SR 441.1

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Definition des «internationalen Sachverhalts» für die Anerkennung und Vollstreckung Für die Anerkennung und Vollstreckung gilt gemäss Absatz 3 eine andere Definition des Begriffs «internationaler Sachverhalt». In diesem Zusammenhang ist ein Sachverhalt international, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung einer in einem Vertragsstaat gefällten ausländischen Entscheidung geltend gemacht wird.

Folglich wird ein rein innerstaatlicher Sachverhalt, der zum Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung nicht international im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 war, im Sinne von Artikel 1 Absatz 3 dann international, wenn diese Entscheidung in einem anderen Vertragsstaat anerkannt oder vollstreckt werden soll.

Beschränkung auf ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen Das HGvÜ gilt grundsätzlich nur für ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen.

Dies sind Gerichtsstandsvereinbarungen, die entweder die Gerichte eines Vertragsstaats oder ein oder mehrere bestimmte Gerichte eines Vertragsstaats bezeichnen, unter Ausschluss der Gerichte anderer Staaten.28 Diese Einschränkung des Anwendungsbereichs des HGvÜ hat zwei wesentliche Vorteile. Zum einen können so Probleme vermieden werden, die sich ergeben würden, wenn Gerichte in mehreren Staaten angerufen werden (also Fragen im Zusammenhang mit der Rechtshängigkeit). So verbietet Artikel 6 anderen Gerichten als dem vereinbarten Gericht, sich mit dem Fall zu befassen. Andererseits kann durch die Einschränkung festgelegt werden, dass das vereinbarte Gericht den Rechtsstreit nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass ein Gericht eines anderen Staates ein geeigneterer Gerichtsstand wäre (forum non conveniens): Artikel 5 schreibt entsprechend vor, dass das vereinbarte Gericht über den Rechtsstreit zu entscheiden hat. Diese beiden wesentlichen Bestimmungen haben dazu beigetragen, das Hauptziel des HGvÜ zu erreichen, nämlich die Gerichtsstandsvereinbarungen so wirksam wie möglich zu gestalten.

Im Interesse der Flexibilität sieht Artikel 22 jedoch die Möglichkeit vor, dass die Vertragsstaaten gegenseitige Erklärungen abgeben können, durch die die Anwendung der Bestimmungen des HGvÜ über die Anerkennung und Vollstreckung auf nicht ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen ausgedehnt wird. Für die Schweiz, die die Gültigkeit der nicht ausschliesslichen
Gerichtsstandsvereinbarungen bereits gestützt auf das IPRG anerkennt, wird im Sinne der Kohärenz mit dem innerstaatlichen Recht im vorliegenden Entwurf eine solche Erklärung vorgeschlagen (vgl. Ziff. 6).

«Zivil- und Handelssachen» Das HGvÜ ist in Zivil- und Handelssachen anwendbar. Wie bei der Haager Konferenz üblich definiert das HGvÜ diesen Begriff nicht. Er ist, ohne Bezugnahme auf innerstaatliches Recht oder auf andere Rechtsinstrumente, autonom auszulegen. Eine autonome und einheitliche Auslegung dieser Begriffe ist besonders wichtig, da immer

28

Zur Definition von ausschliesslichen Gerichtsstandsvereinbarungen wird auf Artikel 3 des HGvÜ und die Erläuterungen zu Artikel 3 verwiesen.

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mindestens zwei Staaten betroffen sind, wenn das HGvÜ auf einen Rechtsstreit Anwendung findet.

Die Beschränkung auf Zivil- oder Handelssachen zielt vor allem darauf ab, das öffentliche Recht und das Strafrecht auszuschliessen. In der Praxis wird das HGvÜ vor allem auf internationale Kauf- und Dienstleistungsverträge Anwendung finden, bei denen die Parteien häufig im Voraus Gerichtsstandsklauseln vereinbaren. Ein weiterer Anwendungsfall könnte sein, dass die Parteien einer bereits entstandenen Streitigkeit (z. B. aufgrund einer unerlaubten Handlung) vereinbaren, die Streitigkeit den Gerichten eines bestimmten Staates vorzulegen.

Verfahren sind vom Anwendungsbereich des HGvÜ nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil ein Staat (einschliesslich einer Regierung, einer Regierungsstelle oder einer für einen Staat handelnden Person) Verfahrenspartei ist (Art. 2 Abs. 5). So wird das HGvÜ anwendbar sein, wenn ein Staat Handelsgeschäfte tätigt und wie eine Privatperson auftritt. Artikel 2 Absatz 6 sieht ausdrücklich vor, dass das HGvÜ die Vorrechte und Immunitäten von Staaten oder internationalen Organisationen unberührt lässt.

Artikel 1 definiert den Anwendungsbereich des HGvÜ materiell und stellt nicht auf die Art der Gerichtsbarkeit ab: Die Einstufung als «Zivil- oder Handelssache» hängt somit vom Rechtsstreit ab und nicht vom angerufenen Gericht, unabhängig davon, ob es sich um ein Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgericht handelt.

Zu beachten ist, dass Artikel 2 bestimmte Angelegenheiten aus Zivil- oder Handelssachen vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausnimmt.29 Art. 2

Ausschluss vom Anwendungsbereich

Konsumentenverträge Zum Schutz wirtschaftlich schwacher Parteien schliesst Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a Gerichtsstandsvereinbarungen mit natürlichen Personen, die in erster Linie für den persönlichen, familiären Gebrauch oder zu Haushaltszwecken handeln, vom Anwendungsbereich des HGvÜ aus (im HGvÜ ist von «Verbraucher» die Rede, nachfolgend wird der in der Schweiz übliche Ausdruck «Konsument» verwendet). Diese autonom auszulegende (Art. 23) Definition der Konsumentin oder des Konsumenten geht weiter als die heute in der Schweiz verwendeten Definitionen nach Artikel 15 LugÜ, Artikel 120 IPRG und Artikel 32 ZPO, da sowohl Verträge zwischen einem Konsumenten und einer Nicht-Konsumentin als auch Verträge zwischen zwei Konsumentinnen vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgeschlossen sind.30 Im Vergleich dazu beschränken das LugÜ, das IPRG und die ZPO den Vorteil der Schutzbestimmungen auf Verträge zwischen Konsumenten und Gewerbetreibenden.

Arbeitsverträge Ebenfalls im Sinne des Schutzes schwächerer Parteien bestimmt Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b, dass das HGvÜ nicht auf Arbeitsverträge einschliesslich Kollektivver-

29 30

Siehe dazu die Erläuterungen zu Artikel 2.

Für weitere Details zu diesem Punkt siehe Bucher, SZIER 1/2006, S. 33.

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einbarungen anwendbar ist. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dürfen daher die regulär vorgesehenen Gerichtsstände nicht vorenthalten werden.

Schiedsgerichtsbarkeit Das HGvÜ ist nicht anzuwenden auf die Schiedsgerichtsbarkeit sowie auf Verfahren, die sich auf ein Schiedsverfahren beziehen (Art. 2 Abs. 4). Die Zuständigkeit für schiedsgerichtliche Verfahren sowie die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs richten sich somit ausschliesslich nach den Vorschriften, die in den betreffenden Staaten gelten (in der Schweiz in internationalen Angelegenheiten das New Yorker Übereinkommen vom 10. Juni 195831 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche sowie das IPRG).

Weitere ausgeschlossene Angelegenheiten Artikel 2 Absatz 2 zählt die weiteren Bereiche auf, die vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgeschlossen sind.32 Zum Teil handelt es sich um Bereiche, in denen die Parteien die Zuständigkeit nicht untereinander regeln können, weil das öffentliche Interesse oder das Interesse Dritter betroffen ist. So gilt das HGvÜ insbesondere nicht für das Personen- und Familienrecht im weiteren Sinne, für das Erb- und Insolvenzrecht oder für dingliche Rechte an Immobilien. Andere Bereiche sind dagegen ausgeschlossen, weil sie bereits durch multilaterale Rechtsinstrumente geregelt sind, wie z.B. Unterhaltspflichten, der Personen- und Güterverkehr oder die Meeresverschmutzung.

Wenn eine nach Artikel 2 Absatz 2 ausgeschlossene Angelegenheit lediglich als Vorfrage auftritt und nicht Hauptgegenstand des Verfahrens ist, ist das Verfahren nicht vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgeschlossen (Art. 2 Abs. 3). Wenn also beispielsweise ein Gericht auf der Grundlage einer Gerichtsstandsvereinbarung angerufen wird, die in einem unter den Anwendungsbereich des HGvÜ fallenden Dienstleistungsvertrag enthalten ist, kann das Gericht auch die mögliche Vorfrage prüfen, ob die Schuldnerin oder der Schuldner die Fähigkeit hatte, den Vertrag zu unterzeichnen.

Das Urteil über den Dienstleistungsvertrag kann grundsätzlich nach dem HGvÜ anerkannt und vollstreckt werden (zu den Ausnahmen siehe die Erläuterung zu Art. 10).

Art. 3

Ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen

Grundsätzlich fällt eine Gerichtsstandsvereinbarung in den Anwendungsbereich des HGvÜ, wenn sie fünf Kriterien erfüllt, die sich aus Artikel 3 ff. ergeben: Es muss eine schriftlich (oder durch jedes andere Kommunikationsmittel, das es ermöglicht, auf die Information später wieder zuzugreifen) getroffene oder dokumentierte, gültige Vereinbarung zwischen den Parteien vorliegen, in der die Gerichte eines einzigen Vertragsstaats benannt werden, um eine Rechtsstreitigkeit zu lösen, die aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entstanden ist oder entspringen wird.

31 32

SR 0.277.12 Für ausführliche Erläuterungen zu den durch Art. 2 Abs. 2 ausgeschlossenen Angelegenheiten siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 52­83.

