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Wahrung der Grundrechte durch die Bundesbehörden bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie am Beispiel der Ausweitung des Covid-Zertifikats Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 30. Juni 2023

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Das Wichtigste in Kürze Der Bundesrat ergriff zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie verschiedene Massnahmen, mit denen die Grundrechte eingeschränkt wurden. Die Bundesverfassung schreibt vor, dass solche Einschränkungen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sowie verhältnismässig sein müssen. In der Pandemie sorgte die Einhaltung dieser Kriterien in bestimmten Fällen für Kontroversen in der Öffentlichkeit. Bei den Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte (GPK) gingen in diesem Zusammenhang mehrere Eingaben ein.

Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) beschloss, dieses Thema aus Sicht der parlamentarischen Oberaufsicht zu vertiefen und sich dabei auf den Beschluss des Bundesrates vom Dezember 2021 über die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Covid-19-Zertifikats zu konzentrieren. Anhand dieses konkreten Beispiels untersuchte die Kommission, wie die zuständigen Bundesbehörden (Eidgenössisches Departement des Innern [EDI], Bundesamt für Gesundheit [BAG] und Bundesamt für Justiz [BJ]) die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten prüften, ob das Resultat der Prüfung unter dem Aspekt der Rechtmässigkeit angemessen war und welche Lehren aus diesem Beispiel für die Zukunft gezogen werden können.

Für die Kommission besteht kein Zweifel daran, dass der Beschluss vom Dezember 2021 über die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht eine erhebliche Einschränkung der Grundrechte bedeutete und dass eine solche Massnahme mit grosser Zurückhaltung und unter strikter Einhaltung der Verfassung getroffen werden muss. Sie gelangt aufgrund ihrer Abklärungen zum Schluss, dass das EDI, das BAG und das BJ vorliegend ­ auf der Grundlage des damaligen Wissensstands und angesichts der pandemiebedingten Ausnahmesituation ­ die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kriterien angemessen prüften. Die GPK-N erkennt aus Sicht der Oberaufsicht keine Hinweise auf grundlegende Mängel in der diesbezüglichen Geschäftsführung der zuständigen Behörden. Sie ist indes der Ansicht, dass aus diesem Fall einige allgemeingültige Lehren für künftige Krisen gezogen werden können.

Die Zusammenarbeit zwischen dem BAG und dem BJ im Fall der Ausweitung der
Covid-19-Zertifikatspflicht bilanziert die Kommission insgesamt positiv. Sie hält fest, dass das BJ systematisch zu den jeweiligen Verordnungsentwürfen konsultiert wurde und sich die Ämter häufig und eng austauschten. Angesichts der kurzen Fristen und der schwer zu prognostizierenden Pandemieentwicklung ist es für die Kommission nachvollziehbar, dass das BJ in einem ersten Schritt nur eine summarische Prüfung der Verfassungsmässigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen vornehmen konnte. Sie weist darauf hin, dass das Bundesamt dem Kriterium der Verhältnismässigkeit nach dem Beschluss des Bundesrates vom Dezember 2021 besondere Aufmerksamkeit schenkte und sich diesbezüglich im Rahmen verschiedener Ämterkonsultationen zu weiteren Verschärfungsvorschlägen kritisch äusserte. Die Kommission ersucht den Bundesrat, verschiedene Massnahmen zur Stärkung der Kontrollfunktion des BJ in Krisenzeiten zu prüfen (Empfehlung 1).

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Das EDI und das BJ sind der Auffassung, dass für die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht eine ausreichende gesetzliche Grundlage im EpG bestand. Die GPK-N hält diese Argumentation für rechtlich zulässig. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, dass das Gesetz dem Bundesrat einen gewissen Ermessensspielraum hinsichtlich der Massnahmen einräumt, die im Falle einer Pandemie ergriffen werden müssen. Die Kommission fragt sich indes, ob es aus politischer Sicht nicht zweckmässig gewesen wäre, im Jahr 2021 eine Bestimmung in das EpG aufzunehmen, in welcher der Zweck und die Ziele des Zertifikats expliziter bezeichnet werden. Die GPK-N hält dennoch fest, dass die Legitimation des Zertifikats indirekt auch durch mehrere andere Massnahmen gestärkt wurde. Sie bittet den Bundesrat, bei der geplanten Revision des EpG zu prüfen, ob der gesetzliche Rahmen betreffend den Immunitätsstatus im Hinblick auf künftige Pandemien präzisiert werden sollte (Empfehlung 2).

In Bezug auf das Kriterium des überwiegenden öffentlichen Interesses besteht aus Sicht der GPK-N kein Zweifel, dass die Covid-19-Pandemie eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellte. Es ist zudem festzuhalten, dass in der Phase Anfang Dezember 2021 die Unsicherheit in Bezug auf die Entwicklung der Gesundheitslage am grössten war. Darüber hinaus kommunizierte der Bundesrat klar, dass die von ihm geplanten Massnahmen den Schutz der Spitalstrukturen zum Ziel hatten. Die GPK-N erachtet es ferner als sinnvoll, dass sich der Bundesrat bei der Beurteilung der epidemiologischen Lage auf mehrere Indikatoren stützte und diese regelmässig überprüfte. Aus ihrer Sicht stellt sich hingegen die Frage, wie relevant und präzis die einzelnen Indikatoren waren. Deshalb ersucht sie den Bundesrat, die Relevanz und Präzision der einzelnen Indikatoren gestützt auf die heutigen Kenntnisse zu evaluieren und auf dieser Grundlage eine Liste potenzieller Indikatoren zu erstellen, die bei einer künftigen Pandemie verwendet werden können (Empfehlung 3). Ausserdem hält es die Kommission für notwendig, dass der Bundesrat prüft, ob die Kriterien im EpG für den Übergang zur besonderen Lage bzw. für deren Aufrechterhaltung präzisiert werden sollten (Empfehlung 4).

Die Kommission ist der Auffassung, dass die zuständigen Behörden die Frage der Verhältnismässigkeit der Massnahmen
im Zusammenhang mit dem Covid-Zertifikat angemessen behandelten. Das EDI und das BAG stützten sich auf die aktuellsten Informationen, um die Angemessenheit einer Ausweitung der Zertifikatspflicht zu beurteilen. Die Behörden achteten nach Ansicht der GPK-N darauf, dass die Massnahmen sowohl durch ihre Ausgestaltung wie auch durch ihre zeitliche und räumliche Begrenzung die Verhältnismässigkeit wahrten. Das BJ stellte sich ausserdem regelmässig die Frage, ob es notwendig war, die betreffenden Massnahmen beizubehalten. Darüber hinaus weist die GPK-N darauf hin, dass der Bundesrat bei seiner jeweiligen Interessenabwägung allen relevanten Aspekten Rechnung trug. Die Kommission hält ausserdem fest, dass der Beschluss des Bundesrates vom Dezember 2021 zur Ausweitung der Covid-19-Zertifikatspflicht mit den strategischen Leitlinien übereinstimmt, die er zu einem früheren Zeitpunkt des Jahres definiert hatte. Zu guter Letzt erinnert sie daran, dass die Massnahmen in einer Phase beschlossen wurden, die von grosser Unsicherheit geprägt war und diesem Umstand bei der rückblickenden Beurteilung derselben Rechnung getragen werden muss.

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Inhaltsverzeichnis Das Wichtigste in Kürze

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Einleitung

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Gegenstand des Berichts

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Vorgehen der GPK-N

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Chronologie der Ereignisse

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Klärung des Sachverhalts 5.1 Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien durch die zuständigen Bundesbehörden 5.2 Erläuterungen der zuständigen Bundesbehörden zum Resultat der Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien 5.2.1 Kriterium der gesetzlichen Grundlage 5.2.2 Kriterium des überwiegenden öffentlichen Interesses 5.2.3 Kriterium der Verhältnismässigkeit

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Beurteilung der GPK-N und Empfehlungen 6.1 Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien durch die zuständigen Bundesbehörden 6.2 Erläuterungen der zuständigen Behörden zum Resultat der Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien 6.2.1 Kriterium der gesetzlichen Grundlage 6.2.2 Kriterium des überwiegenden öffentlichen Interesses 6.2.3 Kriterium der Verhältnismässigkeit

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Schlussfolgerungen

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Abkürzungsverzeichnis

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Anhänge: 1 Schreiben des EDI vom 14. April 2022 an die GPK-N 2 Schreiben des BJ vom 13. April 2022 an die GPK-N

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Bericht 1

Einleitung

Zur Eindämmung der Risiken im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie1 ergriff der Bundesrat zwischen 2020 und 2022 verschiedene Gesundheitsmassnahmen, die eine Einschränkung der Grundfreiheiten der Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz zur Folge hatten (Beschränkung oder Aussetzung bestimmter Aktivitäten, Einschränkungen für private oder öffentliche Versammlungen oder Reisen, Einschränkung bestimmter demokratischer Rechte usw.). Die meisten dieser Massnahmen wurden auf der Grundlage des in der Bundesverfassung (BV)2 verankerten Notrechts oder des Epidemiengesetzes (EpG)3 ergriffen.

Die Frage, ob bei den bundesrätlichen Massnahmen die in der Verfassung für eine Einschränkung der Grundrechte vorgesehenen Kriterien eingehalten wurden, wurde in einigen Fällen in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Gemäss Artikel 36 BV bedürfen Einschränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage (Abs. 1), müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein (Abs. 2) und müssen verhältnismässig sein (Abs. 3).

Ende 2021 und Anfang 2022 liess die Gruppierung «Juristen Komitee»4 den eidgenössischen Räten drei Schreiben5 zukommen, in denen sie Kritik zu diesem Aspekt übte. Diese bezog sich insbesondere auf die Beschlüsse des Bundesrates vom September und Dezember 2021, mit denen eine Pflicht zur Vorlage eines Covid-19-Gesundheitszertifikats für den Zugang zu bestimmten Orten oder Aktivitäten eingeführt worden war.6 Die Schreiben des «Juristen Komitees» wurden zur Behandlung an die Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte (GPK) weitergeleitet. Die GPK führen

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Im Folgenden: «Covid-19-Krise», «Krise», «Covid-19-Pandemie» oder «Pandemie».

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999 (SR 101).

Insbesondere Artikel 185 Absatz 3 BV sieht vor, dass der Bundesrat «Verordnungen und Verfügungen erlassen [kann], um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen».

Bundesgesetz vom 28.9.2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101).

www.juristen-komitee.ch (Stand 12.12.2022). Diese Gruppierung umfasst laut den Informationen auf ihrer Website mehr als 300 Juristinnen und Juristen aus 22 Kantonen und setzt sich für die «verfassungsmässige Grundordnung und Demokratie» ein.

Schreiben des «Juristen Komitees» vom 24.12.2021 an die Nationalratspräsidentin und den Ständeratspräsidenten («Deklaration von Schweizer Juristen: 2G-Zertifikatspflicht ist verfassungswidrig»); Schreiben des «Juristen Komitees» vom 11.2.2022 an die Geschäftsprüfungskommissionen («Petition des Juristen Komitees: Sofortige Rückkehr zur Verfassung und Untersuchung»); Schreiben des «Juristen Komitees» vom 9.3.2022 an die Geschäftsprüfungskommissionen («Ihr Antwortschreiben vom 21. Februar 2022»).

Diese Schreiben können auf der Website des «Juristen Komitees» eingesehen werden.

Für weitere Informationen siehe Kap. 4. In seinen Schreiben formulierte das «Juristen Komitee» auch verschiedene Forderungen an das Parlament wie die Aufhebung der besonderen Lage im Sinne des EpG und die Einsetzung einer Untersuchungskommission.

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als parlamentarisches Oberaufsichtsorgan seit 2020 eine Inspektion über den Umgang des Bundesrates und der Bundesverwaltung mit der Covid-19-Krise7 durch.

Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N), die mit der Behandlung dieses Dossiers betraut ist, nahm Kenntnis von der grundsätzlichen Kritik des «Juristen Komitees» an der fehlenden Verfassungsmässigkeit der Bundesmassnahmen zur Bewältigung der Pandemie, aber auch von anderen Fragen, die von einigen Juristinnen und Juristen im Zusammenhang mit diesem Thema aufgeworfen wurden.8 Da einige Aspekte aus Sicht der Oberaufsicht von allgemeinem Interesse sein könnten, beschloss die Kommission, diese mit den zuständigen Bundeseinheiten zu vertiefen. Die Kommission legt in diesem Bericht auf der Grundlage ihrer Abklärungen ihre Beurteilung dar.

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Gegenstand des Berichts

Die GPK-N konzentrierte sich bei ihrer Untersuchung auf den Beschluss des Bundesrates vom 17. Dezember 2021 über die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Covid-Zertifikats9 (im Folgenden «Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht»). Anhand dieses konkreten Beispiels prüfte die Kommission folgende Fragen: 1.

Wie vergewisserten sich die zuständigen Bundesbehörden ­ d. h. das Eidgenössische Departement des Innern (EDI), das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das Bundesamt für Justiz (BJ) ­, dass die Voraussetzungen von Artikel 36 BV über die Einschränkung von Grundrechten erfüllt sind?

2.

Zu welchem Resultat kamen sie bei ihrer Prüfung?

3.

War das Resultat ihrer Prüfung unter dem Aspekt der Rechtmässigkeit angemessen?

4.

Welche Lehren können aus diesem Beispiel für ähnliche Situationen in der Zukunft gezogen werden?

In Übereinstimmung mit ihrem gesetzlichen Auftrag und ihren Handlungsgrundsätzen10 vertiefte die GPK-N diesen Fall unter dem Gesichtspunkt der Oberaufsicht über die Geschäftsführung der Bundesbehörden. Bei ihrer Untersuchung legte sie im vor-

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Die GPK leiten eine Inspektion zur Aufarbeitung der Bewältigung der Covid-19Pandemie durch die Bundesbehörden ein, Medienmitteilung der GPK vom 26.5.2020.

Ein Überblick über die von den GPK im Rahmen dieser Inspektion untersuchten Themen findet sich in Kap. 4 der Jahresberichte 2020 (vom 26.1.2021), 2021 (vom 25.1.2022) und 2022 (vom 24.1.2023) der Geschäftsprüfungskommissionen und der Geschäftsprüfungsdelegation (BBl 2021 570, BBl 2022 513, BBl 2023 579).

Siehe beispielsweise Biaggini, Giovanni (2022): Das Verfassungsgefüge im Stresstest der Pandemie. In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 123/2022, S. 59­91.

Coronavirus: Bundesrat beschliesst weitergehende Massnahmen, Medienmitteilung des Bundesrates vom 17.12.2021. Siehe auch Kap. 4.

Handlungsgrundsätze der GPK vom 30.1.2015 (BBl 2015 4841).

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liegenden Fall den Schwerpunkt auf das Kriterium der Rechtmässigkeit11 und in geringerem Masse auf die Kriterien der Zweckmässigkeit und der Wirksamkeit. Die Kommission analysierte insbesondere, ob die drei in Artikel 36 BV genannten Voraussetzungen von den zuständigen Stellen angemessen geprüft wurden, ob die Resultate dieser Prüfung plausibel erschienen und ob die gelieferten Erklärungen Verbesserungspotenzial bei der Geschäftsführung erkennen liessen. Für die Kommission ist es von zentraler Bedeutung, dass die Resultate dieser Prüfung der Öffentlichkeit transparent präsentiert werden. Dieser Bericht trägt zu einer höheren Transparenz bei.

Die GPK-N konzentrierte sich bei ihren Arbeiten darauf, wie das EDI, das BAG und das BJ im Rahmen der Vorbereitung der Bundesratsbeschlüsse prüften, ob die Voraussetzungen von Artikel 36 BV erfüllt sind. Die Kommission geht in diesem Bericht nicht auf die Modalitäten des endgültigen Beschlusses des Bundesrates ein. Dieser ist das Ergebnis einer politischen Interessenabwägung, die neben dem Aspekt der Verfassungsmässigkeit auch andere Elemente umfasst.

