BBl 2023 www.fedlex.admin.ch Massgebend ist die signierte elektronische Fassung

23.053 Botschaft zur Genehmigung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands) vom 21. Juni 2023

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

21. Juni 2023

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Übersicht Diese Botschaft bezieht sich auf die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013. Mit dieser Verordnung erhält das Verfahren der Schengen-Evaluierung eine neue Rechtsgrundlage.

Ausgangslage Die korrekte und einheitliche Anwendung des Schengen-Besitzstands in allen beteiligten Staaten ist eine wesentliche Voraussetzung für das gute Funktionieren des Schengen-Raumes, innerhalb dessen neben dem freien Verkehr von Personen auch ein hohes Mass an Sicherheit gewährleistet sein soll. Daher wurde bereits in den Anfängen der Schengener Zusammenarbeit ein besonderer Mechanismus zur gegenseitigen Bewertung und Überwachung, die sog. Schengen-Evaluierung, eingerichtet.

Mit der Verordnung (EU) 2022/922 wird dieser Mechanismus überarbeitet und die heute bestehende Rechtsgrundlage (Verordnung (EU) Nr. 1053/2013) ersetzt. Die Verordnung stellt eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands gemäss Artikel 2 Absatz 3 des Schengen-Assoziierungsabkommens (SAA) dar. Der Bundesrat hat deren Übernahme am 17. August 2022 gutgeheissen, vorbehältlich der Zustimmung der eidgenössischen Räte.

Inhalt der Vorlage Mit der neuen Verordnung wird der Evaluierungsmechanismus wirksamer, flexibler und effizienter ausgestaltet, ohne an den Grundprinzipien («peer-to-peer»: Bewertung unter Gleichgestellten) des bisherigen Verfahrens oder dessen grundsätzlichem Ablauf zu rütteln. Die wichtigsten Neuerungen umfassen Massnahmen: ­

zur Verfahrensbeschleunigung: Einführung kurzer Fristen für alle Akteure; Möglichkeit der Europäischen Kommission, in gewissen Fällen zusammen mit dem Bericht auch die Empfehlungen zu verabschieden; Einführung eines Dringlichkeitsverfahrens bei schwerwiegenden Mängeln;

­

zur Flexibilisierung und gezielteren Nutzung des Instrumentariums: Vorgabe einer niedrigeren Mindestzahl von Experten pro Besuch und Verlängerung des Evaluierungszyklus, um unangekündigte und thematische Evaluierungen vermehrt durchzuführen;

­

zur Erhöhung der Verfügbarkeit der Sachverständigen: Verpflichtung der Kommission, in allen Bereichen für ein geeignetes Ausbildungsangebot zu sorgen; Einrichtung eines Expertenpools, die mit der Pflicht einhergeht, mindestens einen nationalen Sachverständigen pro Bereich für ein Jahr zur Verfügung zu halten; sowie

­

zur Erhöhung des «Umsetzungsdrucks» im Follow-up: Durchführung von erneuten Besuchen und (auch unangekündigten) Überwachungsbesuchen; periodische Vornahme einer politischen Standortbestimmung im Rat der EU (Mi-

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nisterebene) zum Stand der Umsetzung der ausgesprochenen Empfehlungen sowie zum Zustand des Schengen-Raums insgesamt.

Würdigung und Abschlusskompetenzen Die Schengen-Evaluierung ist ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung einer korrekten und einheitlichen Rechtsanwendung und damit zur Steuerung des guten Funktionierens des Schengen-Raumes («Schengen Governance»). Mit der vorliegenden Verordnung (EU) 2022/922 werden die operativen Möglichkeiten des Mechanismus gestärkt und auch die politische Wahrnehmung verbessert. Man darf erwarten, dass allfällige Fehlentwicklungen bei der Umsetzung und Anwendung des Schengen-Besitzstands rascher korrigiert, aber auch positive Impulse für eine Verbesserung der Zusammenarbeit gegeben werden («best practices»). Gleichzeitig bleibt die Schengen-Evaluierung eine Bewertung unter gleichgestellten Partnern («peer-to-peer»), indem die wesentlichen Beschlüsse weiterhin entweder (im Rat) von den SchengenStaaten selbst getroffen werden oder von ihrer Zustimmung abhängig sind. Dies ist im wohlverstandenen Interesse aller teilnehmenden Staaten.

Für die Genehmigung des Notenaustauschs zur Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 ist die Bundesversammlung gemäss Artikel 166 Absatz 2 BV zuständig. Die Verordnungsbestimmungen sind unmittelbar anwendbar und stehen mit keiner Bestimmung des Landesrechts in Widerspruch; daher müssen sie nicht ins Landesrecht umgesetzt werden. Die Verordnung (EU) 2022/922 enthält aber wichtige rechtsetzende Bestimmungen im Sinne von Artikel 164 BV, weshalb der Notenaustausch zur deren Übernahme gemäss Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV dem fakultativen Referendum zu unterstellen ist.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Ausgangslage 1.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.2 Verlauf der Verhandlungen in den zuständigen Arbeitsgruppen (COMIX) und Verhandlungsergebnis 1.3 Verfahren zur Übernahme der Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands 1.4 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

11

2

Vernehmlassungsverfahren

11

3

Grundzüge der Vorlage 3.1 Überblick über den Inhalt der zu übernehmenden Verordnung (EU) 2022/922 3.2 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Verordnung (EU) 2022/922 3.2.1 Allgemeine Bestimmungen 3.2.2 Programmplanung 3.2.3 Gemeinsame Bestimmungen für die Durchführung von Evaluierungs- und Überwachungsmassnahmen 3.2.4 Schwerwiegende Mängel und besondere Evaluierungsformen 3.2.5 Schengen-Steuerung und Schlussbestimmungen

13

4

Auswirkungen 4.1 Auswirkungen auf den Bund und die Kantone 4.2 Auswirkungen in weiteren Bereichen

42 42 43

5

Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz 5.3 Erlassform 5.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse

43 43

Abkürzungsverzeichnis

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Bundesbeschluss über die Genehmigung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands) (Entwurf) BBl 2023 1681 Notenaustausch vom 17. August 2022 zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands) BBl 2023 1682

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Handlungsbedarf und Ziele

Die korrekte und einheitliche Anwendung des Schengen-Besitzstands in allen beteiligten Staaten ist eine wichtige Voraussetzung für das gute Funktionieren des Schengen-Raumes, innerhalb dessen neben dem freien Verkehr von Personen auch ein hohes Mass an Sicherheit gewährleistet sein soll. Daher wurde bereits sehr früh ein besonderer Mechanismus zur gegenseitigen Bewertung eingerichtet1, der ein zweifaches Ziel verfolgte, nämlich: ­

zu überprüfen, ob alle rechtlichen und technisch-organisatorischen Voraussetzungen für die Aufnahme der operationellen Zusammenarbeit im SchengenVerbund erfüllt sind, wenn ein neuer Staat sich an Schengen beteiligen will;

­

in periodischen Abständen zu verifizieren, ob die an Schengen bereits teilnehmenden Staaten den einschlägigen Besitzstand (inklusive aller Weiterentwicklungen) auch weiterhin ordnungsgemäss anwenden.

Die Schweiz hatte diesen Mechanismus seinerzeit im Rahmen der Genehmigung des Schengen-Assoziierungsabkommens (SAA)2 übernommen3 und war anlässlich ihrer Eintrittsevaluierung im Jahr 2008 und danach einmal im Jahre 2014 auf dieser Grundlage evaluiert worden. Im Jahr 2013 wurde der Mechanismus der Schengen-Evaluierung mit der Verordnung (EU) Nr. 1053/20134 ein erstes Mal überarbeitet. Zu den wesentlichen Neuerungen zählte damals, dass der Europäischen Kommission die Koordinationsverantwortung für die Planung und praktische Durchführung der Evaluierungen übertragen wurde. Die Schweiz hatte diese Verordnung als Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands übernommen5 und ist in der Folge 2018 turnusgemäss nach Massgabe dieser Verordnung evaluiert worden.

1

2 3 4

5

Beschluss SCH/Com-ex (98) 26 Def. des Exekutivausschusses vom 16. September 1998 bezüglich der Errichtung des Ständigen Ausschusses Schengener Durchführungsübereinkommen, Fassung gemäss ABl. L 239 v. 22.9.2000, S. 138.

SR 0.362.31 Vgl. Anhang A, Teil 3.A SAA Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 des Rates vom 7. Oktober 2013 zur Einführung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung des Beschlusses des Exekutivausschusses vom 16. September 1998 bezüglich der Errichtung des Ständigen Ausschusses Schengener Durchführungsübereinkommen, Fassung gemäss ABl. L 295 v. 6.11.2013, S. 27.

Notenaustausch vom 7. November 2013 zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 zur Einführung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands, SR 0.362.380.062.

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Die vorliegende Verordnung (EU) 2022/9226 ist das Ergebnis einer neuerlichen inhaltlichen Überarbeitung. Die Revision war im Kern bereits in der bisherigen Verordnung angelegt. Diese beauftragte nämlich die Europäische Kommission, nach Ablauf des ersten Evaluierungszyklus (2014­2019) dem Rat und dem Europäischen Parlament einen Bericht zur umfassenden Bewertung des Mechanismus vorzulegen ­ mit dem Ziel, potenzielle Schwachstellen zu identifizieren und gegebenenfalls konkrete Vorschläge für deren Behebung zu machen. Die Europäische Kommission legte diesen Bericht7 infolge der Covid-19-Pandemie mit etwas Verzögerung am 25. November 2020 vor, allerdings ohne bereits einen konkreten Vorschlag zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 zu präsentieren. Stattdessen organsierte sie eine breit angelegte Konsultation aller interessierten Kreise, inklusive des Europäischen Parlaments. Die Schengen-Staaten konnten sich u.a. im Rahmen des ersten Schengen-Forums vom 30. November 2022 auf Ministerebene sowie anlässlich zweier ExpertenHearings am 14. und 22. Januar 2021 zum Bericht vernehmen lassen. Gestützt auf diese ungewöhnlich umfassenden Vorarbeiten, die auch einen direkten Austausch mit dem Europäischen Parlament beinhaltete, präsentierte die Europäische Kommission schliesslich am 2. Juni 2021 einen Vorschlag8 für eine neue Verordnung.

Fast genau ein Jahr später, am 9. Juni 2022, verabschiedete der Rat der EU die Verordnung (EU) 2022/922 und notifizierte sie der Schweiz am 16. Juni 2022 als Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Da die Schweiz gemäss Artikel 2 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 7 SAA grundsätzlich verpflichtet ist, Weiterentwicklungen zu übernehmen, hat der Bundesrat den Notenaustausch zur Übernahme der Verordnung am 17. August 2022 gutgeheissen und die entsprechende Antwortnote der EU am selben Tag übermittelt. Der Abschluss des Notenaustausches erfolgte dabei unter Vorbehalt der parlamentarischen Genehmigung (Art. 7 Abs. 2 Bst. b SAA). Ziel dieser Vorlage ist es nun, das Genehmigungsverfahren einzuleiten und zu diesem Zweck die Vernehmlassung zu eröffnen.

1.2

Verlauf der Verhandlungen in den zuständigen Arbeitsgruppen (COMIX) und Verhandlungsergebnis

Gestützt auf Artikel 70 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)9 ist allein der Rat der EU auf der Basis des Kommissionsvorschlags für die Ausarbeitung und Annahme der Verordnung (EU) 2022/922 zuständig. Das Europäische Parlament, obwohl formell am Verfahren nicht beteiligt, ist vom Rat auf der 6

7

8 9

Verordnung (EU) 2022/922 des Rates vom 9. Juni 2022 zur Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013, Fassung gemäss ABl. L 160 v. 15.6.2022, S. 1.

Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Funktionsweise des Schengen-Evaluierungs- und -Überwachungsmechanismus gemäss Artikel 22 der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 des Rates. Erstes mehrjähriges Evaluierungsprogramm (2015­2019), KOM(2020) 779 endg.

KOM(2021) 278 endg.

Konsolidierte Fassung: ABl. C 202 v. 7.6.2016, S. 47.

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Grundlage einer 2013 getroffenen Vereinbarung dennoch informell konsultiert worden. Die Schweiz war sowohl an den Vorbereitungsarbeiten im Vorfeld des Kommissionsvorschlages als auch in den zuständigen Arbeitsgruppen des Rates der EU auf allen Stufen vertreten und hat ihre Position nach Massgabe der im SAA verankerten Mitspracherechte aktiv eingebracht.

Die Beratungen zum Verordnungsentwurf wurden unter slowenischer Präsidentschaft am 1. Juli 2021 aufgenommen und zunächst in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe «Schengen Evaluierung» (SCHEVAL) per Video-Konferenz geführt. Angesichts der erwähnten, breit angelegten Vorbereitungsarbeiten der Kommission wurde im Rat ein hoher Verhandlungsrhythmus angeschlagen. Nach lediglich fünf Sitzungen in der Arbeitsgruppe SCHEVAL und zwei weiteren Sitzungen, die im Format der «Conseillers JAI»10 stattfanden, unterbreitete die slowenische Präsidentschaft einen ersten Zwischenbericht über den Verhandlungsstand, der von den Ministern im «Rat für Justiz und Inneres» (JI-Rat) vom 9. Dezember 2021 zustimmend zur Kenntnis genommen wurde. Die bisherige Verhandlungsdynamik schrieb sich unter der Ägide der folgenden französischen Präsidentschaft weiter fort. Während die noch offenen Fragen im Januar 2022 zunächst in zwei Sitzungen der Arbeitsgruppe SCHEVAL weiterdiskutiert wurden, fanden die Beratungen ab Februar 2022 im Wochentakt nur noch im Format der «Conseillers JAI» und im Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (COREPER) statt. Am 3. März 2022 erzielte der JI-Rat eine politische Einigung zum gefundenen Kompromisstext. Nachdem das Europäische Parlament seine informelle Stellungnahme am 6. April 2022 vorgelegt und mit der Ratspräsidentschaft dazu einen mündlichen Austausch geführt hatte, wurde die endgültige Fassung der Verordnung am 29. April 2022 vom COREPER gebilligt und schliesslich am 9. Juni 2022 vom Ministerrat formell verabschiedet.

Würdigung Das Verhandlungsergebnis entspricht auf weiten Strecken den Anliegen, die die Schweiz während des gesamten Verhandlungsprozesses vertreten hatte. So berücksichtigte bereits der Kommissionsvorschlag einige der seitens der Schweiz während der Vorbereitungsphase eingebrachten Punkte, etwa die Ausdehnung der Dauer eines Evaluierungszyklus für periodische Evaluierungen von fünf auf sieben Jahre, um in den
Jahresprogrammen mehr Raum dafür zu schaffen, auf neue Herausforderungen rasch und gezielt reagieren zu können. Auch die Forderung, die Verfahrensdauer einer Evaluierung zwischen dem Ende des Besuchs und der Annahme der Empfehlungen insgesamt zu verkürzen, aber die Intervalle der Berichterstattung im Follow-up zu verlängern, fanden Berücksichtigung, ebenso das Anliegen, eine explizite Rechtsgrundlage für die Durchführung von Überprüfungsbesuchen zu schaffen sowie zentrale Begriffe (wie z.B. schwerwiegende Mängel, nicht konformes Ergebnis) in der Verordnung zu definieren.

Im Verlauf der Beratungen im Rat gelang es, weitere zentrale Forderungen der Schweiz zu erfüllen. Dazu gehört einerseits die Verpflichtung der Europäischen Kom10

Die «Conseillers JAI» ist keine eigentliche Ratsarbeitsgruppe, sondern ein informelles Format, in welchem die für den Bereich Justiz und Inneres zuständigen diplomatischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den ständigen Vertretungen vor Ort (für die Schweiz: der Mission der Schweiz bei der EU) zusammengefasst werden.

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mission, in sämtlichen Bereichen ein entsprechendes Ausbildungsangebot (Erstausbildungen und Auffrischungskurse) zu schaffen, was bisher z.B. im Bereich Datenschutz nicht der Fall war. Andererseits trägt die vorliegende Verordnung auch dem Hauptanliegen der Schweiz Rechnung, den Charakter der Evaluierung als einer «Bewertung unter gleichrangigen Partnern» («peer-to-peer») beizubehalten und die Schengen-Evaluierung nicht zu einer Art «Aufsichtsinstrument» der Europäischen Kommission zu machen11. Dies setzt u.a. voraus, dass den Staaten im Evaluierungsverfahren weiterhin wesentliche Entscheidungsbefugnisse zukommen. Die Verordnung (EU) 2022/922 erfüllt diese Forderung. Zwar nimmt die Europäische Kommission auch unter dem neuen Regime eine zentrale Rolle im Evaluierungsprozess wahr (Koordinationsverantwortung für die Planung und Durchführung), und die Kommission kann neu mit dem Bericht grundsätzlich auch die dazugehörigen Empfehlungen verabschieden. Doch verbleibt die Befugnis zur Annahme der Empfehlungen in wichtigen Fällen weiterhin beim Rat der EU und unterliegt die Beschlussfassung der Kommission ansonsten durchwegs einem Zustimmungsvorbehalt seitens der Schengen-Staaten12.

Aus genereller Perspektive sei schliesslich darauf hingewiesen, dass das Bestehen eines wirksamen Mechanismus zur Bewertung der Anwendung des Schengen-Besitzstands einen grossen Mehrwert darstellt. Da die Zusammenarbeit im SchengenVerbund massgeblich vom gegenseitigen Vertrauen zwischen den teilnehmenden Staaten abhängt, trägt die Schengen-Evaluierung dazu bei, eine korrekte und einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen und allfällige Fehlentwicklungen bei der Umsetzung und Anwendung des Schengen-Besitzstands zu erkennen und zu korrigieren. Darüber hinaus lassen sich aus den Ergebnissen der Evaluierung mitunter auch wichtige Rückschlüsse im Hinblick auf inhaltliche Anpassungen des SchengenBesitzstands ziehen, etwa um normative Unklarheiten zu beseitigen oder allfällige Regelungslücken zu schliessen. Dies ist im wohlverstandenen Interesse aller teilnehmenden Staaten.