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Gültige Vereinbarung zwischen zwei oder mehreren Parteien Damit das HGvÜ Anwendung findet, müssen sich die Parteien des Vertrags oder des Rechtsstreits auf das zuständige Gericht oder den zuständigen Staat geeinigt haben.

Im HGvÜ wird der Begriff «Vereinbarung» verwendet, was eine einseitige Festlegung ohne Zustimmung ausschliesst: Es muss eine Vereinbarung zwischen zwei oder mehreren Parteien vorliegen.

Die Frage der Gültigkeit der Vereinbarung ist grundsätzlich nach dem Recht des Staates des vereinbarten Gerichts zu prüfen (Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Bst. a und Art. 9 Bst. a).

Zum Schutz der schwächeren Partei kann die Frage der Fähigkeit zum Abschluss der Vereinbarung auch nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts (Art. 6 Bst. b) oder nach dem Recht des Staates geprüft werden, in dem die Anerkennung und Vollstreckung beantragt wird (ersuchter Staat; Art. 9 Bst. b).

Artikel 3 Buchstabe d hält fest, dass eine ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung, die Teil eines Vertrags ist, als eine von den übrigen Vertragsbestimmungen unabhängige Vereinbarung zu behandeln ist. Die Gültigkeit der ausschliesslichen Gerichtsstandsvereinbarung kann folglich nicht allein mit der Begründung in Frage gestellt werden, dass der Vertrag nicht gültig ist. Stattdessen wird in der Regel das vereinbarte Gericht über die Frage der Gültigkeit des Vertrags zu entscheiden haben.

Formerfordernisse nach Artikel 3 Buchstabe c Eine ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung im Sinne des HGvÜ muss entweder schriftlich oder durch jedes andere Kommunikationsmittel, das es ermöglicht, auf die Information später wieder zuzugreifen, geschlossen werden oder dokumentiert sein.33 So kann eine Gerichtsstandsvereinbarung zum Beispiel durch einen Vertrag auf Papier oder einen Austausch von E-Mails dokumentiert oder durch das Ankreuzen eines Kästchens auf einer Website geschlossen werden. Es ist keine eigenhändige Unterschrift erforderlich. Selbst eine Bestätigungs-E-Mail, die von einer der Parteien nach einer mündlichen Vereinbarung oder gestützt auf einen Handelsbrauch versandt wird, kann die formalen Anforderungen erfüllen. Es ist nicht erforderlich, dass das Schriftstück von der anderen Partei empfangen wurde.34 Die Formerfordernisse nach Artikel 3 Buchstabe c sind notwendig und ausreichend: Das HGvÜ ist nur anwendbar,
wenn die ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung sie erfüllt, und es dürfen keine weiteren Formerfordernisse nach innerstaatlichem Recht (z. B. die Verwendung von speziellem Fettdruck) auferlegt werden.

Ausschliesslichkeit der Gerichtsstandsvereinbarung Damit eine Gerichtsstandsvereinbarung unter das HGvÜ fällt und von seinen Vorteilen profitiert, muss sie ausschliesslich sein.35 Das bedeutet, dass sie entweder die Gerichte eines einzigen Vertragsstaats oder ein oder mehrere bestimmte Gerichte eines 33

34 35

Diese Formulierung ist an Art. 6 Abs. 1 des Modellgesetzes der UNCITRAL über den elektronischen Geschäftsverkehr von 1996 angelehnt, abrufbar unter uncitral.un.org > Textes et ratifications > Commerce électronique (nicht auf Deutsch verfügbar).

Siehe Bucher, SZIER 1/2006, S. 37.

Für Beispiele ausschliesslicher und nicht ausschliesslicher Vereinbarungen siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 108 und 109.

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einzigen Vertragsstaats benennen muss. Nach Artikel 3 Buchstabe b gilt eine Gerichtsstandsvereinbarung als ausschliesslich, wenn die Parteien nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart haben. In einer ausschliesslichen Gerichtsstandsvereinbarung können daher zwei oder mehrere Gerichte benannt werden, sofern diese sich in demselben Vertragsstaat36 befinden.

In Bezug auf die Schweiz wären Beispiele für ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen «die Schweizer Gerichte», «das Handelsgericht Zürich» oder «nach Wahl des Klägers das erstinstanzliche Gericht in Genf oder das Handelsgericht Bern».

Die Gerichtsstandsvereinbarung muss für beide Parteien ausschliesslich sein.37 Vereinbarungen, deren Ausschliesslichkeit auf eine Partei beschränkt ist, während die andere Partei die Wahl hat, die Gerichte in zwei verschiedenen Staaten anzurufen (sogenannte asymmetrische Vereinbarungen), zum Beispiel an ihrem Sitz und am Erfüllungsort des Vertrags, der sich in einem anderen Staat als der Sitz befindet, gelten somit nicht als ausschliesslich im Sinne des HGvÜ.

Gerichte eines Vertragsstaates Die Gerichtsstandsvereinbarung muss ein oder mehrere Gerichte in einem Vertragsstaat benennen. Die Bestimmungen des HGvÜ gelten daher nicht für Vereinbarungen, in denen die Gerichte eines Nichtvertragsstaates benannt werden.

Gegenstand der Vereinbarung Die Vereinbarung der Parteien muss sich auf die Beilegung von Streitigkeiten beziehen, die aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entstanden sind oder entstehen werden. Es besteht keine Beschränkung auf Ansprüche aus einem Vertragsverhältnis, und eine ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung könnte auch Ansprüche aus unerlaubter Handlung erfassen.

Art. 4

Sonstige Begriffsbestimmungen

«Entscheidung» Damit die Entscheidungen leichter zirkulieren können, wird der Begriff der Entscheidung im HGvÜ weit gefasst und bezeichnet «jede gerichtliche Entscheidung in der Sache, unabhängig von ihrer Bezeichnung, wie ein Urteil oder einen Beschluss». Artikel 4 Absatz 1 schliesst ausdrücklich den Kostenfestsetzungsbeschluss ein, selbst wenn er zum Beispiel von der Gerichtskanzlei stammt, sofern er sich auf eine Entscheidung in der Sache bezieht, die nach dem HGvÜ anerkannt oder vollstreckt werden kann. Einstweilige Sicherungsmassnahmen sind hingegen ebenso ausgeschlossen wie verfahrensrechtliche Anordnungen, die keine Entscheidungen in der Sache sind.

36 37

Für eine Klarstellung des Begriffs «Staat» im Falle eines nicht einheitlichen Rechtssystems siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 107.

Siehe Procès-verbal No 3, S. 577 f. der Actes et documents de la Vingtième session diplomatique de la Conférence de La Haye de droit international privé, abrufbar unter www.hcch.net > Publications et études > Publications > Actes et documents des Sessions diplomatiques > Actes et documents de la Vingtième session (2005) ­ Élection de for (nicht auf Deutsch verfügbar).

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Wie in den Haager Übereinkommen üblich, ist der Begriff «Gericht» im materiellen Sinn zu verstehen. Das bedeutet, dass mit dem Begriff «Gericht» jede Behörde gemeint ist, die in einem Vertragsstaat für Streitigkeiten im Anwendungsbereich des HGvÜ zuständig ist.

«Aufenthalt» Ein weiterer für das HGvÜ wichtiger Begriff ist jener des Aufenthalts. Er wird insbesondere zur Bestimmung des internationalen Charakters eines Sachverhalts verwendet.

Die Bestimmung des Aufenthalts natürlicher Personen richtet sich nach dem Recht des angerufenen Staates. In der Schweiz ist Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe b IPRG anwendbar, sodass eine natürliche Person «ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat [hat], in dem sie während längerer Zeit lebt, selbst wenn diese Zeit zum vornherein befristet ist».

Aufgrund der grossen Unterschiede in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen bei der Definition des «Aufenthalts» juristischer Personen waren diesbezüglich einige Klarstellungen im HGvÜ erforderlich. Gemäss Artikel 4 Absatz 2 hat eine Person, die keine natürliche Person ist, ihren Aufenthalt im Sinne des HGvÜ in dem Staat, in dem sie ihren satzungsmässigen Sitz hat (Bst. a), nach dessen Recht sie gegründet wurde (Bst. b), oder in dem sie ihre Hauptverwaltung (Bst. c) oder ihre Hauptniederlassung hat (Bst. d). Jedes dieser Kriterien reicht aus, um den internationalen Charakter eines Sachverhalts zu bestimmen. Wenn also eine in der Schweiz ansässige natürliche Person einen Vertrag mit einer Gesellschaft abschliesst, deren statutarischer Sitz in der Schweiz liegt, könnte es sich dennoch um einen internationalen Sachverhalt im Sinne des HGvÜ handeln, wenn sich ihre Hauptverwaltung und Hauptniederlassungen im Ausland befinden.38 Art. 5

Zuständigkeit des vereinbarten Gerichts

Artikel 5 ist eine der Kernbestimmungen des HGvÜ, ohne die die Wirksamkeit einer ausschliesslichen Gerichtsstandsvereinbarung nicht gewährleistet wäre: Das vereinbarte Gericht muss grundsätzlich über den Rechtsstreit entscheiden (Abs. 1); es kann sich nicht zugunsten eines anderen Gerichts für unzuständig erklären (Abs. 2). Eine Ausnahme ist nur möglich, wenn die Gerichtsstandsvereinbarung nach dem Recht des Staates des gewählten Gerichts ungültig ist.