Die GPK-N hält zudem fest, dass ihre Beurteilung auf dem Wissensstand der Behörden zum Zeitpunkt ihrer damaligen Beschlüsse beruht und nicht auf einer retrospektiven Analyse auf der Grundlage des heutigen Wissensstands. Die Kommission weist darauf hin, wie wichtig es ist, das untersuchte Handeln in seinem Kontext zu berücksichtigen: Die Bundesbehörden mussten ihre Entscheide sehr kurzfristig und auf Grundlage bisweilen unvollständiger oder ungesicherter Informationen treffen. Die GPK-N geht davon aus, dass die Erklärungen, die ihr von den zuständigen Bundesbehörden geliefert wurden, ihr damaliges Handeln wahrheitsgetreu wiedergeben.

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Das Kriterium der Rechtmässigkeit ­ also die Überprüfung, ob der Bundesrat die Verfassung einhielt ­ ist Teil des Auftrags der GPK. Die GPK analysieren diesen Aspekt jedoch nicht unter demselben Gesichtspunkt wie ein Gericht. Gemäss ihren Handlungsgrundsätzen ist es unter anderem ihr Ziel, Bereiche zu ermitteln, in denen politischer Handlungsbedarf besteht, Lehren für eine kohärente Anwendung der Gesetzgebung zu ziehen, zu einer besseren Geschäftsführung beizutragen und sich für mehr Transparenz in Bezug auf das behördliche Handeln einzusetzen. Die Beurteilung der GPK-N ist kein Gerichtsurteil und die Schlussfolgerungen der Kommission nehmen mögliche künftige Entscheide der Justizbehörden nicht vorweg.

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Vorgehen der GPK-N

Die Schreiben des «Juristen Komitees» wurden von der GPK-N wie Eingaben im Sinne von Artikel 129 des Parlamentsgesetzes (ParlG)12 behandelt. Die GPK-N betraute ihre Subkommission EDI/UVEK13 mit den Abklärungen in diesem Dossier und mit der Erhebung des relevanten Sachverhalts.

Die Subkommission ersuchte das EDI und das BJ, zu den vom «Juristen Komitee» aufgeworfenen Aspekten schriftlich Stellung zu nehmen. Da die Antworten dieser beiden Stellen von öffentlichem Interesse sind, beschloss die Kommission, die Stellungnahmen im Anhang zu diesem Bericht zu veröffentlichen (siehe Anhänge 1 und 2). Sie hörte zudem Vertreterinnen und Vertreter des EDI, des BAG und des BJ an.14 Ende 2022 richtete sie weitere schriftliche Fragen an das EDI und an das Schweizerische Heilmittelinstitut (Swissmedic).

Im November 2022 beschloss die Subkommission, in einem Kurzbericht eine Zusammenfassung des ihr bekannten Sachverhalts und ihre Schlussfolgerungen darzulegen.

Dieser Bericht wurde den betroffenen Stellen zur Stellungnahme vorgelegt. Die GPK-N beriet und genehmigte an ihrer Plenarsitzung vom 30. Juni 2023 die Endfassung des Berichts und liess diesen dem Bundesrat zukommen. An derselben Sitzung beschloss sie zudem, diesen Bericht zu veröffentlichen.

Kapitel 4 enthält eine kurze Chronologie der Ereignisse. In Kapitel 5 legt die GPK-N die wichtigsten bei den zuständigen Stellen eingeholten Informationen und Erläuterungen dar. In Kapitel 6 nimmt die Kommission eine Beurteilung aus Sicht der parlamentarischen Oberaufsicht vor. Kapitel 7 schliesslich ist den Schlussfolgerungen gewidmet.

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Bundesgesetz vom 13.12.2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG; SR 171.10). Gemäss Artikel 129 ParlG prüfen die GPK Bürgereingaben unter dem Gesichtspunkt der parlamentarischen Oberaufsicht, soweit diese Eingaben Hinweise auf allfällige systembedingte Missstände oder Mängel bei der Umsetzung von Gesetzen oder bei der Geschäftsführung der Bundesbehörden enthalten. Solche Eingaben stellen kein Rechtsmittel dar und haben keine Rechtsansprüche für die Eingeber zur Folge.

Die GPK entscheiden frei darüber, ob sie auf die ihnen unterbreiteten Aufsichtseingaben eintreten und, wenn ja, wie sie mit diesen verfahren.

Die Subkommission EDI/UVEK der GPK-N setzt sich zusammen aus den Nationalratsmitgliedern Thomas de Courten (Präsident), Angelo Barrile, Katja Christ, Alois Huber, Christian Imark, Matthias Samuel Jauslin, Priska Seiler Graf, Marianne Streiff-Feller (bis August 2022), Lilian Studer (ab August 2022) und Michael Töngi.

Lukas Gresch, Generalsekretär des EDI, Michael Gerber, Leiter Abteilung Recht und Mitglied der Geschäftsleitung des BAG, Fosca Gattoni Losey, stellvertretende Leiterin der Sektion Heilmittelrecht des BAG, Susanne Kuster, Leiterin Direktionsbereich Öffentliches Recht und stellvertretende Direktorin des BJ, Gabriel Gertsch, Jurist im Fachbereich Rechtsetzungsbegleitung I des BJ.

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Chronologie der Ereignisse

Im März 2021 nahm das Schweizer Parlament ­ neben anderen Änderungen ­ Artikel 6a betreffend die Impf-, Test- und Genesungsnachweise15 in das Covid-19-Gesetz16 auf. Diese Gesetzesänderung wurde mit dem Referendum bekämpft. Sie wurde am 28. November 2021 von der Stimmbevölkerung mit 62 Prozent der Stimmen angenommen.

Am 19. Mai 2021 präsentierte der Bundesrat die Grundzüge des künftigen Einsatzes des Covid-Zertifikats und legte sie den Kantonen, Sozialpartnern und parlamentarischen Kommissionen zur Konsultation vor.17 Am 4. Juni 2021 verabschiedete er die Covid-19-Verordnung Zertifikate18, welche die Aufgaben des Bundes und der Kantone in diesem Bereich präzisierte. Diese hielt fest, dass das Zertifikat für Geimpfte, für Genesene und für Personen mit einem negativen Testergebnis bestimmt ist (3G-Regel19).

Am 23. Juni 202120 nahm der Bundesrat zum ersten Mal eine Bestimmung zum Einsatz des Covid-Zertifikats in die Covid-19-Verordnung besondere Lage21 auf. Ein Zertifikat war insbesondere für den Zugang zu Diskotheken und Tanzlokalen sowie zu Grossveranstaltungen erforderlich.

Angesichts einer starken Zunahme der Covid-19-Fälle im August 2021 beschloss der Bundesrat am 25. August, eine Konsultation zur Ausweitung der Zertifikatspflicht zu starten.22 In Anbetracht der nach wie vor angespannten Lage in den Spitälern beschloss der Bundesrat am 8. September 2021, die Zertifikatspflicht namentlich auf Restaurants sowie auf Kultur- und Freizeiteinrichtungen auszudehnen.23

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Dieser betraf die technischen Anforderungen für die Ausstellung des Nachweises, legte aber nicht fest, wie dieser verwendet werden sollte, ausser dass er «möglichst für die Ein- und Ausreise in andere Länder verwendet werden kann».

Bundesgesetz vom 25.9.2020 über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie (Covid-19-Gesetz; SR 818.102), Fassung vom 20.3.2021.

Coronavirus: Bundesrat konkretisiert Einsatz des Covid-Zertifikats, Medienmitteilung des Bundesrates vom 19.5.2021.

Verordnung vom 4.6.2021 über Zertifikate zum Nachweis einer Covid-19-Impfung, einer Covid-19-Genesung oder eines Covid-19-Testergebnisses (Covid-19-Verordnung Zertifikate; SR 818.102.2).

«Geimpft, genesen, getestet» Coronavirus: Bundesrat beschliesst weiteren, grossen Öffnungsschritt und erleichtert die Einreise in die Schweiz, Medienmitteilung des Bundesrates vom 23.6.2021.

Verordnung vom 23.6.2021 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26).

Diese Verordnung stützte sich auf Artikel 6 Absatz 2 Buchstaben a und b EpG.

Coronavirus: Bundesrat startet vorsorglich eine Konsultation zur Ausdehnung der Zertifikatspflicht, Medienmitteilung des Bundesrates vom 25.8.2021 Dieser Vorschlag wurde von den Kantonen mehrheitlich positiv aufgenommen.

Coronavirus: Bundesrat dehnt Zertifikatspflicht aus und startet Konsultation zu neuen Einreisebestimmungen, Medienmitteilung des Bundesrates vom 8.9.2021.

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Am 3. Dezember 202124 beschloss der Bundesrat aufgrund des Auftretens der Omikron-Variante ­ die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ende November als besorgniserregend eingestuft worden war ­ und aufgrund einer erneuten Zunahme der Hospitalisierungen, den Anwendungsbereich des Zertifikats ein weiteres Mal auszudehnen.25 Zudem führte er in die Verordnung die Möglichkeit ein, den Zugang zu Veranstaltungen und Einrichtungen auf Geimpfte und Genesene zu beschränken (2G-Regel).

Da der Bundesrat die epidemiologische Lage als «sehr kritisch» einstufte, gab er am 10. Dezember 2021 zwei Varianten für weitergehende Massnahmen in Konsultation.26 Am 17. Dezember27 entschied er sich letztlich für eine Ausweitung der 2G-Regel auf mehrere Bereiche28, die teilweise mit einer Testpflicht einherging (2G+-Regel)29. Diese Massnahmen waren bis zum 24. Januar 2022 befristet.

Da nicht klar war, wie sich die epidemiologische Lage aufgrund der Omikron-Variante weiterentwickeln würde, verzichtete der Bundesrat am 31. Dezember 2021 darauf, weitergehende Massnahmen zu beschliessen.30 Nach Konsultation der Kantone und verschiedener Partner beschloss der Bundesrat am 19. Januar 2022, die Coronamassnahmen (insbesondere die 3G-, 2G- und 2G+Regeln) bis Ende März 2022 zu verlängern. Gleichzeitig teilte er mit, er werde laufend überprüfen, ob die Entwicklung der Pandemie eine frühere Aufhebung der Massnahmen zulasse.31 Angesichts der günstigen Entwicklung der Lage in den Spitälern beschloss der Bundesrat am 16. Februar 2022 schliesslich, praktisch alle Gesundheitsmassnahmen ­ einschliesslich aller Regeln zum Covid-Zertifikat ­ ab dem darauffolgenden Tag aufzuheben.32 Am 30. März 2022 gab der Bundesrat bekannt, die besondere Lage im Sinne des EpG per 1. April zu beenden und die letzten Gesundheitsmassnahmen aufzuheben.33

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Coronavirus: Bundesrat verstärkt die Massnahmen gegen die Pandemie, Medienmitteilung des Bundesrates vom 3.12.2021.

Namentlich für Innenräume für alle öffentlichen Veranstaltungen sowie für alle sportlichen und kulturellen Aktivitäten von Laien und bei Veranstaltungen im Freien mit mehr als 300 Teilnehmenden.

Coronavirus: Bundesrat schickt zwei Varianten für weitergehende Massnahmen in Konsultation, Medienmitteilung des Bundesrates vom 10.12.2021.

Coronavirus: Bundesrat beschliesst weitergehende Massnahmen, Medienmitteilung des Bundesrates vom 17.12.2021.

Namentlich für Innenräume von Restaurants, von Kultur-, Sport und Freizeitbetrieben sowie für Veranstaltungen im Innern, verbunden mit der Maskenpflicht.

Namentlich für Blasmusikproben, Diskotheken und Bars, aber nur für Personen, deren Impfung oder Genesung länger als vier Monate zurücklag.

Coronavirus: Bundesrat hat sich über die aktuelle Lage ausgetauscht, Medienmitteilung des Bundesrates vom 31.12.2021.

Coronavirus: Quarantäne und Homeoffice-Pflicht gelten bis Ende Februar; übrige Massnahmen provisorisch bis Ende März, Medienmitteilung des Bundesrates vom 19.1.2022.

Coronavirus: Bundesrat hebt Massnahmen auf ­ einzig Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und in Gesundheitseinrichtungen sowie Isolation bleiben noch bis Ende März, Medienmitteilung des Bundesrates vom 16.2.2022.

Coronavirus: Rückkehr in die normale Lage und Planung der Übergangsphase bis Frühling 2023, Medienmitteilung des Bundesrates vom 30.3.2022.

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Klärung des Sachverhalts

In diesem Kapitel präsentiert die GPK-N die Informationen und Erläuterungen, die sie vom EDI, vom BAG und vom BJ erhalten hat. Die Informationen aus den schriftlichen Stellungnahmen des EDI und BJ werden zusammengefasst wiedergegeben, da diese Dokumente im Anhang verfügbar sind.34 In einem ersten Schritt geht die Kommission darauf ein, wie das BAG und das BJ die verfassungsrechtlichen Kriterien im vorliegenden Fall prüften und sich dabei koordinierten (Kap. 5.1). Anschliessend legt sie die Erläuterungen dar, die sie von den Behörden zum Resultat dieser Prüfung für jedes der drei verfassungsrechtlichen Kriterien (gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit) erhielt (Kap. 5.2).

Als Vorbemerkung weist die Kommission darauf hin, wie wichtig es ist, das Handeln der Behörden im damaligen Kontext zu beurteilen35. Im Dezember 2021 sah sich die Schweiz ­ wie die meisten Länder der Welt ­ mit einer grossen Pandemiewelle konfrontiert, die auf das gleichzeitige Auftreten der Delta-Variante (die in der Schweiz ab August vorherrschend war) und der neuen Omikron-Variante (die von der WHO Ende November als besorgniserregend eingestuft worden war) zurückzuführen war.

Seit Anfang November hatten die laborbestätigten Fälle36 ­ ebenso wie die Hospitalisierungen37 und die Todesfälle38 ­ rasant zugenommen und das Gesundheitssystem unter Druck gesetzt. Zum damaligen Zeitpunkt bestand grosse Unsicherheit in Bezug auf die Gefährlichkeit der Omikron-Variante. In Anbetracht dieser Situation wollte der Bundesrat in erster Linie die Auswirkungen der Pandemie auf Einzelpersonen (insbesondere auf nicht immunisierte Personen) und auf das Gesundheitssystem (insbesondere die Aufrechterhaltung der Kapazitäten der Intensivpflegestationen)39 beschränken.

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Verweise auf die entsprechenden Passagen in den Schreiben sind in Fussnoten angegeben.

Auf diesen Kontext hat auch das EDI mehrfach hingewiesen. Das Departement teilte der GPK-N mit, dass der Bundesrat seine Beschlüsse nach bestem Wissen und Gewissen auf der Grundlage der damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse fasste. Dabei habe er sich insbesondere auf das Fachwissen des BAG und der Swiss National Covid-19 Science Taskforce (SN-STF) gestützt.

Im siebentägigen Durchschnitt: 2183 Fälle pro Tag per 1.11.2021, 8560 Fälle pro Tag per 17.12.2021. Quelle: BAG, Covid-19-Dashboard Schweiz, www.covid19.admin.ch (Stand 15.12.2022).

Im siebentägigen Durchschnitt: 43,57 Hospitalisierungen pro Tag per 1.11.2021, 118 Hospitalisierungen pro Tag per 17.12.2021. Quelle: BAG, Covid-19-Dashboard Schweiz, www.covid19.admin.ch (Stand 15.12.2022). Der Schwellenwert von 300 wegen Covid-19 auf den Intensivpflegestationen hospitalisierten Personen wurde am 13.12.2021 überschritten.