1.3

Verfahren zur Übernahme der Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands

Gestützt auf Artikel 2 Absatz 3 SAA ist die Schweiz grundsätzlich verpflichtet, alle Rechtsakte, welche die EU seit der Unterzeichnung des SAA am 26. Oktober 2004 als Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands erlassen hat, zu übernehmen und erforderlichenfalls in das Schweizer Recht umzusetzen.

Die Übernahme einer Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands vollzieht sich nach einem besonderen Verfahren, dessen Grundzüge in Artikel 7 SAA niedergelegt 11

12

Die Schengen-Evaluierung war von Beginn weg als zusätzlicher Mechanismus konzipiert gewesen, der die Aussichtsmittel der Kommission zur Durchsetzung der rechtlichen Vorgaben bei der Anwendung des Schengen-Besitzstands ergänzt. Letzterer steht insbesondere die Vertragsverletzungsklage (Art. 258 AEUV) zur Verfügung, mit welcher sie Rechtsverstösse seitens der Mitgliedstaaten beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) einklagen kann.

Vgl. Ziff. 2.2.5, Kommentar zu Artikel 30.

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sind. Das Verfahren beginnt mit der Verabschiedung des Rechtsakts durch die zuständigen Organe der EU. Gemäss Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe a SAA wird der Schweiz die Verabschiedung einer Weiterentwicklung durch die EU «unverzüglich» notifiziert. Der Bundesrat verfügt sodann über eine Frist von dreissig Tagen, um dem zuständigen Organ der EU (in casu dem Rat der EU) schriftlich mitzuteilen, ob und gegebenenfalls innert welcher Frist die Schweiz die Weiterentwicklung übernimmt. Die dreissigtägige Frist beginnt mit der Annahme des Rechtsakts durch die EU zu laufen.

Soweit der zu übernehmende Rechtsakt, wie dies vorliegend für die Verordnung (EU) 2022/922 der Fall ist, rechtlich verbindlich ist, bilden die Notifizierung durch die EU und jene durch die Schweiz einen Notenaustausch, der aus Sicht der Schweiz als völkerrechtlicher Vertrag zu qualifizieren ist. Im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben muss dieser Vertrag entweder vom Bundesrat oder vom Parlament und, im Fall eines Referendums, vom Volk genehmigt werden.

Ist die Bundesversammlung für die Genehmigung des Notenaustauschs zuständig, muss die Schweiz der EU in ihrer Antwortnote mitteilen, dass die betreffende Weiterentwicklung für sie erst «nach Erfüllung ihrer verfassungsrechtlichen Voraussetzungen rechtsverbindlich wird» (Art. 7 Abs. 2 Bst. b SAA). In diesem Fall verfügt die Schweiz für die Übernahme und Umsetzung der Weiterentwicklung über eine Frist von höchstens zwei Jahren, die ab der Notifizierung des Rechtsakts durch die EU zu laufen beginnt. Innerhalb dieser Frist muss auch eine allfällige Referendumsabstimmung stattfinden. Sind alle verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, so unterrichtet die Schweiz die EU unverzüglich in schriftlicher Form. Ist das innerstaatliche Verfahren bereits vorher zu Ende (z.B. mit dem unbenützten Ablauf der 100-tägigen Referendumsfrist), so verkürzt sich die Frist entsprechend. Diese Mitteilung, die vom Bund vorzunehmen ist, kommt in Bezug auf die Übernahme des jeweiligen Rechtsakts der Ratifizierung des Notenaustauschs gleich, welcher damit in Kraft tritt.

Im vorliegenden Fall wurde die Verordnung (EU) 2022/922 der Schweiz am 16. Juni 2022 notifiziert. Der Bundesrat beschloss am 17. August 2022, die Verordnung unter Vorbehalt der «Erfüllung der verfassungsmässigen Voraussetzungen» zu
akzeptieren, und notifizierte dem Rat der EU seinen Beschluss am selben Tag. Die Übernahmefrist von höchstens zwei Jahren endet damit spätestens am 16. Juni 2024. Eine allfällige Nichtübernahme der Verordnung (EU) 2022/922 würde das Verfahren nach Artikel 7 Absatz 4 SAA auslösen, welches im äussersten Fall zur Beendigung der Zusammenarbeit von Schengen (und damit automatisch auch von Dublin, vgl. Art. 14 Abs. 2 des Dublin-Assoziierungsabkommens, DAA13) führen kann.

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SR 0.142.392.68

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1.4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 29. Januar 202014 zur Legislaturplanung 2019­2023 noch im Bundesbeschluss vom 21. September 2020 über die Legislaturplanung 2019­202315 angekündigt.

Die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 steht mit Ziel 5.3 der aussenpolitischen Strategie des Bundesrates 2020­202316 in Einklang, wonach die Schweiz ihre Assoziierung an Schengen/Dublin nutzt, um ihre Interessen in der Bekämpfung von Kriminalität und irregulärer Migration sowie beim Grenzschutz auf europäischer Ebene einzubringen. Mit der Beteiligung am Instrument der Schengen-Evaluierung leistet die Schweiz einen wichtigen Beitrag zum guten Funktionieren des SchengenRaumes und trägt so auch zur Stärkung der Sicherheit der Schweiz und Europas bei.

Die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 ist schliesslich auch angezeigt, um den Verpflichtungen der Schweiz aus dem SAA nachzukommen (vgl. oben, Ziff. 1.3).

2

Vernehmlassungsverfahren

Gestützt auf Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 200517 wurde vom 26. Oktober 2022 bis zum 6. Februar 2023 eine Vernehmlassung durchgeführt. Zur Stellungnahme wurden die Kantone, die politischen Parteien, die gesamtschweizerischen Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete sowie der Wirtschaft eingeladen.

Die Vorlage hat zu relativ wenigen Stellungnahmen, die zudem relativ allgemein und kurz ausgefallen sind, Anlass gegeben. Von insgesamt 48 konsultierten Institutionen sind 28 Vernehmlassungsantworten eingegangen. Es haben sich 22 Kantone, vier Parteien und zwei Verbände geäussert. Davon haben drei Kantone (OW, GL, GR) und zwei Verbände (Schweizerischer Arbeitgeberverband; Schweizerischer Gemeindebund) auf eine inhaltliche Stellungnahme ausdrücklich verzichtet.

Insgesamt ist die Vorlage bei den Vernehmlassungsteilnehmern auf breite Zustimmung gestossen. So sind 19 Kantone (BE, UR, NW, ZG, FR, SO, JU, BS, BL, SH, AI, SG, AG, TG, TI, VD, VS, NE, GE) und drei Parteien (SP, Die Mitte, FDP) mit der Vorlage insgesamt einverstanden. Einzig die SVP lehnt die Vorlage ab.

Während einige Kantone (ZG, FR, SO, JU, BS, AI, SG und TG) die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 ohne weitergehende Bemerkungen begrüssen, verweist die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer (BE, UR, NW, BL, SH, AG, TI, VD, VS, NE, GE sowie Die Mitte, FDP und SP) auf verschiedene Neuerungen im Evaluierungsmechanismus, die sie als positiv bewerten. Zunächst betont die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer die grundlegende Bedeutung, die einem starken Über14 15 16 17

BBl 2020 1777 BBl 2020 8385 www.eda.admin.ch > Aussenpolitik > Strategien und Grundlagen > Aussenpolitische Strategie 2020­2023 SR 172.061

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prüfungsmechanismus für das gute Funktionieren des Schengen-Raumes zukommt.

Besonders hervorgehoben und begrüsst werden dabei die Tatsache, dass die Wirksamkeit, Flexibilität und Effizienz des Überprüfungsmechanismus insgesamt erhöht (UR, NW, BL, AG, SH, VS, NE, GE, Die Mitte, FDP, SP) und das Verfahren beschleunigt wird (explizit UR, SH, NE und die SP). Ausdrücklich begrüsst wird Einführung des Dringlichkeitsverfahrens bei schwerwiegenden Mängeln (FDP, SP).

Drei Kantone (VS, NE, GE) sowie Die Mitte und die FDP würdigen den Umstand positiv, dass das Grundprinzip der Bewertung unter Gleichgestellten (peer-to-peer) und damit eine starke Stellung der Schengen-Staaten in der Verordnung (EU) 2022/922 bewahrt wird. Die SP hätte sich demgegenüber ein stärker vertikal ausgestaltetes Aufsichtsinstrument der Europäischen Kommission gewünscht. Sie befürchtet, dass ein System der gegenseitigen Bewertung unter Gleichgestellten eher dazu führt, dass sich die Schengen-Staaten mit kritischen Bewertungen zurückhielten, was dem Ziel einer sachlichen und unabhängigen Evaluierung abträglich wäre. Entsprechend fordert sie dies bei allfälligen künftigen Verhandlungen zur Anpassung des Mechanismus zu berücksichtigen, während Die Mitte generell dafürhält, die Mitwirkungs- und Entscheidungsbefugnisse der Schengen-Staaten zu erhalten und nach Möglichkeit zu stärken.

Ebenfalls positiv hervorgehoben wurde in den Vernehmlassungsantworten die vorgesehene Erhöhung der Verfügbarkeit von Sachverständigen durch die Einrichtung eines Expertenpools (BE, UR, AG) sowie die Schaffung eines gemeinsamen Ausbildungsangebots für diese (BE, VD).

Die Kantone UR, NE sowie die FDP und die SP zeigten sich ferner erfreut über die vorgeschlagene Erhöhung des Umsetzungsdrucks im Follow-up-Verfahren. Die SP betont die Notwendigkeit eines griffigen Überprüfungs- und Evaluierungsmechanismus insbesondere vor dem Hintergrund von Berichten über Grundrechtsverletzungen durch die Europäische Grenzschutzagentur Frontex.

Drei Kantone (BE, SH und VD) verweisen darauf, dass mit den Neuerungen im Mechanismus der Schengen-Evaluierung möglichweise auch neue Belastungen für die Kantone verbunden sind. Während der Kanton VD deshalb die Notwendigkeit betont, die Kosten und den Verwaltungsaufwand bei der Entsendung von Sachverständigen aus den Kantonen im Auge
zu behalten, erwartet der Kanton BE vom Bund, dass die Kantone durch die möglicherweise höhere zeitliche Belastung der nationalen Sachverständigen so wenig wie möglich zusätzlich belastet werden.

Die SVP lehnt die Vorlage ab. Sie verweist zunächst auf grundsätzliche Überlegungen, die bereits für sich alleine eine prinzipielle Ablehnung der Vorlage rechtfertigten.

Aus Sicht der Partei handelt es sich bei der Verordnung (EU) 2022/922 erneut um eine technokratische Weiterentwicklung, deren Konsequenzen unsicher seien und der eine genügende demokratische Legitimation fehle. Es sei symptomatisch, dass das Europäische Parlament lediglich informell konsultiert worden sei. Zudem müsse die Schweiz diese Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes «mit dem Messer am Hals» übernehmen, ansonsten sie die vollständige Kündigung der Zusammenarbeit riskiere, obwohl die Verordnung wichtige rechtsetzende Bestimmungen im Sinne von Artikel 164 Absatz 1 Bundesverfassung enthalte. Im Weiteren sieht die SVP im Umstand, dass die Europäische Kommission Empfehlungen annehmen kann, eine weitere 12 / 48

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Aufsplitterung der Entscheidungskompetenzen der Mitgliedstaaten, welche sie ablehnt. Schliesslich führt die Vorlage aus Sicht der SVP zu einer «unnötigen Vergrösserung des Verwaltungsaufwands und der Bürokratie», namentlich durch die Einrichtung des Sachverständigenpools.

Entsprechend dem Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens musste die Vorlage nicht angepasst werden. Die Ergebnisse der Vernehmlassung können dem Ergebnisbericht18 entnommen werden.

3

Grundzüge der Vorlage

Der vorliegende Entwurf eines Bundesbeschlusses hat allein die Genehmigung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zum Gegenstand, mit welchem die Verordnung (EU) 2022/922 als Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands übernommen wird. Einer Anpassung des schweizerischen Rechts zur Umsetzung bedarf es dagegen nicht, da die Verordnung direkt anwendbare Vorschriften enthält, die mit keiner Bestimmung des schweizerischen Rechts in Widerspruch stehen. Im Folgenden wird daher der Inhalt der zu übernehmenden Verordnung vorgestellt.

3.1

Überblick über den Inhalt der zu übernehmenden Verordnung (EU) 2022/922

Die Verordnung (EU) 2022/922 ersetzt die Verordnung (EU) Nr. 1053/2013, welche die aktuelle Rechtsgrundlage für die Schengen-Evaluierung darstellt. Die neue Verordnung übernimmt die wesentlichen Grundsätze und Prinzipien des bisherigen Verfahrens und präzisiert und ergänzt diese an einigen Stellen. Wesentliches Ziel der Reform war es, das Verfahren insgesamt rationeller und wirksamer zu gestalten und den Mechanismus mit der notwendigen Flexibilität auszustatten, um eine möglichst bedarfsgerechte Nutzung des zur Verfügung stehenden Instrumentariums zu gewährleisten. Die wichtigsten Eigenheiten des neuen Regimes können auf folgende Aspekte zusammengefasst werden: Rechtsnatur und Gegenstand der Schengen-Evaluierung Die Rechtsnatur und der Gegenstand des Verfahrens bleiben unverändert. Im Rahmen der Schengen-Evaluierung wird die ordnungsgemässe Umsetzung und Anwendung des Schengen-Besitzstands durch angehende und bestehende Schengen-Staaten bewertet. Aspekte, die keine Grundlage im Schengen-Besitzstand haben, werden vom Mechanismus grundsätzlich nicht erfasst, auch wenn diese für die evaluierten Staaten rechtsverbindlich sind. So wird etwa die Einhaltung der aus dem Dublin/EurodacBesitzstand fliessenden Verpflichtungen nicht im Rahmen des vorliegenden Mechanismus überprüft.

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Die Schengen-Evaluierung bleibt ein Bewertungsverfahren unter gleichgestellten Partnern («peer-to-peer»). Die Schengen-Evaluierung stellt ein Verfahren sui generis dar und ergänzt die Aufsichtsmittel, die der Europäischen Kommission in ihrer Funktion als «Hüterin der Verträge» zur Verfügung stehen, um die Einhaltung der aus dem Schengen-Besitzstand fliessenden Verpflichtungen durchzusetzen19. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Europäische Kommission neuerdings nicht nur (wie bisher) die Berichte, sondern in der Regel auch die dazu gehörenden Empfehlungen annimmt (Art. 20). Denn zum einen unterliegen alle Beschlüsse der Europäischen Kommission einem Zustimmungsvorbehalt seitens der Schengen-Staaten (Art. 30). Andererseits bleibt der Rat der EU in «wichtigen» Fällen für die Verabschiedung der Empfehlungen zuständig (Art. 20 Abs. 5, 22 Abs. 4 und 23 Abs. 2). Damit verfügen die Mitgliedstaaten weiterhin über wesentliche Entscheidungsbefugnisse.

Formen der Evaluierung Der überkommene Kanon der Evaluierungstypen ­ «regelmässige Evaluierung», «erstmalige Evaluierung», «thematische Evaluierung» und «unangekündigte Evaluierung» ­ wird beibehalten. Auch an der konzeptionellen Ausgestaltung dieser Evaluierungsformen ändert sich grundsätzlich nichts. Neu werden zwar die Ziele und Voraussetzungen für deren Einsatz in der Verordnung deutlicher angesprochen (Art. 5), doch verbleibt der Europäischen Kommission weiterhin ein grosser Ermessenspielraum - namentlich bei der Entscheidung, ob eine unangekündigte Evaluierung organisiert werden soll.

Ablauf einer Evaluierung Der Verfahrensablauf einer Evaluierung bleibt in seinen Grundzügen unverändert.

Kernelement ist der Besuch eines Teams von Sachverständigen, welches die Situation vor Ort auf allfällige Mängel hin untersucht (erste Phase: fact finding). Die Besuche werden aus organisatorischen Gründen nach Bereichen getrennt durchgeführt. Die Ergebnisse der Überprüfungen werden in einem Bericht detailliert festgehalten und bewertet; auf dieser Grundlage werden sodann konkrete Handlungsanweisungen zur Beseitigung der entdeckten Mängel (sog. Empfehlungen) formuliert (zweite Phase).

Die Umsetzung der Empfehlungen (sog. Follow-up: dritte Phase) muss der evaluierte Staat gestützt auf einen Aktionsplan in Angriff nehmen und in regelmässigen Abständen zum Stand der Umsetzung Bericht erstatten. Schliesslich fliessen die Ergebnisse einer Evaluierung stets in die Planung der nächsten Evaluierung im jeweiligen Bereich ein.

19

Gegenüber den EU-Mitgliedstaaten ist dies die Vertragsverletzungsklage (Art. 258 AEUV) und gegenüber den an Schengen assoziierten Staaten das in den jeweiligen Assoziierungsabkommen verankerte Streitbeilegungsverfahren (vgl. für die Schweiz: Art. 10 SAA).

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Dieser Ablauf gilt für alle Evaluierungsformen, auch wenn die konkreten Verfahrensmodalitäten teilweise unterschiedlich sind. Eine wesentliche Neuerung stellt das Dringlichkeitsverfahren (Art. 22) dar, das bei Entdeckung schwerwiegender Mängel greift und im Interesse einer möglichst zeitnahen Beseitigung ebendieser Mängel die «normale» Verfahrensdauer praktisch halbiert.