Artikel 5 Absatz 3 stellt klar, dass nationale Vorschriften über die innerstaatliche Zuständigkeit vom HGvÜ unberührt bleiben. Wenn die Parteien eines Rechtsstreits zum Beispiel die Zuständigkeit des Handelsgerichts des Kantons Aargau vorsehen, obwohl die für die Anrufung dieses Gerichts vorgesehene Streitwertgrenze nicht erreicht ist, könnte das HGvÜ diese sachliche Zuständigkeit des Gerichts nicht vorschreiben. Dasselbe gilt für die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten desselben Staates je nach Streitgegenstand: Sie kann nicht durch eine Gerichtsstandsvereinbarung beeinflusst werden. Wenn die Parteien zum Beispiel ein Mietgericht zur Entscheidung 38

Vgl. Rolf Wagner, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, Bd. 73, H. 1 (Januar 2009), S. 111.

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einer Streitigkeit über einen Darlehensvertrag vereinbaren würden, wäre das gewählte Gericht nicht daran gebunden. Solche Gerichtsstandsvereinbarungen müssten dann ausgelegt werden, was wahrscheinlich zum Ergebnis hätte, dass die ordentlichen Gerichte am ursprünglich benannten Ort oder das nach dem IPRG zuständige Schweizer Gericht zuständig wären.

Ausnahme: Ungültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung Gemäss Artikel 5 Absatz 1 hat das vereinbarte Gericht über den Rechtsstreit zu entscheiden. Die einzige allgemein geltende Ausnahme von dieser Regel ist die Ungültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung. Diese Ausnahme bezieht sich nur auf materielle Ungültigkeitsgründe (zu den Formerfordernissen siehe die Erläuterung zu Art. 3 Bst. c). Die Frage der Ungültigkeit wird nach dem Recht ­ nicht dem Gesetz ­ des Staates des vereinbarten Gerichts entschieden: Es ist daher möglich, dass das Gericht bei der Entscheidung dieser Frage aufgrund seiner Kollisionsnormen das Recht eines anderen Staates anwendet.39 Forum non conveniens-Verbot Nach Artikel 5 Absatz 2 darf das vereinbarte Gericht die Ausübung seiner Zuständigkeit nicht zugunsten eines Gerichts eines anderen Staates verweigern. Dadurch wird sichergestellt, dass das vereinbarte Gericht seine Zuständigkeit nicht mit der Begründung ablehnen kann, dass das Gericht eines anderen Staates ein geeigneterer Gerichtsstand wäre (forum non conveniens).40 Art. 6

Pflichten eines nicht vereinbarten Gerichts

Grundsatz Damit die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarungen gewährleistet ist, darf kein nicht vereinbartes Gericht über den Rechtsstreit entscheiden, vorbehaltlich der ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen. Grundsätzlich muss ein Gericht eines Vertragsstaats, der nicht der Staat des vereinbarten Gerichts ist, das Verfahren aussetzen oder die Klage als unzulässig abweisen, wenn für die Streitigkeit eine ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten eines anderen Staates gilt. Das angerufene Gericht muss die ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung auslegen, um festzustellen, ob der ihm unterbreitete Rechtsstreit von der Vereinbarung erfasst ist oder nicht.

Ausnahmen Es gibt fünf Ausnahmen von der Verpflichtung des nicht gewählten Gerichts, das Verfahren auszusetzen oder sich für unzuständig zu erklären. Liegt eine dieser Ausnahmen vor, entfällt das Verbot, sich mit dem Rechtsstreit zu befassen. Das HGvÜ enthält für diesen Fall jedoch keine Zuständigkeitsregeln. Je nach Situation bestimmt sich die 39 40

Siehe dazu Bucher, SZIER 1/2006, S. 38 ff.

Art. 25 Abs. 1 Bst. c des HGvÜ sieht Sonderbestimmungen für Staaten mit verschiedenen Gebietseinheiten mit unterschiedlichen Rechtssystemen vor (z. B. USA, Vereinigtes Königreich, Kanada). In der Praxis wird die Frage, ob das Gericht einer anderen Gebietseinheit als «Gericht eines anderen Staates» im Sinne von Artikel 5 Absatz 2 anzusehen ist, weitgehend vom Wortlaut der Gerichtsstandsvereinbarung sowie vom Recht des betreffenden Staates abhängen.

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Zuständigkeit oder Unzuständigkeit des nicht vereinbarten Gerichts dann anhand des nationalen Rechts oder eines anderen internationalen Instruments.

Die erste Ausnahme liegt vor, wenn die Gerichtsstandsvereinbarung nach dem Recht des Staates des vereinbarten Gerichts ungültig ist (Bst. a). Gemäss dem HGvÜ prüft das nicht vereinbarte Gericht, vor dem eine Partei den Rechtsstreit trotz einer gegenteiligen Vereinbarung und unter Berufung auf deren materielle Ungültigkeit anhängig macht, die Gültigkeit dieser Vereinbarung unter Anwendung des Rechts des Staates des vereinbarten Gerichts.

Die zweite Ausnahme bezieht sich ebenfalls auf die Ungültigkeit der Vereinbarung: Es geht um die Fälle, in denen einer Partei nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts die Fähigkeit fehlte, die Vereinbarung zu schliessen (Bst. b). Wenn in einer solchen Situation ein anderes als das vereinbarte Gericht angerufen wird, kann dieses die Frage der Unfähigkeit sowohl nach seinem eigenen Recht als auch nach dem Recht des vereinbarten Gerichts prüfen.41 Die dritte Ausnahme betrifft die Fälle, in denen die Anwendung der Vereinbarung zu einer offensichtlichen Ungerechtigkeit führen oder der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich widersprechen würde (Bst. c).42 Die vierte Ausnahme kommt zum Tragen, wenn es aus aussergewöhnlichen Gründen, die sich dem Einfluss der Parteien entziehen, nicht zumutbar wäre, die Vereinbarung umzusetzen (Bst. d). Dabei geht es um Situationen, in denen es nicht möglich ist, ein Verfahren vor dem vereinbarten Gericht einzuleiten, z. B. aufgrund einer Naturkatastrophe oder eines Krieges.

Die fünfte und letzte Ausnahme befasst sich mit Fällen, in denen das vereinbarte Gericht entschieden hat, kein Verfahren in der Sache durchzuführen. Damit soll verhindert werden, dass es zu einer Rechtsverweigerung kommt: Wenn das vereinbarte Gericht kein Verfahren in der Sache durchführen will, erlaubt Artikel 6 Buchstabe e einem anderen Gericht, eines durchzuführen.

Art. 7

Einstweilige Sicherungsmassnahmen

Einstweilige Sicherungsmassnahmen sind durch das HGvÜ nicht geregelt. Die Gewährung, Versagung oder Beendigung solcher Massnahmen ist nach dem HGvÜ weder vorgeschrieben noch ausgeschlossen. Somit wirkt sich die Vereinbarung des Gerichtsstands nur auf die Klage in der Sache aus. Es obliegt dem angerufenen Gericht (bei dem es sich um das vereinbarte Gericht oder ein anderes Gericht handeln kann), nach seinem eigenen Recht zu entscheiden, ob es für die Anordnung einstweiliger Sicherungsmassnahmen zuständig ist oder nicht. Einstweilige Sicherungsmassnahmen sind keine Entscheidungen im Sinne des HGvÜ (Art. 4) und können daher nicht von dessen Anerkennungsregelung profitieren.

41 42

Für weitere Details zu dieser Frage siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 149 f.

Zur Vertiefung siehe Bucher, SZIER 1/2006, S. 44.

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Art. 8

Anerkennung und Vollstreckung

Grundsatz Artikel 8 Absatz 1 enthält eine der Kernbestimmungen des HGvÜ: Eine Entscheidung eines in einer ausschliesslichen Gerichtsstandsvereinbarung benannten Gerichts eines Vertragsstaats wird in den anderen Vertragsstaaten anerkannt und vollstreckt. Die Anerkennung oder Vollstreckung einer solchen Entscheidung kann nur aus den im HGvÜ genannten Gründen versagt werden.43 Verbot der Nachprüfung in der Sache selbst Das ersuchte Gericht darf die Entscheidung, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt wird, nicht inhaltlich nachprüfen (sogenannte «Nachprüfung in der Sache»).

Wenn also ein Schweizer Gericht eine Partei wegen einer Vertragsverletzung zur Zahlung von 100 000 Franken verurteilt hat, darf das mit der Anerkennung befasste ausländische Gericht den Sachverhalt nicht nachprüfen und zu einem anderen Ergebnis kommen. Eine begrenzte Nachprüfung ist jedoch zulässig, soweit dies für die Anwendung der Bestimmungen über die Anerkennung und Vollstreckung erforderlich ist (Abs. 2 erster Satz). So kann das Gericht, das über die Anerkennung entscheidet, die Einhaltung der Bedingungen prüfen, die mit der Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks an die beklagte Person verbunden sind, oder auch die Fähigkeit der Parteien, eine Gerichtsstandsvereinbarung zu treffen, untersuchen (Art. 9).

Gemäss Artikel 8 Absatz 2 zweiter Satz ist das ersuchte Gericht an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, auf die das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit gestützt hat, es sei denn, die Entscheidung ist im Versäumnisverfahren ergangen. Wenn das ersuchte Gericht beispielsweise zu entscheiden hat, ob das Ursprungsgericht zuständig war, ist das ersuchte Gericht an die tatsächlichen Feststellungen des Ursprungsgerichts über die Gültigkeit und den Umfang der Vereinbarung gebunden, sofern das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit auf eine ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung gestützt hat.