Im siebentägigen Durchschnitt: 4,14 Todesfälle pro Tag per 1.11.2021, 27,57 Todesfälle pro Tag per 17.12.2021. Quelle: BAG, Covid-19-Dashboard Schweiz, www.covid19.admin.ch (Stand 15.12.2022).

Siehe insbesondere Coronavirus: Bundesrat beschliesst weitergehende Massnahmen, Medienmitteilung des Bundesrates vom 17.12.2021.

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5.1

Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien durch die zuständigen Bundesbehörden

Die GPK-N informierte sich zuerst darüber, wie die zuständigen Bundesbehörden im Rahmen der Vorbereitung der Beschlüsse des Bundesrates über die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht prüften, ob die Kriterien von Artikel 36 BV erfüllt sind.

Das EDI und das BAG teilten mit, regelmässig geprüft zu haben, ob die Gesundheitsmassnahmen angesichts des Ziels, das Gesundheitssystem zu schützen, verhältnismässig sind.40 Das BAG präzisierte, die Befristung der Massnahmen habe die Behörden gezwungen, sich regelmässig die Frage zu stellen, ob die Massnahmen noch angebracht sind.41 Das BJ wiederum hat die Aufgabe, sämtliche Entwürfe rechtsetzender Erlasse auf ihre Verfassungs- und Gesetzmässigkeit, auf ihre Übereinstimmung und Vereinbarkeit mit dem geltenden nationalen und internationalen Recht sowie auf ihre inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen.42 Das Bundesamt berichtete der GPK-N, dass die Überprüfung der Rechtmässigkeit der Covid-19-Verordnungen eine besondere Herausforderung darstellte, da die Fristen sehr kurz waren und das BAG selbst unter hohem Zeitdruck stand. Die Revisionsentwürfe seien dem BJ bisweilen ohne erläuternden Bericht unterbreitet worden.43 Die stellvertretende Direktorin wies darauf hin, dass dem BJ kaum Informationen zur Verfügung standen, um die Verhältnismässigkeit der vorgesehenen Massnahmen selbstständig zu prüfen, und dass sich das Amt daher oft damit begnügen musste, die ihm vorgelegten Entwürfe auf offensichtliche Grundrechtsverletzungen zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Texte eine gewisse Kohärenz aufweisen. Sie führte aus, das Bundesamt habe seine Beurteilung auch auf öffentlich verfügbare wissenschaftliche Erkenntnisse und auf die Schlussfolgerungen der SN-STF gestützt.44 Gemäss den erhaltenen Informationen fand zwischen dem BAG und dem BJ insbesondere dank Telefonkonferenzen, an denen Argumente und Erklärungen ausgetauscht wurden, auch ausserhalb der formellen Konsultationsverfahren ein häufiger und enger Austausch über die Verhältnismässigkeit der Gesundheitsmassnahmen statt.45 Das BAG räumte ein, dass die Kontakte oft sehr kurzfristig erfolgten und nicht immer einen reflektierten Austausch ermöglichten, wie er in normalen Zeiten wünschenswert gewesen wäre.46 Laut Bundesamt wurden die vom BJ im Rahmen der Konsultationen aufgeworfenen Fragen «vertieft diskutiert und analysiert»47.

40 41

42

43 44 45 46 47

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022. Der Generalsekretär des EDI betonte zudem, es sei damals eine Herausforderung gewesen, sich regelmässig an die unbeständige epidemiologische Lage anpassen und gleichzeitig die rechtliche Stabilität gewährleisten zu müssen.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absätze 22 und 23. Laut BJ kann diese abstrakte Kontrolle nicht abschliessend sein, ermöglicht es aber, allfällige offensichtliche Verletzungen des massgebenden Rechts zu verhindern.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 23.

Anhörung des BJ vom 29.4.2022.

Anhörung des BJ vom 29.4.2022, Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 58.

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Der Generalsekretär des EDI betonte zudem, dass die abschliessende Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Massnahmen stets vom Bundesrat auf der Grundlage einer Interessenabwägung, in welche nicht nur verwaltungsinterne Überlegungen, sondern auch die Meinung der Kantone, der Sozialpartner und der parlamentarischen Kommissionen einfliesst, vorgenommen wurde.

Die Kommission erkundigte sich, wie das BJ die Verhältnismässigkeit im konkreten Fall der Massnahmen im Zusammenhang mit dem Covid-Zertifikat zwischen Dezember 2021 und Januar 2022 geprüft habe. Es zeigte sich insbesondere, dass das BJ im Dezember 2021 eine Ausweitung der Zertifikatspflicht als verhältnismässig erachtete, da dadurch andere, strengere Massnahmen ­ insbesondere umfassende Schliessungen ­ vermieden werden konnten (siehe auch Kap. 5.2.3). Später teilte das Amt dem BAG jedoch seine Vorbehalte in diesem Punkt mit.

Was die Chronologie betrifft, hält die Kommission Folgendes fest:

48 49 50 51

­

Vom 10. bis 14. Dezember 2021 führte das BAG im Hinblick auf die Bundesratssitzung vom 17. Dezember eine Ämterkonsultation zu zwei Varianten der Revision der Covid-19-Verordnung durch. Das BJ verlangte nach eigenen Angaben primär, dass die vorgesehenen Regelungen präziser gefasst werden.48 Gemäss der stellvertretenden Direktorin stimmte das BJ dem BAG implizit zu, dass die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht zum Schutz des Gesundheitssystems das Kriterium der Verhältnismässigkeit erfüllt (siehe vorhergehenden Absatz).49 Die stellvertretende Direktorin räumte ein, dass das BJ aus Zeitgründen nicht in der Lage war, die Frage der langfristigen Verhältnismässigkeit dieser Massnahme zu vertiefen, und sich stattdessen auf andere Aspekte konzentrierte. Sie verwies indes darauf, dass zum damaligen Zeitpunkt noch sehr wenig über die neue Omikron-Variante bekannt war. Sie stellte klar, dass das Amt in den darauffolgenden Wochen seine Bedenken zu diesem Punkt äusserte (siehe unten).50

­

Am 22. Dezember 2021 schickte das BAG eine Reihe neuer Massnahmen in die Ämterkonsultation, darunter eine Ausweitung der 2G+- und der 3G-Regel.

Angesichts der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Omikron-Variante stellte das BJ damals die Verhältnismässigkeit dieser Massnahmen, die nach Ansicht des Bundesamtes eine schwerwiegende Einschränkung der persönlichen Freiheiten und der Wirtschaftsfreiheit bedeuteten, ausdrücklich infrage.

In den Augen des BJ konnte das Ziel, die öffentliche Gesundheit zu schützen, auch durch moderatere Massnahmen erreicht werden. Das BAG habe nach dieser Stellungnahme darauf verzichtet, dem Bundesrat eine Verschärfung der Massnahmen zu beantragen.51

­

Am 17. Januar 2022 liess das BJ dem BAG eine weitere Stellungnahme zukommen, in der es Vorbehalte zur Verhältnismässigkeit einer Verlängerung der Gesundheitsmassnahmen im Zusammenhang mit dem Zertifikat äusserte.

Es bat das BAG, die Begründung dieser Massnahmen noch einmal zu überSchreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absätze 18­21.

Anhörung des BJ vom 29.4.2022.

Anhörung des BJ vom 29.4.2022.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absätze 24­26.

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prüfen.52 Das BAG teilte mit, anschliessend in engem Austausch mit dem BJ in dieser Angelegenheit gewesen zu sein.53 Letztlich beschloss der Bundesrat am 19. Januar, die Zertifikatspflicht bis Ende März zu verlängern,54 und präzisierte gleichzeitig, auch weiterhin zu prüfen, ob die Entwicklung der Pandemie eine frühere Aufhebung der Massnahmen zulässt.

5.2

Erläuterungen der zuständigen Bundesbehörden zum Resultat der Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien

Nachfolgend präsentiert die GPK-N die Erläuterungen des EDI, des BAG und des BJ zum Resultat von deren Prüfung bezüglich der Erfüllung der drei Kriterien von Artikel 36 BV für eine Grundrechtseinschränkung im Hinblick auf den Beschluss des Bundesrates vom 17. Dezember 2021. Wie bereits einleitend erwähnt (siehe Kap. 2), geht die GPK-N davon aus, dass diese Erläuterungen die Einschätzung und den Wissenstand der Behörden zum Zeitpunkt ihrer damaligen Entscheide widerspiegeln.

Im Rahmen ihres Austauschs thematisierte die Kommission mit den zuständigen Stellen auch verschiedene allgemeine Fragen zu diesem Fall; diese werden im Text erwähnt.

5.2.1

Kriterium der gesetzlichen Grundlage

Gemäss Artikel 36 Absatz 1 BV bedarf jede Grundrechtseinschränkung einer gesetzlichen Grundlage und müssen schwerwiegende Einschränkungen im Bundesgesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. Das «Juristen Komitee» ist der Ansicht, dass diese Voraussetzungen beim Beschluss des Bundesrates vom 17. Dezember 2021 nicht erfüllt waren. Das EDI und das BJ wiederum sind der Auffassung, dass dieses Kriterium erfüllt war. Sie legten der Kommission ihre rechtliche Beurteilung zu diesem Punkt dar.

Nach Artikel 5 Absatz 1 BV ist das Recht Grundlage und Schranke staatlichen Handelns (Legalitätsprinzip). Von den vier Teilgehalten dieses Prinzips55 bezweifelte das

52 53 54 55

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 27.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Diese Massnahme stiess insbesondere bei den Kantonen auf grosse Zustimmung.

Erfordernis des Rechtssatzes (Vorliegen einer generell-abstrakten Norm), Erfordernis der genügenden Kundmachung (ordnungsgemässe Publikation des Rechtssatzes), Erfordernis der Normstufe (siehe Fussnote 56), Erfordernis der Normbestimmtheit (siehe Fussnote 57). Für weitere Details siehe Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absätze 3­5.

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«Juristen Komitee» im konkreten Fall insbesondere die Einhaltung des Erfordernisses der Normstufe56 und des Erfordernisses der Normbestimmtheit57.

Gemäss BJ und BAG stützte sich die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht vom 17. Dezember 2021 auf Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b EpG.58 Nach diesem Artikel kann der Bundesrat in der besonderen Lage Massnahmen gegenüber der Bevölkerung oder gegenüber einzelnen Personen anordnen. Laut BJ ist das Kriterium der Normstufe erfüllt, da es sich um eine formell-gesetzliche Bestimmung handelt.59 In Bezug auf das Kriterium der Normbestimmtheit räumte das BJ gegenüber der GPK-N ein, dass die Begriffe von Artikel 6 EpG sehr offen sind. Es betonte jedoch, dass diese Bestimmung im Kontext der anderen Artikel des EpG gelesen werden müsse60 und dass insbesondere die Artikel 31 bis 39 und 40 EpG zu berücksichtigen sind, in welchen der Gesetzgeber die Massnahmen präzisierte, welche der Bundesrat in der besonderen Lage ergreifen darf.61 Das BJ erklärte, dass dieser Massnahmenkatalog die Grundsatznorm von Artikel 6 konkretisiert; dieser Katalog sei jedoch nicht abschliessend und der Gesetzgeber habe dem Bundesrat bewusst einen weiten Ermessensspielraum eingeräumt, da es nicht möglich sei, alle Massnahmen, die angesichts der Pandemieentwicklung notwendig seien, im Vornherein abschliessend zu bezeichnen.62 Dass die Zertifikatspflicht nicht ausdrücklich im EpG genannt wird, ist in den Augen des BJ nicht von abschliessender Bedeutung. Das Bundesamt macht in diesem Zusammenhang geltend, dass Artikel 40 EpG den Bundesrat ermächtigt, besonders einschneidende Massnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu ergreifen, wie z. B. Zwangsschliessungen von Schulen oder Veranstaltungsverbote. Nach Ansicht des BJ muss der Bundesrat ­ wenn er befugt ist, derart weitgehende Massnahmen zu ergreifen ­ a fortiori auch befugt sein, eine mildere Massnahme zu ergreifen, die denselben Zweck verfolgt, wie beispielsweise die Zertifikatspflicht, welche den Bun56 57

58 59 60 61

62

Bestimmungen über schwere Grundrechtseinschränkungen müssen in Form eines Bundesgesetzes erlassen werden.

Die Rechtsnormen müssen so bestimmt sein, dass der Bürger sein bzw. die Bürgerin ihr Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens einem dem Umstand entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 36; Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 6.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 7.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absätze 9 und 10.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 10. Was die Massnahmen gegenüber der Bevölkerung und bestimmten Personengruppen betrifft, so sieht Artikel 40 EpG die Möglichkeit vor, Veranstaltungen zu verbieten oder einzuschränken (Bst. a), Schulen, andere öffentliche Institutionen und private Unternehmen zu schliessen oder Vorschriften zum Betrieb zu verfügen (Bst. b) oder das Betreten und Verlassen bestimmter Gebäude und Gebiete sowie bestimmte Aktivitäten an definierten Orten zu verbieten oder einzuschränken (Bst. c). Siehe diesbezüglich das Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 36; Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 10.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absätze 11, 12 und 17. Gegenüber der Kommission wies die stellvertretende Direktorin des BJ darauf hin, dass das Parlament die Möglichkeit gehabt hätte, diesen Ermessensspielraum durch eine Gesetzesänderung einzuschränken, wenn es dies in der Pandemie für notwendig erachtet hätte, dass es dies aber nicht tat.

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desrat davon abhalten sollte, umfassende Schliessungen oder striktere Verbote anzuordnen.63 Laut BJ ist es auch mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgebot vereinbar, dass eine ausdrückliche Nennung der Zertifikatspflicht im EpG fehlt.64 Das BJ kommt deshalb zum Schluss, dass Artikel 6 EpG in Verbindung mit Artikel 40 EpG und der Covid-19-Verordnung besondere Lage eine ausreichend präzise Rechtsgrundlage für die Einführung der Zertifikatspflicht bildeten. Es hält fest, dass die Frage, ob die auf dieser Rechtsgrundlage beschlossenen Massnahmen durch ein ausreichendes öffentliches Interesse gerechtfertigt oder ob sie verhältnismässig waren, separat zu beurteilen ist (siehe diesbezüglich Kap. 5.2.2 und 5.2.3).65 Die GPK-N fragte das BJ, ob angesichts der Bedeutung des Zertifikats und dessen potenziell umstrittenen Charakters im Laufe des Jahres 2021 in Betracht gezogen worden sei, dieses im EpG oder im Covid-19-Gesetz expliziter als Instrument zur Umsetzung der Gesundheitsmassnahmen aufzuführen. Die stellvertretende Direktorin des BJ teilte mit, dass eine solche Ergänzung nicht diskutiert wurde, da die Bundesbehörden davon ausgegangen seien, dass die bestehenden Rechtsgrundlagen ausreichen und dem Bundesrat gleichzeitig die Möglichkeit geben, flexibel auf die Pandemieentwicklung zu reagieren.

Gegenüber der Kommission führten die Vertreter des BAG aus, dass das BJ im Februar 2021 ein Rechtsgutachten zum Rechtsrahmen für Differenzierungen aufgrund des Impfstatus66 erstellt hatte, welches in der Folge einen Rahmen für den Einsatz des Zertifikats vorgab. Laut ihnen war damals aber noch nicht absehbar, welche Tragweite dieses Instrument haben würde, und es wäre daher zu jenem Zeitpunkt zu früh gewesen, einen detaillierteren Rechtsrahmen zu schaffen.67 Die GPK-N erkundigte sich zudem, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, den Zweck des Zertifikats auf Gesetzesebene expliziter zu regeln, um dessen Einsatz durch den Bundesrat präziser zu umschreiben und eine bessere Beurteilung der Verhältnismässigkeit dieser Massnahme zu ermöglichen. Das BJ vertrat die Meinung, dass Artikel 6 EpG im allgemeinen Kontext des Gesetzeszweckes, also der Bewältigung der fortschreitenden Pandemie, zu sehen ist und dass der Anwendungsbereich und der Zweck des Zertifikats auch auf Verordnungsebene präzisiert waren.68 63 64 65 66

67 68

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 12. Für das BJ ergibt sich dieses Vorgehen aus dem in der BV verankerten Grundsatz der Verhältnismässigkeit.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absätze 13­16.