Evaluierungs- und Expertenplanung Die «regelmässige Evaluierung», die «erstmalige Evaluierung» sowie die «thematische Evaluierung» sind Gegenstand der gemeinsamen (Mehr-)Jahresplanung (Art. 12­13)20. Die Kommission muss ihre Vorschläge auch inskünftig mit den Schengen-Staaten abstimmen, dabei aber auch die Expertise der einschlägigen EU-Agenturen und sonstigen Einrichtungen in die Planung einbeziehen. Aber auch Informationen, welche von Seite Dritter ­ etwa von Nichtregierungsorganisationen oder von Beschwerde führenden Privatpersonen ­ an die Europäische Kommission herangetragen werden, sollen unter bestimmten Voraussetzungen in die Planung der Besuche einfliessen können (Art. 11). Neu ist, dass sich die Mehrjahresplanung auf einen Zeitraum von sieben Jahren (anstatt von fünf Jahren) erstreckt, mit dem klaren Ziel, unangekündigte und thematische Evaluierungen inskünftig bei Bedarf sehr viel häufiger durchführen zu können als bisher.

Die wichtigste Neuerung betrifft den Bereich der Expertenplanung: Neu wird parallel zur jeweiligen Jahresplanung ein Pool von Sachverständigen geschaffen, zu dem die Schengen-Staaten jährlich mindestens eine Expertin oder einen Experten pro Bereich beisteuern und grundsätzlich für die Dauer eines Kalenderjahres verfügbar halten müssen (Art. 17). Diese Massnahme soll zusammen mit dem Ausbildungsangebot, das die Europäische Kommission neu explizit in sämtlichen Bereichen bereitstellen 20

Demgegenüber obliegt die Planung von «unangekündigten Evaluierungen» weiterhin allein der Europäischen Kommission.

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muss, dazu beitragen, die Verfügbarkeit der nationalen Expertinnen und Experten für die im Folgejahr vorgesehen Einsatze der Evaluierungsteams zu verbessern.

Besuche Die Vor-Ort-Besuche durch die Evaluierungsteams bilden auch unter dem neuen Regime die wichtigste Methode der Informationsgewinnung. Zwar sind neben reinen fragebogenbasierten Evaluierungen auch andere Fernmethoden explizit möglich (Art. 6), doch werden diese in der Praxis auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben.

Bei der genauen Zusammensetzung der Teams, an welchen auch Vertreterinnen und Vertreter von einschlägigen Institutionen der EU (insb. Frontex und Europol) als Beobachter teilnehmen können, verfügt die Europäische Kommission über einen weit gefassten Spielraum (Art. 18). Allerdings ist die maximale Anzahl der Kommissionsvertreter wie bisher auf zwei Sachverständige beschränkt. Bei den nationalen Expertinnen und Experten wird (anstatt einer Höchstzahl) neu eine Mindestbeteiligung von drei Sachverständigen verlangt, womit die benötigte Anzahl von Sachverständigen einfacher an die konkreten Bedürfnisse der Ortsbesichtigung anpasst werden kann (Art. 18). Neu kann zudem auch ein Sachverständiger zu Schulungszwecken teilnehmen, allerdings nur bei regelmässigen Evaluierungen (Art. 16 Abs. 2).

Unangekündigte Evaluierungen werden dem betroffenen Schengen-Staat in der Regel mindestens 24 Stunden vor Beginn des Besuchs angekündigt (Art. 19 Abs. 4). Ausgenommen sind Besuche an den Binnengrenzen, welche stets ohne Vorankündigung durchgeführt werden. Zudem kann die Europäische Kommission neu auf eine Vorankündigung verzichten, wenn zu befürchten ist, dass es zu schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen gekommen ist.

Berichte und Empfehlungen Wie bisher werden die anlässlich des Besuchs gemachten Feststellungen in einem Bericht dokumentiert und bewertet. Gleichwohl ist der neue Mechanismus durch zwei wesentliche Neuerungen gekennzeichnet: Zum einen werden Bericht und Empfehlungen von der Europäischen Kommission gemeinsam verabschiedet, soweit die Befugnis zur Verabschiedung der Empfehlungen nicht weiterhin dem Rat vorbehalten ist (Art. 20 Abs. 5, 22 Abs. 4 und 23 Abs. 2). Zum anderen werden für alle Akteure verbindliche Fristen eingeführt, die die einzelnen Verfahrensschritte nach dem jeweiligen Ortsbesuch erheblich beschleunigen. Im Normalfall
sollen die Empfehlungen innerhalb von 4 Monaten, bei schwerwiegenden Mängeln (Art. 22) sogar innert 10 Wochen vorliegen.

Umsetzung der Empfehlungen (sog. Follow-up) Auch im letzten Verfahrensabschnitt, der sich den notwendigen Folgearbeiten widmet, sind drei wichtige Neuerungen zu verzeichnen: So werden erstens die Intervalle für die Berichterstattung über den Stand der Umsetzung der Empfehlungen von bisher drei auf grundsätzlich sechs Monate verlängert (Art. 21) ­ ausser bei schwerwiegenden Mängeln, wo der Rat kürzere Fristen vorgeben kann. Zweitens werden die der Kommission zur Verfügung stehenden Aufsichtsmittel erweitert. Um den genauen Stand der Umsetzung der im Aktionsplan in Aussicht gestellten Behebungsmassnahmen zu verifizieren, werden bei Vorliegen schwerwiegender Mängel oder bei erstma16 / 48

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ligen Evaluierungen nochmalige Ortsbesuche durchgeführt, deren Ergebnisse unter Umständen wiederum in einen Bericht und Empfehlungen münden können (Art. 22 Abs. 7, Art. 23 Abs. 4). Darüber hinaus kann die Europäische Kommission neu einen sog. Überprüfungsbesuch (ggfs. auch ohne Vorankündigung) durchführen, bevor sie den Aktionsplan als «umgesetzt» erklärt (Art. 5 iVm. Art. 19 Abs. 4); im Falle schwerwiegender Mängel und explizit auch bei erstmaligen Evaluierungen sind Überprüfungsbesuche Pflicht. Drittens obliegt die definitive Entscheidung über die Beendigung einer Evaluierung im Falle schwerwiegender Mängel oder bei erstmaligen Evaluierungen neu dem Rat, der die Einschätzung der Europäischen Kommission formell bestätigen muss (Art. 22 Abs. 9, Art. 23 Abs. 5).

Politische Begleitung («Schengen Governance») Ein wichtiges Ziel der Revision ist auch eine Stärkung der Rolle des Ministerrates und des Europäischen Parlaments. Auf der Basis einer (halb)-jährlichen Berichterstattung der Europäischen Kommission zu den Ergebnissen der Evaluierungen bzw. zum jeweiligen Stand der Umsetzung der ausgesprochenen Empfehlungen soll das Problembewusstsein und die politische Wahrnehmung für das Funktionieren des SchengenRaumes geschärft und Rat und Parlament in die Lage versetzt werden, bei Bedarf in geeigneter Form zu reagieren («Schengen Gouvernance»).

3.2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Verordnung (EU) 2022/922

3.2.1

Allgemeine Bestimmungen

Die allgemeinen Bestimmungen der Verordnung (EU) 2022/922 beschreiben die Ziele und den Geltungsbereich des Mechanismus (Art. 1), enthalten Begriffsbestimmungen (Art. 2), legen die grundlegenden Zuständigkeiten der Hauptakteure (Kommission und Schengen-Staaten) im Evaluierungsverfahren fest und statuieren eine gegenseitige Pflicht zur Zusammenarbeit (Art. 3). Neu hinzugekommen sind Bestimmungen zu den Formen und Methoden der Evaluierungs- und Überwachungstätigkeiten (Art. 4­6), zum Einbezug von Agenturen und sonstigen Stellen der EU in die Planung und Durchführung von Evaluierungen sowie zum Umgang mit Informationen von Seiten Dritter (Art. 7­11).

Artikel 1

Gegenstand und Anwendungsbereich

Nach Absatz 1 dieser Bestimmung dient der Evaluierungsmechanismus dem Ziel. sicherzustellen, dass die geltenden Vorgaben des Schengen-Besitzstands in allen beteiligten Staaten eingehalten werden. Das gegenseitige Vertrauen auf eine allseits wirksame und korrekte Rechtsanwendung ist eine wichtige Grundvoraussetzung für das gute Funktionieren des Schengen-Raumes, der ja bekanntlich als ein Raum ohne Binnengrenzkontrollen konstituiert ist.

Absatz 2 ruft sodann die beiden grundlegenden Tätigkeitsfelder der Schengen-Evaluierung in Erinnerung, nämlich die Überprüfung der Anwendung des SchengenBesitzstands in den an Schengen teilnehmenden Staaten (Bst. a) sowie die Überprü17 / 48

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fung der Bereitschaft zur Anwendung des Schengen-Rechts in jenen Staaten, die in den Schengen-Raum neu eintreten wollen (Bst. b). In diesem Zusammenhang wird (die Selbstverständlichkeit) festgehalten, dass das Inkrafttreten der neuen Verordnung nicht dazu führt, dass die eintrittswilligen Staaten, die sich unter dem bisherigen Regime bereits einer erstmaligen Evaluierung unterzogen haben und deren Verfahren von der Europäischen Kommission als abgeschlossen erklärt worden ist, sich nochmals einer solchen Eintrittsevaluierung unterziehen müssen.21 Absatz 3 präzisiert den Gegenstand der Evaluierungen, nämlich die Überprüfung der Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands durch die SchengenStaaten. Gegenstand der Evaluierung ist das dem jeweiligen Schengen-Staat zurechenbare Handeln22. Für eine eigenständige, direkte Evaluierung der Aktivitäten der im Schengen-Bereich tätigen EU-Institutionen (EU-Agenturen wie z.B. Frontex) findet sich demgegenüber in der Verordnung (EU) 2022/922 keine Grundlage.23 Absatz 3 stellt zudem klar, dass ­ wie dies bisher der Fall war ­ alle relevanten Aspekte beleuchtet werden, die für ein gut funktionierendes System bedeutsam sind. Dazu gehört auch die Funktionsweise der anwendenden Behörden.24 Da aufgrund seines Umfangs nicht die Anwendung des gesamten Schengen-Besitzstands im Rahmen einer einzigen Evaluierung überprüft werden kann, werden (in nicht abschliessender Weise) zudem die Bereiche genannt, welche normalerweise im Rahmen eines Evaluierungsbesuches überprüft werden können. Es sind dies im Wesentlichen die bereits heute bekannten Bereiche («Aussengrenzen», «Binnengrenzen», «Visapolitik», «Rückkehr», «polizeiliche Zusammenarbeit», «justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen» und «Datenschutz»); einzig der Bereich «SIS/Sirene» wird inhaltlich weitergefasst und erfasst neu alle «IT-Grosssysteme» zur Anwendung 21

22

23

24

Nach dem Eintritt Kroatiens in den Schengen-Raum per 1. Januar (vgl. Beschluss (EU) 2022/2451 des Rates v. 8. Dezember 2022, ABl. L 230 v. 14.12.2022, S. 41) betrifft dies konkret Rumänien und Bulgarien, deren Eintrittsevaluierung bereits abgeschlossen ist, aber in Bezug auf die der Beschluss des Rates zur Inkraftsetzung des Schengen-Besitzstands noch aussteht. Demgegenüber wird Zypern, der dritte eintrittswillige EU-Mitgliedstaat, von dieser Bestimmung nicht erfasst, da dessen erstmalige Evaluierung derzeit noch im Gang ist.

Dem jeweiligen Staat zurechenbar sind entsprechend auch Aktivitäten von nichtstaatlichen Akteuren (etwa von privaten Dienstleistungserbringern im Visumverfahren), soweit diese zur staatlichen Aufgabenerfüllung herangezogen werden (vgl. Präambel, Begründungserwägung Nr. 7).

Für diesen Zweck bestehen in den jeweiligen Rechtsgrundlagen der Agenturen spezifische Bewertungsverfahren. Das schliesst allerdings nicht aus, dass eine indirekte Überprüfung und Bewertung der Tätigkeiten der EU-Agenturen bei der Anwendung des Schengen-Besitzstands im Rahmen der Evaluierung der Schengen-Staaten vorgenommen wird und auch im Bericht ersichtlich ist. Sollten in diesem Rahmen Mängel festgestellt werden, so ist die Europäische Kommission gehalten, diese den entsprechenden Leitungsgremien und dem Rat zur Kenntnis zu bringen (vgl. Präambel, Begründungserwägung Nr. 8).

Selbstverständlich bedeutet diese Festlegung nicht, dass im Rahmen der Schengen-Evaluierung der Schweiz neue Verpflichtungen auferlegt werden könnten, die sich z.B. auf die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen oder die Behördenstruktur für die Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe auswirken; denn soweit sich dem SchengenBesitzstand selbst keine klaren institutionell-organisatorischen Vorgaben entnehmen lassen, können diese auf dem Weg der Schengen-Evaluierung auch nicht eingefordert werden. Vielmehr würden entsprechende Feststellungen bestenfalls im Sinne einer (nicht verbindlichen) Empfehlung an die Schweiz gerichtet.

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des Schengen-Besitzstands, um der Weiterentwicklung der letzten Jahre Rechnung zu tragen. Diese Bereiche definieren indessen nicht den sachlichen Anwendungsbereich des Evaluierungsverfahrens, sondern sind vielmehr als organisatorische Vorgaben zu verstehen. Sie entfalten ihre Bedeutung insbesondere im Hinblick auf die Strukturierung der Ausbildung der Sachverständigen und die Bestimmung des erforderlichen Anforderungsprofils für die vorgesehenen Besuche vor Ort. Die Europäische Kommission kann die notwendigen Feinjustierungen (z.B. die Definition allfälliger Unterbereiche) im Rahmen der Festlegung des Mehrjahresprogrammes vornehmen (vgl.

Art. 12).

Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Während die bisherige Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 lediglich den Begriff des Schengen-Besitzstands definierte, sind in der vorliegenden Verordnung eine ganze Reihe von Legaldefinitionen zu finden. Allerdings sind die meisten Begriffsbestimmungen aus sich selbst heraus verständlich. Es sei daher lediglich auf die nachfolgenden Aspekte hingewiesen.

25

26

27 28

­

Der Schlüsselbegriff des «Schengen-Besitzstands» wird in Ziffer 1 unverändert übernommen. Erfasst werden alle Bestimmungen, welche seinerzeit in den institutionellen Rahmen der EU einbezogen wurden ­ im Wesentlichen also das Schengen-Abkommen25, das Schengener Durchführungsabkommen26 und das darauf gestützte Sekundärrecht27 ­ sowie alle Bestimmungen des EU-Sekundärrechts, welche die EU danach als Weiterentwicklungen verabschiedet hat und noch verabschieden wird. Im Verhältnis zur Schweiz können die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands selbstredend nur insoweit Gegenstand eines Evaluierungsverfahrens sein, als sie zum Zeitpunkt des Besuchs vor Ort für die Schweiz anwendbar sind.

­

Die Ziffern 2 bis 5 enthalten die Definition der überkommenen vier Formen einer Evaluierung. Es sind dies zum einen die drei Formen der Evaluierungen, die auch Gegenstand der gemeinsamen Planung sind (vgl. Art. 13 Abs. 2): die «regelmässige Evaluierung», mit der turnusgemäss die Gesamtleistung eines bestimmten Schengen-Staates bei Anwendung des Schengen-Besitzstands bewertet wird; die «erstmalige Evaluierung», mit der der Bereitschaftsgrad eines «beitrittswilligen» Staates im Hinblick auf dessen künftige Beteiligung an der Schengen-Zusammenarbeit überprüft wird28; und die «thematische Evaluierung», welche der gezielten Bewertung der Anwendung bestimmter Aspekte Übereinkommen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der BeneluxWirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, ABl. L 239 v. 22.9.2000, S. 13.

Übereinkommen vom 19. Juni 1990 zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik, dem Grossherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985, ABl. L 239 v. 22.9.2000, S. 19.

Diese Abkommen und Rechtsakte des «originären» Schengen-Besitzstands sind in Anhang A des SAA aufgelistet.

Eine solche erstmalige Evaluierung findet derzeit für Zypern («Vollbeitritt») sowie Irland (Beteiligung am SIS und einigen Instrumenten der polizeilichen Zusammenarbeit) statt.

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des Schengen-Besitzstands in allen oder mehreren Schengen-Staaten dient.

Zum anderen können Evaluierungen auch «unangekündigt» durchgeführt werden. Diese Evaluierung, deren Planung allein der Europäischen Kommission vorbehalten ist, kann sich auf einen oder mehrere Aspekte des SchengenBesitzstands beziehen und gegebenenfalls auch mehrere Schengen-Staaten gleichzeitig erfassen. Dies kann im Hinblick auf das Anstellen von Quervergleichen zwischen den Staaten interessant sein.

­

In den Ziffern 6­8 werden die Begriffe «Besuch», «erneuter Besuch» und «Überprüfungsbesuch» definiert. Während ersterer im Rahmen der Verordnung (EU) 2022/922 als Überbegriff verwendet wird und alle Ortbesichtigungen meint, die zum Zwecke einer Evaluierung oder zur Überprüfung der Umsetzung eines Aktionsplanes durchgeführt werden, bezeichnen die beiden anderen Begriffe Sonderformen, die unter bestimmten Umständen während des Follow-up zur Anwendung gelangen. Ein «erneuter Besuch» stellt dabei eine Wiederholung eines Evaluierungsbesuchs dar, der obligatorisch durchzuführen ist, wenn im Rahmen einer Evaluierung schwerwiegende Mängel offenbar wurden oder wenn bei einer erstmaligen Evaluierung festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Schengen-Besitzstands noch nicht erfüllt sind. Ein erneuter Besuch führt daher zwingend zur Annahme eines weiteren Berichts und gegebenenfalls von Empfehlungen (Art. 22 Abs. 7 und 8; Art. 23 Abs. 4). Demgegenüber beschränkt sich ein «Überwachungsbesuch» auf die Vor-Ort-Überprüfung der Angaben des Aktionsplanes bzw. der Fortschritte bei dessen Umsetzung, ohne dass zwingend ein schriftlicher Bericht erstellt werden muss. Ziel des Überwachungsbesuchs ist es zu eruieren, ob die Umsetzung des Aktionsplans als abschlossen betrachtet werden kann und die Evaluierung damit zu Ende ist.