Unterscheidung zwischen Anerkennung und Vollstreckung Nach Artikel 8 Absatz 3 wird eine Entscheidung nur anerkannt, wenn sie im Ursprungsstaat wirksam ist, und sie wird nur vollstreckt, wenn sie im Ursprungsstaat vollstreckbar ist. Durch die Anerkennung verleiht das ersuchte Gericht der ursprünglichen Entscheidung und ihren Wirkungen Geltung. Bei der Vollstreckung hingegen wendet das ersuchte Gericht (oder die
zuständige Behörde des ersuchten Staates) seine Verfahren an, um sicherzustellen, dass die beklagte Person der anerkannten Entscheidung Folge leistet.

Rechtsmittelverfahren gegen die Entscheidung Ist die Entscheidung Gegenstand einer gerichtlichen Nachprüfung im Ursprungsstaat oder ist die Frist für die Einlegung eines ordentlichen Rechtsbehelfs noch nicht verstrichen, so kann das ersuchte Gericht (ohne dazu verpflichtet zu sein) die Anerkennung oder Vollstreckung der Entscheidung aufschieben oder versagen (Art. 8 Abs. 4).

43

Für weitere Details siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 164 ff.

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Eine Versagung steht einem erneuten Antrag zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Lage im Ursprungsstaat geklärt ist, jedoch nicht entgegen.

Verweisung an eine andere Instanz innerhalb des Vertragsstaats Entscheidungen, die von einem Gericht nach einer Überweisung des Falles gemäss Artikel 5 Absatz 3 innerhalb des vereinbarten Vertragsstaates gefällt werden, profitieren ebenfalls von der Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung des HGvÜ (Art. 8 Abs. 5).

Art. 9

Versagung der Anerkennung oder Vollstreckung

Artikel 9 enthält sieben Ausnahmen vom Grundsatz der Anerkennung und Vollstreckung: Liegen sie vor, so ist das ersuchte Gericht gemäss dem HGvÜ nicht verpflichtet, die Entscheidung anzuerkennen oder zu vollstrecken.

Buchstabe a betrifft die Ungültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung. Die Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts, das seine Zuständigkeit nicht auf eine gültige Gerichtsstandsvereinbarung stützen kann, kann versagt werden.

Wenn beispielsweise das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit aufgrund der Ungültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung auf einen anderen Gerichtsstand (z. B. den Aufenthalt des Klägers) gestützt hat, könnte die Anerkennung der Entscheidung verweigert werden. Wenn das vereinbarte Gericht jedoch festgestellt hat, dass die Vereinbarung gültig ist, ist das ersuchte Gericht an diese Feststellung gebunden.

Die zweite Ausnahme bezieht sich ebenfalls auf die Ungültigkeit: Es geht um die Fälle, in denen einer Partei nach dem Recht des Staates des ersuchten Gerichts die Fähigkeit fehlte, die Vereinbarung zu schliessen (Bst. b). Analog zu den Bestimmungen in Artikel 6 ist die ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung ungültig, wenn einer der ursprünglichen Parteien der Vereinbarung nach dem Recht des Staates des vereinbarten Gerichts oder des Staates des ersuchten Gerichts die Fähigkeit zum Abschluss der Vereinbarung fehlt.

Die dritte Ausnahme sieht vor, dass die Anerkennung oder Vollstreckung versagt werden kann, wenn die Zustellung an die beklagte Person nicht rechtzeitig und in einer Weise erfolgt ist, die ihr die Verteidigung erlaubt (Bst. c). Die in Ziffer i genannten Prüfkriterien sollen die beklagte Person schützen und sind autonom auszulegen. Sie beziehen sich weder auf das Haager Übereinkommen vom 15. November 196544 über die Zustellung gerichtlicher und aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen noch auf das Recht des Ursprungsstaats oder auf das Recht des ersuchten Staates. Wenn die beklagte Person sich jedoch auf das Verfahren eingelassen hat, ohne die Zustellung vor dem Ursprungsgericht zu rügen (sofern dies nach dem Recht des Ursprungsstaats zulässig war), gilt diese Ausnahme nicht. Nach Ziffer ii, die auf den Schutz staatlicher Interessen (Souveränität) abzielt, kann die Anerkennung oder Vollstreckung versagt werden, wenn die Zustellung in einer Weise erfolgte, die mit den Grundsätzen des ersuchten Staates unvereinbar ist. Staaten, die

44

SR 0.274.131

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der Ansicht wären, dass eine nicht vertragskonforme Zustellung ihre Souveränität beeinträchtigt, könnten somit die Anerkennung auf dieser Grundlage versagen.45 Die vierte Ausnahme kommt zum Tragen, wenn ein Prozessbetrug vorliegt (Bst. d).

Von Prozessbetrug spricht man bei bewusst unredlichem Verhalten oder vorsätzlichem Fehlverhalten, beispielsweise bei einer absichtlichen Zustellung an eine falsche Adresse oder bei Bestechung des Richters oder einer Zeugin. Im Falle eines Betrugs in der Sache wäre hingegen die Ausnahme nach Buchstabe e (Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung) anwendbar.

Gemäss der fünften Ausnahme kann die Anerkennung oder Vollstreckung versagt werden, wenn sie der öffentlichen Ordnung (ordre public) des ersuchten Staates offensichtlich widerspräche (Bst. e). Der zweite Teil des Satzes betont, dass diese Ausnahme auch die verfahrensrechtliche öffentliche Ordnung umfasst, insbesondere die Fälle, in denen das zur Entscheidung führende Verfahren mit wesentlichen Grundsätzen des fairen Verfahrens des ersuchten Staates, wie dem Recht auf rechtliches Gehör oder der Unparteilichkeit der Gerichte, unvereinbar war.

Die letzten beiden Ausnahmen beziehen sich auf die Unvereinbarkeit einer Entscheidung, um deren Anerkennung und Vollstreckung ersucht wird, mit einer anderen Entscheidung, die zwischen denselben Parteien ergangen ist. Nach der sechsten Ausnahme kann die Anerkennung oder Vollstreckung versagt werden, wenn die fragliche Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die in einem Rechtsstreit zwischen denselben Parteien im ersuchten Staat ergangen ist (Bst. f). Das ersuchte Gericht kann daher einer in seinem Staat ergangenen Entscheidung Vorrang einräumen, selbst wenn diese zeitlich nach der Entscheidung, um deren Anerkennung oder Vollstreckung ersucht wird, ergangen ist.

Die siebte und letzte Ausnahme befasst sich mit Situationen, in denen ein Urteil mit einer in einem anderen Staat ergangenen Entscheidung unvereinbar ist: Diese Entscheidung muss zu einem früheren Zeitpunkt zwischen denselben Parteien in derselben Sache ergangen sein und muss die für ihre Anerkennung im ersuchten Staat erforderlichen Voraussetzungen erfüllen (Bst. g).

Art. 10

Vorfragen

Nach Artikel 2 Absatz 3 sind Verfahren nicht allein deshalb vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgeschlossen, weil eine ausgeschlossene Angelegenheit als Vorfrage auftritt. In Ergänzung dazu stellt Artikel 10 Absatz 1 klar, dass dann, wenn eine nach Artikel 2 Absatz 2 oder Artikel 21 ausgeschlossene Angelegenheit als Vorfrage auftrat, die Entscheidung in Bezug auf diese Frage nicht nach dem HGvÜ anerkannt oder vollstreckt wird. So ist das ersuchte Gericht beispielsweise nicht an den Teil einer Entscheidung gebunden, der in Bezug auf die Frage einer allfälligen Erbschaft (Art. 2 Abs. 2 Bst. d) einer der Parteien eines Vertrags ergangen ist; im Gegensatz dazu würde aber der Teil der Entscheidung, der beispielsweise in Bezug auf die vertragliche Nichterfüllung ergangen ist, grundsätzlich nach dem HGvÜ anerkannt (zur Ausnahme siehe den folgenden Absatz).46 45 46

Siehe Bucher, SZIER 1/2006, S. 49.

Für weitere Details siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 194 ff.

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Nach Artikel 10 Absatz 2 kann das ersuchte Gericht die Anerkennung und Vollstreckung auch dann versagen, wenn und soweit das Urteil auf eine Entscheidung abstellt, die eine nach Artikel 2 Absatz 2 ausgeschlossene Angelegenheit betrifft. Absatz 3 sieht zusätzliche Bedingungen vor, wenn die Entscheidung die Gültigkeit von gewissen Immaterialgüterrechten betrifft (z. B. ein Patent, eine Marke, ein Design, nicht aber Urheberrechte oder verwandte Schutzrechte). Damit wird der Vorrang der Behörden des Staates bekräftigt, aus dessen Recht sich das Immaterialgüterrecht ableitet.

In Artikel 10 Absatz 4 wird der Grund für die Versagung der Anerkennung oder Vollstreckung nach Absatz 2 übernommen und auf vorfrageweise Beurteilungen von nach Artikel 21 ausgeschlossenen Angelegenheiten angewendet. In diesen Fällen ist Absatz 3 nicht anwendbar.

Art. 11

Schadenersatz

Das ersuchte Gericht kann die Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung versagen, sofern und soweit mit ihr Schadenersatz zugesprochen wird, der eine Partei nicht für einen tatsächlich erlittenen Schaden oder Nachteil entschädigt (Art. 11 Abs. 1). Es geht namentlich um exemplarischen Schadenersatz und Strafschadenersatz. Dieser Artikel ist anwendbar, wenn offensichtlich ist, dass die Verurteilung zur Zahlung von Schadenersatz über das hinausgeht, was für einen Ausgleich des tatsächlich erlittenen Schadens oder Nachteils erforderlich wäre.47 Artikel 11 Absatz 2 präzisiert, dass der vom Ursprungsgericht zugesprochene Schadenersatz auch der Deckung der durch das Verfahren entstandenen Kosten dienen kann. Diese Klarstellung ist notwendig, da nicht alle Rechtsordnungen die Verfahrenskosten und Auslagen als Teil des Schadens ansehen.