Schreiben des BJ vom 13.4.2022 (siehe Anhang 2), Absatz 17.

Rechtsrahmen für Differenzierungen aufgrund des Impfstatus, Notiz des BJ vom 18.2.2021. In diesem ­ am 18.2.2021 veröffentlichten ­ Rechtsgutachten befasste sich das BJ mit der Frage, ob es rechtlich zulässig ist, Geimpfte und Nichtgeimpfte unterschiedlich zu behandeln. Das Bundesamt kam zum Schluss, dass eine solche Differenzierung bei der Ausübung einer staatlichen Aufgabe auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und dem Grundsatz der Gleichbehandlung entsprechen muss und ­ im Falle von Grundrechtseinschränkungen ­ durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig zu sein hat. Das BJ wies zudem darauf hin, dass es in bestimmten Situationen aus Gründen der Gleichbehandlung erforderlich sein kann, Geimpfte anders zu behandeln.

Dieses Dokument wurde insbesondere im Frühjahr 2021 in den Staatspolitischen Kommissionen der eidgenössischen Räte diskutiert.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Anhörung des BJ vom 29.4.2022.

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In Bezug auf die Lehren für die Zukunft sprach sich das BAG angesichts der erheblichen Wirkung des Immunitätsstatus in der gesellschaftlichen Debatte dafür aus, bei der Revision des EpG den Rechtsrahmen bezüglich dieses Aspekts im Falle einer Pandemie vertieft zu prüfen69.

Die GPK-N stellte sich zudem ganz allgemein die Frage, ob es nicht wünschenswert wäre, den Bundesrat zu verpflichten, seine Verordnungen70 systematisch mit einer Begründung zu versehen, damit transparenter ist, auf welche Überlegungen und Ziele sich die jeweiligen Bestimmungen stützen. Die Vertreterinnen und Vertreter von BAG und BJ71 wiesen darauf hin, dass die Verordnungen des Bundesrates stets von einem erläuternden Bericht begleitet wurden, der namentlich im Hinblick auf die Konsultation der Kantone in der Regel die Begründungen für die jeweiligen Bestimmungen enthielt. Sie räumten ein, dass ausführlichere Begründungen aus rechtlicher Sicht begrüssenswert gewesen wären, wiesen aber auch auf den enormen Zeitdruck hin, unter dem die zuständigen Ämter bei der Erstellung dieser Dokumente standen. Sie kamen zum Schluss, dass eine solche Massnahme lediglich die derzeitige Praxis widerspiegeln und erhebliche zusätzliche formelle Arbeit mit sich bringen würde, die in Krisenzeiten kaum angebracht wäre.

5.2.2

Kriterium des überwiegenden öffentlichen Interesses

Gemäss Artikel 36 Absatz 2 BV müssen Grundrechtseinschränkungen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. Das «Juristen Komitee» vertritt in seiner Eingabe die Ansicht, dass diese Voraussetzung bei der Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht vom 17. Dezember 2021 nicht erfüllt war. Im vorliegenden Fall besteht das öffentliche Interesse im Schutz der öffentlichen Gesundheit vor einer tatsächlichen Bedrohung.

Das EDI ist der Ansicht, dass das Risiko einer Überlastung des Gesundheitssystems aufgrund des gleichzeitigen Auftretens der Varianten Delta und Omikron im Dezember 2021 «eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit» in der Schweiz darstellte.72 Das BAG betonte gegenüber der Kommission, dass Anfang Dezember 2021 das epidemiologische Monitoring auf eine harte Probe gestellt wurde und eine Zunahme der Hospitalisierungen ­ nach damaligem Wissen ­ das wahrscheinlichste Szenario war.73 In den Augen des EDI zielten «die getroffenen Massnahmen [...] auf die Wahrung des öffentlichen Interesses an der Gesundheit ab, indem sie eine Überlastung der Gesundheitseinrichtungen verhinderten».74 Als Antwort auf die Behauptungen des «Juristen Komitees» führte das EDI in seiner schriftlichen Stellungnahme verschiedene Elemente an, die seiner Ansicht nach belegen, dass im Winter 2021/22 die öffentliche Gesundheit gefährdet war. Das Departe69 70 71 72 73 74

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Insbesondere diejenigen, die im Zusammenhang mit dem Notrecht oder den Artikeln 6 und 7 EpG stehen.

Anhörung des BJ vom 29.4.2022, Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 34.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 34.

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ment weist insbesondere auf eine über mehrere Wochen andauernde Übersterblichkeit75 sowie auf eine Überlastung der Spitäler hin, die eine Rückstellung von nicht dringenden Eingriffen erforderlich machte.76 Das EDI nahm zudem Stellung zur Kritik, die Indikatoren, die zur Beurteilung der Bedrohung für die öffentliche Gesundheit durch Covid-19 herangezogen wurden, seien nicht geeignet gewesen. Nach Ansicht des Departements war der Indikator Fallzahlen ein für die Einschätzung der Pandemieentwicklung relevantes Kriterium.77 Es wies indes darauf hin, dass sich der Bundesrat bei der Beurteilung der epidemiologischen Lage auf eine Kombination mehrerer Indikatoren (Fälle, Hospitalisierungen, Todesfälle, Auslastung der Intensivpflegestationen) stützte78 und dass diese in der Pandemie regelmässig überprüft wurden.79 Der Generalsekretär des EDI betonte gegenüber der Kommission, dass das Kriterium der Fallzahlen an Relevanz verlor, sobald die Bevölkerung mehrheitlich geimpft war. Der Bundesrat habe im August 2021 die Auslastung der Spitäler als Hauptkriterium für die Einschätzung der Lage bestimmt und sich dann ausschliesslich an diesem Ziel orientiert.80 Angesichts der Kritik des «Juristen Komitees» an der mangelnden Zuverlässigkeit von PCR81-Tests räumte das EDI zwar ein, dass diese «allein keine belastbaren Rückschlüsse auf eine tatsächliche Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zulassen», hielt aber fest, dass deshalb während der gesamten Pandemie mehrere Datenquellen und Auswertungen herangezogen wurden, um die Entscheidungsprozesse zu unterstützen.82 Der Generalsekretär des EDI wies darauf hin, dass es angesichts einer Pandemie von solcher Komplexität nicht möglich ist, relevante Indikatoren im Voraus festzulegen, z. B. im Gesetz.83 Das EDI widerlegte zudem drei Behauptungen des «Juristen Komitees», die darauf abzielten, den Ernst der damaligen Gesundheitslage zu relativieren. Erstens wies es darauf hin, dass ­ entgegen den Behauptungen des «Juristen Komitees» ­ die Ungeimpften überproportional zur Auslastung des Gesundheitssystems beitrugen, da sie gemessen an ihrem Anteil in der Bevölkerung häufiger hospitalisiert wurden und ihre Mortalität höher war.84 Zweitens hielt es fest, dass ­ entgegen den von einigen in der Pandemie geäusserten Behauptungen ­ auch asymptomatisch infizierte Personen zur

75 76 77 78

79

80 81 82 83 84

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 6.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absätze 8 und 12.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 23.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 24. Die Richtwerte für diese Indikatoren legte der Bundesrat im Mai 2021 im Rahmen des «Drei-Phasen-Modells» fest.

Die GPK-N stellte fest, dass die vom Bund verwendeten epidemiologischen Indikatoren im Laufe der Pandemie tatsächlich regelmässig verfeinert und ergänzt wurden. So wurde ab Juni 2020 von der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (EAWAG) ein Projekt zur Berechnung der Covid-19-Viruslast im Abwasser durchgeführt. Seit Sommer 2022 ist der entsprechende Indikator im öffentlichen Dashboard des BAG enthalten.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Polymerase Chain Reaction, Polymerase-Kettenreaktion.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 26.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absätze 14­17.

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Ausbreitung des Virus beitragen können.85 Drittens erläuterte es, dass die in der Pandemie beobachtete Entkopplung zwischen dem Indikator «laborbestätigte Fallzahlen» und dem Indikator «laborbestätigte Todesfallzahlen» nicht ­ wie vom «Juristen Komitee» behauptet ­ durch ein exzessives Testen zur künstlichen Schaffung einer gesundheitlichen Bedrohungslage entstand, sondern auf die hohe Durchimpfung der Risikogruppe und auf die Tatsache zurückzuführen war, dass die Omikron-Variante zu weniger schweren Krankheitsverläufen führte.86 Ganz allgemein kritisierte das «Juristen Komitee», dass die Schweiz in der Pandemie automatisch den von der WHO ausgerufenen Status der gesundheitlichen Notlage übernommen habe. Das BAG betonte gegenüber der GPK-N, dass in der Schweiz die Erklärung der besonderen Lage im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 EpG nicht nur auf der Ausrufung einer gesundheitlichen Notlage durch die WHO (Bst. b), sondern auch auf der konkreten Gefährdung der öffentlichen Gesundheit in der Schweiz beruht (Bst. a87). Das BAG präzisierte, dass der Bundesrat seine Entscheide nicht ausschliesslich auf diese WHO-Empfehlungen stützt und die Botschaft zum EpG einen Automatismus klar ausschliesst.88 Es erinnerte zudem daran, dass die besondere Lage in der Schweiz aufgehoben wurde, bevor die WHO dies empfahl.89 Das «Juristen Komitee» ist zudem der Ansicht, dass es gegen den in der Verfassung verankerten Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstiess, nahezu zwei Jahre lang die besondere Lage im Sinne von Artikel 6 EpG aufrechtzuerhalten. Das BJ und das BAG erklärten gegenüber der GPK-N, dass diese Kritik rechtlich nicht haltbar ist, da Artikel 6 EpG nur die «Organkompetenz» (d. h. welches Organ für den Erlass von Massnahmen zuständig ist90) bestimmt. Das Kriterium der Verhältnismässigkeit beziehe sich jedoch nicht auf die Frage, welches Organ zuständig ist, sondern auf die Frage, welche konkreten Massnahmen zur Bewältigung der Pandemie zulässig sind.91 In Bezug auf die Aufrechterhaltung der besonderen Lage betonte das BJ, dass der Bundesrat über einen vom Gesetzgeber gewollten Ermessensspielraum verfügt.92 Im Zusammenhang mit diesen Punkten befasste sich die GPK-N mit der allgemeinen Frage, ob die Kriterien von Artikel 6 Absatz 1 EpG für den Übergang zur besonderen Lage bzw. für deren Aufrechterhaltung angesichts der Erfahrungen in der Pandemie 85 86 87

88 89 90

91

92

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 30.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 33.

Eine solche Gefährdung liegt gemäss EpG dann vor, wenn: «die ordentlichen Vollzugsorgane nicht in der Lage sind, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen, und eine der folgenden Gefahren besteht: 1. eine erhöhte Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr, 2. eine besondere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit, 3. schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft oder auf andere Lebensbereiche».

Botschaft des Bundesrates vom 3.12.2010 zur Revision des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (BBl 2011 311, hier 364).

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

In der besonderen Lage ist der Bundesrat ­ nach Anhörung der Kantone ­ für den Erlass von Massnahmen zuständig. Allerdings behalten die Kantone die Möglichkeit, in den Bereichen, die der Bund noch nicht geregelt hat, Massnahmen zu ergreifen.

Das BJ erklärte, dass es sich aus diesem Grund in der Pandemie bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit auf die konkret vorgeschlagenen Massnahmen konzentrierte und nicht auf die besondere Lage an sich.

Anhörung des BJ vom 29.4.2022, Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

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präzisiert werden sollten. Das BJ war der Auffassung, dass eine klarere Definition des Kriteriums «Gefährdung der öffentlichen Gesundheit» bestimmte Vorteile93 hätte.

Auch das BAG war der Ansicht, dass diese Frage vertieft geprüft werden sollte, betonte jedoch, dass es wichtig ist, dass das EpG flexibel bleibt, damit schnell auf die verschiedensten epidemiologischen Lagen reagiert werden kann.94 In seinen Schreiben übte das «Juristen Komitee» zudem Kritik am Management der Intensivpflegekapazitäten in der Pandemie und am Abbau der Spitalkapazitäten in den letzten Jahren.95 Da sich das Parlament in den letzten Monaten mehrfach mit dieser Problematik befasst hat 96 und diese nur in indirektem Zusammenhang mit dem hier untersuchten Aspekt steht, verzichtet die GPK-N in diesem Bericht auf eine Vertiefung dieses Themas.

5.2.3

Kriterium der Verhältnismässigkeit

Nach Artikel 36 Absatz 3 BV müssen Einschränkungen von Grundrechten verhältnismässig sein. Damit eine Massnahme als verhältnismässig gilt, muss sie kumulativ die Kriterien der Angemessenheit (sie muss geeignet sein, den angestrebten Zweck zu fördern oder zu erreichen), der Notwendigkeit (es ist stets die mildeste Massnahme zur Erreichung des angestrebten Zwecks zu wählen) und der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne (der angestrebte Zweck muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den geschaffenen Belastungen stehen) erfüllen.

Was die Angemessenheit betrifft, so stellte das «Juristen Komitee» die Wirksamkeit des Covid-Zertifikats zum Schutz der öffentlichen Gesundheit in Abrede, indem es behauptete, auch Geimpfte hätten ein erhöhtes Erkrankungs- und Übertragungsrisiko und Covid-19 sei nicht gefährlicher als eine saisonale Grippe. Das EDI widerlegte diese Behauptungen vor der GPK-N ganz klar.97 Es wies insbesondere darauf hin, dass alle «internationalen als auch nationalen Daten belegen, dass eine Covid-19-Impfung vor schweren [Krankheits]verläufen [schützt]» und diese «entscheidend zur Reduktion der Krankheitslast [beiträgt]». Zudem führe die Impfung zu einer Reduktion der Virusübertragung, auch wenn eine Ansteckung auf individueller Ebene möglich bleibe.98 Zu guter Letzt legte das EDI Zahlen vor, die belegten, dass die Sterblichkeit 93

94 95 96

97 98

Anhörung des BJ vom 29.4.2022. Insbesondere könnten so die Verbandskompetenzen der Kantone geschont und könnte die Abgrenzung der drei Lagen im Sinne des EpG untereinander geklärt werden.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absätze 18­21.

Im Dezember 2021 führte das Parlament Artikel 3 Absatz 4bis in das Covid-19-Gesetz ein, der vorsieht, dass «[z]ur Stärkung der durch die Covid-19-Krise beanspruchten Gesundheitsversorgung [...] die Kantone die zur Abdeckung von Auslastungsspitzen nötigen Vorhalteleistungen [finanzieren]» und «die nötigen Kapazitäten in Absprache mit dem Bund [definieren]». Am 10.3.2022 gab die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) Empfehlungen zur Umsetzung dieses Artikels an die Kantone ab. In der Herbst- und der Wintersession 2022 diskutierte das Parlament, ob die gesetzlichen Bestimmungen über die Spitalkapazitäten präzisiert werden sollten, nahm letztlich aber keine wesentlichen Änderungen vor.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absätze 41­51.

Diese Informationen wurden der GPK-N auch von Swissmedic bestätigt (siehe Kasten).

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im Zusammenhang mit Covid-19 sowohl in der Schweiz als auch weltweit deutlich höher war als bei einer saisonalen Grippe. Das Departement räumte indes ein, dass sich einige anfängliche Befürchtungen ­ z. B. in Bezug auf die Anfälligkeit von Kindern für Covid-19 ­ nicht bestätigten.