­

Ziffern 9 und 10 übernehmen zwei zentrale Begriffsbestimmung aus dem Leitfaden zur Schengen-Evaluierung in den Text der Verordnung. Zum einen wird klargestellt, dass die in einem Evaluierungsbericht enthaltene Bewertung eines festgestellten Sachverhalts als «nicht konform» (vgl. Art. 20 Abs. 3 Bst. c) voraussetzt, dass ein Verstoss gegen eine rechtlich bindende Bestimmung des Schengen-Besitzstands vorliegt. Widerhandlungen gegen rechtlich nicht bindende Standards (z.B. Empfehlungen, Handbücher mit «soft law»-Charakter) vermögen daher diese Qualifizierung nicht auszulösen, sondern werden mit dem Begriff «Verbesserung erforderlich» angesprochen (vgl. Art. 20 Abs. 3 Bst. b). Zum anderen wird ­ wenn auch in relativ allgemeiner Form ­ definiert, was unter einem schwerwiegenden Mangel, dessen Vorliegen besondere verfahrensmässige Konsequenzen nach sich zieht (Art. 22), zu verstehen ist.

Um als schwerwiegend qualifiziert zu werden, muss ein Mangel als rechtwidrig (nicht konform) bewertet werden und zudem (zumindest potenziell) zu erheblichen negativen Auswirkungen auf die Rechtsposition betroffener Privatpersonen, auf einzelne oder mehrere andere Schengen-Staaten oder auf den Schengen-Raum als Ganzes führen.

­

In den Ziffern 11­13 wird zum einen definiert, wer in einem Team zwecks Durchführung der Evaluierungs- und Überwachungstätigkeiten teilnimmt, nämlich Sachverständige aus dem Schengen-Staaten und Vertreter der Euro-

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päischen Kommission. Zum andern werden zwei weitere Personenkategorien definiert, die zwar nicht Teil eines Teams sind, aber unter bestimmten Voraussetzungen dennoch an einem Besuch teilnehmen können. Es sind dies Vertreterinnen und Vertreter von EU-Agenturen oder anderen einschlägigen EU-Stellen (Art. 7), die als Beobachter teilnehmen, sowie Sachverständige in Schulung, die zu Ausbildungszwecken an Evaluierungen teilnehmen können (vgl. Art. 18 Abs. 5­7).

Artikel 3

Zuständigkeiten und Pflicht zur Zusammenarbeit

Zunächst legt auch die neue Verordnung fest, dass die Durchführung der SchengenEvaluierung eine gemeinsame Aufgabe der Schengen-Staaten und der Europäischen Kommission darstellt (Abs. 1), weshalb diese in allen Phasen des Verfahrens uneingeschränkt zusammenarbeiten müssen (Abs. 4). Die Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Kommission und den beteiligten Schengen-Staaten bleibt im Wesentlichen bestehen. Der Kommission fällt gemäss Absatz 2 weiterhin die Aufgabe der Gesamtkoordination bei der Planung und Durchführung der Evaluierungen zu.

Neu ist sie aber nicht nur für die Annahme der Berichte, sondern grundsätzlich auch der dazugehörigen Empfehlungen zuständig (Abs. 2 iVm. Art. 22 Abs. 4). Gleichwohl verbleiben dem Rat der EU gemäss Absatz 3 nach wie vor wesentliche Beschlussfassungskompetenzen. Abgesehen davon, dass die Kommission bei ihren Beschlüssen auf die Zustimmung der Schengen-Staaten angewiesen ist (Prüfungsverfahren gemäss Art. 30 Abs. 2), bleibt der Rat der EU für die Verabschiedung der Empfehlungen in wichtigen Fällen weiterhin zuständig. Als wichtig bewertet wird die Verabschiedung der Empfehlungen, die im Rahmen des Dringlichkeitsverfahrens bei Vorliegen schwerwiegender Mängel (Art. 22), des Verfahrens der erstmaligen Evaluierung (Art. 23) oder einer thematischen Evaluierung (Art. 24) ausgesprochen werden oder wenn der evaluierte Staat mit dem Inhalt des Berichts (oder den Empfehlungen) nicht einverstanden ist (Art. 20 Abs. 5). Überdies liegt die Beendigung des Verfahrens nicht mehr allein in der Kompetenz der Europäischen Kommission. So obliegt es neu dem Rat der EU, über die Beendigung des Dringlichkeitsverfahrens oder einer erstmaligen Evaluierung zu beschliessen (Art. 22 Abs. 9, Art. 23 Abs. 5). Schliesslich ist zu erwähnen, dass die Rolle des Rates mit der neuen Verordnung eine Stärkung erfahren hat, indem dieser in der Phase des Follow-up die Umsetzung der Empfehlungen politisch eng begleiten soll (Abs. 5 iVm. Art. 25: «Schengen Governance»).

In Absatz 5 wird den Schengen-Staaten eine allgemeine Kooperationspflicht auferlegt.

So müssen sie ­ wie bisher ­ alle Massnahmen treffen, um der Kommission und den Teams die wirksame Durchführung ihrer Tätigkeiten zu ermöglichen. Dazu gehört auch, den Teams ­ soweit erforderlich ­ einen ungehinderten Zugang zu allen Örtlichkeiten,
Dokumenten und betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mit der Anwendung des Schengen-Besitzstands betraut sind, zum Zwecke der Evaluierung zu gewährleisten (wobei die im nationalen Recht bestehenden Zugangsvoraussetzungen zu Verschlusssachen einzuhalten sind).

Schliesslich übernimmt Absatz 6 die bisherige Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Kommission und dem evaluierten Staat, was die Kostentragung bei Besuchen anbelangt. Die Kommission trägt grundsätzlich die Reise- und Unterbringungskosten für alle beteiligten Personen (Teammitglieder, Beobachter und Sachver21 / 48

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ständige in Schulung), während der evaluierte Staat die übrigen während einer Evaluierung anfallenden Kosten trägt (z.B. für Transporte während des Besuchs oder Simultanübersetzung).

Artikel 4

Formen der Evaluierung

Die Bestimmung benennt in Absatz 1 die vier Formen der Evaluierung29 und präzisiert in den nachfolgenden Absätzen die Voraussetzungen, unter denen erstmalige, thematische und unangekündigte Evaluierungen zum Einsatz gelangen sollen30: ­

Absatz 2 legt für erstmalige Evaluierungen allerdings nur fest, dass diese eine Bereitschaftserklärung des betroffenen Staates voraussetzen, damit sie beginnen können.31

­

In Bezug auf unangekündigte Evaluierungen verfügte die Europäischen Kommission bereits bisher über einen sehr breiten Ermessensspielraum. Dies ist auch weiterhin der Fall. In Absatz 3 werden in einer nicht abschliessenden Aufzählung aber neu immerhin einige Fälle genannt: So kann eine unangekündigte Evaluierung ­ wie bisher ­ zur Überprüfung der Situation an den Binnengrenzen angezeigt sein (Bst. a). Darüber hinaus kann die Kommission jederzeit unangekündigte Evaluierungen organisieren, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass ein Staat seine Verpflichtungen aus dem Schengen-Besitzstand in schwerwiegender Weise vernachlässigt oder wenn sie von anderen Umständen Kenntnis erlangt, die eine schwerwiegende Störung der Funktionsfähigkeit des Schengen-Raums (bzw. eine Gefährdung der inneren Sicherheit oder öffentlichen Ordnung) bedeuten können (Bst. b­c).

­

Gemäss Absatz 4 kann die Europäische Kommission thematische Evaluierungen gezielt dafür nutzen, um z.B. die Umsetzung und Anwendung neuer wichtiger Weiterentwicklungen zu begleiten oder um Quervergleiche zwischen mehreren Staaten herstellen zu können, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Auch hier ist der Gestaltungsspielraum der Kommission aufgrund der nicht abschliessenden Aufzählung weit, doch sind thematische Evaluierungen Gegenstand der Jahresplanung und unterliegen daher letztlich der Zustimmung seitens der Schengen-Staaten (vgl. Art. 13 Abs. 1 i. V. m.

Art. 30).

Den verschiedenen Evaluierungsformen ist nicht durchgängig auch ein eigenes Verfahren zugeordnet. Die Grundform bildet das Verfahren der regelmässigen Evaluierung (Art. 20 f.), an dem sich die erstmalige und die thematische Evaluierung ­ von einigen Sondervorschriften abgesehen (Art. 23 f.) ­ weitgehend orientieren. Für un29 30

31

Siehe auch Kommentierung zu Artikel 2, Ziffer 2­5.

Für regelmässige Evaluierungen erübrigen sich entsprechende Festlegungen, da diese Form nicht ad hoc, sondern nach einem vorgegebenen Turnus im Einklang mit der entsprechenden (Mehr-)Jahresplanung (Art. 12 und 13) durchgeführt werden.

Während für Zypern das Evaluierungsverfahren im Hinblick auf eine vollständige Teilnahme an der Schengen-Zusammenarbeit derzeit bereits im Gang ist, ist die Durchführung einer erstmaligen Evaluierung nur noch für Irland denkbar, das gestützt auf seinen im EU-Primärrecht verankerten Sonderstatus derzeit nur an bestimmten Teilen partizipiert, sich aber inskünftig für die Beteiligung in weiteren Bereichen entschliessen könnte («opt-in-Recht»).

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angekündigte Evaluierungen ist zudem kein Verfahren vorgesehen, ist doch für diesen Typus neben der Planung nur die Verfahrensauslösung (Art. 19 Abs. 4) speziell geregelt32. Im Rahmen jeder Evaluierungsform zur Anwendung gelangen kann schliesslich das Dringlichkeitsverfahren (Art. 22), das mit der Verordnung (EU) 2022/922 neu geschaffen wurde. Dieses Verfahren greift immer dann ein, wenn im Rahmen des entsprechenden Besuchs schwerwiegende Mängel im Sinne von Artikel 2 Ziffer 10 festgestellt werden.

Artikel 5

Formen der Überwachungstätigkeiten

Als Überwachungstätigkeiten sind alle Aktivitäten zu verstehen, die auf die Kontrolle und Bewertung der Massnahmen ausgerichtet sind, die der evaluierte Schengen-Staat zur Umsetzung der Empfehlungen in seinem Aktionsplan in Aussicht gestellt hat. Folgerichtig zählt die Bestimmung zu diesen Überwachungstätigkeiten nicht nur die Überprüfung des Aktionsplanes und die Bewertung der darauf aufbauenden Folgeberichte, die in regelmässigen Abständen zu erstellen sind und den Stand der Umsetzung dokumentieren sollen (Bst. a), sondern auch die erneuten Besuche (Bst. b), die infolge der Erheblichkeit der im Dringlichkeitsverfahren (Art. 22) oder bei einer erstmaligen Evaluierung (Art. 23) festgestellten Mängel durchgeführt werden müssen, auch wenn diese nicht ausschliesslich auf die Behebung der bereits festgestellten Mängel ausgerichtet sind. Erneute Besuche haben nämlich eine hybride Natur, indem sie sowohl eine nochmals gesamthafte Überprüfung der Situation vor Ort ermöglichen (und daher auch zur Ausfertigung eines erneuten Berichts und u.U. von Empfehlungen führen), als auch gezielt auf die Kontrolle der Umsetzung der Massnahmen gerichtet sind, die der evaluierte Staat in seinem Aktionsplan zur Behebung der festgestellten Mängel ausgewiesen hat. Allein auf den letztgenannten Zweck ausgerichtet sind demgegenüber die Überprüfungsbesuche (Bst. c). Diese können von der Europäischen Kommission in jedem Verfahren vor der Entscheidung zur Beendigung des Aktionsplanes organisiert werden, um sicherzugehen, dass der Aktionsplan tatsächlich umgesetzt ist (Art. 21 Abs. 3); die Überprüfungsgesuche sind indessen sowohl im Dringlichkeitsverfahren (Art. 22) als auch bei einer erstmaligen Evaluierung, wenn festgestellt wurde, dass der betreffende Staat die Voraussetzungen für die Anwendung des Schengen-Besitzstands (noch) nicht erfüllt (Art. 23), zwingend.

Artikel 6

Methoden der Evaluierungs- und Überwachungstätigkeiten

Diese Bestimmung verfolgt den Zweck, zu einer möglichst flexiblen Handhabung der Methoden zur Informationsbeschaffung während einer Evaluierung (fact finding) bzw. zur Überwachung der Umsetzung des Aktionsplanes im Follow-up beizutragen.

Grundsätzlich steht allerdings der Besuch vor Ort als Evaluierungsmethode im Vordergrund. Absatz 1 ermöglicht es aber, wenn dies aufgrund der Umstände angezeigt ist, auf reine Fragebogenevaluierungen auszuweichen oder in besonderen Ausnahme32

Obwohl nach der Verordnung (EU) 2022/922 grundsätzlich denkbar, kommen unangekündigte Evaluierungen nur mit Blick auf die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands durch Staaten vor, die dem Schengen-Raum bereits ganz oder teilweise «beigetreten» sind. Für die Durchführung unangekündigter Evaluierungen von «Beitrittskandidaten» während der Dauer einer erstmaligen Evaluierung gab es in der Praxis bisher keinen Anlass.

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situationen auch andere Fernmethoden ­ gedacht wird etwa an Videokonferenzen in Zeiten von Reisebeschränkungen ­ zur Anwendung zu bringen. Dies soll für Evaluierungsbesuche und Überwachungstätigkeiten (erneute Besuche bzw. Überwachungsbesuche) gleichermassen gelten. Auch soll es gemäss Absatz 2 möglich sein, verschiedene Methoden für die Zwecke der Evaluierung und Überwachung auch kumulativ zur Anwendung zu bringen.

Artikel 7­9

Zusammenarbeit mit EU-Agenturen und anderen EU-Stellen

Die Artikel 7 bis 9 regeln den Einbezug der EU-Agenturen und anderen EU-Einrichtungen in die Planung und Durchführung von Evaluierungen etwas ausführlicher als bisher. Waren bisher de facto nur Frontex und in geringerem Masse Europol angesprochen, werden nach Artikel 7 Absatz 1 inskünftig alle Agenturen und sonstigen Stellen der EU, die an der Umsetzung33 des Schengen-Besitzstands teilnehmen, einbezogen. Im Wesentlichen sind dies heute Frontex, eu.LISA, Europol und der Europäische Datenschutzbeauftragte34. Zudem soll auch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zur Unterstützung einbezogen werden, was die gesteigerte Bedeutung grundrechtlicher Anliegen im Rahmen der Anwendung des Schengen-Besitztands betont35. All diese Stellen sollen mit ihrem spezifischen Fachwissen und insbesondere ihren Risikoanalyseprodukten dazu beitragen, dass die Evaluierungen in den jeweiligen Bereichen mit den richtigen inhaltlichen Prioritätensetzungen geplant36 und durchgeführt37 werden können (Art. 7 Abs. 2). Zu diesem Zweck soll die Europäische Kommission mit den jeweiligen Institutionen Vereinbarungen, welche die Modalitäten der Zusammenarbeit im Einzelnen regeln, abschliessen (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2).

Artikel 8 und 9 regeln Einzelaspekte der Zusammenarbeit mit Frontex und Europol.

So muss Frontex jeweils bis zum 31. August zwei separate Risikoanalysen übermitteln. Die erste richtet sich an die Europäische Kommission und die Schengen-Staaten und wird bei der Festlegung des Jahresprogramms für das Folgejahr berücksichtigt (Art. 8 Abs. 1). Die Analyse erstreckt sich dabei auf alle relevanten Aspekte im Zusammenhang mit der europäischen integrierten Grenzverwaltung und muss zudem Empfehlungen enthalten für Evaluierungen von einzelnen Grenzabschnitten der Aussengrenzen bzw. von Einrichtungen, die im Hinblick auf die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie38 von Belang sind. Die zweite richtet sich einzig an die Europäische Kommission im Hinblick auf die Planung von unangekündigten Evaluierungen im Folgejahr und muss eine Mindestanzahl von Empfehlungen von konkreten Standorten 33 34 35 36 37 38

Der Begriff wird hier in einem weiten, untechnischen Sinn verwendet und meint hier den Vollzug von Aufgaben, die sich aus dem Schengen-Besitzstand ergeben.

Vgl. Präambel, Erwägungsgrund Nr. 9.

Vgl. Präambel, Erwägungsgrund Nr. 11.

Bei der Festlegung der (Mehr-)Jahresplanung werden die Vertreter der genannten Institutionen in der einen oder anderen Form angehört (Art. 12 Abs. 1; Art. 13 Abs. 1).

So nehmen Vertreter dieser Institutionen auf Einladung der Kommission als Beobachter an den Besuchen teil (Art. 18 Abs. 5).

Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, Fassung gemäss ABl. L 348 v. 24.12.2008, S. 98.

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für eine Evaluierung in den Bereichen Aussengrenzen und Rückkehr enthalten (Art. 8 Abs. 2). Demgegenüber verpflichtet Artikel 9 Europol zur Bereitstellung und Übermittlung von einschlägigen Informationen und Risikoanalysen, die die Agentur im Rahmen ihres Mandates bereitstellt. Auch diese Informationen werden in erster Linie zum Zwecke der Evaluierungsplanung genutzt.

