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19.464 Parlamentarische Initiative Beseitigung und Verhinderung der Inländerinnenund Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 22. Juni 2023

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf für eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes1. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt Ihnen, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

22. Juni 2023

Im Namen der Kommission Der Präsident: Marco Romano

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Übersicht Schweizerinnen und Schweizer sollen beim Nachzug ihrer Familienangehörigen aus Drittstaaten dieselben Rechte geniessen wie EU/EFTA-Staatsangehörige, für welche die Regelungen des Personenfreizügigkeitsabkommens oder des EFTA-Übereinkommens gelten.

Hierfür soll das Ausländer- und Integrationsgesetz so geändert werden, dass ausländische Familienangehörige in auf- oder absteigender Linie von Schweizerinnen und Schweizern für ihren Nachzug in die Schweiz nicht weiter über eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU oder EFTA-Mitgliedstaates verfügen müssen. Nach geltendem Recht sind bisher nur die Ehegatten und Kinder unter 18 Jahren von dieser Voraussetzung ausgenommen.

Von der Gleichstellung profitieren sowohl alle Kinder von Schweizerinnen und Schweizern und von deren Ehegatten bis zum Alter von 21 Jahren oder darüber hinaus, wie auch die eigenen Verwandten und die Verwandten des Ehegatten in aufsteigender Linie, in erster Linie also die Eltern ausländischer Ehegatten. Voraussetzung ist, dass ihnen Unterhalt gewährt wird. Zudem muss im Einklang mit dem Freizügigkeitsabkommen eine bedarfsgerechte Wohnung vorhanden sein.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Inhalt der parlamentarischen Initiative

Die von Nationalrat Angelo Barrile (S, ZH) am 21. Juni 2019 eingereichte parlamentarische Initiative fordert, das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG)2 so zu ändern, dass Schweizerinnen und Schweizer beim Nachzug von Familienangehörigen aus Drittstaaten gegenüber Angehörigen von Staaten, gegenüber denen die Schweiz die Personenfreizügigkeit kennt, nicht länger diskriminiert werden. In seiner Begründung wies der Initiant darauf hin, dass das Bundesgericht bereits mit seinem Urteil vom 29. September 20093 die Praxis des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) übernommen habe, wonach das Recht auf den Nachzug von Familienangehörigen aus Drittstaaten gestützt auf das FZA nicht mehr von einem vorherigen rechtmässigen Aufenthalt in einem EU-/EFTA-Mitgliedstaat abhängt. Nach geltendem Recht sind bisher beim Familiennachzug durch Schweizerinnen und Schweizer lediglich die Ehegatten sowie die Kinder unter 18 Jahren von dieser Voraussetzung ausgenommen.

1.2

Vorangehende parlamentarische Initiativen zur Beseitigung der Inländerdiskriminierung

Die parlamentarischen Bestrebungen, im Ausländerrecht die diskriminierenden Bestimmungen bei Familiennachzug zu beheben, reichen in die späten Nullerjahre zurück.

Zwei parlamentarische Initiativen, welche die Ungleichbehandlung von Schweizerinnen und Schweizern bei Familiennachzug beheben wollten, scheiterten bereits in der Vorprüfungsphase im Nationalrat.4 Nachdem die erstbehandelnde Staatspolitische Kommission (SPK) beiden Initiativen vorerst Folge gegeben hatte, die ständerätliche Schwesterkommission jedoch ihre Zustimmung verweigerte, beantragte die SPK ihrem Rat, der jeweiligen Initiativen keine Folge zu geben. In beiden Fällen stimmte der Nationalrat seiner SPK zu.

1.3

Vorprüfung der Initiative und Ausarbeitung des Vorentwurfs durch die Staatspolitische Kommission des Nationalrates

Die SPK des Nationalrates prüfte die parlamentarische Initiative von Nationalrat Barrile an ihrer Sitzung vom 13. August 2020 vor und beschloss mit 13 zu 11 Stimmen, 2 3 4

SR 142.20 Urteil 2C_196/2009 08.494n/10.427n Pa.Iv. Tschümperlin. Beseitigung und Verhinderung von Inländerdiskriminierung

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dieser Folge zu geben. Sie erachtete die nach wie vor bestehende rechtliche Ungleichbehandlung der Schweizerinnen und Schweizern als stossend und hielt fest, dass es endgültig an der Zeit sei, die langjährige gesetzgeberische Pendenz zu erledigen, die sich aus der der Rechtsprechung des Bundesgerichts ergeben hatte.

Die Minderheit der Kommission verneinte die Notwendigkeit, die vom Bundesgericht beanstandete Ungleichheit zu beseitigen mit dem Hinweis, dass der Familiennachzug aus Drittstaaten einer der wenigen migrationspolitischen Bereiche sei, über welche die Schweiz noch eigenständig bestimmen kann. Ein Teil der Minderheit bestritt, dass eine Diskriminierung im Rechtssinne vorliege und verwies auf das Recht des Gesetzgebers, sich dem Urteil des Bundesgerichtes nicht zu beugen.

Die ständerätliche Schwesterkommission sprach sich an ihrer Sitzung vom 9. November 2020 mit 7 zu 5 Stimmen bei 1 Enthaltung vorerst gegen den Beschluss der SPK des Nationalrates aus, der Initiative Folge zu geben. Die Kommission wies darauf hin, dass der Gesetzgeber seinen Willen, am Status Quo festzuhalten, bereits mehrmals zum Ausdruck gebracht habe und es deshalb keinen Grund gebe, auf diese Frage zurückzukommen. Die SPK des Nationalrates hielt jedoch an ihrer Sitzung vom 18. Februar 2021 mit 14 zu 9 Stimmen an ihrer Position fest und beantragte ihrem Rat, der parlamentarischen Initiative Folge zu geben. Der Nationalrat folgte am 8. Juni 2021 dem Antrag seiner SPK mit 137 zu 54 Stimmen bei 1 Enthaltung. Schliesslich nahm die SPK des Ständerates am 25. Juni 2021 vom deutlichen Beschluss des Nationalrates Kenntnis und stimmte diesem zu, ohne dass ein anderer Antrag gestellt worden wäre.