Art. 12

Gerichtliche Vergleiche

Gerichtliche Vergleiche, die von einem in einer ausschliesslichen Gerichtsstandsvereinbarung benannten Gericht eines Vertragsstaats genehmigt worden sind (oder die vor diesem Gericht im Laufe eines Verfahrens geschlossen wurden) und die im Ursprungsstaat in derselben Weise wie eine Entscheidung vollstreckbar sind, werden in den anderen Vertragsstaaten in derselben Weise wie eine Entscheidung vollstreckt.48 Das HGvÜ sieht nur die Vollstreckung (und nicht die Anerkennung) eines gerichtlichen Vergleichs vor, wie es auch im Schweizer Recht der Fall ist. Der Hauptgrund, warum eine Anerkennung nicht vorgesehen ist, sind die sehr unterschiedlichen Wirkungen von gerichtlichen Vergleichen in den verschiedenen Rechtssystemen.

Art. 13

Vorzulegende Schriftstücke

Artikel 13 Absatz 1 enthält eine Liste der Schriftstücke, die von der Partei vorzulegen sind, die die Anerkennung geltend macht oder die Vollstreckung beantragt: eine vollständige und beglaubigte Abschrift der Entscheidung (und nicht nur des Dispositivs; Bst. a); die Gerichtsstandsvereinbarung, eine beglaubigte Abschrift dieser Vereinba47 48

Zur Vertiefung siehe Bucher, SZIER 1/2006, S. 51-52.

Für weitere Details siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 206 ff.

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rung oder einen anderen Nachweis für ihr Bestehen (Bst. b); im Falle einer Versäumnisentscheidung einen schriftlichen Beleg dafür, dass die Übermittlung an die beklagte Person erfolgt ist (Bst. c); ein Schriftstück, das belegt, dass die Entscheidung im Ursprungsstaat wirksam oder vollstreckbar ist (Bst. d); und in den Fällen nach Artikel 12 eine Bescheinigung eines Gerichts des Ursprungsstaats, dass der gerichtliche Vergleich dort in derselben Weise wie eine Entscheidung vollstreckbar ist (Bst. e).

Diese Aufzählung ist nicht abschliessend. Kann das ersuchte Gericht anhand des Inhalts der Entscheidung nicht feststellen, ob die Voraussetzungen des HGvÜ über die Anerkennung und Vollstreckung erfüllt sind, so kann es nach Absatz 2 die Vorlage weiterer erforderlicher Schriftstücke verlangen.

Nach Absatz 3 kann eine Person, die die Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung beantragen will, ein von der Haager Konferenz empfohlenes und veröffentlichtes Formular verwenden. Das Formular ist im Anhang des HGvÜ enthalten.49 Nach Absatz 4 ist den in Artikel 13 bezeichneten Schriftstücken eine beglaubigte Übersetzung in eine Amtssprache beizufügen, wenn diese nicht in einer Amtssprache des ersuchten Staates abgefasst sind und sofern das Recht des ersuchten Staates nichts anderes vorsieht.

Art. 14

Verfahren

Sofern das HGvÜ nichts anderes vorsieht, ist für das Verfahren zur Anerkennung, Vollstreckbarerklärung oder Registrierung zur Vollstreckung sowie für die Vollstreckung der Entscheidung das Recht des ersuchten Staates massgebend. In der Schweiz werden diese Fragen in Bezug auf die Anerkennung und die Vollstreckbarerklärung durch das IPRG geregelt, vorbehaltlich der allfälligen Anwendung des LugÜ (vgl.

Ziff. 1.3.1). Für die Vollstreckung von Geldschulden gilt das Bundesgesetz vom 11. April 188950 über Schuldbetreibung und Konkurs und für die Vollstreckung anderer Entscheidungen die ZPO.

Artikel 14 verpflichtet das ersuchte Gericht, in den Verfahren, die unter diesen Artikel fallen, zügig vorzugehen, und zwar mit dem schnellsten ihm zur Verfügung stehenden Verfahren und unter Vermeidung unnötiger Verzögerungen.

Art. 15

Teilbarkeit

Nach Artikel 15 kann sich das ersuchte Gericht darauf beschränken, nur einen Teil einer Entscheidung anzuerkennen oder zu vollstrecken, wenn dies beantragt wird oder wenn nur ein Teil der Entscheidung nach dem HGvÜ anerkannt oder vollstreckt werden kann. Etwaige Fragen im Zusammenhang mit der Teilbarkeit der Entscheidung werden nach dem Recht des ersuchten Staates geklärt.

49

50

Das Formular ist auf der Website der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht unter folgender Adresse abrufbar: www.hcch.net > Autres langues > Deutsch > Instrumente > Konventionen und andere Instrumente > 2005 Choice of Court Convention > Recommended Form > Deutsche Übersetzung.

SR 281.1

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Art. 16

Übergangsbestimmungen

Das HGvÜ ist auf Gerichtsstandsvereinbarungen anzuwenden, die geschlossen worden sind, nachdem das Übereinkommen für den Staat des vereinbarten Gerichts in Kraft getreten ist (Abs. 1).

In Absatz 2 enthält das HGvÜ eine zusätzliche Übergangsregel für Verfahren, die in einem anderen Staat als dem des vereinbarten Gerichts stattfinden: In diesen Fällen muss für die Anwendung des HGvÜ nicht nur die Voraussetzung nach Absatz 1 erfüllt sein. Zusätzlich muss das Verfahren auch eingeleitet worden sein, nachdem das HGvÜ für den Staat des angerufenen Gerichts in Kraft getreten ist.

Art. 17

Versicherungs- und Rückversicherungsverträge

Verfahren im Zusammenhang mit Versicherungs- oder Rückversicherungsverträgen sind nicht allein deshalb vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgeschlossen, weil der Versicherungs- oder Rückversicherungsvertrag eine Angelegenheit betrifft, auf die das HGvÜ nicht anzuwenden ist (Abs. 1).

Gemäss Absatz 2 dürfen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung über die Leistungspflicht aus einem Versicherungs- oder Rückversicherungsvertrag nicht mit der Begründung beschränkt oder versagt werden, dass der Versicherungsvertrag ein vom HGvÜ ausgeschlossenes Risiko betrifft (Bst. a) oder dass eine Entscheidung Schadenersatz zuspricht, der unter Artikel 11 fällt (Bst. b).

Art. 18

Keine Beglaubigung

Alle nach dem HGvÜ übermittelten oder ausgestellten Schriftstücke sind gestützt auf das Übereinkommen vom 5. Oktober 196151 zur Befreiung ausländischer öffentlicher Urkunden von der Beglaubigung von jeder Beglaubigung oder entsprechenden Förmlichkeit einschliesslich einer Apostille befreit.

Art. 19

Die Zuständigkeit beschränkende Erklärungen

Häufig benennen Parteien aus zwei verschiedenen Staaten ein Gericht in einem Staat, den sie für neutral halten, ohne dass dieser Staat sonst in irgendeiner Weise mit dem Rechtsstreit in Verbindung steht. Artikel 19 richtet sich insbesondere an Staaten, die diese Praxis nicht befürworten. Gemäss dieser Bestimmung kann ein Staat erklären, dass seine Gerichte es ablehnen können, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, wenn weder die Parteien noch der Rechtsstreit einen Bezug zum Staat des vereinbarten Gerichts aufweisen. Die Schweiz hat nicht vor, eine solche Erklärung abzugeben (vgl.

Ziff. 6).

Art. 20

Die Anerkennung und Vollstreckung beschränkende Erklärungen

Gemäss dieser Bestimmung kann ein Staat erklären, dass seine Gerichte die Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung versagen können, die von einem Gericht eines anderen Vertragsstaats erlassen wurde, wenn die Parteien ihren Aufenthalt im 51

SR 0.172.030.4

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ersuchten Staat hatten und die Beziehung der Parteien und alle anderen für den Rechtsstreit massgeblichen Elemente mit Ausnahme des Ortes des vereinbarten Gerichts nur zum ersuchten Staat eine Verbindung aufwiesen. Da rein innerstaatliche Sachverhalte vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgeschlossen sind, war diese Bestimmung notwendig, denn nach Artikel 1 Absatz 3 würde ein solcher Sachverhalt für die Zwecke der Anerkennung und Vollstreckung als international gelten. Artikel 20 schliesst aber nicht aus, dass die Gerichte eines Staates, der eine solche Erklärung abgegeben hat, dennoch eine entsprechende Entscheidung anerkennen oder vollstrecken. Die Schweiz hat nicht vor, eine solche Erklärung abzugeben (vgl. Ziff. 6).

Art. 21

Erklärungen in Bezug auf besondere Rechtsgebiete

Hat ein Vertragsstaat ein grosses Interesse daran, das HGvÜ auf ein bestimmtes Rechtsgebiet nicht anzuwenden, kann er dies gemäss Artikel 21 Absatz 1 erklären. Absatz 2 bestimmt, dass das HGvÜ in Bezug auf eine solche Angelegenheit in dem Staat, der die Erklärung abgegeben hat (Bst. a), und in den anderen Vertragsstaaten nicht anzuwenden ist, wenn sich das vereinbarte Gericht in dem Staat befindet, der die Erklärung abgegeben hat (Bst. b). Das HGvÜ sieht folglich Gegenseitigkeit vor: Die anderen Staaten sind in ihren Beziehungen zu einem Staat, der eine solche Erklärung abgegeben hat, nicht verpflichtet, das HGvÜ in Bezug auf diese Angelegenheit anzuwenden. Die Schweiz hat nicht vor, eine solche Erklärung abzugeben (vgl. Ziff. 6).