Artikel 10

Synergien mit anderen Bewertungsmechanismen

Der neue Mechanismus zielt darauf ab, ein Höchstmass an Synergien mit anderen Bewertungsmechanismen zu erzeugen und zu nutzen. Im Vordergrund steht natürlich die Schwachstellenbeurteilung, welche Frontex gestützt auf die Verordnung (EU) 2019/189639 erstellt, um die Fähigkeit der Schengen-Staaten zu erhöhen, den Herausforderungen an den Aussengrenzen zu begegnen. Entsprechend sollen den Ergebnissen der Schwachstellenbeurteilung im Rahmen der Vorbereitung der Evaluierungs- und Überwachungstätigkeiten Rechnung getragen werden und umgekehrt ­ mit dem Ziel, gestützt auf beide Mechanismen ein besseres Lagebild über das Funktionieren des Schengen-Raumes zu erhalten und Doppelarbeit zu vermeiden. Was für die Zusammenarbeit mit Frontex gilt (Abs. 2), soll aber auch allgemein gelten: Die Zusammenarbeit mit den EU-Agenturen und sonstigen Einrichtungen soll neu auf Gegenseitigkeit beruhen, weshalb die Europäische Kommission ermächtigt wird, einschlägige Informationen aus den Evaluierungen auch mit anderen Institutionen auszutauschen (Abs. 3).

Artikel 11

Umgang mit Informationen Dritter

Die Nutzung von Informationen, welche die Europäische Kommission von dritter Hand erhält, war bisher zwar eine praktische Realität, aber rechtlich nicht explizit geregelt. Die Bestimmung stellt nun klar, dass Informationen im Zusammenhang mit der Umsetzung des Schengen-Besitzstands für die Planung und Durchführung von Evaluierungs- und Überwachungstätigkeiten berücksichtigt werden dürfen, die von Dritten, einschliesslich unabhängigen Behörden, nichtstaatlichen und internationalen Organisationen bereitgestellt werden. Die Europäische Kommission hat die Verwendung von als relevant eingestuften Drittinformationen allerdings transparent zu machen, um den Schengen-Staaten Gelegenheit zu bieten, zu den entsprechenden Inhalten Stellung zu nehmen. Drittinformationen, insbesondere von Nichtregierungsorganisationen (NGO), sind eine wichtige Informationsquelle für die Europäische Kommission, welche möglichen Fehlentwicklungen bei der Anwendung des Schengen-Besitzstands insbesondere im Rahmen unangekündigter Besuche nachgehen und allfälliges rechtwidriges Verhalten, sollte es sich bestätigen, auf diesem Wege abstellen kann. Drittinformationen dürfen mithin nur in die Bewertung einfliessen, wenn sie vorgängig anlässlich des Besuchs vor Ort verifiziert worden sind. Andernfalls dürfen sie nicht in die Berichte aufgenommen werden (Art. 20 Abs. 1 UAbs. 2).

39

Verordnung (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1052/2013 und (EU) 2016/1624, ABl. L 295 v. 14.11.2019, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2021/1134, ABl. L 248 v. 13.7.2021, S. 11.

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3.2.2

Programmplanung

Artikel 12­13 Mehrjahres- und Jahresplanung Die Bestimmungen zur Programmplanung entsprechen weitestgehend dem aktuellen Recht. Auch unter dem neuen Mechanismus muss die Kommission zunächst eine Mehrjahresplanung (Art. 12) erstellen, der aber neu ein Evaluierungszyklus von sieben (anstatt wie bisher fünf) Jahren zu Grunde liegt. Während der Laufzeit des Evaluierungszyklus müssen alle Schengen-Staaten einmal einer regelmässigen Evaluierung unterzogen werden (Art. 12 Abs. 1). Die Mehrjahresplanung legt fest, in welchem Jahr welcher Schengen-Staat an der Reihe ist, und gegebenenfalls auch, welche inhaltlichen Schwerpunkte dabei gesetzt werden (Art. 12 Abs. 2 und 3). Insbesondere kann die Kommission im Rahmen der Mehrjahresplanung der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands insofern Rechnung tragen, als sie Bereiche, welche im Rahmen eines Besuchs evaluiert werden, neu strukturieren kann40.

Das Jahresprogramm (Art. 13), das jeweils bis am 15. November für das Folgejahr aufgestellt sein muss (Abs. 1), enthält den (monatsgenauen) Zeitplan für die Durchführung der regelmässigen Evaluierungen. Ebenfalls ins Jahresprogramm aufgenommen werden die Zeitpläne der Besuche, die im Rahmen der erstmaligen Evaluierung durchgeführt werden sollen, sowie allfällige thematische Evaluierungen, wobei hier neben den betroffenen Schengen-Staaten auch das Thema und die geplanten Methoden angegeben werden (Abs. 2).

Die Festlegung sowohl des Mehrjahres- als auch des jeweiligen Jahresprogrammes stützt sich jeweils auf die von den einschlägigen Agenturen und sonstigen EU-Einrichtungen bereitgestellten Informationen (Art. 12 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1) und erfolgt ­ wie bisher ­ in Form eines Durchführungsbeschlusses der Kommission, welcher nach Massgabe des in Artikel 30 Absatz 2 genannten Prüfverfahrens erlassen wird (Art. 12 Abs. 2; Art. 13 Abs. 1). Dieses Verfahren impliziert einen Zustimmungsvorbehalt der Mitgliedstaaten, was deren Mitsprache bei der Programmplanung sicherstellt. Eine Neuerung stellt die Befugnis der Europäischen Kommission dar, nachträgliche Änderungen der Programme im Einvernehmen mit dem betroffenen SchengenStaat vorzunehmen, ohne auch den jeweiligen Durchführungsbeschluss formell anpassen zu müssen (Art. 12 Abs. 4, Art. 13 Abs. 3).

Nicht der gemeinsamen Planung gemäss Artikel 12 und 13 unterliegen die unangekündigten Evaluierungen, für welche die Europäische Kommission allein zuständig ist.

Artikel 14

Standardfragebogen

Wie im Rahmen des bisherigen Mechanismus müssen die Staaten, die sich gemäss Mehrjahresplanung im Folgejahr einer regelmässigen Evaluierung unterziehen müssen, einen schriftlichen Fragebogen beantworten, bevor diese Besuche geplant und durchgeführt werden. Der Fragebogen dient in erster Linie der Vorbereitung der regelmässigen Evaluierungsbesuche, kann aber auch als primäres Mittel der Informati40

Vgl. Kommentierung zu Artikel 1 Absatz 3.

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onsbeschaffung dienen (rein fragebogenbasierte Evaluierungen) und auch bei anderen Evaluierungsarten, insbesondere bei erstmaligen und thematischen Evaluierungen, eingesetzt werden41. Der Fragebogen wird den betroffenen Schengen-Staaten bis zum 1. Juli zugestellt und die schriftliche Beantwortung bis spätestens zum 31. Oktober desselben Jahres eingefordert (Abs. 3). Der Fragebogen enthält einen umfassenden Katalog von Fragen zur Umsetzung und Anwendung des Schengen-Besitzstands in den einzelnen Staaten. Die Fragen betreffen die rechtliche, organisatorische und technische Umsetzung der einschlägigen Vorgaben des Schengen-Besitzstands, einschliesslich früherer Empfehlungen und bewährter Vorgehensweisen («best practices»). Die Staaten müssen dabei auch eine Reihe von statischen Daten liefern (Abs. 2). Der Fragebogen wird in einer standardisierten Form erstellt und von der Europäischen Kommission in der Form eines Durchführungsbeschlusses verabschiedet bzw. aktualisiert. Dabei kommt auch hier wieder das in Artikel 30 Absatz 2 genannte Prüfverfahren zur Anwendung.

3.2.3

Gemeinsame Bestimmungen für die Durchführung von Evaluierungs- und Überwachungsmassnahmen

Kapitel III der Verordnung (EU) 2022/922 enthält Bestimmungen, die für alle Arten von Evaluierungen zur Anwendung kommen, sofern keine Sondervorschriften42 bestehen. Dazu gehören zum einen die Vorgaben zur Ausbildung und Auswahl der Sachverständigen, die als Mitglieder eines Teams an Besuchen teilnehmen (Art. 15­18).

Zum anderen finden sich auch die Vorschriften zur Durchführung der Besuche, zur Erarbeitung und Verabschiedung der Berichte und Empfehlungen sowie zur Überwachung der Umsetzung der Empfehlungen im Follow-up (Art. 19­21).

Artikel 15­16 Anforderungsprofil an die Sachverständigen und Schulungsmassnahmen Ein Besuch wird ­ ebenso wie ein erneuter Besuch oder ein Überprüfungsbesuch ­ von einem Team durchgeführt, das sich aus Sachverständigen der Schengen-Staaten43 und Vertreterinnen und Vertretern der Europäischen Kommission zusammensetzt (Teammitglieder). Darüber hinaus können auf Einladung der Europäischen Kommission auch Expertinnen und Experten der Agenturen und sonstigen Einrichtungen der EU als Beobachter teilnehmen44. Artikel 15 umschreibt das Anforderungsprofil, das die Teammitglieder und die Beobachter erfüllen müssen (Abs. 1). Diese müssen ei41 42 43

44

Vgl. Kommentierung zu Artikel 6.

Diese finden sich insbesondere in Kapitel IV (Artikel 22 ff.).

Als nationale Sachverständige kommen Expertinnen und Experten aus allen SchengenStaaten in Frage, auch wenn der jeweilige EU-Mitgliedstaat den Schengen-Besitzstand im jeweiligen Bereich noch nicht vollständig anwendet, weil der entsprechende Inkraftsetzungsbeschluss des Rates der EU noch aussteht (Art. 15 Abs. 2). Entsprechend können auch Sachverständige aus Rumänien, Bulgarien und Zypern in allen Bereichen teilnehmen. Einzige Ausnahme bilden Expertinnen und Experten aus Irland, welche nur in jenen Bereichen als Teammitglieder in Frage kommen, an denen sich Irland auch tatsächlich beteiligt (Art. 29 Abs. 1).

Vgl. Artikel 2 Ziffern 11 und 12.

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nerseits die notwendige fachliche Eignung, wozu sowohl theoretisches Fachwissen wie auch eine ausgewiesene praktische Expertise im jeweiligen Bereich gehören, mitbringen. Andererseits müssen sie aber auch über fundierte Kenntnisse über die Evaluierungsgrundsätze und -verfahren verfügen und in der Lage sein, in einer gemeinsamen Sprache45 zu kommunizieren. Um sicherzustellen, dass die Sachverständigen über die notwendigen Qualifikationen verfügen, sieht Artikel 16 vor, dass alle Teammitglieder und Beobachter eine geeignete, gemeinsame Schulung erhalten (Abs. 1 und 3). Dabei sind zwar alle relevanten Akteure (Schengen-Staaten, Europäische Kommission und EU-Agenturen) aufgerufen sicherstellen, dass ihre Sachverständigen über die erforderlichen Ausbildungen erhalten. Neu ist aber die Europäische Kommission dafür verantwortlich, dass in allen Bereichen46 ein gemeinsames Schulungsangebot geschaffen wird, welches den angehenden Expertinnen und Experten das nötige Wissen vermittelt. Dabei hat sie die jeweiligen Lehrpläne à jour zu halten und muss neben Aufbaukursen auch Auffrischungsschulungen anbieten (Abs. 1 UAbs. 2 und 3). Zudem wird es neu möglich sein, dass eine angehende Expertin oder ein angehender Experte zu Schulungszwecken an einer regelmässigen Evaluierung teilnimmt (als sog. «Sachverständige in Schulung»), um die theoretischen Kenntnisse über den Ablauf und die Durchführung eines Besuchs zu festigen (Abs. 2).

Artikel 17

Pool von Sachverständigen

Die Regelungen betreffend die Bildung und Zusammensetzung der Teams wurden überarbeitet, um die in der Praxis teilweise aufgetretenen Schwierigkeiten, genügend nationale Expertinnen und Experten für die Einsätze zur Verfügung zu haben, zu beseitigen. Die wesentliche Neuerung besteht dabei in der Einrichtung eines Pools aus nationalen Sachverständigen, über welche die Europäische Kommission für die Durchführung der angekündigten und unangekündigten Einsätze im Folgejahr verfügen können soll. Die Alimentierung des Pools ist nicht freiwillig, sondern wird zur Pflicht. Pro Bereich müssen die Schengen-Staaten mindestens einen Sachverständigen, der über die erforderlichen Qualifikationen verfügt, beisteuern. Jeder SchengenStaat muss zudem sicherstellen, dass während der Dauer des gesamten Kalenderjahres in jedem Bereich mindestens einer seiner Sachverständigen zur Verfügung steht (Abs. 2). Die Angabe von bestimmten Präferenzen47 ist möglich, doch muss die Kommission diese nicht in jedem Fall berücksichtigen. Keine Pflicht zur Benennung von Sachverständigen besteht für jene Bereiche, in denen der betroffene Staat aus objektiven Gründen nicht evaluiert wird48. Auch kann ein Staat von der Benennung eines Sachverständigen für den Pool dispensiert werden, wenn dies aufgrund einer aussergewöhnlichen Situation zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Ausübung nationaler Aufgaben führen würde (Abs. 2 UAbs. 2).

45 46

47

48

In der Praxis hat sich freilich das Englische überwiegend als Arbeitssprache etabliert, wobei die Kenntnisse natürlich in Wort und Schrift verlangt sind.

Bisher existierte ein entsprechendes Ausbildungsangebot nur in einzelnen Bereichen; insbesondere im Bereich Datenschutz steht die Schaffung einer gemeinsamen Schulung noch aus.

So können ein Sechsmonatszeitraum, für den die oder der Sachverständige zur Verfügung stehen soll, angegeben werden oder auch bestimmte Evaluierungen, an denen sich einzelne Sachverständige präferenziell beteiligen möchten.

Für die Schweiz ist dies z.B. für die Bereiche Land- und Seeaussengrenzen der Fall.

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Der Pool wird parallel zur Erstellung des jeweiligen Jahresprogramms jedes Jahr neu eingerichtet (Abs. 1). Nach einem entsprechenden Aufruf der Europäischen Kommission, welche den Staaten über die von ihnen benannte Kontaktstelle49 zugeleitet wird, haben die Schengen-Staaten sechs Wochen Zeit, den oder die passenden Sachverständigen zu benennen und der Europäischen Kommission mitzuteilen (Abs. 4). Diese prüft die Kandidaturen und bestätigt innert Wochenfrist deren Nominierung für den Pool (Abs. 8). Erfüllt keiner der vorgeschlagenen Sachverständigen die Anforderungen, so fordert die Kommission den betreffenden Schengen-Staat auf, für den betroffenen Bereich neue personelle Vorschläge zu machen (Abs. 9). Innerhalb eines Monats nach der Zusammenstellung des Pools teilt die Kommission den SchengenStaaten schliesslich mit, welche Sachverständigen für welche in der Jahresplanung angekündigten Evaluierungsbesuche vorgesehen sind (Abs. 8). Damit verfügen auch die Staaten über eine gewisse Übersicht darüber, wann ihre Sachverständigen für die Aufgabenerfüllung in ihren angestammten Verwaltungseinheiten (nicht) verfügbar sind. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass die für den Pool akkreditierten Expertinnen und Experten auch für andere Missionen (insbesondere unangekündigte Besuche) einberufen werden, müssen die Staaten doch ­ wie bereits erwähnt ­ die Verfügbarkeit mindestens eines Sachverständigen pro Bereich während des gesamten Jahres garantieren. Ein nachträglicher Rückzug aus dem Pool bleibt indessen jederzeit möglich, wenn dies zwingende, aussergewöhnliche Umstände gebieten. Diese können sowohl in der persönlichen Situation der oder des betroffenen Sachverständigen begründet sein als auch dazu führen, dass die Erfüllung der angestammten nationalen Aufgaben erheblich beeinträchtigt ist. Diesfalls sind die Staaten jedoch aufgerufen, innert angemessener Frist einen Ersatz für den Pool zu benennen (Abs. 10).

Artikel 18

Bildung der Teams

Artikel 18 widmet sich der Bildung und Zusammensetzung der Teams für einen bestimmten Einsatz. Dabei obliegt es der Europäischen Kommission, die erforderliche Anzahl und das passende Profil der Sachverständigen (und Beobachter50) festzulegen, welche sie angesichts der Besonderheiten des Besuchs benötigt51. Allerdings müssen mindestens drei Sachverständige aus den Schengen-Staaten an einem Team beteiligt sein, während die Anzahl Kommissionsvertreter auf höchstens zwei limitiert ist (Abs. 1). Bei erneuten Besuchen sowie Überprüfungsbesuchen muss die Kommission zudem sicherstellen, dass mindestens die Hälfte der nationalen Sachverständigen, welche bereits an der Evaluierung teilgenommen haben, wiederum im Team sind.

Als Teammitglieder kommen primär Sachverständige aus dem Pool in Frage. Die Kommission lädt diese spätestens zehn Wochen vor dem geplanten Beginn des Be49

50 51

Diese ist in der Schweiz beim Bundesamt für Justiz angesiedelt, das für die verwaltungsinterne Koordination und die Abstimmung mit den Kantonen zusammen mit der Abteilung Europa des EDA die Koordinationsverantwortung trägt.

Vgl. Artikel 18 Absatz 5.

Dabei hat sie auf eine ausgewogene Teamzusammensetzung zu achten, sowohl hinsichtlich der geographischen Herkunft als auch hinsichtlich der Berufserfahrung der Sachverständigen sowie der Kapazitäten der nationalen Verwaltungen, aus der sie stammen.

Zudem dürfen Sachverständige nicht in Teams vertreten sein, welche ihren eigenen Herkunftsstaat evaluieren (Art. 18 Abs. 2).