Durch ihre Zustimmung machte die Kommission des Ständerates endgültig den Weg frei zur Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage durch die federführende Nationalratskommission.

An ihrer Sitzung vom 1. September 2022 beriet die SPK den vorliegenden Vorentwurf und verabschiedete diesen mit 17 zu 7 Stimmen zuhanden der Vernehmlassung. Gegnerische Stimmen wiesen darauf hin, dass eine Erweiterung der Nachzugsmöglichkeiten für Familienmitglieder aus Drittstaaten das Risiko berge, dass die Zahl der Sozialhilfebeziehenden weiter ansteige. Durch die beabsichtigte Gesetzesänderung werde zudem die verfassungsrechtliche Grundlage zur Steuerung der Zuwanderung in Artikel 121a der Bundesverfassung verletzt.

1.4

Kenntnisnahme der Ergebnisse der Vernehmlassung und Verabschiedung der Vorlage

Im Rahmen der Vernehmlassung, die bis am 9. Dezember 2022 dauerte, äusserten sich 24 Kantone, 5 politische Parteien, 2 Dachverbände der Wirtschaft, 5 weitere interessierte Kreise sowie eine Privatperson. Die insgesamt 37 Stellungnahmen fielen mehrheitlich positiv aus.

19 Kantone sprechen sich für den Entwurf aus. Aargau, Appenzell Innerhoden, BaselLandschaft, Basel-Stadt, Freiburg, Genf, Graubünden, Jura, Neuenburg, St. Gallen, Schwyz, Tessin und Waadt begrüssen den Vorentwurf in der vorliegenden Form, während Appezell-Ausserhoden, Bern, Obwalden, Schaffhausen, Thurgau und Uri Vorbehalte und Änderungsvorschläge anbringen. Die Kantone Glarus, Luzern, Nidwalden, Solothurn und Zug lehnen den Vorentwurf ab.

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Von den politischen Parteien unterstützen den Entwurf die Sozialdemokratische Partei, die FDP.Die Liberalen, die Mitte sowie die Grünen, wobei die FDP und die Grünen Vorbehalte und Änderungsvorschläge anführen. So sollen nach der FDP. Die Liberalen beim Familiennachzug aus Drittstaaten strenge Kriterien angewandt werden, damit die wirtschaftliche Eigenständigkeit dieser Familienangehörigen gewährleistet ist. Dagegen schlagen die Grünen vor, im Vorentwurf vorgesehene Zulassungsvoraussetzungen zu lockern. Die Schweizerische Volkspartei lehnt den Vorentwurf als Ganzes ab.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der Schweizerische Städteverband und die weiteren interessierten Kreise, die sich an der Vernehmlassung beteiligt haben, begrüssen den Vorentwurf. Ausdrücklich auf eine Stellungnahme verzichtet haben der Schweizerische Gewerbeverband und der Schweizerische Arbeitgeberveband.

An ihrer Sitzung vom 11. Mai 2023 nahm die Kommission die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis und führte die Detailberatung durch. Ausgehend von in der Vernehmlassung vorgebrachten Vorschlägen nahm sie im Erlassentwurf, namentlich im Bereich der Integrationsbestimmungen sowie im erläuternden Bericht bei den Ausführungen zum statistischen Sozialhilferisiko, einige Präzisierungen vor und stimmte dem Entwurf in der Gesamtabstimmung mit 17 zu 7 Stimmen bei 1 Enthaltung zu. An ihrer Sitzung vom 22. Juni 2023 hiess die Kommission die betreffenden Anpassungen definitiv gut und verabschiedete die Vorlage zuhanden des Nationalrates. Gleichzeitig stellte sie ihren Entwurf dem Bundesrat zur Stellungnahme zu.

Eine Minderheit der Kommission (Marchesi, Bircher, Buffat, Fischer Benjamin, Glarner, Rutz Gregor, Tuena) lehnt die Vorlage ab und beantragt ihrem Rat, nicht auf den Gesetzesentwurf einzutreten.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Änderungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG)

Schweizerinnen und Schweizer sind beim Familiennachzug in Anwendung des Ausländer- und Integrationsgesetzes benachteiligt gegenüber EU/EFTA-Staatsangehörigen, die sich auf das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA)5 sowie das Abkommen vom 21. Juni 20016 zur Änderung des Übereinkommens zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA-Übereinkommen) berufen können. Der vorliegende Entwurf soll diese Diskriminierung beseitigen.

Einerseits soll in Artikel 42 AIG (Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern) die Bedingung aufgehoben werden, dass ausländische Familienangehörige in auf- oder absteigender Linie für den Nachzug in die Schweiz über eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU oder EFTA-Mitgliedstaates verfügen müssen.

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SR 0.142.112.681 SR 0.632.31

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Nach geltendem Recht sind bisher nur die Ehegatten sowie die Kinder unter 18 Jahren von dieser Voraussetzung ausgenommen.

Von der neuen Regelung profitieren einerseits Kinder von Schweizerinnen und Schweizern und von deren Ehegatten bis zum Alter von 21 Jahren oder auch darüber hinaus, sofern ihnen Unterhalt gewährt wird.

Andererseits profitieren von der Gesetzesrevision neu auch die eigenen Verwandten und die Verwandten des Ehegatten in aufsteigender Linie, in erster Linie also die Eltern ausländischer Ehegatten. Die Bedingung für den Nachzug dieser Personen ist wiederum, dass ihnen Unterhalt gewährt wird.

Gleichzeitig fällt die Bedingung dahin, wonach die Ehegatten von Schweizerinnen und Schweizern und deren Kinder unter 18 Jahren mit diesen zusammenwohnen müssen, wenn sie keine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaates besitzen (Art. 42 Abs. 1 AIG). Es muss aber auf jeden Fall zum Zeitpunkt der Einreise die Absicht bestehen, dauerhaft zusammenzuwohnen.