Das EDI widerlegte zudem die Behauptung des «Juristen Komitees», wonach die Einführung der 2G-Regel kontraproduktiv gewesen sei, da sie zu einer Zunahme der Neuinfektionen und der Todesfälle in Alters- und Pflegeheimen geführt habe. Laut EDI zeigt die Datenanalyse, dass die Anzahl Neuinfektionen und Todesfälle in Alters- und Pflegeheimen in diesem Zeitraum auf sehr tiefem Niveau stabil blieb und im Vergleich mit vorhergehenden Wellen niedriger war.99 Exkurs: indirekter Schutz des Covid-19-Impfstoffs Ende 2022 wurden öffentlich Zweifel daran geäussert, dass der Covid-19-Impfstoff die Übertragungsfähigkeit geimpfter Personen zu verringern vermag (indirekter Schutz).100 Die GPK-N richtete zu diesem Punkt ergänzende Fragen an Swissmedic und das EDI, um zu erfahren, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse während der Pandemie zu diesem Aspekt vorlagen und inwieweit das Kriterium des indirekten Schutzes beim Beschluss des Bundesrates vom 17. Dezember 2021 über die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht eine Rolle spielte.101 Die Kommission nahm Kenntnis davon, dass im Laufe des Jahres 2021 zahlreiche internationale Studien zum indirekten Schutz durchgeführt wurden und dass diese zeigten, dass die Impfung die Übertragung des Virus auf individueller Ebene und dessen Zirkulation in der Bevölkerung verringern kann, dieser indirekte Schutz jedoch nicht absolut ist und von mehreren Faktoren (insbesondere der jeweiligen Variante) abhängt. Anfang Dezember 2021 war das Wissen über die neue Omikron-Variante noch lückenhaft.102 Das EDI teilte der Kommission mit, dass das Hauptziel der eidgenössischen Impfkampagne immer der direkte individuelle Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf war und der indirekte Schutz ein sekundäres Argument darstellte. Den Ausführungen des Departements zufolge lagen den Beschlüssen des Bundesrates über die Covid-Zertifikatspflicht die gleichen Überlegungen zugrunde: Die Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Orten auf Geimpfte oder Genesene stützte sich vor allem darauf, dass diese Personen gegen schwere
Verläufe der Krankheit geschützt waren und damit ein geringeres Risiko für eine Überlastung des Gesundheitssystems darstellten (siehe unten). Laut EDI wurde bis zu einem

99 100

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absätze 53 und 54.

Siehe z. B. Die Ächtung der Ungeimpften, In: Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2022.

Diese Zweifel kamen auf, nachdem eine leitende Mitarbeiterin des Unternehmens Pfizer in einer Rede vor dem Europäischen Parlament gesagt hatte, dass zum Zeitpunkt der Markteinführung vom Unternehmen nicht geprüft wurde, ob der Impfstoff vor einer Übertragung des Virus schützt.

101 Brief des EDI an die GPK-N vom 20.1.2023, Brief von Swissmedic an die GPK-N vom 20.1.2023 (nicht veröffentlicht).

102 Spätere Untersuchungen zeigten, dass der indirekte Impfschutz bei dieser Variante gering war.

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gewissen Grad auch davon ausgegangen, dass eine Impfung oder Genesung vor einer Übertragung schützt.

Die GPK-N analysierte die Informationen, die in jenem Zeitraum von den Bundesbehörden kommuniziert worden waren.103 Sie hält fest, dass das Argument des direkten Schutzes der Impfung vor schweren Krankheitsverläufen im Vordergrund stand, dass das Argument des indirekten Schutzes zurückhaltend gebraucht wurde und dass die Kommunikation den damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand ausgewogen widerspiegelte.

Was das Kriterium der Notwendigkeit betrifft, war das EDI der Auffassung104, dass die mit dem Zertifikat verbundenen Massnahmen zur Einschränkung der Grundfreiheiten nicht übermässig waren, da sie sowohl in ihrer Art105 als auch in ihrer Dauer106 und in ihrer räumlichen Reichweite107 begrenzt waren.

Zu guter Letzt präsentierte das EDI der Kommission verschiedene Aspekte, die der Bundesrat bei seiner Interessenabwägung in Bezug auf die Verhältnismässigkeit im engeren Sinne berücksichtigt hatte. Das Departement nannte insbesondere folgende Aspekte:

103

104 105 106 107

108 109

110

­

Mit der Beschränkung des Zugangs auf Geimpfte oder Genesene sollte in erster Linie das Infektionsrisiko nicht immuner Personen, die das Virus leichter weitergeben und schwer erkranken können, verringert werden, um die Spitalstrukturen vor einer Überlastung zu schützen und so das öffentliche Interesse an der Gesundheit zu wahren.108 Ab dem Sommer 2021 machte der Bundesrat deutlich, dass das oberste Ziel der Massnahmen zur Bewältigung der Pandemie der Schutz des Gesundheitssystems ist.109

­

Die Behörden achteten darauf, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger so wenig und so kurz wie möglich einzuschränken, und es war ihnen stets ein grosses Anliegen, weitere Schliessungen von Einrichtungen und Institutionen zu vermeiden, da sie eine solche Massnahme für die Akteure in Wirtschaft, Kultur und Sport als besonders eingriffsintensiv erachteten.110

­

Zudem sollte die Einschränkung der Grundrechte für die immunisierte Bevölkerung, welche das Gesundheitssystem nicht besonders stark belastete, gering gehalten werden. Eine Beschränkung des Zugangs zu bestimmten öffentlichen Insbesondere: Impfempfehlungen des BAG vom 26.11.2021, 21.12.2021 und 21.1.2022, Medienmitteilungen vom 26.11.2021, 3.12.2021, 14.12.2021 und 21.12.2021, Points de Presse vom 30.11.2021 und 3.12.2021.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 57.

Denn es handelte sich um Zugangsbedingungen und nicht um ein vollständiges Zugangsverbot.

Denn die Massnahmen waren befristet.

Denn die Massnahmen waren auf bestimmte Institutionen und Einrichtungen in den Bereichen Freizeit, Unterhaltung, Sport und Kultur beschränkt und betrafen nicht das Angebot von Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 56.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022. Siehe diesbezüglich insbesondere: Coronavirus: Bundesrat hält die Schutzmassnahmen aufrecht und ruft die Bevölkerung auf, sich impfen zu lassen, Medienmitteilung des Bundesrates vom 11.8.2021.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

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Orten auf Personen mit einem Zertifikat erschien daher als die mildestmögliche Massnahme.111 ­

Angesichts der starken Immunevasion der Omikron-Variante und deren Übertragungsrisiko galten verschärfte Massnahmen (Maskenpflicht und 2G+-Einschränkungen) auch für Geimpfte und Genesene.112

Das EDI betonte auch, wie wichtig es ist, den damaligen Kontext zu berücksichtigen, insbesondere die vielen Unwägbarkeiten in Bezug auf die Risiken der drei Wochen zuvor entdeckten Omikron-Variante. Die GPK-N erkundigte sich im Detail nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen, auf die sich das EDI bei seinem Antrag an den Bundesrat im Hinblick auf den Beschluss vom 17. Dezember 2021 gestützt hatte.113 Sie nahm Kenntnis davon, dass damals insbesondere Folgendes bekannt war: Die Omikron-Variante schien resistenter gegen Antikörper und deutlich ansteckender zu sein als die Delta-Variante; der Impfschutz gegen die Omikron-Variante schien geringer zu sein; es war unklar, wie schwer die Krankheit verlaufen würde; und die Hospitalisierungsrate stieg in mehreren von Omikron betroffenen Ländern an. Zudem näherte sich die Auslastung der Intensivpflegestationen in der Schweiz einer kritischen Schwelle, hatte sich die Zahl der Todesfälle in den letzten anderthalb Monaten vervierfacht und stiessen die Testkapazitäten an ihre Grenzen114. Die Behörden waren vor allem über die Risiken der kombinierten Auswirkungen der Delta- und der Omikron-Variante besorgt. Nach Ansicht des EDI und des BAG war die einzige logische Schlussfolgerung aus dem, was sie damals wussten, dass eine Zunahme der Fälle auch zu einem Anstieg der Hospitalisierungen führen würde und dass das Gesundheitssystem Gefahr lief, an seine Belastungsgrenzen zu stossen. In den Augen des EDI war damals nicht abzusehen, dass Omikron letztlich zu weniger schweren Krankheitsverläufen führen würde als befürchtet.115 Aus diesen Gründen ist das EDI der Ansicht, dass die mit dem Zertifikat verbundenen Einschränkungen der Grundrechte angesichts der sehr angespannten Lage in den Spitälern und des Wissensstandes zum Zeitpunkt des Beschlusses geeignet, notwendig und verhältnismässig waren.116 Es kommt zum Schluss, dass «der Bundesrat in voller Transparenz und Kenntnis der Sachlage schwierige Entscheidungen angesichts der zahlreichen Unsicherheiten [...] [traf] und [...] sich dabei auf das Vorsorgeprinzip und den damaligen Wissensstand [stützte].»117 Das Departement wies zudem darauf hin, dass die Einschränkungen der Grundrechte in der Folge insbesondere in Zusammenarbeit mit dem BJ regelmässig überprüft wurden (siehe Kap. 5.1).118

111 112 113

114 115 116 117 118

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 56.

Das Departement teilte der Kommission mit, dass es sich bei seiner Einschätzung auf die damals neuesten Erkenntnisse zur Omikron-Variante, die insbesondere von der NCS-TF bereitgestellt wurden, sowie auf die Entwicklung der epidemiologischen Lage in der Schweiz und im Ausland stützte.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Anhörung des EDI und des BAG vom 23.5.2022.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 55.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 58.

Schreiben des EDI vom 14.4.2022 (siehe Anhang 1), Absatz 58.

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6

Beurteilung der GPK-N und Empfehlungen

Im Folgenden nimmt die GPK-N eine Beurteilung aus Sicht der parlamentarischen Oberaufsicht vor. Wie bereits erwähnt (siehe Kap. 2) legte die Kommission bei ihrer Untersuchung den Schwerpunkt auf das Kriterium der Rechtmässigkeit und in geringerem Masse auf die Kriterien der Zweckmässigkeit und der Wirksamkeit. Ihre Schlussfolgerungen nehmen mögliche künftige Entscheide der Justizbehörden nicht vorweg.

Für die Kommission besteht kein Zweifel daran, dass die vom Bundesrat in der besonderen Lage ergriffenen Massnahmen ­ insbesondere die Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Covid-Zertifikat ­ eine erhebliche Einschränkung der Grundrechte darstellten. Sie hält es für zentral, dass sich die Bundesbehörden in einer solchen Situation vergewissern, dass die in Artikel 36 BV festgelegten Kriterien für eine solche Einschränkung erfüllt sind, und sie diese Massnahmen regelmässig kritisch prüfen.

Die Kommission hält fest, dass das EDI, das BAG und das BJ der Kommission ihre Analyse bezüglich der Einhaltung von Artikel 36 BV im Detail dargelegt haben. Aus Sicht der GPK-N sind diese Ausführungen schlüssig und zeigen, dass die Bundesbehörden der Frage der Verfassungsmässigkeit der ergriffenen Massnahmen ­ soweit wie im speziellen Kontext der Covid-19-Krise möglich ­ besondere Aufmerksamkeit widmeten. Sie hält zudem fest, dass die ergriffenen Massnahmen im Einklang mit dem sogenannten «Drei-Phasen-Modell» stehen, welches der Bundesrat im Frühjahr 2021 präsentierte.119 In den Augen der Kommission lässt aus Sicht der Oberaufsicht nichts auf grundlegende Mängel in der Geschäftsführung der zuständigen Behörden schliessen. Sie ist indes der Ansicht, dass aus diesem Fall einige allgemeingültige Lehren für künftige Krisen gezogen werden können. Sie legt ihre diesbezüglichen Bemerkungen im Folgenden dar.

6.1

Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien durch die zuständigen Bundesbehörden

Die GPK-N stellt fest, dass mehrere Akteure für die Prüfung der Verhältnismässigkeit der Bundesmassnahmen zuständig sind: erstens das für den Sachbereich zuständige Departement und Amt (im vorliegenden Fall das EDI und das BAG) bei der Planung und Konzipierung der Massnahmen, zweitens das BJ im Rahmen der Ämterkonsultation und drittens der Bundesrat bei seiner endgültigen Interessenabwägung zum Zeitpunkt seiner Beschlussfassung.

Die Kommission hält fest, dass das BJ vom BAG zu den Entwürfen zur Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht konsultiert wurde. Sie begrüsst, dass die beiden Ämter in der Pandemie einen engen Austausch in dieser Angelegenheit pflegten. Die GPK-N bedauert zwar, dass das BJ nicht in der Lage war, die Frage der Verfassungsmässigkeit im Hinblick auf den Bundesratsbeschluss vom 17. Dezember 2021 eingehend zu be119

Siehe Konzeptpapier Drei-Phasen-Modell, Bericht des Bundesrates vom 12.5.2021.

Zum Einsatz des Zertifikats siehe insbesondere Kap. 4.1.

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urteilen, kann dies aber angesichts der engen Fristen und der damals noch lückenhaften Informationen über die Omikron-Variante nachvollziehen. Sie hält aber fest, dass das BJ einen offensichtlichen Verstoss gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit ausschliessen konnte. Sie weist zudem darauf hin, dass das Amt in der Folge besonders auf die Verhältnismässigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen achtete und mindestens zweimal Vorbehalte diesbezüglich äusserte. Ende Dezember 2021 führte die Intervention des BJ dazu, dass das BAG auf eine Verschärfung der Massnahmen verzichtete.

Dennoch hält es die Kommission für problematisch, dass das BJ die Entwürfe zu Revisionen von Verordnungen bisweilen ohne erläuternden Bericht prüfen musste und nicht immer über die Informationen verfügte, um die Verhältnismässigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen selbstständig zu prüfen. Die GPK-N kann nachvollziehen, dass diese Situation auf den besonderen Kontext der Pandemie und insbesondere auf den starken Zeitdruck zurückzuführen war, unter welchem das BAG stand. Sie erachtet es jedoch als zentral, dass das BJ eine möglichst umfassende und unabhängige Kontrolle der ihm vorgelegten Erlassentwürfe vornehmen kann ­ eine Funktion, die in Krisenzeiten noch wichtiger ist. Sie ersucht den Bundesrat, zu prüfen, wie die Rechtsetzungskontrolle des BJ ­ insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kriterien ­ in Krisenzeiten verstärkt werden könnte. Sie bittet ihn, insbesondere folgende Punkte zu prüfen: ­

sicherzustellen, dass die Ressourcen des BJ kurzfristig aufgestockt werden können, wenn dies zur Gewährleistung einer angemessenen Kontrolle erforderlich ist;

­

sicherzustellen, dass das BJ über möglichst umfassende Informationen verfügt, um eine unabhängige Verhältnismässigkeitsprüfung vorzunehmen;

­

Strukturen zu schaffen, die einen kurzfristigen Austausch zwischen dem BJ und den Fachämtern ermöglichen, um allfällige offene Fragen zu den vorgeschlagenen Massnahmen zu klären;

­

Mitarbeitende des BJ in Krisenzeiten in die Fachämter zu entsenden, damit rechtliche Fragen bereits bei der Konzipierung der Massnahmen geprüft werden können.

Empfehlung 1:

Kontrollfunktion des BJ in Krisenzeiten

Der Bundesrat wird ersucht, zu prüfen, wie die Rechtsetzungskontrolle des BJ ­ insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit ­ in Krisenzeiten verstärkt werden könnte.

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6.2

Erläuterungen der zuständigen Behörden zum Resultat der Prüfung der verfassungsrechtlichen Kriterien

6.2.1

Kriterium der gesetzlichen Grundlage

Die GPK-N ist der Ansicht, dass die Argumentation des EDI und des BJ, wonach der Einsatz des Covid-Zertifikats über eine ausreichend präzise gesetzliche Grundlage im EpG (Art. 6 Abs. 2 Bst. b in Verbindung mit Art. 40) verfügt, rechtlich zulässig ist.