Art. 22

Gegenseitige Erklärungen über nicht ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen

Gestützt auf diese Bestimmung können die Vertragsstaaten erklären, dass sie Entscheidungen von Gerichten anderer Vertragsstaaten, die in einer nicht ausschliesslichen Gerichtsstandsvereinbarung benannt sind, anerkennen und vollstrecken werden.

Für die vorgeschlagene Schweizer Erklärung siehe Ziffer 6.

Art. 23

Einheitliche Auslegung

Dieser Artikel bestimmt, dass das HGvÜ unter Berücksichtigung seines internationalen Charakters und der Notwendigkeit, seine einheitliche Anwendung zu fördern, auszulegen ist. Das bedeutet, dass die Gerichte und Behörden, die das HGvÜ anwenden, nicht notwendigerweise die gleiche Auslegung übernehmen, die bestimmten Konzepten und Begriffen im innerstaatlichen Recht zukommen würde, sondern nach Möglichkeit auch ausländische Literatur und Rechtsprechung berücksichtigen.

Art. 24

Überprüfung der praktischen Durchführung des HGvÜ

Die Generalsekretärin oder der Generalsekretär der Haager Konferenz trifft in regelmässigen Abständen Vorkehrungen für die Prüfung der praktischen Durchführung des HGvÜ, einschliesslich aller Erklärungen (Bst. a), und für die Prüfung, ob Änderungen des HGvÜ wünschenswert sind (Bst. b). So werden in regelmässigen Abständen Spezialkommissionen organisiert, in denen die Mitgliedstaaten die praktische Durchführung diskutieren und Erfahrungen austauschen können.

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Art. 25

Nicht einheitliche Rechtssysteme

Diese Bestimmung regelt die Probleme, die sich daraus ergeben, dass einige Staaten aus mehreren Gebietseinheiten bestehen, die jeweils ein eigenes Rechtssystem haben; dies gilt insbesondere für das Vereinigte Königreich. Die Schweiz ist davon nicht betroffen. Artikel 25 stellt die Regel auf, dass das HGvÜ je nach Fall und Zweckmässigkeit so auszulegen ist, dass es entweder auf die Gebietseinheit oder auf den Staat insgesamt Anwendung findet.52 Art. 26

Verhältnis zu anderen internationalen Rechtsinstrumenten

Artikel 26 regelt das Verhältnis des HGvÜ zu anderen internationalen Rechtsinstrumenten, die für die Vertragsstaaten in Kraft sind. Im Fall der Schweiz betrifft dies insbesondere das LugÜ (vgl. Ziff. 1.3.1).53 Nach Absatz 1 soll versucht werden, Unvereinbarkeiten mit anderen Verträgen, die für die Vertragsstaaten gelten, durch Auslegung zu beseitigen. Wenn dies möglich ist, ohne die Auslegung zu überdehnen, muss das HGvÜ so ausgelegt werden, dass es mit den anderen für die Vertragsstaaten geltenden Verträgen vereinbar ist.

In den weiteren Absätzen von Artikel 26 wird eine Reihe von Situationen aufgezählt, in denen das HGvÜ anderen in den Vertragsstaaten geltenden Rechtsinstrumenten den Vorrang lässt. So lässt Absatz 2 Raum für einen Vertrag, der vor oder nach dem HGvÜ geschlossen wurde, wenn alle Parteien ihren Aufenthalt in Ländern haben, die durch den Vertrag gebunden sind. In den Beziehungen zu anderen Ländern, die durch das LugÜ gebunden sind, wird die Schweiz daher in vielen Fällen grundsätzlich weiterhin das LugÜ einschliesslich möglicher künftiger Änderungen anwenden. Ähnliches gilt innerhalb der Europäischen Union (Abs. 6).

Der andere Vertrag hat auch dann Vorrang, wenn ein Vertragsstaat durch die Anwendung des HGvÜ gegen seine Verpflichtungen gegenüber einem Nichtvertragsstaat verstossen würde, mit dem er durch diesen anderen Vertrag gebunden ist (Abs. 3).

Dieser Grundsatz gilt für frühere Verträge, und auch für mögliche zukünftige Änderungen und Überarbeitungen. Für die Schweiz und insbesondere das LugÜ werden also keine grösseren Konflikte entstehen.

Wenn ein Vertrag, der vor oder nach dem HGvÜ geschlossen wurde und dem beide betroffenen Staaten als Vertragsparteien angehören, eine wirksamere Anerkennung oder Vollstreckung als das HGvÜ ermöglicht, hat der Vertrag Vorrang (Abs. 4), da das HGvÜ die Zirkulation von Entscheidungen nicht behindern, sondern erleichtern will.

Die Staaten können darüber hinaus erklären, einem Vertrag den Vorrang einzuräumen, der in Bezug auf ein besonderes Rechtsgebiet die Zuständigkeit oder die Anerkennung oder Vollstreckung von Entscheidungen regelt (Abs. 5). Für die Schweiz ist keine Erklärung erforderlich. Die wichtigsten Verträge, die zwingende Vorschriften über Gerichtsstandsvereinbarungen enthalten, beziehen sich nämlich auf Rechtsge52 53

Für detaillierte Erläuterungen zu dieser Bestimmung siehe den Bericht Hartley/Dogauchi, Rz. 258 ff.

Für detaillierte Erläuterungen zu Artikel 26 siehe Bucher, SZIER 1/2006, S. 54 ff.

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biete, die in der Regel vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgenommen sind (z. B.

Personen- und Güterverkehr, Nuklearschäden, Meeresverschmutzung), sodass keine Konflikte entstehen.

Art. 27­34

Schlussbestimmungen

Jeder Staat kann Vertragspartei des HGvÜ werden (Art. 27). Es ist weder notwendig, dem Beitritt neuer Staaten zuzustimmen, noch ist es möglich, dagegen Einspruch zu erheben.

Die Europäische Union ist dem HGvÜ als Organisation im Sinne von Artikel 30 beigetreten, sodass das HGvÜ automatisch für alle Mitgliedstaaten der Union bindend ist.

Nach Artikel 31 tritt das HGvÜ für die Schweiz am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Hinterlegung der Beitrittsurkunde folgt.

Nach Artikel 32 können Erklärungen gemäss den Artikeln 19, 20, 21, 22 und 26 bei der Unterzeichnung, der Ratifikation, der Annahme, der Genehmigung oder dem Beitritt oder jederzeit danach abgegeben und jederzeit geändert oder zurückgenommen werden; jede Erklärung, Änderung und Rücknahme wird dem Depositar notifiziert (Abs. 1 und 2). Nach Artikel 33 kann das HGvÜ durch eine an den Depositar gerichtete schriftliche Notifikation gekündigt werden.

6

Vorbehalte und Erklärungen

Die Zuständigkeit beschränkende Erklärungen (Art. 19) Drei Vernehmlassungsteilnehmer haben die Frage aufgeworfen, ob die Anwendung des HGvÜ den Kantonen vorbehalten sein soll, die über ein auf internationale Rechtsstreitigkeiten spezialisiertes Handelsgericht verfügen; aufgeworfen wurde die Frage insbesondere, weil sie befürchten, dass die Anwendung des HGvÜ in den anderen Kantonen einen unnötigen Zusatzaufwand mit sich bringt.54 Einen solchen Vorbehalt sieht das HGvÜ allerdings nicht vor, und er wäre auch mit dessen Ziel und Zweck nicht vereinbar, weil die Rechtssicherheit der Gerichtsstandswahl dadurch verringert würde.

Artikel 19 sieht die Möglichkeit vor, die Zuständigkeit auf Sachverhalte zu beschränken, in denen eine Verbindung zum betreffenden Vertragsstaat besteht. Die Formulierung eines Vorbehalts wurde sorgfältig geprüft, aber aus verschiedenen Gründen verworfen.

-

54

Erstens möchte sich die Schweiz als internationaler Gerichtsstandort profilieren. Eine Beschränkung der Gerichtsstandswahl auf Streitigkeiten mit Bezug zur Schweiz würde diesem Ziel widersprechen.

Vgl. Vernehmlassungsbericht Ziff. 3.3.7.

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-

Zweitens ist es schon heute so, dass schweizerische Gerichte im Anwendungsbereich des LugÜ zuständig sein können, obwohl die Streitigkeit keinen Bezug zur Schweiz aufweist. So dürfen schweizerische Gerichte ihre Zuständigkeit nicht ablehnen, wenn eine Streitpartei ihren Sitz oder Wohnsitz in einem durch das LugÜ gebundenen Staat hat, z.B. in Rumänien, während die andere ihren Sitz in China hat. Auch nach dem IPRG kann ein schweizerisches Gericht eine Gerichtsstandswahl grundsätzlich nicht ablehnen, wenn auch das schweizerische Recht gewählt wird.

-

Drittens darf man sich durchaus auf das Urteilsvermögen der im internationalen Handel tätigen Personen verlassen. Da die Wahl eines Schweizer Richters eines kleinen Gerichts mit wenig Erfahrung in diesem Bereich den Parteien wahrscheinlich keine Vorteile bringt, kann davon ausgegangen werden, dass diese eher ein Gericht wählen, das mit internationalen Handelsstreitigkeiten vertraut ist und über die nötigen Kompetenzen verfügt.

Vor diesem Hintergrund hat die Schweiz nicht vor, den Anwendungsbereich des HGvÜ einzuschränken.

Die Anerkennung und Vollstreckung beschränkende Erklärungen (Art. 20) Um die grössere Rechtssicherheit, die das HGvÜ im grenzüberschreitenden Austausch ermöglicht, nutzen zu können, ist nicht beabsichtigt, die Anerkennung auf internationale Sachverhalte zu beschränken, wie es Artikel 20 ermöglichen würde. In der Vernehmlassung wurde dies auch nicht gefordert. Bisher hat noch keine Vertragspartei solch eine Erklärung abgegeben. Im Übrigen würden solche Entscheidungen auch heute schon unter dem IPRG anerkannt. Das HGvÜ nimmt wirtschaftlich schwache Parteien (Konsumentinnen und Konsumenten sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) ohnehin vom Anwendungsbereich aus (vgl. Art. 2); ihr Schutz ist somit gewährleistet.