Demgegenüber legt Artikel 42 E-AIG nun explizit fest, dass eine «bedarfsgerechte Wohnung» vorhanden sein muss. Die Einführung dieser Bestimmung ist insofern gerechtfertigt, als auch das FZA von den EU-Staatsangehörigen verlangt, dass sie über eine Wohnung verfügen, die den für die inländischen Arbeitnehmenden geltenden normalen Anforderungen entspricht. Der in verschiedenen anderen Artikeln des AIG verwendete Begriff der «bedarfsgerechten Wohnung» hat zum Zweck, dass ausländische Personen vor unwürdigen Lebensbedingungen in der Schweiz geschützt werden.

Die Vorlage sieht zudem die Möglichkeit vor, die Erteilung oder die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung an den Abschluss einer Integrationsvereinbarung zu knüpfen, wenn ein besonderer Integrationsbedarf nach den Kriterien gemäss Artikel 58a AIG besteht (Art. 42 Abs. 2 E-AIG in Verbindung mit Art. 58b Abs. 4 E-AIG).

Durch eine Anpassung von Artikel 47 AIG (Frist für den Familiennachzug) sollen weiter ­ in Analogie zum FZA - die bis anhin für den Familiennachzug zu Schweizerinnen und Schweizern geltenden Fristen aufgehoben werden.

In der Folge der vorgeschlagenen Änderung soll schliesslich auch der Verweis in Artikel 49 AIG (Erfordernis des Zusammenwohnens) auf Artikel 42 AIG gestrichen werden, zumal neu das Erfordernis einer bedarfsgerechten Wohnung und nicht länger das Erfordernis des Zusammenlebens gelten soll.

2.2

Rechtliche Prämissen der Gesetzesänderungen

Der Familiennachzug zu EU/EFTA-Staatsangehörigen nach Artikel 3 Absätze 1 und 2 Anhang I FZA7 ist grosszügiger geregelt als der Familiennachzug zu Schweizerinnen und Schweizern nach dem geltenden AIG (Art. 42 Abs. 1 und 2 und 47 AIG): 7

Da das EFTA-Übereinkommen und das FZA gleichlautende Bestimmungen in Bezug auf den Familiennachzug enthalten, wird in den nachfolgenden Ausführungen nur auf Artikel 3 Anhang I FZA verwiesen (vgl. Art. 3 Abs. 1 und 2 Anhang I FZA und Art. 3 Anhang K Anlage 1 des EFTA-Übereinkommens).

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In einem Urteil vom 23. September 20038 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) festgehalten, dass der Anspruch auf Familiennachzug einen vorherigen rechtmässigen Aufenthalt des Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat voraussetzt. Das BGer hat diese neue Rechtsprechung in einem Urteil vom 4. November 20039 übernommen. In den Beratungen zum Ausländergesetz (AuG) hat das Parlament diesem Bundesgerichtsurteil Rechnung getragen und die Vorlage so angepasst, dass das AuG die gleichen Voraussetzungen für den Familiennachzug vorsieht wie das EU-Recht.10 Nach Inkrafttreten des AuG am 1. Januar 2008 hat der EuGH jedoch eine Kehrtwende in der Rechtsprechung gemacht und in seinem Urteil vom 25. Juli 2008 die Bedingung des vorherigen rechtmässigen Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat wieder aufgehoben.11 Das BGer hat wiederum diese Rechtsprechung in einem Urteil vom 29. September 200912 übernommen. Seither müssen Drittstaatsangehörige nicht mehr dauerhaft und rechtmässig in einem Vertragsstaat des FZA gelebt haben, wenn sie zu einem EU/EFTA-Staatsangehörigen in die Schweiz nachziehen möchten. Für ausländische Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern gilt diese Voraussetzung aber weiterhin (Art. 42 Abs. 2 AIG). Bei deren Nichterfüllung ist der Familiennachzug zu einer Schweizerin oder einem Schweizer nach dem AIG eingeschränkt im Vergleich zum Familiennachzug nach dem FZA (Art. 42 Abs. 1 AIG).

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Der Kreis der Personen, die zum Familiennachzug nach dem FZA (Art. 3 Abs. 2 Anhang I FZA) berechtigt sind, ist umfangreicher als die Personengruppe nach Artikel 42 Absatz 1 AIG, die nur den Ehegatten und die Kinder unter 18 Jahren umfasst. Das FZA ermöglicht hingegen den Nachzug der Verwandten in absteigender Linie bis zum Alter von 21 Jahren oder darüber hinaus, wenn ihnen Unterhalt gewährt wird. Zudem sieht das FZA auch den Nachzug der Verwandten in aufsteigender Linie vor, einschliesslich derjenigen des Ehegatten, sofern ihr Unterhalt gewährleistet ist. Dieser weitergehende Familiennachzug ist für Schweizerinnen und Schweizer gemäss geltendem Recht nur möglich, wenn die betroffenen Personen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in einem EU/EFTA-Staat besitzen (Art. 42 Abs. 2 AIG).

­

Gemäss dem FZA müssen Arbeitnehmende für den Familiennachzug über eine Wohnung verfügen, die in dem Gebiet, in dem sie beschäftigt sind, den für die inländischen Arbeitnehmenden geltenden normalen Anforderungen entspricht (Art. 3 Abs. 1 zweiter Satz Anhang I FZA). Dieses Erfordernis unterscheidet sich von der Bedingung des Zusammenwohnens, die das AIG vorsieht für den Nachzug des Ehegatten und der Kinder unter 18 Jahren, die nicht im Besitz einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTAMitgliedstaats sind (Art. 42 Abs. 1 AIG). Das Erfordernis besteht jedoch EuGH, Urteil Akritch vom 23. September 2003, Rechtssache C-109/01, ECLI:EU:C:2003:491 BGE 130 II 1, E. 3.6 BO 2005 E 304.

EuGH, Urteil Metock vom 25. Juli 2008, Rechtssache C-127/2008, ECLI:EU:C:2008:449 BGE 136 II 5, E. 3.4­3.7

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nicht, wenn wichtige Gründe für einen getrennten Wohnort geltend gemacht werden und die Familiengemeinschaft weiterbesteht (Art. 49 AIG).