Sie anerkennt, dass der Gesetzgeber dem Bundesrat im EpG einen grossen Ermessensspielraum bezüglich der Gesundheitsmassnahmen, die ergriffen werden können, einräumte. Diese Flexibilität rechtfertigt sich dadurch, dass nicht im Voraus im Einzelnen bestimmt werden kann, welche Massnahmen angesichts der Entwicklung einer Pandemie erforderlich sein werden. Aus denselben Überlegungen und weil das EpG dem Bundesrat erlaubt, bestimmte besonders strenge Massnahmen zu ergreifen, teilt die Kommission die Ansicht des BJ, dass es logisch ­ und im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit sogar angemessen ­ ist, dass der Bundesrat auch mildere Massnahmen beschliessen kann, wie etwa eine auf bestimmte Personengruppen begrenzte Zugangsbeschränkung.120 Diesbezüglich hält sie fest, dass der Bundesrat mehrfach mitteilte, dass die Einführung von Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Covid-Zertifikat gerade darauf abzielt, strengere Massnahmen zu vermeiden, welche die gesamte Bevölkerung treffen würden.

Was die politische Zweckmässigkeit betrifft, so ist die GPK-N hingegen der Ansicht, dass die Argumentation des EDI und des BJ an ihre Grenzen stösst. Da die Einführung eines Gesundheitszertifikats und die damit einhergehenden Zugangsbeschränkungen viele Monate im Voraus absehbar waren und davon auszugehen war, dass diese Massnahme Gegenstand öffentlicher Kritik sein würde,121 fragt sich die Kommission, ob es nicht angebracht gewesen wäre, z. B. eine Bestimmung in das EpG oder das Covid-19-Gesetz aufzunehmen, in welcher der Zweck und die Ziele des Zertifikats expliziter genannt werden. In den Augen der Kommission hätte eine solche Bestimmung die demokratische Legitimation dieses Instruments erhöht. Die Verwaltung hätte einen entsprechenden Vorschlag einbringen können oder das Parlament hätte eine solche Bestimmung selbst einführen können. Die GPK-N ist sich jedoch bewusst, dass eine solche Revision angesichts der unsicheren Entwicklung der Pandemie schwer planbar war und die betroffenen Akteure einem noch grösseren Druck ausgesetzt hätte.

Die Kommission hält
fest, dass die demokratische Legitimation nicht nur durch Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b EpG, sondern indirekt auch durch mehrere andere Mittel sichergestellt wurde. Anfang 2021 veröffentlichte das BJ ein Rechtsgutachten zum Rechtsrahmen für Differenzierungen aufgrund des Impfstatus, in welchem hervorgehoben wurde, wie wichtig die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kriterien ist. Ab dem Frühjahr 2021 legte der Bundesrat seine Leitlinien für den künftigen Einsatz des 120

Unter der Voraussetzung, dass bei diesen Massnahmen der Grundsatz des öffentlichen Interesses und jener der Verhältnismässigkeit eingehalten werden (siehe weiter unten).

121 Insbesondere angesichts des Referendums gegen das Covid-19-Gesetz und der Reaktionen auf die Einführung eines Gesundheitszertifikats in anderen Ländern ab dem Sommer 2021.

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Zertifikats transparent dar und hielt sich in der Folge daran. Er konsultierte die Kantone, die parlamentarischen Kommissionen und die Sozialpartner zu diesem Thema.

Konsultationen wurden auch für jede der Verordnungsänderungen zur Ausweitung der Zertifikatspflicht durchgeführt. Zu guter Letzt ist zu berücksichtigen, dass die Schweizer Bevölkerung Ende November 2021 die Änderung des Covid-19-Gesetzes annahm.122 Die Einführung des Zertifikats war eines der zentralen Themen im Abstimmungskampf und aus später durchgeführten Studien ging hervor, dass die Unterstützung für das Zertifikat und die Nützlichkeit dieses Instruments für die Vermeidung strengerer Einschränkungen die Hauptargumente für die Annahme des Gesetzes waren.123 Nach Ansicht der Kommission besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das Instrument des Gesundheitszertifikats bei einer allfälligen künftigen Pandemie erneut zum Einsatz kommt und sich ähnliche Fragen zur gesetzlichen Grundlage stellen. Daher hält sie es für wünschenswert, dass der Bundesrat bei der geplanten Revision des EpG prüft, ob der gesetzliche Rahmen betreffend den Immunitätsstatus bzw. das Instrument des Gesundheitszertifikats und dessen Einsatzmodalitäten in Pandemiezeiten präzisiert werden sollten. Die GPK-N ersucht den Bundesrat zudem, im Zusammenhang mit dieser Massnahme dafür zu sorgen, dass im Falle einer künftigen Pandemie der Zweck der auf Gesetzes- und Verordnungsstufe erlassenen Gesundheitsmassnahmen in den jeweiligen Texten immer explizit genannt wird.

Empfehlung 2:

Gesetzliche Grundlage für das Gesundheitszertifikat

Der Bundesrat wird ersucht, bei der geplanten Revision des EpG zu prüfen, ob der gesetzliche Rahmen betreffend den Immunitätsstatus bzw. das Instrument des Gesundheitszertifikats und dessen Einsatzmodalitäten in Pandemiezeiten präzisiert werden sollten.

Die Kommission anerkennt, dass es ­ insbesondere in Krisenzeiten ­ kaum realistisch wäre, die Einführung einer formellen Begründungspflicht für alle Verordnungen des Bundesrates zu fordern. Die Kommission hält fest, dass sich der Bundesrat in der Pandemie bemühte, in den Dokumenten, die er den Kantonen zur Konsultation vorgelegte, in den Medienmitteilungen und in sonstigen Unterlagen die entsprechenden Erklärungen zu liefern. Für die Kommission ist es wichtig, dass sich der Bundesrat auch weiterhin bemüht, klar zu erläutern, was die Beweggründe für seine Beschlüsse und was deren Ziele sind. Solche Informationen sind nicht nur für die Akzeptanz der Massnahmen in der Bevölkerung, sondern auch für die spätere Überprüfung ihrer Verhältnismässigkeit entscheidend.

122

Bei dieser Abstimmung war die Stimmbeteiligung mit 65,7 Prozent besonders hoch, die vierthöchste seit der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971.

123 Golder, Lukas / Mousson, Martina / Keller, Tobias et al. (2022): VOX-Analyse November 2021. Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 28. November 2021. Bern: Gfs.Bern, Januar 2022.

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6.2.2

Kriterium des überwiegenden öffentlichen Interesses

Auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnisse steht für die GPK-N ausser Zweifel, dass die Covid-19-Pandemie eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellte und somit das Kriterium des öffentlichen Interesses ­ wie vom EDI und vom BAG bekräftigt ­ erfüllt war. Die vom EDI angeführten Argumente sind Gegenstand eines breiten wissenschaftlichen Konsenses, insbesondere die Tatsache, dass Covid-19 sowohl in der Schweiz als auch im Ausland zu einer Übersterblichkeit führte und dass nicht geimpfte Personen mit grösserer Wahrscheinlichkeit schwere Krankheitsverläufe entwickelten und daher die Spitalstrukturen belasteten. Unbestritten ist auch, dass das Schweizer Gesundheitssystem in der Pandemie an seine Kapazitätsgrenzen stiess. Die GPK-N hält zudem fest, dass die Aufrechterhaltung der besonderen Lage im Sinne des EpG ­ und damit das Vorliegen einer Bedrohung für die öffentliche Gesundheit ­ weder vom Parlament noch von den Kantonen jemals infrage gestellt wurde.

In diesem Zusammenhang stellt der Anfang des Dezembers 2021 nach Meinung der Kommission eine der Phasen der Pandemie dar, in denen die Unsicherheit in Bezug auf die Entwicklung der Gesundheitslage am grössten war ­ dies aufgrund der kombinierten Auswirkungen der Delta- und der Omikron-Variante und der zahlreichen Unbekannten in Bezug die Gefährlichkeit von Omikron.

Die Kommission weist darauf hin, dass der Bundesrat ab August 2021 auf der Grundlage des «Drei-Phasen-Modells» transparent kommuniziert hat, dass für ihn «neu der Schutz der Spitalstrukturen Vorrang» hat und dass er «nur bei einer drohenden Überbelastung der Spitäler neue Massnahmen ergreifen [wird]».124 In der Folge wurden alle Beschlüsse über die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht mit der Absicht begründet, die Spitalstrukturen zu schützen.125 Die GPK-N begrüsst, dass sich der Bundesrat bei der Beurteilung der epidemiologischen Lage auf verschiedene Indikatoren stützte und dass diese im Verlauf der Pandemie regelmässig überprüft wurden. Die Kommission hält fest, dass die in der Pandemie verwendeten Indikatoren kontinuierlich verbessert und angepasst wurden, dass die Behörden sich bemühten, sie so zu kombinieren, dass die Präzision des epidemiologischen Monitorings erhöht wurde, und dass die aus diesen Indikatoren gewonnenen Daten auf transparente Weise veröffentlicht
wurden. Die Kommission ist sich bewusst, dass jeder Indikator für sich genommen keine soliden Rückschlüsse auf die Bedrohung für die öffentliche Gesundheit zulässt. Deshalb stellte ein kombiniertes und regelmässig angepasstes System eine adäquate Strategie dar.

Die Kommission geht mit dem EDI einig, dass es kaum angebracht wäre, die in einer Pandemie zu verwendenden Indikatoren abstrakt auf Gesetzesstufe festzulegen. In ihren Augen wäre es jedoch wünschenswert, wenn der Bundesrat in Bezug auf die Re124

Coronavirus: Bundesrat hält die Schutzmassnahmen aufrecht und ruft die Bevölkerung auf, sich impfen zu lassen, Medienmitteilung des Bundesrates vom 11.8.2021 125 Siehe insbesondere die Medienmitteilungen des Bundesrates vom 8.9.2021 («reagiert er auf die anhaltend angespannte Lage in den Spitälern»), vom 3.12.2021 («starke Zunahme von Covid-19-Patientinnen und -Patienten in den Spitälern») und vom 17.12.2021 («die Zahl der Hospitalisationen nimmt weiter zu und die Auslastung der Intensivpflegestationen [...] ist [...] sehr hoch»).

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levanz und Präzision der in der Covid-19-Pandemie genutzten Indikatoren Bilanz ziehen und auf dieser Grundlage eine Liste potenzieller Indikatoren erstellen würde, die bei einer künftigen Pandemie verwendet werden könnten. Dabei wäre zu klären, wie sich die entsprechenden Daten erheben lassen.

Empfehlung 3:

Indikatoren für die Einschätzung der Bedrohung für die öffentliche Gesundheit im Pandemiefall

Der Bundesrat wird ersucht, in Bezug auf die Relevanz und Präzision der einzelnen in der Covid-19-Pandemie zur Beurteilung der Bedrohung für die öffentliche Gesundheit genutzten Indikatoren Bilanz zu ziehen.

Er wird gebeten, auf dieser Grundlage eine Liste potenzieller Indikatoren zu erstellen, die bei einer künftigen Pandemie verwendet werden könnten, und gleichzeitig abzuklären, wie sich die entsprechenden Daten erheben lassen. Diese Liste soll zu gegebener Zeit veröffentlicht werden.

Was den Zusammenhang zwischen den Empfehlungen der WHO und der Erklärung ­ bzw. Aufrechterhaltung ­ der besonderen Lage in der Schweiz betrifft, erachtet es die GPK-N als sinnvoll, dass der Bundesrat ­ wie in Artikel 6 Absatz 1 EpG vorgesehen ­ seinen Entscheid in erster Linie auf die konkrete Gefährdung der öffentlichen Gesundheit in der Schweiz stützt und dann eine ausführliche Prüfung der WHO-Warnungen vornimmt, sodass eine automatische Übernahme faktisch ausgeschlossen wird.

Zu guter Letzt hält es die Kommission für notwendig, dass der Bundesrat unter Berücksichtigung der Erfahrungen in der Pandemie prüft, ob die in Artikel 6 Absatz 1 EpG enthaltenen Kriterien für den Übergang zur besonderen Lage bzw. für deren Aufrechterhaltung präzisiert werden sollten. Für die Kommission stellt sich insbesondere die Frage, ob die in Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a EpG genannten Gefahren126 nicht im Gesetz, in der Verordnung oder in einer Weisung präzisiert werden sollten.

Empfehlung 4:

Kriterien für den Übergang zur besonderen Lage bzw. für deren Aufrechterhaltung

Der Bundesrat wird ersucht, zu prüfen, ob die Kriterien von Artikel 6 Absatz 1 EpG für den Übergang zur besonderen Lage bzw. für deren Aufrechterhaltung präzisiert werden sollten, und ­ falls ja auf welcher Normstufe.

126

Eine erhöhte Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr, eine besondere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit, schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft oder auf andere Lebensbereiche.

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6.2.3

Kriterium der Verhältnismässigkeit

Für die GPK-N zeigen die Erläuterungen des EDI, des BAG und des BJ zur Prüfung der Verhältnismässigkeit der Massnahmen im Zusammenhang mit dem Covid-Zertifikat, dass die zuständigen Behörden diese Frage angemessen behandelten, soweit dies die besonderen Umstände der Pandemie zuliessen. Dieser Aspekt wurde in der Folge mehrfach kritisch überprüft; dabei spielte das BJ eine entscheidende Rolle (siehe Kap. 6.1).

In den Augen der Kommission ist es besonders wichtig, dass bei der Beurteilung der Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit der Kontext berücksichtigt wird, in welchem der Bundesrat den Beschluss über die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht fasste: Mitte Dezember 2021 war die epidemiologische Lage in der Schweiz besonders angespannt, das Wissen über die neue Omikron-Variante war lückenhaft und die weitere Entwicklung der Situation war ungewiss.

Die GPK-N ist der Ansicht, dass das EDI und das BAG in der Lage waren, die Angemessenheit der Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht zum Schutz der öffentlichen Gesundheit adäquat zu beurteilen. Die Kommission hat sich davon überzeugt, dass das Departement und das Bundesamt über die aktuellsten Informationen zur epidemiologischen Lage in der Schweiz, zu den Risiken von Covid-19 für die öffentliche Gesundheit und zur Covid-19-Immunisierung (durch Impfung oder Genesung)127 verfügten. Es ist klar, dass das Wissen über die Risiken der Omikron-Variante ­ und damit über die Wirksamkeit der Zertifikatspflicht gegen diese Variante ­ zum Zeitpunkt des Beschlusses vom 17. Dezember 2021 noch begrenzt war. Es ist indes nachvollziehbar, dass sich die Behörden in diesem unsicheren Kontext auf die Erfahrungen mit den vorgängigen Varianten stützten.

Für die Kommission stellen die Informationen von Swissmedic und EDI über den indirekten Impfschutz (Verringerung der Übertragungsfähigkeit geimpfter Personen) die Schlussfolgerungen der Bundesbehörden bezüglich der Angemessenheit einer Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht nicht infrage. Der indirekte Schutz stand beim Ausweitungsbeschluss des Bundesrates nicht im Vordergrund, sondern war lediglich ein sekundäres Argument. Zudem deuteten die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Jahr 2021 darauf hin, dass der Impfstoff die Übertragungsfähigkeit geimpfter Personen in einem gewissen Umfang zu verringern vermag.
In Bezug auf die Notwendigkeit der Ausweitung der Zertifikatspflicht ist die GPK-N der Auffassung, dass es angesichts der damals verfügbaren Informationen aus Sicht der Behörden schwierig gewesen wäre, weniger strikte Massnahmen in Betracht zu ziehen, mit denen der Schutz des öffentlichen Interesses an der Gesundheit hätte sichergestellt werden können. Die Kommission hält fest, dass die zuständigen Behörden darauf achteten, dass die Massnahmen nur so lange wie nötig in Kraft bleiben, indem sie diese in ihrer Art, ihrer Dauer und ihrer räumlichen Reichweite begrenzten. Insbesondere das BJ stellte sich in der Folge regelmässig die Frage, ob es notwendig ist, die betreffenden Massnahmen beizubehalten.