Erklärungen in Bezug auf besondere Rechtsgebiete (Art. 21) Die Europäische Union hat gemäss Artikel 21 erklärt, dass sie das HGvÜ vorbehaltlich einiger Ausnahmen nicht auf Versicherungsverträge anwenden wird.55 Diese Erklärung wurde abgegeben, um bestimmte Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer, versicherte Parteien und Begünstigte zu schützen, die nach dem innerstaatlichen Recht der Europäischen Union in Bezug auf die Zuständigkeit in Versicherungssachen einen besonderen Schutz geniessen.56 Die Erklärung der Europäischen Union wurde jedoch nicht einstimmig unterstützt. Vielmehr waren die Mitgliedstaaten, die an der Konsultation der Kommission zur Frage des Ausschlusses von

55

56

Die Erklärungen sind verfügbar unter: www.hcch.net > Autres langues > Deutsch > Instrumente > Konventionen und andere Instrumente > 2005 Choice of Court Convention > Statustabelle.

Es handelt sich um Fälle, die vom 3. Abschnitt der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen, ABl. L 351 vom 20.12.2012, S. 1, abgedeckt werden und dem 3. Abschnitt des LugÜ entsprechen.

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Versicherungsverträgen vom Anwendungsbereich des HGvÜ teilgenommen hatten, geteilter Meinung ­ Befürworter und Kritiker waren fast gleich stark vertreten.57 Für die Schweiz und ihren Versicherungssektor könnte es ein Vorteil sein, keine Erklärung zu den Versicherungsverträgen abzugeben. Sowohl Versicherungsunternehmen als auch ihre Vertragspartner haben ein Interesse an Rechtssicherheit. Verträge mit Konsumentinnen und Konsumenten (worunter auch Versicherungsverträge fallen können) sind ohnehin vom Anwendungsbereich des HGvÜ ausgenommen (Art. 2 Abs. 1 Bst. a); Konsumentinnen und Konsumenten sind somit auch ohne Erklärung der Schweiz geschützt, und die anderen Parteien profitieren alle von der erhöhten Rechtssicherheit.

Angesichts der Rechtsgebiete, die das HGvÜ aus Schutzgründen von seinem Anwendungsbereich ausnimmt, insbesondere Konsumentenverträge (Art. 2 Abs. 1), hat die Schweiz zudem kein grosses Interesse im Sinne von Artikel 21, andere besondere Rechtsgebiete vom HGvÜ auszuschliessen.58 Darüber hinaus ist das HGvÜ nach Artikel 21 Absatz 2 im Falle einer Erklärung nach Absatz 1 in den anderen Vertragsstaaten nicht anzuwenden, sofern die Gerichte des Staates gewählt sind, der die Erklärung abgegeben hat. Die anderen Vertragsstaaten sind daher nicht verpflichtet, das HGvÜ in Bezug auf Versicherungsverträge anzuwenden, wenn sich das vereinbarte Gericht in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union befindet.

Keiner der Vernehmlassungsteilnehmer war der Auffassung, dass eine Erklärung gemäss Artikel 21 für die Schweiz von Interesse ist.59 Ein Vernehmlassungsteilnehmer erachtet eine solche Erklärung gar als überflüssig, da nach Artikel 5 IPRG die Gerichtsstandsvereinbarung bei vermögensrechtlichen Ansprüchen zulässig sei und die im HGvÜ geregelten Angelegenheiten zweifellos unter diesen Begriff fallen würden.

Der gleiche Vernehmlassungsteilnehmer hält zudem fest, dass das HGvÜ bereits eine ganze Reihe von Angelegenheiten aus ihrem Anwendungsbereich ausschliesse und ein Ausschluss weiterer Angelegenheiten nicht angezeigt sei. Dies gelte auch für Versicherungsverträge, da die Schutzbestimmungen des LugÜ aufgrund von Artikel 26 HGvÜ vorgingen und das IPRG bereits die Gerichtsstandsvereinbarung in Versicherungssachen vorsehe.60 Es ist somit nicht notwendig, eine Erklärung nach Artikel 21 abzugeben.
Gegenseitige Erklärungen über nicht ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen (Art. 22) Nicht ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen sind relativ häufig, insbesondere im internationalen Bankensektor. Sie ermöglichen es den Parteien, ein vereinbar-

57

58 59 60

Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Genehmigung ­ im Namen der Europäischen Union ­ des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005, COM/2014/046 final, Ziffer 3.2.2.

Siehe Bucher, SZIER 1/2006, S. 45.

Vgl. Vernehmlassungsbericht Ziff. 3.3.4.

Vgl. Stellungnahme der Universität Lausanne, S. 7, verfügbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2022 > EJPD.

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tes Gericht anzurufen, ohne den Zugang zu den normalerweise zuständigen Gerichten auszuschliessen.

Insbesondere gestützt auf die Stellungnahmen von drei der vier Universitäten, die an der Vernehmlassung teilgenommen haben,61 beabsichtigt der vorliegende Entwurf, den Anwendungsbereich des HGvÜ für die Schweiz auf nicht ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen auszuweiten. Diese Option ist in Artikel 22 vorgesehen.

Eine solche Ausweitung würde nur die Bestimmungen des HGvÜ zur Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen betreffen, nicht aber die Bestimmungen zur Zuständigkeit (Art. 5 und 6). Dies bedeutet insbesondere, dass das nicht ausschliesslich vereinbarte Gericht seine eigene Zuständigkeit gestützt auf das Recht des Gerichtsorts, und nicht gestützt auf das HGvÜ, bestimmen würde. Da Artikel 22 Absatz 2 Verfahrensgarantien namentlich in Bezug auf die Rechtshängigkeit bietet, wäre die Rechtssicherheit nicht gefährdet, denn das Risiko widersprüchlicher Entscheidungen ist praktisch ausgeschlossen. Zudem würde sich die Schweiz zu nichts verpflichten, was sich nicht bereits aus dem LugÜ und dem innerstaatlichen Recht ergibt: Die nicht ausschliesslichen Vereinbarungen werden in Anwendung von Artikel 5 IPRG, der auf jede Art von Gerichtsstandsvereinbarung anwendbar ist, anerkannt. Zudem können ausländische Entscheidungen eines in einer solchen Vereinbarung benannten Gerichts nach Artikel 26 IPRG anerkannt werden, und zwar auch ohne Erklärung nach Artikel 22 des HGvÜ. Die Anerkennung einer schweizerischen Entscheidung im Ausland gestützt auf eine solche Vereinbarung ist hingegen nicht immer gewährleistet. Eine Erklärung nach Artikel 22 würde daher einen Vorteil für die Schweiz darstellen, ohne dass sich dadurch der Arbeitsaufwand für die schweizerischen Gerichte erhöhen würde.

Es ist daher angebracht, dass die Schweiz gemäss Artikel 22 HGvÜ erklärt, dass ihre Gerichte Entscheidungen anerkennen und vollstrecken werden, die von ausländischen Gerichten gestützt auf nicht ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarungen erlassen wurden.

Bis jetzt hat noch keine Vertragspartei eine Erklärung nach Artikel 22 abgegeben. Da dieser Artikel vorsieht, dass sowohl der Ursprungsstaat als auch der ersuchte Staat eine solche Erklärung abgegeben haben müssen, würde eine Erklärung der Schweiz derzeit faktisch
nichts bewirken. Mit dieser Erklärung könnte die Schweiz aber als Vorbild für andere Staaten dienen und so langfristig den Nutzen des HGvÜ für die schweizerischen Parteien erhöhen.

Erklärungen anderer Vertragsparteien Alle Erklärungen der bisherigen Vertragsparteien des HGvÜ sind im Übereinkommen vorgesehen und mit ihm vereinbar, sodass ihnen nichts entgegenzuhalten ist.

61

Vgl. Vernehmlassungsbericht Ziff. 3.3.5.

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7

Erläuterungen zu den Änderungen des IPRG

Art. 5 Abs. 1 Der vorliegende Entwurf bietet die Gelegenheit, den Wortlaut von Artikel 5 Absatz 1 IPRG zu modernisieren, ohne inhaltliche Änderungen vorzunehmen. So sind Verweise auf veraltete Technologien wie Telegramm, Telex und Telefax zu streichen.

Der aktuelle Wortlaut von Artikel 5 hält bereits fest, dass eine Gerichtsstandsvereinbarung «schriftlich ... oder in einer anderen Form der Übermittlung, die den Nachweis ... durch Text ermöglicht», erfolgen kann. Durch die Streichung der veralteten Begriffe wird der Wortlaut zeitgemäss und technologieneutral. Die gleiche Anpassung wurde im Übrigen bereits bei der Reform der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit vorgenommen.62 Art. 5 Abs. 1bis Es ist nicht unüblich, dass Parteien die Gerichte eines Staates wählen, ohne den Ort genauer zu bezeichnen. Sowohl im Rahmen des LugÜ als auch des HGvÜ wird eine Gerichtsstandsvereinbarung, die allgemein auf «die Gerichte eines Vertragsstaats»63 verweist, als gültig erachtet. Der neue Artikel 5 Absatz 1bis IPRG dient dazu, das zuständige Gericht in der Schweiz zu bestimmen, wenn gemäss dem HGvÜ (oder dem LugÜ) die «Schweizer Gerichte» zuständig sind.