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Das FZA kennt keine Fristen für den Familiennachzug. Das AIG legt nur für den Nachzug des Ehegatten und der Kinder unter 18 Jahren, die nicht über eine Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats verfügen, Fristen fest (Art. 47 Abs. 1 und 3 Bst. a i.V. mit 42 Abs. 1 AIG).

3

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Art. 42 Abs. 1 und 2 Zu Abs. 1 Diese Bestimmung stützt sich im Wesentlichen auf den aktuellen Wortlaut von Artikel 42 Absatz 2 AIG.

Einerseits übernimmt er den Kreis der Personen, die nach dieser Bestimmung zum Familiennachzug berechtigt sind. Andererseits wird die Bedingung aufgehoben, wonach gewisse Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern für den Nachzug in die Schweiz eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTAMitgliedstaats besitzen müssen. Damit werden die Voraussetzungen für den Nachzug von ausländischen Staatsangehörigen zu Schweizerinnen und Schweizern an die Voraussetzungen angeglichen, die für den Nachzug zu EU/EFTA-Staatsangehörigen nach dem FZA gelten.

Es wird vorgeschlagen, dass alle Kinder von Schweizerinnen und Schweizern und von deren Ehegatten bis zum Alter von 21 Jahren oder darüber hinaus, sofern ihnen Unterhalt gewährt wird, nachgezogen werden können. Dies gilt auch dann, wenn sie keine Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats besitzen (Bst. a). Damit wird der Bestimmung von Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe a Anhang I FZA entsprochen.

Nach geltendem Recht ist der Familiennachzug beschränkt auf Kinder unter 18 Jahren, die mit der Schweizerin oder dem Schweizer zusammenwohnen, sofern sie keine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats besitzen (Art. 42 Abs. 1 AIG). Der Nachzug von Kindern bis zu 21 Jahren oder darüber hinaus, sofern ihnen Unterhalt gewährt wird, ist heute nur möglich, wenn sie eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats besitzen (Art. 42 Abs. 2 Bst. a AIG).

Zudem wird vorgeschlagen, dass Schweizerinnen und Schweizer die eigenen Verwandten und der Verwandten des Ehegatten in aufsteigender Linie nachziehen können, sofern ihnen Unterhalt gewährt wird (Bst. b). Nach geltendem Recht ist dies nur möglich, wenn die Verwandten in aufsteigender Linie über eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats verfügen (Art. 42 Abs. 2 Bst. b AIG).

Wer als zu unterhaltendes Familienmitglied gilt, ergibt sich aus den Fakten. Der materielle Unterhalt des Familienmitglieds muss sichergestellt sein. Es geht darum, ob die Person, die eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz wünscht, in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage ist, ihre Grundbedürfnisse selbst zu decken, oder ob sie zusätzliche Unterstützung ihres Schweizer Familienmitglieds erhält. Das 8 / 16

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Bestehen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses muss nachgewiesen werden.

Der Nachweis des Unterstützungsbedarfs kann in jeder geeigneten Form erbracht werden. Die Bestätigung der zuständigen Behörde des Herkunftslandes ist keine Voraussetzung. Im Gegenzug stellt eine einfache Verpflichtungserklärung, für den Unterhalt des betroffenen Familienmitglieds aufzukommen, noch keinen Beweis dafür dar, dass dieses tatsächlich unterhaltsbedürftig ist. Wenn die verwandte Person zum Zeitpunkt des Gesuchs auf Familiennachzug im Ausland wohnt, muss sie bereits im Herkunftsland von ihrem Schweizer Familienmitglied finanziell unterstützt worden sein.13 Die für Familienmitglieder von EU/EFTA-Staatsangehörigen geltende Bedingung eines vorherigen dauerhaften Aufenthaltsrechts in einem Mitgliedstaat fand in der EU und in der Schweiz aufgrund eines Urteils des EuGH, das vom BGer für die Auslegung des FZA übernommen wurde, seit 2003 Anwendung.14 Nach Inkrafttreten des AuG am 1. Januar 2008 hat der EuGH mit einem Urteil vom 25. Juli 200815 eine Kehrtwende in seiner Rechtsprechung gemacht. Diese Rechtsprechung hat auch das BGer in einem Urteil vom 29. September 200916 übernommen.

Seither müssen Drittstaatsangehörige für den Familiennachzug zu einem EU/EFTAStaatsangehörigen nicht mehr dauerhaft und rechtmässig in einem Vertragsstaat des FZA gelebt haben. Diese Bedingung besteht nach geltendem Recht jedoch weiterhin für gewisse ausländische Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern (vgl. Ziff. 3 und Art. 42 Abs. 2 AIG).

Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich die Aufhebung dieser Bedingung im Entwurf. Denn sie beseitigt die Diskriminierung von Schweizerinnen und Schweizern in Bezug auf die Zulassungsvoraussetzungen für den Familiennachzug nach dem AIG gegenüber EU-Staatsangehörigen, die sich auf das FZA berufen können. Zudem wird mit der Aufhebung dieser Bedingung die Ungleichbehandlung zwischen Schweizer Staatsangehörigen beseitigt: Es wird nicht mehr unterschieden zwischen Familienangehörigen, die über eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats verfügen, und jenen, die keine solche Bewilligung besitzen (vgl. Kreis der berechtigten Personen nach Art. 42 Abs. 1 und 42 Abs. 2 AIG).

Der neue Wortlaut von Absatz 1 hebt auch die geltende Bedingung von Artikel 42 Absatz 1 AIG auf,
wonach die Ehegatten von Schweizerinnen und Schweizern und deren Kinder unter 18 Jahren mit diesen zusammenwohnen müssen, wenn sie keine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats besitzen.