127

Zur Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch das BAG siehe auch Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch den Bundesrat und das BAG zur Bewältigung der Coronakrise, Bericht der GPK-N vom 30.6.2023

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Zu guter Letzt hält die Kommission fest, dass der Bundesrat bei seiner Interessenabwägung bezüglich der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne allen relevanten Aspekten, d. h. dem Infektionsrisiko im Zusammenhang mit dem Immunitätsstatus (geimpft oder genesen), der Notwendigkeit, die Spitalstrukturen zu schützen, der Notwendigkeit, neue umfassende Schliessungen zu vermeiden, der Notwendigkeit, die Grundrechte so wenig wie möglich einzuschränken, sowie den Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit der neuen Omikron-Variante, Rechnung trug. Die GPK-N ist der Ansicht, dass die Abstimmung und Gewichtung dieser verschiedenen Kriterien eine politische Entscheidung des Bundesrates ist, der die endgültige Verantwortung für seine Entscheide trägt. Sie hält fest, dass der Beschluss des Bundesrates mit den strategischen Leitlinien übereinstimmt, die er zuvor im Jahr 2021 ­ insbesondere in seinem Bericht über das «Drei-Phasen-Modell» ­ definiert hatte.

7

Schlussfolgerungen

Auf der Grundlage der ihr vorliegenden Informationen ist die GPK-N der Auffassung, dass der Bundesrat und die zuständigen Stellen der Bundesverwaltung bei der Prüfung der Kriterien von Artikel 36 BV im Hinblick auf den Beschluss über die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht im Dezember 2021 im Grossen und Ganzen angemessen handelten.

Für die Kommission besteht kein Zweifel daran, dass dieser Beschluss eine erhebliche Einschränkung der Grundrechte bedeutete und dass eine solche Massnahme mit grosser Zurückhaltung und unter strikter Einhaltung der Verfassung getroffen werden muss. Aus ihrer Sicht sind die Ausführungen des EDI, des BAG und des BJ schlüssig und zeigen, dass diese Behörden die Kriterien von Artikel 36 BV ­ soweit es der damalige Wissensstand und der besondere Kontext der Covid-19-Krise erlaubten ­ angemessen prüften. Diese Prüfung floss in adäquater Weise in die Entscheidungsgrundlagen des Bundesrates ein und der Bundesrat konnte sich bei seiner endgültigen Interessenabwägung auf diese Prüfung stützen. In den Augen der GPK-N lässt aus Sicht der Oberaufsicht nichts auf grundlegende Mängel in der Geschäftsführung der zuständigen Behörden schliessen. Sie ist indes der Ansicht, dass aus diesem Fall einige allgemeingültige Lehren für künftige Krisen gezogen werden können.

Die Kommission zieht in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen dem BAG und dem BJ bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Massnahmen eine insgesamt positive Bilanz. Sie hält fest, dass das BJ systematisch zu den jeweiligen Verordnungsentwürfen konsultiert wurde und dass sich die Ämter häufig und eng austauschten. Angesichts der kurzen Fristen und der gesundheitlichen Unwägbarkeiten ist es für die Kommission nachvollziehbar, dass das BJ zunächst nur eine summarische Prüfung der Verfassungsmässigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen vornehmen konnte. Sie weist darauf hin, dass das Bundesamt dem Kriterium der Verhältnismässigkeit in der Folge besondere Aufmerksamkeit schenkte und diesbezüglich verschiedene Anmerkungen machte. Die Kommission ersucht den Bundesrat, verschiedene Massnahmen zur Stärkung der Kontrollfunktion des BJ in Krisenzeiten zu prüfen (Empfehlung 1).

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Die GPK-N hält die Argumentation, für die Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht habe es im EpG eine ausreichende gesetzliche Grundlage gegeben, für rechtlich zulässig. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, dass das Gesetz dem Bundesrat einen gewissen Ermessensspielraum hinsichtlich der möglichen Massnahmen einräumt, wenn diese milder als andere zulässige Massnahmen sind und die anderen verfassungsrechtlichen Kriterien eingehalten werden. Die Kommission fragt sich indes, ob es in Bezug auf die politische Zweckmässigkeit nicht angebracht gewesen wäre, im Jahr 2021 eine Bestimmung in das Gesetz aufzunehmen, in welcher der Zweck und die Ziele des Zertifikats expliziter genannt werden, um so dessen demokratische Legitimation zu erhöhen. Die GPK-N hält jedoch fest, dass die Legitimation des Zertifikats indirekt auch durch mehrere andere Mittel ergänzt wurde (insbesondere verschiedene Konsultationen und die Annahme des Covid-19-Gesetzes in der Volksabstimmung). Um ähnliche Situationen in künftigen Pandemien zu vermeiden, bittet die Kommission den Bundesrat, bei der geplanten Revision des EpG zu prüfen, ob der gesetzliche Rahmen betreffend den Immunitätsstatus präzisiert werden sollte (Empfehlung 2).

In Bezug auf das Kriterium des überwiegenden öffentlichen Interesses besteht aus Sicht der GPK-N angesichts der verfügbaren Erkenntnisse kein Zweifel daran, dass die Covid-19-Pandemie eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellte. Zudem stellt der Anfang des Dezembers 2021 eine der Phasen der Pandemie dar, in denen die Unsicherheit in Bezug auf die Entwicklung der Gesundheitslage am grössten war. Darüber hinaus teilte der Bundesrat sein Ziel ganz eindeutig mit, bei den Gesundheitsmassnahmen den Schwerpunkt auf den Schutz der Spitalstrukturen zu legen.

Die GPK-N erachtet es zudem als sinnvoll, dass sich der Bundesrat bei der Beurteilung der epidemiologischen Lage auf mehrere Indikatoren stützte und dass diese regelmässig überprüft wurden. Sie ersucht den Bundesrat, in Bezug auf die Relevanz und Präzision der einzelnen in der Covid-19-Pandemie zur Beurteilung der Bedrohung für die öffentliche Gesundheit genutzten Indikatoren Bilanz zu ziehen und auf dieser Grundlage eine Liste potenzieller Indikatoren zu erstellen, die bei einer künftigen Pandemie verwendet werden könnten (Empfehlung 3). Ausserdem hält
es die Kommission für notwendig, dass der Bundesrat prüft, ob die Kriterien im EpG für den Übergang zur besonderen Lage bzw. für deren Aufrechterhaltung präzisiert werden sollten (Empfehlung 4).

Die Kommission ist der Auffassung, dass die zuständigen Behörden die Frage der Verhältnismässigkeit der Massnahmen im Zusammenhang mit dem Covid-Zertifikat angemessen behandelten. Aus ihrer Sicht verfügten das EDI und das BAG über die aktuellsten Informationen, um die Angemessenheit einer Ausweitung der Zertifikatspflicht zu beurteilen. Die Kommission hält zudem fest, dass die Behörden darauf achteten, dass die Massnahmen sowohl in ihrer Art als auch in ihrer Dauer und ihrer räumlichen Reichweite begrenzt sind. Namentlich das BJ stellte sich regelmässig die Frage, ob es notwendig ist, die betreffenden Massnahmen beizubehalten. Zu guter Letzt weist die GPK-N darauf hin, dass der Bundesrat bei seiner Interessenabwägung allen relevanten Aspekten Rechnung trug. Die Abstimmung und Gewichtung dieser Aspekte ist eine politische Entscheidung des Bundesrates, der die entsprechende Verantwortung trägt. Die Kommission weist zudem darauf hin, wie wichtig es ist, den von grosser Unsicherheit geprägten Kontext zu berücksichtigen, in welchem die Massnahmen beschlossen wurden.

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Die GPK-N ersucht den Bundesrat, die Feststellungen und Empfehlungen in diesem Bericht zu berücksichtigen und bis zum 4. Oktober 2023 Stellung dazu zu nehmen.

30. Juni 2023

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Die Präsidentin: Prisca Birrer-Heimo Die Sekretärin: Ursina Jud Huwiler Der Präsident der Subkommission EDI/UVEK: Thomas de Courten Der Sekretär der Subkommission EDI/UVEK: Nicolas Gschwind

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Abkürzungsverzeichnis BAG

Bundesamt für Gesundheit

BBl

Bundesblatt

BJ

Bundesamt für Justiz

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999 (SR 101)

Covid-19Gesetz

Bundesgesetz 25.9.2020 über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der CovidPandemie (SR 818.102),

Covid-19Verordnung besondere Lage

Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (SR 818.101.26)

Covid-19Verordnung Zertifikate

Verordnung vom 4.6.2021 über Zertifikate zum Nachweis einer Covid-19-Impfung, einer Covid-19-Genesung oder eines Covid-19Testergebnisses (SR 818.102.2)

EDI

Eidgenössisches Departement des Innern

EpG

Bundesgesetz vom 28.9.2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz; SR 818.101)

GDK

Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren

GPK

Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte

GPK-N

Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates

NCS-TF

Swiss National Covid-19 Science Taskforce, nationale Taskforce für die wissenschaftliche Beratung zu Covid-19

ParlG

Bundesgesetz vom 13.12.2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz; SR 171.10)

PCR

Polymerase Chain Reaction, Polymerase-Kettenreaktion

SR

Systematische Rechtssammlung

Swissmedic

Schweizerisches Heilmittelinstitut

UVEK

Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation

WHO

Weltgesundheitsorganisation

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Anhang 1

Schreiben des EDI vom 14. April 2022 an die GPK-N 1. Einleitende Bemerkungen Am 17. Dezember 2021 verabschiedete der Bundesrat zusätzliche Massnahmen, namentlich eine Beschränkung des Zugangs zum Innenbereich bestimmter Einrichtungen und Anlagen auf geimpfte oder genesene Personen (sogenannte 2G-Zugangsbeschränkung). Wo das Tragen einer Maske nicht möglich oder angemessen war, wurde der Zugang auf Personen beschränkt, die sowohl über ein Impf- oder Genesungszertifikat als auch über einen Testnachweis verfügten oder deren Impf- oder Genesungszertifikat nicht älter als 120 Tage war (sogenannte 2G+-Zugangsbeschränkung). Die Geltungsdauer dieser Massnahmen war in einem ersten Schritt auf den 24. Januar 2022 befristet.

1

Es ist unbestreitbar, dass die vom Bundesrat im Rahmen der besonderen Lage getroffenen Massnahmen erhebliche Einschränkungen der Grundrechte darstellten. Sie beschnitten insbesondere die persönliche Freiheit (Art. 10 BV) und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV).128 Ob die Massnahmen ­ wie vom «Juristen-Komitee» vertreten ­ in verfassungswidriger Art und Weise in die Grundrechte eingriffen, ist anhand einer Prüfung der Voraussetzungen nach Artikel 36 BV zu beurteilen. [...]

2

Mit Blick auf die zahlreichen nachfolgenden Stellungnahmen ist festzuhalten, dass die Beurteilung der getroffenen Massnahmen im Lichte der Umstände zum Zeitpunkt der Bundesratsentscheide und nach dem damaligen Wissensstand erfolgen muss.

3

2. Öffentliches Interesse: Fragen des Juristen-Komitees zur Bedrohung der öffentlichen Gesundheit Um rechtlich zu beurteilen, ob die Bedingung zur Einschränkung der Grundrechte ­ Verfolgung eines öffentlichen Interesses ­ erfüllt ist, muss zunächst auf die verschiedenen Aussagen des Juristen-Komitees zur Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch Covid-19 eingegangen werden.

4

128

Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Thema verweisen wir auf die Abhandlung zur Frage möglicher Lockerungen für gegen Covid-19 geimpfte Personen der SPK-S vom 23.2.2021, namentlich die Positionen des Bundesamtes für Justiz sowie der Professoren Belser und Stöckli von der Universität Freiburg. Das Gutachten des Bundesamtes für Justiz vom 18.2.2021 zum Rechtsrahmen für Differenzierungen aufgrund des Impfstatus ist zu finden unter: https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/publiservice/publikationen/berichte-gutachten/2021-02-18.html.

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a. Übersterblichkeit Behauptung 1. Das Juristen-Komitee ist der Ansicht, dass die Demographiebereinigten Sterbezahlen für die Schweiz im Jahr 2021 bis Datum seines Schreibens deutlich unter dem Durchschnitt der vorangegangenen 10 Jahre liegen. Dies gelte sogar für die Altersgruppe der über 70-Jährigen129. Eine schwere unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Gesundheit sehe anders aus.

5

Sowohl im Herbst und Winter 2020/21 als auch im Herbst und Winter 2021/22 wurde über mehrere Wochen eine Übersterblichkeit verzeichnet (Mortalitätsmonitoring des BFS), die mit den gemeldeten COVID-19 Todesfällen korrelierte. Für weitere Informationen zur Übersterblichkeit verweisen wir auf die Antworten zu den Ziffern 2.4 und 6.3.

6

b. Überlastung der Spitäler Behauptung 2.1. Das Juristen-Komitee ist der Ansicht, dass per 15. Dezember 2021 die Schweizer Spitalbetten insgesamt zu 83 % ausgelastet gewesen seien, und dass der Anteil der «COVID-Patienten» trotz «Epidemie» offiziell bei lediglich 7,2 % gelegen habe.130 Die Intensivstationen seien zu 80,4 % ausgelastet gewesen, der Anteil der «COVID-Patienten» habe offiziell bei 34,5 % gelegen.

7

Die Spitäler sind angehalten, für Notfälle Betten freizuhalten. Daher ist eine Auslastung von 80 % der Kapazitäten als hoch zu bewerten und deutet auf zumindest eine regional mögliche Überlastung hin. Zudem wurden Kapazitäten für Covid-19-Hospitalisierte geschaffen, indem nicht dringliche Eingriffe zurückgestellt wurden. Diese müssen jedoch jeweils nachgeholt werden. Die Anzahl verschobener Eingriffe wurde nicht erhoben, jedoch waren die Intensivstationen im Sommer 2020 (Mai bis September) mit durchschnittlich etwa 550 Non-Covid-19-Patientinnen und -Patienten belegt, während im Dezember 2021 durchschnittlich 388 Non-Covid-19-Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen hospitalisiert waren.

8

Behauptung 2.2. Eine Freiquote von ca. 20 % deute auf eigentlichen Normalbetrieb hin.131 Noch im Jahr 2015 sei moniert worden, dass eine Auslastung von «nur» 80 % einem Problem sei: Die Spitäler seien «zu gross» und damit unrentabel.132 9

129

Quelle: Anhang «Sterbefälle pro Altersgruppe 2021 in Vergleich zu 2010 bis 2020 (jeweils bis KW 48) in der Schweiz».

130 BAG, Covid-19 Schweiz, Gesamte Spitalkapazität, www.covid19.admin.ch/de/overview.

131 ELMIGER, Direktor (CEO) der Privatklinik Bethanien, in: Nau.ch, 16.9.2021, «Keine Krise: Spital-CEO kritisiert Angst-Berichterstattung», www.nau.ch/news/schweiz/keinekrise-spital-ceo-kritisiert-angst-bericht-erstattung-66003628.

132 FRIEDLI, NZZ, 5.4.2015, «Schweizer Spitäler nur zu 80 Prozent ausgelastet», www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntagleiskalte-betten-schweizer-spitaeler-nur-zu-80-prozent-ausgelastet-1.18516688.

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Die Spitalauslastung wurde durch den KSD ab April 2020 erhoben. Der KSD kann zur Auslastung in den Jahren zuvor keine Angaben machen.