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suchs über die jeweiligen Kontaktstellen ein ­ bei unangekündigten Besuchen erfolgt die Einladung spätestens 2 Wochen vorher. Die Sachverständigen bestätigen ihre definitive Teilnahme innert einer Woche (bzw. 72 Stunden bei unangekündigten Besuchen) im Einvernehmen mit ihren benennenden Behörden (Abs. 3 und 4). Sollte das jeweilige Team ausnahmsweise nicht mit der erforderlichen Anzahl Sachverständigen aus dem Pool gebildet werden können, so fordert die Europäische Kommission sämtliche Schengen-Staaten auf, für die fehlenden Teammitglieder qualifizierte Sachverständige ausserhalb des Pools zu benennen. Die Aufforderung der Kommission ergeht spätestens sechs Wochen vor einem angekündigten und eine Woche vor einem unangekündigten Besuch, wobei die Staaten in beiden Fällen innerhalb von 72 Stunden reagieren müssen (Abs. 8).

Die Teamleitung obliegt zwei sogenannten «leitenden Sachverständigen». Während der leitende Sachverständige der Kommission von dieser direkt benannt wird, bestimmt das Team (auf Vorschlag der Kommission) denjenigen der Schengen-Staaten.

Den beiden Sachverständigen obliegt die Verantwortung für die Gesamtplanung, Vorbereitung und Durchführung der Besuche. Sie koordinieren die Abfassung der Berichte und unterstützen die Kommission später auch bei der Überwachung der Umsetzung des Aktionsplanes im Follow-up (Abs. 9). Allfällige Sachverständige in Schulung nehmen keine aktive Rolle während des Besuches ein; auch die Beobachter sind auf eine rein unterstützende Funktion beschränkt und unterstehen der Leitung durch die leitenden Sachverständigen. Insbesondere nehmen sie nicht an den internen Entscheidungsprozessen im Team teil (Abs. 6 und 7).

Artikel 19

Durchführung der Besuche

Die Bestimmung regelt die administrativen Aspekte der Besuche, unabhängig davon, zu welchem Zweck (Evaluierung oder Überwachungstätigkeit) diese durchgeführt werden. Erfasst sind daher auch erneute Besuche sowie Überprüfungsbesuche, mittels derer die Umsetzung des Aktionsplanes kontrolliert wird.

Zunächst obliegt es den Teammitgliedern, alle organisatorischen Vorbereitungen im Hinblick auf einen effizienten Ablauf eines anstehenden Besuchs zu treffen und sich auch inhaltlich auf die bevorstehende Mission vorzubereiten (Abs. 1). Für jeden (angekündigten) Besuch legt die Europäische Kommission in enger Zusammenarbeit mit den leitenden Sachverständigen ein detailliertes Programm fest, wobei der betroffene Schengen-Staat von der Kommission mindestens acht Wochen vor Besuchsbeginn zum Entwurf zu konsultiert werden muss.52 Bei unangekündigten Besuchen erfolgt naturgemäss keine vorgängige Koordination mit dem betroffenen Schengen-Staat.

Die Europäische Kommission erstellt das Evaluierungsprogramm vielmehr selbstständig, muss den Besuch aber dem betreffenden Schengen-Staat mindestens 24 Stunden im Voraus ankündigen (Abs. 3). Ausnahmsweise können unangekündigte Evaluierungsbesuche von der Europäischen Kommission auch ohne Vorankündigung durchgeführt werden, wenn sie triftige Gründe zur Annahme hat, dass im Rahmen der Anwendung des Schengen-Besitzstands möglicherweise in schwerwiegender Weise gegen grundrechtliche Rechtspositionen verstossen wird. Besuche an den Binnen52

Die Kommunikation läuft dabei über die vom evaluierten Staat definierte Kontaktstelle, welche in der Schweiz beim Bundesamt für Justiz angesiedelt ist.

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grenzen finden indessen in jedem Fall ohne Vorankündigung statt. Auch bei Überprüfungsbesuche gilt die Vorankündigungsfrist von mindestens 24 Stunden, doch können auch diese Besuche ohne im Voraus erfolgende Benachrichtigung stattfinden.

Die Bestimmung stellt schliesslich klar, dass alle Arten von Besuchen (Evaluierungsbesuche, erneute Besuche und Überprüfungsbesuche) physische Treffen mit allen relevanten Akteuren einschliessen können, die im jeweiligen Bereich beim Vollzug des Schengen-Besitzstands im betreffenden Schengen-Staat mitwirken (Abs. 2). Neben den primär angesprochen staatlichen Behörden kann das insbesondere auch nichtstaatliche Organisationen und Stellen einschliessen, soweit diese mit entsprechenden Vollzugsaufgaben betraut wurden53. Die evaluierten Staaten ­ und mit ihnen auch die betrauten Stellen ­ sind zur Kooperation mit den Evaluierungsteams verpflichtet; sie haben insbesondere sicherzustellen, dass die Sachverständigen zu allen relevanten Personen, Einrichtungen und Dokumenten Zugang erhalten (vgl. Art. 3 Abs. 5).

Artikel 20

Evaluierungsberichte und Empfehlungen

Artikel 20 umschreibt den Verfahrensablauf nach Abschluss eines Besuchs bis zur Annahme der Empfehlungen. Er gilt ­ unter Vorbehalt der Anwendbarkeit des Dringlichkeitsverfahrens bei Vorliegen schwerwiegender Mängel (Art. 22) bzw. einiger Sondervorschriften (Art. 23­24) ­ für alle Arten von Evaluierungen.

Zur Dokumentation der Ergebnisse eines Besuches wird bei jeder Evaluierung ein Evaluierungsbericht erstellt, für dessen Vollständigkeit und inhaltliche Richtigkeit das Expertenteam die Verantwortung trägt und das sich bei Unstimmigkeiten um einen Kompromiss bemühen muss (Abs. 1 UAbs. 3). Bei der Erstellung des Berichts werden neben den Antworten auf den Standardfragebogen alle einschlägigen Informationen berücksichtigt, welche das Team erhalten hat ­ sei es von Seiten der im Sachbereich tätigen Agenturen und Einrichtungen der EU oder sei es von Seite Dritter. Voraussetzung ist jedoch, dass die im Bericht verarbeiteten Informationen im Rahmen des Besuchs tatsächlich auf ihre Richtigkeit hin verifiziert worden sind, was neu explizit festgehalten wird (Abs. 1 UAbs. 2). Im Bericht werden alle für die Durchführung des Schengen-Besitzstands relevanten Aspekte dargestellt und anhand von drei Kriterien bewertet: «bewährte Vorgehensweise», «Verbesserung erforderlich» und «nichtkonform». Der Bericht soll damit nicht nur die Mängel benennen, sondern auch positive Akzente setzen, indem «bewährten Vorgehensweisen», die Vorbildcharakter für andere Schengen-Staaten bei der Anwendung des Schengen-Besitzstands haben könnten, ausgewiesen werden. Die zentrale Neuerung besteht in der Einführung einer verbindlichen Fristenregelung, die im Vergleich zu aktuellen Situation zu einer erhebli53

Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Organisationen, die mit dem Rückkehr-Monitoring gemäss Artikel 8 Absatz 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 v. 24.12.2008, S. 98) betraut sind, oder die externen Dienstleistungserbringer, an die nach Artikel 43 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 v. 15.9.2009, S. 1; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1155, ABl. L 188 v. 12.7.2019, S. 25) bestimmte Aufgaben im Visumverfahren delegiert werden können.

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chen Verkürzung der Verfahrensdauer führt54: So ist die Europäische Kommission gehalten, den Berichtsentwurf, der auch einen Entwurf der Empfehlungen enthält, innerhalb von vier Wochen nach Abschluss des Besuchs dem evaluierten Staat zuzustellen. Dieser hat sodann zwei Wochen Zeit, zum Entwurf schriftlich Stellung zu nehmen. Zudem kann der evaluierte Staat eine Redaktionssitzung verlangen, die innerhalb von weiteren fünf Arbeitstagen durchzuführen ist (Abs. 1 UAbs. 4). Die Stellungnahme des evaluierten Staates fliesst sodann gegebenenfalls in den Berichtsentwurf ein.

Der weitere Fortgang des Verfahrens ist sodann davon abhängig, ob der evaluierte Schengen-Staat mit dem Berichtsentwurf (und den Empfehlungen) einverstanden ist oder nicht:

54

55 56

­

Ist er einverstanden, so enthält der Bericht auch die Empfehlungen für Abhilfemassnahmen55 und muss von der Europäischen Kommission innert einer Frist von höchstens vier Monaten ab dem Ende des Besuchs auf dem Wege eines Durchführungsbeschlusses verabschiedet werden. Diese Frist ist indessen sehr eng, muss der Beschluss doch im Rahmen des sogenannten Prüfverfahrens angenommen werden, was bedeutet, dass die Kommission vorgängig den Schengen-Ausschuss einberufen und die formelle Zustimmung der darin vertretenen EU-Mitgliedstaaten einholen muss56 (Abs. 4 UAbs. 1). Innert vierzehn Tagen muss der verabschiedete Bericht (mitsamt den Empfehlungen) dem Rat der EU und dem Europäischen Parlament zur Kenntnis übermittelt werden.

­

Bestreitet der evaluierte Staat hingegen innerhalb von zehn Arbeitstagen nach der Redaktionssitzung den Inhalt des Berichts (bzw. die darin vorgenommenen Bewertungen), so beschränkt sich der von der Europäischen Kommission zu verabschiedende Bericht auf die Bewertung der Ergebnisse des Besuchs; in diesem Fall enthält der Bericht keine Empfehlungen und die Kommission muss innert der genannten Frist von höchstens vier Monaten neben dem Bericht auch einen Entwurf von Empfehlungen verabschieden, den sie dem Rat der EU zur Annahme übermittelt (Abs. 4). Der Rat ist sodann gehalten, die Empfehlungen in der Form eines Durchführungsbeschlusses zu verabschieden und dem Europäischen Parlament sowie den nationalen Parlamenten zur Kenntnisnahme zuzuleiten. Eine entsprechende Fristsetzung enthält die Bestimmung indessen nicht. Es ist diesfalls dem Rat vorbehalten, gegebenenfalls angemessene Umsetzungsfristen zu setzen und festzulegen, welchen Empfehlungen im Rahmen der Umsetzung Priorität einzuräumen ist.

In der Vergangenheit verging bis zur Verabschiedung der Berichte durch die Europäische Kommission teilweise sehr viel Zeit (ein Jahr und mehr), da die Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 hierfür keine Fristen vorgab.

Diese können auch Fristsetzungen für eine angemessene Umsetzung sowie Angaben enthalten, welche Empfehlungen vorrangig umzusetzen sind (Abs. 4 UAbs. 2).

Vgl. Kommentierung zu Artikel 30 Absatz 2.

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Artikel 21

Folgemassnahmen und Überwachung

Liegen die konkreten Handlungsanweisungen zur Behebung der festgestellten Mängel vor, sei es als Teil des Evaluierungsberichts oder als separate Empfehlungen, beginnt die Umsetzungsphase (sog. Follow-up). Der evaluierte Staat muss innerhalb von zwei Monaten nach Annahme der Empfehlungen (Art. 20 Abs. 4 bzw. 5) einen Aktionsplan vorlegen, der alle Massnahmen enthält, die der evaluierte Staat zur Beseitigung der festgestellten Mängel bzw. zur Umsetzung der Empfehlungen für erforderlich hält.

Der Aktionsplan wird der Kommission und dem Rat übermittelt, wobei die anderen Schengen-Staaten aufgefordert werden, Kommentare abzugeben (Abs. 1). Die Europäische Kommission prüft den Aktionsplan sodann auf seine Angemessenheit und nimmt zu diesem Zweck Rücksprache mit dem Team. Für die Übermittlung ihrer Bewertung an den evaluierten Staat hat sie einen Monat Zeit. Hält sie den Aktionsplan nicht für angemessen, so muss der betroffene Staat diesen innert Monatsfrist nachbessern (Abs. 2). In der Folge ist der evaluierte Staat verpflichtet, Rat und Kommission in regelmässigen Abständen über den Stand der Umsetzung des Aktionsplans zu informieren, bis dieser nach Ansicht der Kommission vollständig durchgeführt ist. Mit der Verordnung (EU) 2022/922 wurde das Berichtsintervall von bisher drei auf sechs Monate verlängert, um den administrativen Aufwand für den betroffenen Staat zu begrenzen. Allerdings kann die Europäische Kommission eine andere Berichtsfrequenz vorgeben, wenn diese durch die gegebenen Umstände gerechtfertigt ist (Abs. 3 UAbs. 1). Kommt der evaluierte Staat seinen Verpflichtungen nicht nach, erstattet er z.B. nicht fristgerecht Bericht oder sorgt er nicht für eine angemessen rasche Umsetzung, so informiert die Kommission den Rat der EU und das Europäische Parlament über die Sachlage. Zudem kann die Kommission (auch unangekündigte) Überwachungsbesuche durchführen, um die erzielten Fortschritte bei der Beseitigung der Mängel zu verifizieren (Abs. 3 UAbs. 2 und 3). Ist der Aktionsplan nach Ansicht der Kommission vollständig durchgeführt, so unterrichtet sie den evaluierten sowie die übrigen Schengen-Staaten über den Abschluss des Aktionsplanes (Abs. 3 UAbs. 4).

3.2.4

Schwerwiegende Mängel und besondere Evaluierungsformen

In Kapitel IV regelt die Verordnung (EU) 2022/922 zum einen das Dringlichkeitsverfahren (Art. 22), das bei Vorliegen von schwerwiegenden Mängeln inskünftig zur Anwendung gelangt. Zum anderen werden besondere Verfahrensvorschriften festgelegt, die für die erstmalige Evaluierung (Art. 23) bzw. die thematische Evaluierung (Art. 24) zur Anwendung gelangen sollen. Keine eigene Verfahrensregelung ist für die unangekündigten Evaluierungen enthalten. Diese Evaluierungsart folgt ­ abgesehen von der Planung und Verfahrenseinleitung57 ­ den Regeln des jeweiligen Evaluierungstypus.

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Vgl. Kommentierung zu Artikel 12, 13 und 19.

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Artikel 22

Dringlichkeitsverfahren bei schwerwiegenden Mängeln

Stellt das Team im Zuge eines Besuches fest, dass die entdeckten Mängel schwerwiegender Natur58 sind, kommt das Verfahren nach Artikel 22 zum Tragen, das auf eine dringliche Mängelbeseitigung ausgerichtet ist. Eingeleitet wird das Verfahren durch eine schriftliche Mitteilung der leitenden Sachverständigen an den evaluierten Staat, worin sie diesen am Ende des Besuchs über die gemachten Feststellungen unterrichten (Abs. 1). Auch der Rat der EU wird unverzüglich ins Bild gesetzt. Ab diesem Zeitpunkt trifft den evaluierten Staat eine qualifizierte Pflicht zur Kooperation, indem er sich umgehend Gedanken zur Behebung der festgestellten Mängel und die dafür notwendigen (rechtlichen, operativen und finanziellen) Massnahmen macht und in einen permanenten Dialog mit der Europäischen Kommission tritt ­ auch um frühzeitig mögliche Unterstützungsleistungen der einschlägigen EU-Agenturen zu sondieren.

Der Berichtsentwurf, der primär auf die gravierenden Mängel fokussieren soll und dem auch Empfehlungen für Abhilfemassnahmen beigefügt sind, wird dem evaluierten Staat innert zwei Wochen nach dem Ende des Besuchs zugstellt. Dieser hat innert zehn Arbeitstagen zum Entwurf Stellung zu nehmen; eine allfällige Redaktionssitzung wird innert fünf weiteren Arbeitstagen durchgeführt (Abs. 2). Die Europäische Kommission verabschiedet den Bericht spätestens innert sechs Wochen nach Ende des Besuchs. Um dies zu gewährleisten, findet das Prüfungsverfahren nach Artikel 30 Absatz 3 Anwendung, wonach die Zustimmung des Schengen-Ausschusses erst nachträglich eingeholt werden muss (Abs. 3). Spätestens sechs Wochen nach Annahme des Berichts unterbreitet die Europäische Kommission dem Rat einen Vorschlag für Empfehlungen für Abhilfemassnahmen, welche der Rat dann innert Monatsfrist verabschieden muss. Der entsprechende Durchführungsbeschluss beinhaltet neben den konkreten Handlungsanweisungen zur (prioritären) Mängelbeseitigung auch zeitliche Vorgaben für deren Umsetzung, und er legt schliesslich auch die Häufigkeit fest, mit der der evaluierte Staat in der Folge über den Stand der Umsetzung des Aktionsplanes Bericht erstatten muss (Abs. 4). Darüber hinaus kann der Rat für den Fall, dass die festgestellten Mängel zu einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit im Schengen-Raum führen oder das Risiko
einer systematischen Grundrechtsverletzung besteht, separate Empfehlungen an die Adresse der anderen Schengen-Staaten richten (Abs. 5). Diese enthalten eine Ermächtigung für angemessene Abhilfemassnahmen, mit welchen die schwerwiegenden Mängel behoben oder deren negative Auswirkungen gemindert werden können ­ ähnlich wie dies in Artikel 29 des Schengener Grenzkodex59 oder in Artikel 42 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2019/189660 vorgesehen ist.

58 59

60

Im Sinne von Artikel 2 Ziffer 10.

Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. L 77 v. 23.3.2016, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/817, ABl. L 135 v. 22.5.2019, S. 27.

Verordnung (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1052/2013 und (EU) 2016/1624, ABl. L 295 v. 14.11.2019, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2021/1134, ABl. L 248 v. 13.7.2021, S. 11.