Das FZA sieht keine solche Bedingung vor. Die Ehegatten müssen nicht unbedingt ständig zusammenwohnen, um den Familiennachzug nach Artikel 3 Anhang I FZA in Anspruch zu nehmen. Trotzdem muss ­ wie das BGer festgehalten hat17 ­ auf jeden Fall zum Zeitpunkt der Einreise in das Aufnahmeland grundsätzlich die Absicht bestehen, dauerhaft zusammenzuwohnen. Bei einer Trennung der Ehegatten ist es 13

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Siehe hierzu die Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 Anhang I FZA in BGE 135 II 369 E. 3.1 sowie das Urteil 2C_ 688/2017 vom 29. Oktober 2018 E. 3.4 bis 3.6 mit Verweisen.

EuGH, Urteil Akritch vom 23. September 2003, Rechtssache C-109/01, ECLI:EU:C:2003:491 und BGE 130 II 1, E. 3.6.

EuGH Metock vom 25. Juli 2008, Rechtssache C-127/2008, ECLI:EU:C:2008:449.

BGE 136 II 5, E. 3.4­3.7 BGE 130 II 113, E. 9.5

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rechtsmissbräuchlich, sich auf Artikel 3 Anhang I FZA zu berufen, wenn keine eheliche Bindung mehr besteht und das Gesuch um Familiennachzug nur dazu dient, dem Ehegatten eines in der Schweiz lebenden EU/EFTA-Staatsangehörigen eine Aufenthaltsbewilligung zu beschaffen.18 Demgegenüber legt Absatz 1 nun ausdrücklich fest, dass eine «bedarfsgerechte Wohnung» vorhanden sein muss. Dies steht im Gegensatz zum Wortlaut von Artikel 42 Absatz 2 AIG, der keine solche Bedingung vorsieht.

Die Einführung dieser Bedingung ist insofern gerechtfertigt, als Artikel 3 Absatz 1 Anhang I FZA von einem EU Staatsangehörigen verlangt, dass er «für seine Familie über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht». Die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen für den Familiennachzug gehören zu Ziffer I Anhang I «Allgemeine Bestimmungen» des FZA. Sie gelten daher gemäss den Weisungen des Staatssekretariats für Migration (SEM)19 auch für die anderen Personengruppennach den Ziffern II­V Anhang I FZA. Auf jeden Fall müssen EUStaatsangehörige, die während ihres Aufenthalts gestützt auf das FZA in der Schweiz nicht erwerbstätig sind, über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, sodass sie keine Sozialhilfe (Art. 24 Abs. 1 Bst. a Anhang I FZA) oder Ergänzungsleistungen20 in Anspruch nehmen müssen. Dies bedingt auch, dass sie sich eine bedarfsgerechte Wohnung leisten können.

Somit entspricht der in Absatz 1 vorgeschlagene Begriff der «bedarfsgerechten Wohnung» inhaltlich der in Artikel 3 Absatz 1 Anhang I FZA verwendeten Definition.

Zum Begriff der «Wohnung, die den normalen Anforderungen entspricht» haben sich der EuGH und das BGer noch kaum geäussert. Dennoch ist auf folgende Grundsätze zu verweisen: Der EuGH hat zwei Urteile zu dieser Frage erlassen.21 Im ersten Urteil hat er festgehalten, dass die Familienangehörigen nicht unbedingt ständig beim Arbeitnehmer wohnen müssen, um aufenthaltsberechtigt zu sein. Das BGer hat in zwei Urteilen die Tragweite dieser Rechtsprechung festgelegt.22 Gemäss dem zweiten Urteil des EuGH gilt die Bedingung einer Wohnung, die den normalen Anforderungen entspricht, zwar als Zulassungsvoraussetzung, sie rechtfertigt aber nicht die Verweigerung der Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung
eines Familienangehörigen des Arbeitnehmers, wenn diese Wohnung aufgrund eines späteren Ereignisses nicht mehr als bedarfsgerecht erachtet werden kann. Der Familiennachzug soll nämlich sicherstellen, dass die Arbeitnehmenden der anderen Mitgliedstaaten nicht aus familiären Gründen auf die Personenfreizügigkeit verzichten müssen. Der EuGH hat jedoch auch folgenden Grundsatz festgehalten: Wenn ein 18 19 20 21

22

BGE 130 II 113, E. 9.5 Weisungen SEM II. Freizügigkeitsabkommen, Ziff. 7.2.1, verfügbar unter: www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen und Kreisschreiben.

BGE 135 II 265, E. 3.8 EuGH, Urteil Diatta vom 13. Februar 1985, Rechtssache C-267/83, ECLI:EU:C:1985:67; EuGH, Urteil Kommission gegen Deutschland vom 18. Mai 1989, Rechtssache C-249/86, ECLI:EU:C:1989:204.

BGE 130 II 113 und BGE 139 II 393

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Arbeitnehmer sich eine bedarfsgerechte Wohnung ausschliesslich zur Erlangung des Aufenthaltsrechts für seine Familienangehörigen besorgt und sie nach Erhalt der Erlaubnis sogleich aufgibt, kann dieses Verhalten sanktioniert werden.23 Der EuGH hat sich hingegen nie zu einem möglichen Mindeststandard in Bezug auf die Wohnfläche oder die Anzahl Zimmer im Verhältnis zur Anzahl Familienmitglieder geäussert.

Gemäss einem Urteil des BGer vom 18. Dezember 201724 ergibt sich aus dem Wortlaut von Artikel 3 Absatz 1 Anhang I FZA, dass der Begriff der «Wohnung, die im jeweiligen Gebiet den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht», nicht über eine starre Regel für das gesamte Hoheitsgebiet der Schweiz definiert werden kann. Dieser Begriff ist regional im Rahmen einer konkreten Gesamtbetrachtung zu beurteilen. Was die Wohnfläche und die Anzahl Zimmer betrifft, so sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: die Zahl der in der Wohnung lebenden Personen, der lokale Wohnungsmarkt, die Möglichkeiten einer Wohnbeihilfe und die erforderlichen finanziellen Mittel. Zu berücksichtigten ist zudem die Zusammensetzung der Familie (Paar, Geschlecht, Alter, körperliche Beeinträchtigungen oder besondere Bedürfnisse namentlich der Kinder in einer gemischten häuslichen Gemeinschaft), damit eine harmonische Entwicklung der Familienmitglieder sowie deren Persönlichkeit und Intimsphäre gewahrt sind.