Bei der Wahl der «Schweizer Gerichte» soll die innerstaatliche Zuständigkeit gestützt auf die Vorschriften des IPRG bestimmt werden, mit Ausnahme von Artikel 3 (Notzuständigkeit). Wenn also eine Gerichtsstandsvereinbarung die schweizerischen Gerichte benennt und der Erfüllungsort eines Vertrags Bellinzona ist, kann die Zuständigkeit gestützt auf Artikel 113 IPRG beim Gericht in Bellinzona liegen.

Wo das IPRG keine entsprechende Regelung enthält, ist das von der Klägerin oder vom Kläger (zuerst) angerufene Gericht zuständig. Diese Lösung, die bereits in Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit in Artikel 179 Absatz 2 IPRG vorgesehen ist, entspricht dem Willen der Parteien; denn eine Partei, die die Zuständigkeit der «Schweizer Gerichte» ohne weitere Angaben akzeptiert hat, kann sich nicht beschweren, wenn eines dieser Gerichte tatsächlich angerufen wird.

Der neue Absatz 1bis weitet die Vorteile der Gültigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der «Schweizer Gerichte» auf Artikel 5 IPRG aus; dies erhöht die Rechtssicherheit und trägt zur Vorhersehbarkeit für die Parteien bei. Eine ähnliche Anpassung hat der Gesetzgeber bereits bei der Revision des Kapitels
zur Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit des IPRG im Jahr 2020 vorgenommen, als die Zuständigkeit des Mitwirkungsrichters (juge d'appui) präzisiert wurde, wenn die Parteien lediglich vereinbart haben, dass der Sitz des Schiedsgerichts in der Schweiz liegt (Art. 179 Abs. 2 IPRG). Entsprechendes soll auch für Gerichtsstandsvereinbarungen gelten.

62 63

BBl 2018 7163 Vgl. Vernehmlassungsbericht Ziff. 3.5.

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Art. 5 Abs. 3 Artikel 5 Absatz 3 IPRG erlaubt einem Gericht, seine Zuständigkeit abzulehnen, wenn eine Partei keinen Wohnsitz, Aufenthalt oder Niederlassung im Kanton des vereinbarten Gerichts hat oder wenn auf den Streitgegenstand ausländisches Recht anzuwenden ist. Dieser Absatz, der in der Lehre und Praxis stark umstritten ist, beeinträchtigt die Rechtssicherheit und die Vorhersehbarkeit für die Parteien. Die Analyse der online zugänglichen Rechtsprechung auf Bundes- und Kantonsebene zeigt, dass in den 34 Jahren seit Inkrafttreten des IPRG nur ein einziges Mal ein schweizerisches Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machte;64 in den rund dreissig weiteren Entscheidungen, in denen Absatz 3 erwähnt wird, wurde dessen Anwendung abgelehnt.

Sehr oft kann dieser Absatz ohnehin nicht mehr angewendet werden, da die meisten Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten der schweizerischen Gerichte in den Anwendungsbereich des LugÜ fallen, das die Anwendung von Artikel 5 Absatz 3 IPRG ausschliesst; durch das HGvÜ wird die Anwendung dieser Bestimmung noch seltener.

Würde dieser Absatz trotz seines sehr eingeschränkten Anwendungsbereichs und der damit verbundenen Nachteile beibehalten, würde dies der Idee, die Attraktivität der schweizerischen Gerichte zu erhöhen, zuwiderlaufen. Die Kriterien nach Absatz 3 Buchstabe a sind im Übrigen bedeutungslos, wenn die Wahl des Gerichtsstands ohne Bezug zu einem bestimmten Kanton möglich ist. Die Aufhebung dieses Absatzes passt daher zum Beitritt der Schweiz zum HGvÜ.

Artikel 149b Absatz 2 IPRG enthält eine analoge Regelung für die Gerichtsstandswahl gemäss den Bestimmungen eines Trusts. Die Ausgangslage ist jedoch eine andere: Einerseits handelt es sich im Fall von Trusts um eine unilaterale Gerichtsstandswahl; andererseits betrifft die Zuständigkeit in Bezug auf Trusts grösstenteils auch Fälle der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, eine gewisse Verbindung zwischen der Angelegenheit und der Schweiz zu verlangen, damit die Gerichtsstandswahl in Zusammenhang mit einem Trust für schweizerische Gerichte verbindlich ist.

Art. 6 Nach Artikel 6 begründet in vermögensrechtlichen Streitigkeiten die vorbehaltlose Einlassung die Zuständigkeit des angerufenen schweizerischen Gerichts, sofern dieses seine Zuständigkeit nicht nach
Artikel 5 Absatz 3 ablehnt. Die Aufhebung von Artikel 5 Absatz 3 bedingt die Anpassung von Artikel 6 und insbesondere die Streichung des Verweises auf diese Bestimmung.

8

Auswirkungen

8.1

Auswirkungen auf den Bund

Der Beitritt zum HGvÜ hat keine unmittelbaren finanziellen Auswirkungen und keinen Einfluss auf den Personalbestand des Bundes.

64

BGE 119 II 167

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8.2

Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden

Da die Justiz- und Gerichtsorganisation in die Zuständigkeit der Kantone fällt, wird sich der Beitritt zum HGvÜ hauptsächlich auf die Kantone auswirken.

Der Beitritt zum HGvÜ soll insbesondere die Schweiz als internationalen Gerichtsstandort weiter stärken (vgl. Titel der Motion 21.3455. Ziff. 1.1). Es ist nicht anzunehmen, dass die Gerichte in allen Kantonen allgemein vermehrt angerufen werden.

Jedoch können Kantone, die ein international ausgerichtetes Handelsgericht einrichten wollen, von einem attraktiveren Rechtsrahmen profitieren.

In Bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen ist kein substanzieller Anstieg der Ersuchen zu erwarten, da Ersuchen auf Anerkennung und Vollstreckung nach dem IPRG bereits heute für jede Entscheidung aus jedem beliebigen Staat der Welt möglich sind, auch wenn die Voraussetzungen strenger sind. Der Beitritt zum HGvÜ wird daher nur zu einer Substitution der Rechtsgrundlagen führen, ohne dass eine Zunahme der Anzahl Ersuchen zu befürchten ist. Darüber hinaus wird das HGvÜ die Anerkennung der Entscheidungen und damit die Arbeit der Gerichte erleichtern.

8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Der Beitritt zum HGvÜ hat für einen Staat mit einer stark global ausgerichteten Wirtschaft wie die Schweiz einen grossen Vorteil: Er erhöht insbesondere für Unternehmen die Vorhersehbarkeit von grenzüberschreitenden Streitigkeiten und senkt die Prozesskosten. So wird er den Handels- und Finanzplatz der Schweiz stärken, da die für den Handel und Investitionen nötige Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit im Verhältnis zu wichtigen Handelspartnern der Schweiz gestärkt werden. Darüber hinaus wird das HGvÜ parallele Verfahren in verschiedenen Staaten verhindern und kostspielige Recherchen nach Informationen über ausländische Zuständigkeitsregeln ersparen. Zudem erhöht der Beitritt zum HGvÜ die Attraktivität des Gerichtsstandorts Schweiz, was sich positiv auf den Markt der juristischen Dienstleistungen auswirkt.

9

Rechtliche Aspekte

9.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)65, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Darüber hinaus ermächtigt Artikel 184 Absatz 2 BV den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Schliesslich überträgt Artikel 166 Absatz 2 BV der Bundesversammlung die Kompetenz für die Genehmigung von Abkommen, es sei denn, ihr Abschluss fällt aufgrund eines Gesetzes oder eines völkerrechtlichen Vertrags in die alleinige Zuständigkeit des Bundesrats, was beim HGvÜ nicht der Fall ist (siehe auch 65

SR 101

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Art. 24 Abs. 2 ParlG66 und Art. 7a Abs. 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199767).

9.2

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Das HGvÜ ist mit den bestehenden internationalen Verpflichtungen der Schweiz, insbesondere mit dem LugÜ, vereinbar. Das Verhältnis des HGvÜ zu anderen internationalen Rechtsinstrumenten über die Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen ist im HGvÜ selbst in Artikel 26 geregelt und wirft keine Probleme auf.68

9.3

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffern 1 und 2 BV unterliegt ein völkerrechtlicher Vertrag dem Referendum, wenn er unbefristet und unkündbar ist (Ziff. 1) oder wenn er den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsieht (Ziff. 2). Da das HGvÜ durch eine schriftliche Notifikation an den Depositar gekündigt werden kann und den Beitritt zu keiner internationalen Organisation vorsieht, sind diese Bestimmungen nicht anwendbar.

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV untersteht ein völkerrechtlicher Vertrag dem fakultativen Referendum, wenn er wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssen. Das HGvÜ regelt die internationale Zuständigkeit der Gerichte in Zivil- und Handelssachen, wenn die Parteien einer Rechtsstreitigkeit das zuständige Gericht benannt haben, sowie die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, die von einem in einer solchen Vereinbarung benannten Gericht eines Vertragsstaats gefällt wurden. Es enthält folglich wichtige rechtsetzende Bestimmungen.

Daher ist der Bundesbeschluss über die Genehmigung dem fakultativen Referendum zu unterstellen.

Formell ist die vorgeschlagene Änderung von Artikel 5 IPRG Bestandteil des Bundesbeschlusses zur Genehmigung des HGvÜ. Artikel 141a Absatz 2 BV sieht diesbezüglich vor, dass die Bundesversammlung Gesetzesänderungen, die der Umsetzung eines Übereinkommens dienen, in den Beschluss aufnehmen kann, der dem fakultativen Referendum untersteht.

66 67 68

SR 171.10 SR 172.010 Vgl. im Einzelnen Ziff. 1.3.1.

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