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Schliesslich bestehen auch im Follow-up-Verfahren einige Besonderheiten: ­

Zum einen gelten kürzere Fristen: So ist der Aktionsplan vom evaluierten Staat innert Monatsfrist vorzulegen. Die Europäische Kommission muss dessen Angemessenheit innert zwei Wochen bewerten, und der evaluierte Staat muss gegebenenfalls innert weiterer zwei Wochen den Aktionsplan nachbessern (Abs. 6). Die Berichterstattung zur Umsetzung des Aktionsplanes erfolgt in dem vom Rat in den Empfehlungen festgesetzten Intervall, bis er nach Ansicht der Kommission vollständig durchgeführt ist.

­

Zum anderen muss die Europäische Kommission spätestens ein Jahr nach dem Evaluierungsbesuch einen erneuten Besuch im jeweiligen Bereich organisieren (Abs. 7). Auch dieser erneute Besuch führt wieder zu einem Bericht und gegebenenfalls zu neuen Empfehlungen (Abs. 8). Der Bericht, in dem primär61 die Fortschritte bei der Durchführung des Aktionsplans bewertet werden, wird nach Massgabe von Artikel 20 Absatz 1 erstellt. Entsprechend kann der evaluierte Staat zum Berichtsentwurf, der ihm innert 6 Wochen vorgelegt wird, innerhalb von zwei Wochen Stellung nehmen. Er wird im Prüfungsverfahren (Art. 30 Abs. 2) von der Kommission verabschiedet. Der Rat kann zum Bericht Stellung nehmen und verlangen, dass die Kommission erneut Empfehlungen für Abhilfemassnahmen vorlegt, die dann vom Rat verabschiedet werden und vom evaluierten Staat nach Massgabe eines Aktionsplans umgesetzt werden müssen.

­

Schliesslich ist die Kommission verpflichtet, einen Überprüfungsbesuch durchzuführen, wenn sie der Meinung ist, dass der Aktionsplan abgeschlossen werden kann. Die Erstellung eines Berichts ist zwar nicht nötig, doch muss die Kommission den Rat über das Ergebnis des Überprüfungsbesuchs in geeigneter Form unterrichten. Schliesslich obliegt es auch dem Rat, auf Vorschlag der Kommission einen Beschluss zur Beendigung der Evaluierung im betreffenden Bereich zu fassen (Abs. 9).

Artikel 23

Besondere Bestimmungen für erstmalige Evaluierungen

Das Verfahren für erstmalige Evaluierungen folgt auf weiten Strecken dem Verfahren, das für regelmässige Evaluierungen gilt. So kommen nach Absatz 1 die Vorschriften für die Erstellung und Verabschiedung der Berichte (Art. 20 Abs. 1­4) vollumfänglich zum Tragen. Gleichwohl gelten im Verfahren bei erstmaligen Evaluierungen einige Besonderheiten: Zunächst werden die Empfehlungen bei erstmaligen Evaluierungen ­ anders als dies bei regelmässigen Evaluierungen der Fall ist ­ in jedem Fall vom Rat der EU verabschiedet (Abs. 2). Zu diesem Zweck muss die Europäische Kommission dem Rat innert vier Monaten nach dem Ende des Besuches einen entsprechenden Vorschlag vorlegen (Abs. 1 UAbs. 2).

Auch im Follow-up gelten Sonderregeln. So muss der evaluierte Staat zwar auch einen Aktionsplan zur Umsetzung der Empfehlungen vorlegen und allenfalls nachbessern, 61

Es ist auch möglich, dass im Rahmen des erneuten Besuchs neue Feststellungen gemacht werden, die dann ebenfalls in den Bericht einfliessen. Vgl. Kommentierung zu Artikel 5.

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doch sind ihm hierfür keine Fristen gesetzt (Abs. 3 UAbs. 1 und 3)62. Das Berichtsintervall für die Umsetzungsberichtserstattung beträgt zwar auch sechs Monate, doch kann der Rat keine andere Frequenz vorgeben. Weiter ist die Durchführung einer erneuten Evaluierung obligatorisch, wenn im Bericht festgestellt wurde, dass der evaluierte Staat die Voraussetzungen für die (künftige) Anwendung des Schengen-Besitzstands noch nicht erfüllt (Abs. 4). Das weitere Verfahren zur Verabschiedung des Berichts sowie allfälliger Empfehlungen ist im Übrigen gleich ausgestaltet wie im Dringlichkeitsverfahren (vgl. Art. 22 Abs. 7 und 8). Schliesslich muss die Europäische Kommission im Rahmen einer erstmaligen Evaluierung zudem einen Überprüfungsbesuch durchführen, bevor sie den Aktionsplan als abgeschlossen erklären kann (Abs. 5). Die hierbei zur Anwendung kommenden Verfahrensgrundsätze sind wiederum die gleichen wie im Dringlichkeitsverfahren (vgl. Art. 22 Abs. 7 und 8), insbesondere obliegt es auch hier dem Rat der EU, die Beendigung des Aktionsplanes formell zu billigen.63 Artikel 24

Besondere Bestimmungen für thematische Evaluierungen

Das Verfahren der thematischen Evaluierung ist weitestgehend mit dem ordentlichen Verfahren der regelmässigen Evaluierung identisch. So werden in Artikel 24 Unterabsatz 1 die Vorschriften von Artikel 23 Absätze 1 bis 3 (erstmalige Evaluierungen) als anwendbar erklärt, wo wiederum auf die Absätze 1 bis 4 von Artikel 20 (regelmässige Evaluierungen) verwiesen wird. Letztere Bestimmungen regeln das Verfahren von der Erstellung des Berichtsentwurfs durch das Expertenteam über dessen Verabschiedung im Prüfverfahren (Art. 30 Abs. 2) bis hin zur Verabschiedung der Empfehlungen.

Im Gegensatz zur periodischen Evaluierung werden dem Bericht zwar Entwürfe von Empfehlungen für Abhilfemassnahmen beigefügt, doch obliegt es im Rahmen der thematischen Evaluierung dem Rat, die erforderlichen Empfehlungen (inkl. allfälliger Umsetzungsfristen) zu verabschieden. Die Europäische Kommission unterbreitet ihm zu diesem Zweck innert vier Monaten nach Abschluss des Besuchs einen Vorschlag (Art. 24 Abs. 1 i. V. m. Art. 23 Abs. 1 und 2). Nach der Annahme der Empfehlungen müssen die evaluierten Staaten jeweils einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der Empfehlungen einreichen, den die Europäische Kommission innert Monatsfrist auf seine Angemessenheit hin überprüft. Für den Fall, dass der Aktionsplan als ungenügend bewertet wird, muss der betroffene Schengen-Staat seinen Aktionsplan überarbeiten. In der Folge muss er der Europäischen Kommission und dem Rat der EU alle sechs Monate zum Stand der Umsetzung berichten (Art. 24 Abs. 1 i. V. m. Art. 23 Abs. 3).

62

63

Solche Fristsetzungen wurden als überflüssig betrachtet, da man annehmen darf, dass es im wohlverstandenen Interesse des «beitrittswilligen» Staates liegt, die Mängel rasch zu beseitigen.

Die Beendigung der Aktionspläne ist Bedingung für die vollständige Inkraftsetzung des Schengen-Besitzstands, die durch einstimmigen Beschluss des Rates erfolgt. Ist die Inkraftsetzung erfolgt, so wird der jeweilige Staat in den Turnus der regelmässigen Evaluierung eingereiht, sodass eine Evaluierung innert Jahresfrist stattfinden kann. Die Kommission ändert du diesem Zweck die einschlägige Jahresplanung (Art. 23 Abs. 6).

36 / 48

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Werden im Rahmen einer thematischen Evaluierung «schwerwiegende Mängel» festgestellt, so richtet sich das Verfahren vollständig nach Artikel 22 (Dinglichkeitsverfahren).

3.2.5

Schengen-Steuerung und Schlussbestimmungen

Artikel 25

Schengen-Steuerung

Eines der Kardinalziele der vorliegenden Revision des Evaluierungsmechanismus bildet die Erhöhung der politischen Wahrnehmung des Funktionierens des SchengenRaumes. Zu diesem Zweck wird die Europäische Kommission zur wiederholten Berichterstattung an den Rat der EU und das Europäische Parlament verpflichtet: ­

Konkret muss die Kommission einmal im Jahr einen umfassenden Bericht vorlegen, der öffentlich ist und auch den nationalen Parlamenten der Schengen-Staaten übermittelt wird. Der Bericht soll sich erstens den Ergebnissen der im Vorjahr durchgeführten Evaluierungen einschliesslich der von den betroffenen Staaten ergriffenen Folgemassnahmen widmen, zweitens die Funktionsweise des Mechanismus der Schengen-Evaluierung bewerten und drittens ein allgemeines Lagebild des Schengen-Raumes skizzieren (UAbs. 1­3).

­

Zudem muss die Kommission mindestens zweimal jährlich über den Stand der Umsetzung der nationalen Aktionspläne sowie die Ergebnisse der einschlägigen Überwachungstätigkeiten (Angemessenheitsprüfung der Aktionspläne, erneute Besuche, Überwachungsbesuche) informieren. Diese Zwischenstandsberichte sind nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern nur an den Rat der EU und das Europäische Parlament gerichtet (UAbs. 4).

Die Berichterstattung ist Grundlage für die Einrichtung eines politischen Zyklus, im Zuge dessen der Rat der EU (auf Ministerebene), aber auch das Europäische Parlament, regelmässig über den Stand der durchgeführten Evaluierungen informiert werden, um jederzeit und in voller Kenntnis der bestehenden Situation die notwendigen rechtspolitischen Weichenstellungen im Hinblick auf das gute Funktionieren des Schengen-Raumes vornehmen zu können (Schengen-Steuerung). Es handelt sich hierbei um eine Neuauflage der «Schengen Governance», die bereits der bisherigen Rechtsgrundlage aus dem Jahr 2013 zu Grunde lag. In operativer Hinsicht erhofft man sich, dass von diesem «Schengen-Zyklus» ein zusätzlicher Druck auf die Staaten ausgeht, die festgestellten Mängel möglichst rasch und wirksam zu beseitigen («peer pressure»); die Evaluierung soll aber auch dafür sorgen, dass gute Beispiele bei der Anwendung und Umsetzung («best practices») in einem Schengen-Staat bei vergleichbaren Verhältnissen auch in den anderen Staaten Schule machen (können).

Artikel 26

Leitfaden für die Schengen-Evaluierung

Artikel 26 bildet die rechtliche Grundlage für die Verabschiedung eines Leitfadens für die Schengen-Evaluierung, der die Vorgaben der Verordnung (EU) 2022/922 wo nötig inhaltlich konkretisieren soll. Die Bestimmung nennt eine Reihe von Aspekten, die Eingang in den Leitfaden finden sollen. Die Aufzählung ist nicht abschliessend, weshalb sämtliche Aspekte des Verfahrens in den Leitfaden aufgenommen werden 37 / 48

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können. Wie bisher wird der Leitfaden von der Europäischen Kommission nicht in Form eines Durchführungsrechtsakts im Rahmen des Prüfverfahrens (Art. 30 Abs. 2) erlassen, weshalb er den Schengen-Staaten auch keine rechtlichen Verpflichtungen auferlegen kann. Vielmehr beinhaltet er eine Art Selbstverpflichtung der Europäischen Kommission, das Verfahren gemäss den darin beschriebenen Grundsätzen durchzuführen64. Gleichwohl muss der Leitfaden «in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten» erstellt und aktualisiert werden, weshalb die Europäische Kommission dessen Inhalt im Ergebnis nicht gegen den Willen der Mitgliedstaaten gestalten kann. Die assoziierten Staaten sind gestützt auf die in den jeweiligen Assoziierungsabkommen verankerten Mitspracherechte an dessen Ausgestaltung beteiligt.

Artikel 27

Überprüfung

Artikel 27 übernimmt die bereits in der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 enthaltene «Review-Klausel». Diese verpflichtet die Europäische Kommission, nach Annahme aller Evaluierungsberichte des ersten mehrjährigen Evaluierungszyklus dem Rat der EU innert 6 Monaten einen umfassenden Bericht zu unterbreiten, in welchem sie die Anwendung des neuen Mechanismus im Lichte der gemachten Erfahrungen bewertet.

Die Überprüfung umfasst auch das Funktionieren der Verfahren zur Annahme von Rechtsakten im Rahmen des Evaluierungsmechanismus. Auch wenn dies nicht explizit festgelegt ist, so kann der Bericht selbstredend auch Vorschläge zur Anpassung der Verordnung (EU) 2022/922 enthalten. Der Bericht wird auch dem Europäischen Parlament übermittelt.

Artikel 28

Vertraulichkeit

Die Evaluierungsteams müssen Zugang zu allen relevanten Informationen haben, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Dazu gehören auch vertrauliche Informationen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Absatz 1 verpflichtet daher die Mitglieder der Evaluierungsteams, die Beobachter und Sachverständigen in Schulung, die während des Besuchs erhaltenen Informationen vertraulich zu behandeln. Absatz 2 stellt darüber hinaus klar, dass auch die in den Berichten eingearbeiteten Informationen geschützt sind. Sie werden grundsätzlich als «vertrauliche Informationen» im Sinne der Informationsschutzvorschriften der EU65 eingestuft, was bedeutet, dass solche Informationen nur Personen offengelegt werden, die Kenntnis haben müssen. Im Einzelfall können die Berichte aber auch ­ wie dies bisher generell der Fall war ­ als Verschlusssache («EU restricted / UE restreint») qualifiziert werden, wenn dies aufgrund der

64 65

Der Leitfaden stellt daher auch keine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands dar, welche die Schweiz gestützt auf Artikel 7 Absatz 2 SAA formell übernehmen muss.

Beschluss (EU, Euratom) 2015/443 der Kommission vom 13. März 2015 über die Sicherheit in der Kommission, ABl. L 72 v. 17.3.2015, S. 41.

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Natur der darin enthaltenen Informationen erforderlich ist66. Die Europäische Kommission entscheidet jeweils nach Rücksprache mit dem betroffenen Schengen-Staat, welche Teile des Berichts veröffentlicht werden dürfen. Nach Absatz 3 unterliegt die Behandlung und Übermittlung von Verschlusssachen zum Zwecke dieser Verordnung den einschlägigen Sicherheitsvorschriften. Diese schliessen jedoch nicht aus, dass die Europäische Kommission dem Europäischen Parlament oder den einschlägigen EU-Agenturen Informationen zur Verfügung stellen kann.

Artikel 29

Bedingungen für die Beteiligung Irlands

Angesichts der Tatsache, dass Irland nicht den gesamten Schengen-Besitzstand anwendet67, besteht eine eingeschränkte Möglichkeit zur Teilnahme am Evaluierungsverfahren, die sich im Grunde bereits aus der Funktion des Evaluierungsverfahrens, nämlich die Anwendung des Schengen-Besitzstands zu überprüfen, ableitet. So kann Irland nur in Bezug auf jene Teile des Schengen-Besitzstands evaluiert werden, an welche es selbst gebunden ist (Abs. 2). Umgekehrt kann sich Irland an den Evaluierungen anderer Schengen-Staaten nur insoweit beteiligen, als es die Vorschiften des jeweiligen Bereiches auch selbst anwendet. Die Bestimmung illustriert dieses Prinzip in zweierlei Hinsicht: Sowohl eine Teilnahme irischer Sachverständigen an Evaluierungsmissionen (Abs. 1) als auch eine Teilnahme Irlands an der Beschlussfassung zur Annahme von Empfehlungen (Abs. 3) ist nur insoweit gestattet, als Irland an die entsprechenden Vorschiften des Schengen-Besitzstands selbst gebunden ist.

Artikel 30

Ausschussverfahren

Gemäss Artikel 3 obliegt der Europäischen Kommission die Gesamtkoordination für die Planung und Durchführung der Evaluierungen. Bei der Ausübung dieser Aufgabe wird sie von einem Ausschuss aus Vertreterinnen und Vertretern der EU-Mitgliedstaaten, dem sog. «Schengen-Ausschuss», unterstützt (Art. 30 Abs. 1). Im Einklang mit dem Grundsatz der gemeinsamen Verantwortung für die Anwendung des Evaluierungsmechanismus (Art. 3 Abs. 1) spricht sich die Kommission in diesem Ausschuss mit den Schengen-Staaten ab. Für einige Entscheidungen ist vorgesehen, dass 66

67

Beschluss (EU, Euratom) 2015/444 der Kommission vom 13. März 2015 über die Sicherheitsvorschriften für den Schutz von EU-Verschlusssachen, ABl. L 72 v. 17.3.2015, S. 53. Gestützt auf Artikel 4 Buchstabe b des Abkommens vom 20. April 2008 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union über die Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen (SR 0.514.126.81) werden diese Dokumente in der Schweiz mit einem entsprechenden Geheimhaltungsgrad geschützt.

Die Klassifikation «EU restricted / UE restreint» entspricht der Klassifikation «Intern» gemäss Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung vom 4. Juli 2007 über den Schutz von Informationen des Bundes (ISchV), SR 510.411.

Gestützt auf das im Protokoll Nr. 19 zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (sog. «Schengen-Protokoll», ABl. C 202 v. 7.6.2016, S. 290) verankerte «Opt-inRecht» ist Irland in den Bereichen «Aussengrenzen» und «Visa» nicht beteiligt. Vgl.

auch Beschluss 2000/365/EG des Rates vom 29. Mai 2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Grossbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des SchengenBesitzstands auf sie anzuwenden, ABl. L 131 v. 1.6.2000, S. 43; Beschluss 2002/192/EG des Rates vom 28. Februar 2002 zum Antrag Irlands auf Anwendung einzelner Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf Irland, ABl. L 64 v. 7.3.2002, S. 20.

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diese in die Form eines Durchführungsbeschlusses zu kleiden und nach Massgabe der Verordnung (EU) Nr. 182/201168 zu verabschieden sind. Dies gilt für die Annahme der Mehrjahres- und Jahresplanung (Art. 12 Abs. 2; Art. 13 Abs. 1), des Standardfragebogens (Art. 14 Abs. 1) sowie der Berichte und der Empfehlungen, soweit die Kommission zuständig ist (Art. 20 Abs. 4, Art. 22 Abs. 7, Art. 23 Abs. 1 und 4, Art. 24).