Das BGer hält weiter fest, dass die Beurteilung, ob eine Wohnung diesen Kriterien entspricht, den kantonalen Behörden obliegt. Sie sind mit den Bedingungen auf dem lokalen Wohnungsmarkt vertraut. Bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der angemessenen Wohnung, der die lokalen Gegebenheiten berücksichtigt, verfügen sie über einen gewissen Ermessensspielraum.25 Der Begriff der «bedarfsgerechten Wohnung» findet sich in den Artikeln 24, 27, 43­ 45 und 85 AIG. Die Artikel 43­45 und 85 AIG beziehen sich auf die Voraussetzungen für den Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen.

Gemäss der Botschaft des Bundesrates vom 8. März 200226 zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer ist der Begriff der «bedarfsgerechten Wohnung» so auszulegen, dass er darauf abzielt, ausländische Personen vor unwürdigen Lebensbedingungen in der Schweiz zu bewahren. Die Wohnung muss nämlich den Anforderungen
in bau-, feuer- und gesundheitspolizeilicher Hinsicht entsprechen und darf nicht überbelegt sein. Massgebend sind die Vorschriften der Kantone und Gemeinden sowie die vertraglichen Vereinbarungen mit dem Vermieter.

Zudem wird nach ständiger Rechtsprechung die im AIG vorgesehene Bedingung der «bedarfsgerechten Wohnung» nicht in der ganzen Schweiz gleich beurteilt. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Wohnungspreise und der Anteil der Ferienwohnungen in bestimmten Regionen. Daher gilt es, sich auf die Erwägungen des Wohn-

23 24 25 26

Oben genanntes Urteil Kommission gegen Deutschland, Rechtssache 249/86, Punkte 13 und 14 Urteil des BGer vom 18. Dezember 2017, 2C_416/2017, E. 2.2 Urteil des BGer vom 18. Dezember 2017, 2C_416/2017, E. 2.2 mit Verweisen BBl 2002 3709 (3784)

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kantons zu berufen, der den Bericht verfasst und somit über angemessene Kenntnis der Situation verfügt.27 Für die Definition einer «bedarfsgerechten Wohnung» hat das SEM, basierend auf dem Kriterium der Anzahl der vorhandenen Räume, folgenden Richtwert festgelegt: «Anzahl Personen minus 1 = Mindestwohnungsgrösse».28 Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) hat festgehalten, dass die meisten Kantone die bedarfsgerechte Grösse einer Wohnung anhand dieser Standardformel beurteilen und darüber hinaus auch den regionalen Besonderheiten Rechnung tragen.29 Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass der in den Artikeln 24, 27, 43­45 und 85 AIG verwendete Begriff der «bedarfsgerechten Wohnung» das gleiche Ziel verfolgt wie der in Artikel 3 Absatz 1 Anhang I FZA verwendete Begriff der «Wohnung, die den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht». In beiden Fällen geht es darum, die Gesamtfamilie in einer nicht überbelegten Wohnung unterzubringen, unter Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten und der Anforderungen in bau-, feuer- und gesundheitspolizeilicher Hinsicht.

Deshalb wird vorgeschlagen, in Absatz 1 den Begriff der «bedarfsgerechten Wohnung» einzuführen, damit im AIG ein einheitlicher Begriff verwendet wird.

Eine Minderheit der Kommission (Marra, Barrile, Gysin Greta, Imboden, Kälin, Masshardt, Widmer Céline) beantragt, auf das Erfordernis einer bedarfsgerechten Wohnung für die nachgezogenen Familienmitglieder zu verzichten.

Eine weitere Minderheit (Silberschmidt, Bircher, Buffat, Cottier, Fischer Benjamin, Fluri, Glarner, Marchesi, Romano, Ruch, Rutz Gregor, Tuena) beantragt, den Familiennachzug von Verwandten in absteigender und in aufsteigender Linie an die Bedingung zu knüpfen, dass deren Unterhalt nachweislich und dauerhaft gewährt wird.

Zu Abs. 2 Absatz 2 übernimmt die Formulierung, die für den Familiennachzug von ausländischen Personen mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung vorgesehen ist (Art. 43 Abs. 4 AIG und Art. 44 Abs. 4 AIG). Er räumt den zuständigen kantonalen Behörden die Möglichkeit ein, die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung für nachziehende Familienmitglieder einer oder eines Schweizer Staatsangehörigen mit dem Abschluss einer Integrationsvereinbarung zu verbinden, wenn ein besonderer Integrationsbedarf
nach den Kriterien gemäss Artikel 58a AIG besteht.

Die Kommissionsmehrheit ist der Ansicht, dass die Kantone dadurch das Sozialhilferisiko verringern können.

Gegenüber Personen, die sich auf das FZA berufen können, oder gegenüber nachziehenden Familienangehörigen einer Schweizerin oder eines Schweizers können gemäss geltendem Recht lediglich Integrationsempfehlungen ausgesprochen werden (Art. 58b Abs. 4 AIG).

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Urteil des BVGer vom 5. Januar 2017, C-5621/2014, E. 6.1 und BGE C-4615/2012 vom 9. Dezember 2014, E. 6.3.1 Weisungen des SEM, I. Ausländerbereich, Ziff. 6.1.4, verfügbar unter: www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen und Kreisschreiben Urteil des BVGer vom 27. März 2019 F-5443/2017, E. 7.2.3

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Der Abschluss einer Integrationsvereinbarung kann angezeigt sein, wenn die Integrationskriterien nach Artikel 58a AIG nicht erfüllt sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die betreffende Person nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt, die öffentliche Sicherheit und Ordnung und namentlich familienrechtliche Unterhaltspflichten verletzt hat, betrieben wird, Beratungsangebote nicht wahrnimmt oder sich weigert, am Wirtschaftsleben teilzunehmen (namentlich dauerhafte und starke Abhängigkeit von der Sozialhilfe) oder eine Aus- bzw. Weiterbildung zu absolvieren.

In der Integrationsvereinbarung ist festgehalten, welchen Beitrag die Person für ihre Integration leisten muss. Wird die Vereinbarung ohne entschuldbaren Grund nicht eingehalten, kann die zuständige Ausländerbehörde entscheiden, die Aufenthaltsbewilligung nicht zu verlängern oder zu widerrufen (Art. 62 Abs. 1 Bst. g AIG). Der Widerruf der Bewilligung muss verhältnismässig sein (Art. 96 AIG).

Eine Minderheit der Kommission (Barrile, Gysin Greta, Imboden, Kälin, Marra, Masshardt, Widmer Céline) lehnt die Möglichkeit, auch beim Nachzug von Familienmitgliedern von Schweizer Staatsangehörigen Integrationsvereinbarungen abzuschliesen, ab. Ihrer Ansicht nach würde dadurch eine neue Ungleichbehandlung gegenüber Personen aus EU-/EFTA-Ländern geschaffen, was dem Ziel der parlamentarischen Initiative, solche Ungleichheiten zu beseitigen, widerspräche.

Zu Art. 47 Abs. 2 und 3 Das FZA sieht keine Fristen für den Familiennachzug vor. Das AIG kennt solche Fristen für den Nachzug des Ehegatten und der Kinder zu einer Schweizerin oder einem Schweizer (Art. 47 Abs. 3 i.V. mit Art. 42 Abs. 1 AIG). Mit den vorgeschlagenen Änderungen sollen für den Familiennachzug zu Schweizerinnen und Schweizern ­ analog zum FZA ­ keine Fristen mehr gelten (Art. 42 E-AIG).

Zu Art. 49 Der vorgeschlagene Artikel 42 Absatz 1 E-AIG hebt die geltende Bedingung von Artikel 42 Absatz 1 AIG auf, wonach die Ehegatten und die Kinder unter 18 Jahren mit der nachziehenden Person zusammenwohnen müssen, wenn sie nicht im Besitz einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats sind. Artikel 49 AIG regelt die Voraussetzungen, unter denen von diesem Grundsatz abgewichen werden kann. Infolgedessen soll der bestehende Verweis auf Artikel 42 AIG aufzuheben werden.
Der Entwurf sieht neu das Erfordernis einer «bedarfsgerechten Wohnung» und nicht mehr das Erfordernis des Zusammenlebens vor (vgl. Ziff. 3 zu Art. 42 Abs. 1 E-AIG).

Zu Art. 58b Artikel 42 Absatz 2 E-AIG sieht neu die Möglichkeit vor, die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung für ein nachziehendes Familienmitglied einer oder eines Schweizer Staatsangehörigen mit dem Abschluss einer Integrationsvereinbarung zu verbinden. Der im aktuellen Artikel 42 Absatz 2 AIG enthaltene Verweis auf Artikel 58b Absatz 4 AIG ist folglich zu streichen (zur Meinung der Minderheit Barrile, Gysin Greta, Imboden, Kälin, Marra, Masshardt, Widmer Céline siehe oben, Erläuterungen zu Art. 42 Abs. 2 E-AIG).

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Auswirkungen auf den Bund und die Kantone

Gemäss der Kompetenzverteilung sind die kantonalen Migrationsbehörden zuständig für die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen im Rahmen des Familiennachzugs. In gewissen Fällen setzt die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung beim Nachzug von Drittstaatsangehörigen die Zustimmung des SEM voraus.30 Dies ist in der Verordnung des EJPD über die dem Zustimmungsverfahren unterliegenden ausländerrechtlichen Bewilligungen und Vorentscheide (ZV-EJPD)31 geregelt.

Im Vergleich zum geltenden Recht sieht dieser Entwurf für Schweizerinnen und Schweizer eine vorteilhaftere Regelung des Familiennachzugs vor. Einerseits erweitert er den Kreis der Personen, die zum Familiennachzug berechtigt sind. Andererseits sind die Zulassungsvoraussetzungen weniger streng. Es ist somit mit einer Zunahme der Gesuche um Familiennachzug bei den zuständigen kantonalen Migrationsbehörden zu rechnen. Allenfalls werden auch dem SEM mehr Gesuche zur Zustimmung unterbreitet. Dies führt zu einem zusätzlichen Arbeitsaufwand.

Diese Zunahme lässt sich zahlenmässig nicht bestimmen. Denn dazu müsste bekannt sein, wie viele Schweizerinnen und Schweizer, die ausländische Familienangehörige haben oder in Zukunft haben werden, einen Familiennachzug anstreben. Auch das Parlament hat bei der Ausarbeitung von Artikel 42 AIG im Jahr 2004 und bei der Behandlung der beiden von Nationalrat Tschümperlin eingereichten parlamentarischen Initiativen zur Verhinderung der Inländerdiskriminierung32 keine Schätzungen dazu vorgenommen. Dennoch ging auch die zuständige Kommission von einer Zunahme der Gesuche aus.33 Im Jahr 2021 sind 7554 ausländische Familienangehörige zu Schweizerinnen und Schweizern nachgezogen. In den Jahren zuvor präsentierte sich der Familiennachzug nach dem AIG wie folgt: 7168 Personen im 2020, 8001 Personen im 2019, 8412 Personen im 2018, 8471 Personen im 2017 und 9074 Personen im 2016.

Wie der Bundesrat in seinem Bericht vom 7. Juni 201934 festgehalten hat, ist das Sozialhilferisiko bei Drittstaatsangehörigen, die zwischen 2008 und 2016 im Familien30

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Derzeit erfordert die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung im Hinblick auf den Nachzug von Verwandten von Schweizer Staatsangehörigen oder von deren Ehegatten in absteigender Linie, die älter als 18 Jahre sind, sowie von Verwandten von Schweizer Staatsangehörigen oder deren Ehegatten in aufsteigender Linie (Art. 42 Abs. 2 AIG) die Zustimmung des SEM (Art. 6 Bst. b und c der Verordnung des EJPD über die dem Zustimmungsverfahren unterliegenden ausländerrechtlichen Bewilligungen und Vorentscheide, ZV-EJPD; SR 142.201.1).