In diesen Fällen kommt das sog. Prüfverfahren nach Artikel 5 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 zur Anwendung (Art. 30 Abs. 2), welches den im Schengen-Ausschuss vertretenen EU-Mitgliedstaaten die Mitbestimmung beim Erlass von Durchführungsrechtsakten durch die Europäischen Kommission sichert. Im Rahmen dieses Prüfverfahrens unterbreitet die Kommission dem Ausschuss den Entwurf eines Durchführungsrechtsakts, zu dem die Schengen-Staaten Änderungen vorschlagen können.

Daraufhin gibt der Ausschuss eine Stellungnahme ab. Entscheide werden dabei möglichst im Konsens getroffen. Kann ein solcher nicht erreicht werden, erfolgt eine Abstimmung, wobei ein qualifiziertes Mehr69 für die Beschlussfassung erforderlich ist.

Die Kommission darf den Durchführungsrechtsakt nur erlassen, wenn der Ausschuss eine befürwortende Stellungnahme abgibt70. Einzig im Dringlichkeitsverfahren, das bei Vorliegen von schwerwiegenden Mängeln zur Anwendung gelangt, ist dies nicht der Fall. Hier kann die Europäische Kommission die Evaluierungsberichte gemäss Artikel 22 Absatz 3 verabschieden und erst danach die Zustimmung der Staaten im Schengen-Ausschuss einholen. Die Kommission ist verpflichtet, den Durchführungsrechtsakt innert vierzehn Tagen nach dessen Annahme dem Schengen-Ausschuss zur Stellungnahme zu unterbreiten. Wird diese nicht erteilt, muss die Kommission den Rechtsakt unverzüglich aufheben (Art. 30 Abs. 3 mit Verweis auf Art. 8 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011).

68

69

70

Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, ABl. L 55 v. 28.2.2011, S. 13.

Die Qualifizierung des Mehrheitsentscheids liegt in der Gewichtung der Stimmen der EU-Mitgliedstaaten gemäss den im Vertrag über die Europäische Union (EUV, ABl. C 202 v. 7.6.2016, S. 13) niedergelegten Grundsätzen (vgl. Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV).

Wird ein qualifiziertes Mehr weder für noch gegen den Vorschlag der Kommission erreicht, gibt der Ausschuss keine Stellungnahme ab. Die Kommission kann dann den vorgesehenen Durchführungsrechtsakt nicht erlassen. Sie kann dem Ausschuss aber entweder eine geänderte Fassung des Rechtsakts unterbreiten oder den Entwurf des Durchführungsrechtsakts einem sog. Berufungsausschuss zur weiteren Beratung vorlegen (Art. 30 Abs. 2 UAbs. 2 mit Verweis auf das Verfahren nach Artikel 5 Absatz 4 UAbs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011). Wird der Berufungsausschuss angerufen, so gibt dieser wie der Prüfungsausschuss ebenfalls mit qualifiziertem Mehr eine Stellungnahme ab. Eine befürwortende oder ablehnende Stellungnahme des Berufungsausschusses ist für die Kommission verbindlich. Gibt der Berufungsausschuss hingegen keine Stellungnahme ab, kann die Kommission den Durchführungsrechtsakt erlassen.

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Die Schweiz ist gestützt auf die Komitologie-Vereinbarung71 an der Arbeit des Schengen-Ausschusses beteiligt. Sie kann sich zu sämtlichen in diesem Ausschuss behandelten Angelegenheiten äussern und Vorschläge einreichen. Einzig über ein Stimmrecht verfügt sie nicht. Da jedoch im Regelfall in den Komitologie-Ausschüssen der Konsens gesucht und selten abgestimmt wird, wirkt sich das fehlende Stimmrecht nur beschränkt aus.

Artikel 31­33 Inkrafttreten, Aufhebung und Anwendbarkeit Die Verordnung (EU) 2022/922 ist am 5. Juli 2022, 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl.), in Kraft getreten. Sie gilt in der EU seit dem 1. Oktober 2022 (Art. 33). Damit erfolgen die Mehrjahresplanung für den Evaluierungszyklus 2023­2029, die Jahresplanung 2023 sowie die Alimentierung des Expertenpools für das kommende Jahr bereits nach den Regeln des neuen Rechts.

Die Evaluierungen selbst werden ab Februar 2023 durchgängig nach Massgabe des neuen Rechts durchgeführt. Für die laufenden Evaluierungsverfahren, deren Besuche vor dem 1. Februar 2023 stattgefunden haben bzw. noch stattfinden, gilt, dass die Durchführung der Besuche und die Verabschiedung der Berichte und Empfehlungen noch nach Massgabe der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 erfolgen (Art. 31 Abs. 3).

Demgegenüber richtet sich der Follow-up, beginnend mit der Vorlage der Aktionspläne zur Umsetzung der Empfehlungen, nach den Regeln des neuen Regimes, was insbesondere zur Folge hat, dass die betroffenen Staaten von den längeren Berichterstattungsintervallen des neuen Rechts profitieren können.

Abgesehen von dieser Übergangsregelung entfaltet die bisherige Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 keine Wirkung mehr für die EU-Mitgliedstaaten. Mit dem Geltungsbeginn der Verordnung (EU) 2022/922 per 1. Oktober 2022 wurde sie aufgehoben (Art. 32). Für die Schweiz wird die Verordnung (EU) 2022/922 allerdings erst mit der Erfüllung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen (Art. 7 Abs. 2 Bst. b SAA) in Kraft treten (siehe oben Ziff. 1.3). Bis dahin bleiben für die Schweiz die Verpflichtungen aus der aktuellen Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 weiterhin relevant.

Gemäss ursprünglicher Mehrjahresplanung wäre die nächste regelmässige Evaluierung der Schweiz für das Jahr 2023 vorgesehen gewesen. Da aber eine Evaluierung der Schweiz nach Massgabe der
neuen Verordnung (EU) 2022/922 vor dem Abschluss des Verfahrens zu deren Übernahme nicht in Frage kommt, hat sich die Europäische Kommission bereit erklärt, die Evaluierung der Schweiz entsprechend auf einen späteren Termin zu verschieben. Gemäss der am 13. Januar 2023 von der Europäischen Kommission verabschiedeten neuen Mehrjahresplanung72, die für den Zeitraum 2023 bis 2029 gilt, werden die Schweiz, Österreich und Slowenien im Verlaufe des Jahres 2025 evaluiert werden. Nicht ganz ausgeschlossen ist indessen, dass 71

72

Vereinbarung vom 22. September 2011 zwischen der Europäischen Union sowie der Republik Island, dem Fürstentum Liechtenstein, dem Königreich Norwegen und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Beteiligung dieser Staaten an der Arbeit der Ausschüsse, die die Europäische Kommission bei der Ausübung ihrer Durchführungsbefugnisse in Bezug auf die Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des SchengenBesitzstands unterstützen, SR 0.362.11.

Durchführungsbeschluss K(2023) 57 endg., nicht zur Veröffentlichung im ABl. bestimmt.

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die Schweiz von unangekündigten oder thematischen Evaluierungen betroffen sein könnte. Bis zum Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2022/922 für die Schweiz müssten die Evaluierungen jedoch nach Massgabe der Regeln der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 durchgeführt werden.

4

Auswirkungen

4.1

Auswirkungen auf den Bund und die Kantone

Bis zur definitiven Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 wird sich die Schweiz weiterhin auf der Basis der Verordnung (EG) Nr. 1052/2013 an der Schengen-Evaluierung beteiligen. Für die Zeit danach ist nach jetzigem Sachstand davon auszugehen, dass die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 im Vergleich zum status quo keine grundlegenden Änderungen für den Bund und die Kantone mit sich bringt. So können die Vollzugsbehörden des Bundes und der Kantone von einer Evaluierung der Schweiz betroffen sein, und umgekehrt sind Bund und Kantone ­ je nach Sachbereich ­ gleichermassen aufgerufen, Sachverständige für die Teilnahme an Evaluierungen anderer Schengen-Staaten zur Verfügung zu stellen. Was die Einrichtung des Expertenpools angeht, so ist davon auszugehen, dass die Anzahl der Evaluierungen ebenso wie die zeitliche Beanspruchung der Expertinnen und Experten künftig zwar tendenziell zunehmen werden, da die Sachverständigen ja nicht nur die Evaluierungsbesuche vor Ort durchführen und die Berichte redigieren, sondern die Europäische Kommission während des gesamten Verfahrens, insbesondere auch im Follow-up. unterstützen. Hinzu kommt die Zeit für die Ausbildungs- und Auffrischungskurse, welche die Expertinnen und Experten durchlaufen müssen, sowie für allfällige weitere Missionen im Rahmen von erneuten und Überprüfungsbesuchen. Gleichwohl dürfte die Schweiz mit dem bestehenden Personalbestand ihre Verpflichtungen zur Bereitstellung von Sachverständigen sicherstellen können, hat sie doch bereits unter dem alten Regime vergleichsweise häufig Sachverständige für die Evaluierung anderer Schengen-Staaten zur Verfügung gestellt.

Auf organisatorischer Ebene können die bestehenden Organisationsstrukturen zur Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Stellen der Bundesverwaltung wie auch zwischen ihnen und den Kantonen beibehalten werden, da die Funktionsweise und der Ablauf des Mechanismus keine grundlegenden Änderungen erfahren. Allerdings ist insbesondere aufgrund des stärkeren Einbezugs der politischen Ebene im Rahmen des Schengen-Zyklus mit einem geringfügigen administrativen Mehraufwand insbesondere für den Bund zu rechnen.

Was schliesslich die finanziellen Auswirkungen anbelangt, so ist nach dem jetzigen Stand der Dinge davon auszugehen, dass die aufgrund der Evaluierung der Schweiz anfallenden Kosten,
die vom Bund getragen werden, sich im bisherigen Rahmen bewegen werden. Zum einen bleiben die Grundsätze der Kostenverteilung für die Teilnahme von nationalen Expertinnen und Experten an Schengen-Evaluierungen unverändert bestehen. Die Europäische Kommission übernimmt also weiterhin die Kosten für Reise und Unterkunft der Expertenteams, während der evaluierte Staat die übrigen Kosten (z.B. für Transport oder Simultanübersetzung) bestreiten muss. Zum anderen darf davon ausgegangen werden, dass die Schweiz auch inskünftig nicht primäres Ziel 42 / 48

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von (unangekündigten) Evaluierungen sein wird, weshalb sich die Anzahl der Evaluierungen der Schweiz ungefähr im bisherigen Rahmen bewegen dürfte.

4.2

Auswirkungen in weiteren Bereichen

In den Bereichen Volkswirtschaft, Gesellschaft und Umwelt sind keine nennenswerten Auswirkungen zu erwarten.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)73, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig. Eine Ausnahme bilden jene Verträge, für deren Abschluss der Bundesrat laut Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag zuständig ist (Art. 7a Abs. 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes [RVOG]74; Art. 24 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes [ParlG]75) oder wenn es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag von geringer Tragweite handelt (Art. 7a Abs. 2 RVOG).

Vorliegend besteht keine spezialgesetzliche Delegationsnorm, welche den Bundesrat zum selbstständigen Abschluss des Notenaustausches ermächtigt. Dieser kann auch nicht als völkerrechtlicher Vertrag von beschränkter Tragweite gemäss Artikel 7a Absatz 2 RVOG qualifiziert werden. Der Notenaustausch zur Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 ist entsprechend der Bundesversammlung zur Genehmigung vorzulegen.

5.2

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Mit der Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 als Schengen-Weiterentwicklung erfüllt die Schweiz ihre Verpflichtungen gegenüber der EU, die sie im Rahmen des SAA eingegangen ist. Nach Artikel 2 Absatz 3 iVm. Art. 7 SAA ist sie verpflichtet, Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands grundsätzlich zu übernehmen und anzuwenden. Die Schweiz gewährleistet damit, dass sie sich weiterhin an der Schengen-Evaluierung anderer Staaten beteiligt und auch selbst in diesem Rahmen über-

73 74 75

SR 101 SR 172.010 SR 171.10

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prüft wird, um so einen wichtigen Beitrag für das gegenseitige Vertrauen unter den beteiligten Staaten und das gute Funktionieren des Schengen-Raumes zu leisten.

5.3

Erlassform

Die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 stellt keinen Beitritt der Schweiz zu einer Organisation für kollektive Sicherheit oder zu einer supranationalen Gemeinschaft dar. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des entsprechenden Notenaustausches ist deshalb nicht dem obligatorischen Referendum nach Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV zu unterstellen.

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie unbefristet und unkündbar sind (Ziff. 1), den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen (Ziff. 2) oder wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Ziff. 3). Nach Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten insbesondere Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssen.

Der vorliegende Notenaustausch wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, kann aber jederzeit gekündigt werden und sieht keinen Beitritt zu einer internationalen Organisation vor. Die zu übernehmende Verordnung (EU) 2022/922 ist zudem ein detailliert ausgestalteter Rechtsakt der EU, dessen Bestimmungen direkt anwendbar sind und mit keiner Bestimmung des schweizerischen Rechts in Widerspruch stehen. Es bedarf daher keiner Umsetzung im schweizerischen Recht, weder auf Gesetzes- noch auf Verordnungsstufe. Die Verordnung (EU) 2022/922 auferlegt den Schengen-Staaten indes bedeutende Verpflichtungen. So sind sie etwa verpflichtet, im Rahmen der Evaluierungsverfahren mittels Fragebogen schriftliche Auskünfte zu erteilen (vgl. Art. 14 Abs. 3 und 4) und für die Durchführung der Besuche vor Ort unterstehen die Schengen-Staaten weitgehenden Duldungs- und Kooperationspflichten (vgl. Art. 3 Abs. 5, Art. 19). Weiter müssen sie mindestens eine Sachverständige oder einen Sachverständigen je Sachbereich für den Expertenpool stellen und jeweils für die Dauer eines Jahres zur Verfügung halten (vgl. Art. 17). Die Verordnung sieht zudem die Möglichkeit der Kommission vor, unangekündigte Evaluierungen oder Überprüfungsbesuche in den Schengen-Staaten
durchzuführen (vgl. Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Bst. c), u.U. auch ganz ohne vorherige Benachrichtigung (vgl. Art. 19 Abs. 4). Schliesslich sieht die Verordnung eine formalisierte Überwachung der Folgemassnahmen vor. Auch wenn die an den evaluierten Staat gerichteten Empfehlungen nur insoweit rechtverbindlich sind, als sie einen Verstoss gegen geltende Verpflichtungen aus dem SchengenBesitzstands feststellen, so ist dieser dennoch verpflichtet, innert einer bestimmten Frist einen Aktionsplan zur Beseitigung jeglicher festgestellten Mängel vorzulegen (vgl. Art. 21 Abs. 1 und 2, Art. 22 Abs. 6). Zudem untersteht der evaluierte SchengenStaat einer Berichterstattungspflicht bis zur vollständigen Durchführung des Aktionsplans (vgl. Art. 21 Abs. 3), und es können Überprüfungsbesuche angesetzt werden, 44 / 48

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wobei diese in gewissen Fällen sogar obligatorisch sind (vgl. Art. 22 Abs. 9, Art. 23 Abs. 5).

Der Notenaustausch betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/922 enthält damit wichtige rechtsetzende Bestimmungen, die innerstaatlich auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Demzufolge ist der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Notenaustausches dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen. Die Bundesversammlung genehmigt völkerrechtliche Verträge, die dem Referendum unterliegen, in der Form eines Bundesbeschlusses (Art. 24 Abs. 3 ParlG).

5.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen (die Ausgaben über einem Schwellenwert nach sich ziehen) geschaffen, noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über einem der Schwellenwerte) beschlossen.

Die Vorlage ist somit nicht der Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.

45 / 48

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Abkürzungsverzeichnis ABl.

Amtsblatt der Europäischen Union

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (konsolidierte Fassung), ABl. C 326 v. 26.10.2012, S. 47

BV

Bundesverfassung, SR 101

Conseiller JAI

informelle Ratsarbeitsgruppe, die aus den Mitarbeitenden der ständigen Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel zusammengesetzt ist.

COREPER

Ausschuss der Ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten

DAA

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags, SR 0.142.392.68

EU-Komitologie- Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments Verordnung und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, ABl. L 55 v. 28.2.2011, S. 13 eu.LISA

Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Grosssystemen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht

Europol

Europäisches Polizeiamt

EUV

Vertrag über die Europäische Union (konsolidierte Fassung), ABl. C 326 v. 26.10.2012, S. 13

FRA

Europäische Agentur für Grundrechte

Frontex

Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache

KomitologieVereinbarung

Vereinbarung vom 22. Sept. 2011 zwischen der Europäischen Union sowie der Republik Island, dem Fürstentum Liechtenstein, dem Königreich Norwegen und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Beteiligung dieser Staaten an der Arbeit der Ausschüsse, die die Europäische Kommission bei der Ausübung ihrer Durchführungsbefugnisse in Bezug auf die Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands unterstützen; SR 0.362.11

iVm.

in Verbindung mit

ParlG

Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 2002, SR 171.10

RVOG

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997, SR 172.010

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BBl 2023 1680

SAA

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des SchengenBesitzstands, SR 0.362.31

SchengenAusschuss

Komitologie-Ausschuss, der die Kommission gemäss Artikel 30 der Verordnung (EU) 2022/922 unterstützt

SCHEVAL

Ratsarbeitsgruppe Schengen-Evaluierung

SIRENE

Nationale Kontaktstelle für alle Fahndungen via das SIS (SIRENE = Supplementary Information Request at the National Entries)

SIS

Schengener Informationssystem

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BBl 2023 1680

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