SR 142.201.1 Parlamentarische Initiativen Tschümperlin (08.494) «Beseitigung und Verhinderung von Inländerdiskriminierung» vom 03.10.08 und (10.427) «Beseitigung und Verhinderung von Inländerdiskriminierung» vom 19.03.10.

Bericht vom 18. November 2010 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates zur parlamentarischen Initiative Tschümperlin (10.427) «Beseitigung und Verhinderung von Inländerdiskriminierung».

Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 17.3260 der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 30. März 2017 «Kompetenzen des Bundes im Bereich der Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten», Ziff. 7.3.

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nachzug in die Schweiz gekommen sind, überdurchschnittlich hoch. Festzustellen ist, dass das Sozialhilferisiko grösser ist, wenn die Drittstaatsangehörigen zu einer Schweizer Partnerin oder zu einem Schweizer Partner ziehen (6,8 % im Jahr 2016), als wenn es sich um eine Ausländerin oder einen Ausländer (inklusive EU/EFTAAngehörige) handelt (4,7% im Jahr 2016). Daher ist auch anzunehmen, dass die vorgeschlagene Änderung bei den Kantonen zu höheren Sozialhilfekosten führen könnte.

In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass die nachziehende Person die Verwandten in absteigender oder aufsteigender Linie bereits im Herkunftsland finanziell unterstützt haben muss. Der Unterstützungsbedarf kann aber aufgrund der höheren Lebenshaltungskosten in der Schweiz um einiges höher sein, wenn die Familienangehörigen hier leben. Nach einem längeren Aufenthalt in der Schweiz ist der Entzug des Aufenthaltsrechts wegen unzureichender Mittel für den Unterhalt auch oft nicht mehr verhältnismässig. Dies gilt insbesondere dann, wenn Verwandte in aufsteigender Linie pflegebedürftig werden, die im Familiennachzug in die Schweiz gekommen sind.

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Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Der Entwurf stützt sich auf Artikel 121 Absatz 1 BV (Gesetzgebungskompetenz des Bundes über die Gewährung von Asyl sowie Aufenthalt und Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern). Er ist mit der Verfassung vereinbar.

Die mit dem Entwurf angestrebte Beseitigung der Ungleichbehandlung von Schweizerinnen und Schweizern gegenüber EU/EFTA-Staatsangehörigen beim Familiennachzug beruht auf einer eigenständigen Entscheidung. Der Entwurf ist also auch vereinbar mit Artikel 121a Absatz 1 BV, wonach die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuert. Sie ist auch mit Artikel 121a Absatz 2 BV vereinbar, da das Parlament bei dessen Umsetzung auf Höchstzahlen und Kontingente für den Familiennachzug verzichtet hat.

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Der Entwurf ist mit dem geltenden internationalen Recht vereinbar.

Im Urteil 136 II 120 vom 22. Januar 2010 hat das BGer auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verwiesen, wonach eine Benachteiligung von Drittstaatsangehörigen gegenüber Staatsangehörigen eines EU-Staates bei aufenthaltsbeendenden Massnahmen auf objektiven und sachlichen Gründen beruht, da die EU eine besondere Rechtsgemeinschaft bildet.35 Es hat aber auch festgehalten, dass es zweifelhaft erscheint, inwiefern heute ein sachlicher Grund bestehen soll, Schweizerinnen und Schweizer bezüglich des Nachzugs 35

BGE 136 II 120, E. 3.3

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ihrer ausländischen Familienangehörigen schlechter zu behandeln als EU/EFTAStaatsangehörige.36 Der EGMR hat jedoch das Problem einer möglichen Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch eine umgekehrte Diskriminierung, das heisst durch eine Schlechterstellung der eigenen Staatsangehörigen, bisher nicht beurteilen müssen.37 Das BGer hat daher dem Gesetzgeber die Möglichkeit belassen, die erforderlichen Konsequenzen im Rahmen des demokratischen Verfahrens zu ziehen.

Nach der Ablehnung der beiden oben erwähnten parlamentarischen Initiativen von Nationalrat Tschümperlin durch das Parlament hat das BGer ein neues Urteil erlassen.

Das BGer hat in seinem Urteil 2C_354/2011 vom 13. Juli 201238 von der Haltung des Gesetzgebers Kenntnis genommen und die Frage der umgekehrten Diskriminierung unter dem Gesichtspunkt von Artikel 14 EMRK geprüft. Es hält fest, dass seine Feststellungen zum Stand der Rechtsprechung des EGMR nach wie vor Gültigkeit haben und dass eine Ungleichbehandlung in den Staaten gängige Praxis ist. Das BGer kommt zum Schluss, dass gemäss den bestehenden bilateralen Abkommen und der Rechtsprechung dazu die Zuwanderung durch die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit gesteuert werden kann. Daher bestehen im Hinblick auf die Artikel 8 und 14 EMRK hinreichende nichtdiskriminierende Gründe, die eine Ungleichbehandlung von Schweizerinnen und Schweizern gegenüber EU/EFTA-Staatsangehörigen beim Familiennachzug rechtfertigen.

Obwohl das BGer den Wortlaut von Artikel 42 AIG bisher nicht als widersprüchlich zu den Artikeln 8 und 14 EMRK beurteilt hat, kann festgestellt werden, dass der vorgeschlagene Artikel 42 E-AIG auf jeden Fall mit der EMRK vereinbar ist, da er darauf abzielt, jede Form einer Diskriminierung zu beseitigen.

5.3

Erlassform

Nach Artikel 164 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)39 erlässt die Bundesversammlung alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes.

Mit diesem Entwurf wird eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes vorgeschlagen. Nach Artikel 141 Absatz 1 BV unterliegen Bundesgesetze dem fakultativen Referendum.

36 37 38 39

BGE 136 II 120, E. 3.4.1 BGE 136 II 120, E. 3.3­3.4 Urteil des BGer vom 13. Juli 2012 2C_354/2011, E. 2.7 SR 101

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