10

Behauptung 2.3. Das Komitee ist der Ansicht, es habe nie eine Triage in den Spitalern stattgefunden und es seien jederzeit Intensivbetten zur Verfügung gestanden.133 11

Daten zur Triage wurden nicht erhoben. Die knappen verfügbaren Ressourcen wurden jedoch mehrfach durch die Spitäler bestätigt und zeigten sich auch durch die Verschiebung von Operationen.

12

Behauptung 2.4. Laut Komitee sind es ohnehin keineswegs die Ungeimpften, die übermässig für eine Auslastung des Gesundheitssystems sorgen ­ trotzdem würden sie nun mit dem 2G-Regime abgestraft. Gemäss der Erfassung der «Covid-Todesfälle» nach Impfstatus seien nämlich seit Ende der «Nationalen Impfwoche» (14. November 2021) und damit seit demjenigen Zeitpunkt, in welchem alle Menschen in der Schweiz allerspätestens ein Impfangebot erhalten hatten, bis zum 15. Dezember 2021 41,96 % als «nicht geimpft», 39,57 % als «vollständig geimpft», 0,92 % als «teilweise geimpft» und ganze 17,56 % als «unbekannt» ausgewiesen worden.134 13

Ungeimpfte Personen müssen gemessen an ihrem Anteil in der Bevölkerung bei einer Covid-19 Erkrankung häufiger hospitalisiert werden als vollständig geimpfte Personen und tragen somit überproportional zur Auslastung des Gesundheitssystems bei, was anhand der folgenden Daten für den Zeitraum vom 27. Dezember 2021 bis zum 23. Januar 2022 gezeigt werden kann: 14

15

Betreffend Hospitalisationen: ­

Bei 0- bis 59-Jährigen Personen wurden insgesamt 906 Hospitalisationen im Zusammenhang mit einer laborbestätigten SARS-CoV-2-Infektion gemeldet.

Davon entfielen 630 (70 %) auf ungeimpfte Personen. Gemessen an ihrem Anteil an der Bevölkerung lag die Inzidenz der Hospitalisationen bei ungeimpften Personen dieser Altersklasse bei 25,7 pro 100 000 (ungeimpften) Einwohnerinnen und Einwohnern und bei vollständig geimpften Personen bei 7,0/100 000 (vollständig geimpften) Einwohnerinnen und Einwohnern.

133

NZZ, 27.7.2021, «Die Spitäler sind das Nadelöhr der Pandemie. Waren sie je überlastet?

Und wieso haben sie Plätze abgebaut?» («hat trotz den Engpässen kein Spital eine explizite Patienten-Triage eingeführt»), www.nzz.ch/schweiz/spitaeler-in-der-coronakrisewaren-sie-je-ueberlastet-Id.1636298; vgl. auch SRF, 06.11.2020, «Triage-Entscheid soll für die ganze Schweiz gelten» («noch genügend Plätze vorhanden»; «Derzeit ist laut Pargger knapp die Hälfte der rund 900 zertifizierten Intensivplatze mit Corona-Patienten belegt, effektiv seien aber rund 1200 Plätze einsatzbereit.»), www.srf.ch/news/schweiz/ coronavirus-in-der-schweiz-triage-entscheid-soll-fuer-die-ganze-schweiz-gelten.

134 BAG, Covid-19 Schweiz, Todesfalle nach Impfstatus, www.covid19.admin.ch/de/ vaccination/status. Zeitraum 15.11.2021 bis 15.12.2021 in absoluten Zahlen: 227 «nicht geimpft», 214 «vollständig geimpft», 5 «teilweise geimpft» und 95 «unbekannt» (Stand: 19.12.2021).

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Geimpfte Personen unter 60 Jahren mussten also 3,7 Mal weniger häufig hospitalisiert werden als ungeimpfte Personen.

­

16

Bei den 60-Jährigen und älteren Personen entfielen 850 (49 %) von 1737 Hospitalisationen auf ungeimpfte Personen. Die Inzidenz der Hospitalisationen lag bei ungeimpften Personen dieser Altersklasse bei 401,8/100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und bei vollständig Geimpften bei 45,9/100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, womit vollständig geimpfte Personen 8,8 Mal weniger häufig hospitalisiert werden mussten.

Betreffend Todesfälle: ­

Bei den Todesfällen in Zusammenhang SARS-CoV-2-Infektion lag die Inzidenz im betreffenden Zeitraum in der Altersklasse der 0- bis 59-Jährigen bei ungeimpften Personen bei 0,69/100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und bei vollständig geimpften Personen bei 0,05/100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. In der vollständig geimpften Bevölkerung ereigneten sich demnach 13,7 Mal weniger Todesfälle als in der ungeimpften Bevölkerung dieser Altersklasse.

­

In der Altersklasse der 60-Jährigen und Älteren war Unterschied bei den Todesfällen mit einem Faktor von 15,8 noch ausgeprägter, wobei die Inzidenz der Todesfälle bei Ungeimpften bei 102,1/100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern lag verglichen mit 6,5/100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern bei vollständig geimpften Personen.

Wenn nun folgend die verstorbenen Geimpften und Ungeimpften relativ zur entsprechenden Bevölkerung (und nicht nur in absoluten Zahlen) betrachtet werden, sind die Ungeimpften übermässig betroffen. Zu beachten ist zudem, dass die Anzahl Todesfälle zwar ein geeigneter Indikator für den Schweregrad der Erkrankungen ist, jedoch nicht direkt die Belastung des Gesundheitssystems widerspiegelt. Nur rund die Hälfte der laborbestätigten Todesfälle135 tritt in den Spitälern auf. Die andere Hälfte tritt zum grössten Teil in den Alters-und Pflegeheimen und in geringem Masse in anderen sozial-medizinischen Einrichtungen und zu Hause auf. Für das Gesundheitssystem belastender sind hingegen die Hospitalisationen von Patientinnen und Patienten mit einer laborbestätigen SARS-CoV-2-Infektion. Die Betreuung und Pflege (teilweise auf der Intensivpflegestation) von Covid-Patientinnen und -Patienten beanspruchen nicht nur Medikamente, medizinisches Verbrauchsmaterial, Geräte und Maschinen, sondern belasten vor allem auch das Intensivpflegefachpersonal, Ärzte, Reinigungskräfte sowie die zusätzlich anfallende Administration.

17

135

Von allen laborbestätigten Todesfällen ab 5.10.2020 mit einem ausgefüllten klinischen Befund zum Tod ereigneten sich 47 % in Spitälern, 43 % in Alters- und Pflegeheimen und 3 % an einem anderen Ort. Bei 7 % fehlte die Angabe zum Todesort.

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c. Kritik am Spitalbettenabbau Behauptung 3.1. Das Juristen-Komitee ist der Ansicht, dass von 1982 bis 2019 in der Schweiz Spital-Kapazitäten kontinuierlich ­ und zwar bei den Betten um ganze 63 % ­ reduziert worden seien.136 18

In den letzten Jahrzehnten wurden die Spitalkapazitäten kontinuierlich abgebaut.137 Diese Entwicklung lässt sich primär durch die Devise «ambulant vor stationär» erklären, welche namentlich durch die Weiterentwicklung der Medizin (z.B. neue Operationsmöglichkeiten) ermöglicht wurde.

19

Behauptung 3.2. Laut Komitee seien die Kapazitäten für Intensivpflege seit erstmaligem Auftreten von Covid-19 in der Schweiz (mit Ausnahme einer kurzen Maximierungsphase im Marz/April 2020) weiter kontinuierlich abgebaut worden, und zwar um rund 15­20 %.138 20

Die Bettenzahl konnte im März und April 2020 mit zusätzlich geschaffenen Betten kurzfristig erhöht werden. Dies wurde ermöglicht durch eine schweizweite Aussetzung von nicht-dringlichen Eingriffen und den Einsatz von Fachpersonal anderer Stationen. Die nicht dringlichen Eingriffe müssen jedoch nachgeholt werden und das Fachpersonal anderer Stationen muss jeweils in seine ursprüngliche Funktion zurückgeführt werden. Die Anzahl zertifizierter Betten hat sich seit Anfang Pandemie kaum verändert (Dez. 2019: 863 Intensivbetten, Sep. 2021: 873, März 2022: 884).

21

d. Irrelevantes Kriterium der Fallzahlen, u. a. aufgrund der vielen asymptomatischen, nicht ansteckenden Personen Behauptung 4.1. Das Juristen-Komitee ist der Ansicht, dass die Messgrösse «hohe Fallzahlen» für sich allein betrachtet selbst gemäss WHO bekanntlich völlig wertlos sei.

22

Die Fallzahlen sind kein irrelevantes Kriterium, da sie seit dem grossflächigen Testen eine erste und wichtige Messgrösse für die Entwicklung der Pandemie darstellen.

Einerseits tragen Personen mit SARS-CoV 2-Infektion selbst ohne Symptome zur Ausbreitung des Virus bei (siehe Antwort 4.3.). Andererseits erlauben die Fallinzidenzen, insbesondere in den älteren Altersklassen, eine frühzeitige, wenn auch vorsichtige Abschätzung der Entwicklung der Hospitalisationen.

23

136

H+, Die Spitaler der Schweiz, «Spitaler, Betten und Bevölkerung ­ Anzahl Spitaler und Betten im Verhältnis zur Bevölkerung, ab 1947», www.hplus.ch/de/zahlen-statistiken/h-spital-und-klinik-monitor/gesamtbranche/strukturen/spitaeler/spitaeler-betten-undbevoelkerung.

137 Infrastruktur, Beschäftigung, Finanzen | Bundesamt für Statistik (admin.ch).

138 Quellen: BAG, «Situationsbericht zur epidemiologischen Lage in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein, Woche 49 (6.12.­12.12.2021), S. 14, S. 23», www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/mt/k-und-i/aktuelle-ausbrueche-pandemien/2019-nCoV/covid-19-woechentlicher-lagebericht.pdfdownload.pdf/BAG_COVID19_Woechentliche_Lage.pdf, www.covid19.admin.ch/de/hosp-capacity/icu.

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Das BAG veröffentlicht seit dem Frühjahr 2020 ergänzend zu den Fallzahlen die Hospitalisationen und die Todesfälle. Seit Sommer 2020 veröffentlicht das BAG zusätzlich regelmässig die IPS-Belegung. All diese Indikatoren geben zusammengenommen Auskunft über die Dynamik bzw. die Entwicklung der Pandemie. Daher waren sie zentraler Bestandteil in den Informationsnotizen an den Bundesrat. Im Rahmen des Drei-Phasen-Modells139 wurden für diese vier Indikatoren im Frühjahr 2021 Richtwerte bestimmt, um die Möglichkeit von Lockerungen abzuschätzen.

24

Behauptung 4.2. Laut Komitee würden PCR-Testergebnisse für sich alleine keine belastbaren Rückschlüsse auf eine tatsächliche Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zulassen: Resultate können selbst dann positiv ausfallen, wenn gar keine symptomatische Erkrankung vorliege.

25

Das EDI stimmt zu, dass PCR-Tests allein keine belastbaren Rückschlüsse auf eine tatsächliche Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zulassen. Deshalb wurden während der gesamten Pandemie mehrere Datenquellen und Auswertungen herangezogen, um die Entscheidungsprozesse zu unterstützen.

26

Neben den Studien, die das Komitee zitiert, gibt es mehrere Studien, die aufzeigen, dass infektiöse Viren auch von Patienten mit hohen Ct-Werten kultiviert wurden.

27

Eine Einschätzung zur Übertragungsmöglichkeit durch asymptomatische Personen ist aus der untenstehenden Antwort ersichtlich (Ziff. 4.3).

28

Behauptung 4.3. Dabei sei die angebliche Relevanz der asymptomatischen Übertragung längst widerlegt worden.

29

Auch asymptomatische infizierte Personen tragen zur Ausbreitung des Virus bei, sodass auch Risikopersonen einer höheren Gefahr ausgesetzt sind. Neuere Studien, einschließlich Meta-Analysen, zeigen eindeutig, dass asymptomatische infizierte Personen Lebendviren übertragen und andere anstecken können, auch wenn das Risiko einer Übertragung geringer ist als bei symptomatischen Personen.140 30

Behauptung 4.4. Die beklagten hohen Fallzahlen würden demnach keineswegs ausschliesslich von kranken oder ansteckungsverdächtigen Personen stammen.

Vielmehr würden diese durch ein exzessives Testen von symptomlosen, gesunden Personen zielgerichtet fabriziert. Dies zeige sich auch deutlich am Umstand, dass sich die «laborbestätigten Fälle» von den «laborbestätigten Todesfällen» längst entkoppelt hätten.

31

139

Coronavirus: Bundesrat zeigt mit Drei-Phasen-Modell das weitere Vorgehen auf (admin.ch).

140 Siehe zum Beispiel: https://jammi.utpjournals.press/doi/full/10.3138/jammi-2020-0030.

Für eine Diskussion über die Wuhan-Studie im Vergleich zu anderen Studien siehe: www.thelancet.com/journals/lanepe/article/PIIS2666-7762(21)00059-4/fulltext.

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In den obenstehenden Antworten wird bereits auf die Übertragbarkeit von SARSCoV-2 durch asymptomatisch infizierte Personen eingegangen. Darüber hinaus deutet ein Anteil positiver PCR-Tests von über 15 % (wie im Dezember 2021 beobachtet) auf eine Testung von überwiegend symptomatischen Personen hin. Seit Anfang 2022 stieg der Anteil positiver Tests sogar auf über 30 %, was auf eine hohe Dunkelziffer hindeutet.

32

Die Entkopplung zwischen Fallzahlen und Todesfallzahlen entstand vor allem durch die hohe Durchimpfung in den Altersklassen mit einem höheren Risiko für eine schwere Erkrankung. Diese Entkopplung begann im Frühjahr 2021 sichtbar zu werden, als bereits ein grosser Teil der gefährdeten Personen geimpft war. Verstärkt wurde die Entkopplung durch die immunevasive Variante Omikron, die insbesondere bei geimpften Personen zwar zu Infektionen (hohen Fallzahlen), aber kaum zu schweren Verläufen (Todesfällen) führte. Zusätzlich führt die Omikron-Variante auch bei ungeimpften Personen seltener zu schweren Verläufen. Zum Zeitpunkt der Einführung von 2G (20.12.2021) war bezüglich dieser Eigenschaften der Omikron-Variante aber erst wenig Evidenz vorhanden und Statistiken in diversen Vergleichsländern mit höherem Anteil Omikron-Infektionen zeigten einen (teilweise deutlichen) Anstieg der Hospitalisationen141, 142. Wie gefährlich Ansteckungen auch mit der milderen Omikron-Variante ist, zeigt das Beispiel Hong-Kong, wo die Durchimpfungsrate gerade in den älteren Bevölkerungsgruppen deutlich tiefer war und die höchsten weltweit je gemessenen täglichen Todesfallzahlen erst während der Omikron-Welle zu verzeichnen waren. Andere Länder verzeichneten ähnlich hohe Ansteckungszahlen, jedoch deutlich tiefere Todesfallzahlen.

33

e. Rechtliche Beurteilung: Die Bedingung des öffentlichen Interesses ist erfüllt Gestützt auf die obigen Ausführungen ist das EDI der Ansicht, dass das Risiko einer Überlastung des Gesundheitswesens durch das kombinierte Auftreten der sehr ansteckenden Varianten Delta und Omikron zum Zeitpunkt des 17. Dezember 2021 eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellte. Eine Zunahme der Todesfälle im Herbst und Winter 2021 zeigt im Nachhinein, dass die Fallzahlen und die Übersterblichkeit zusammenhängen. Die getroffenen Massnahmen zielten daher auf die Wahrung des öffentlichen Interesses an der Gesundheit ab, indem sie eine Überlastung der Gesundheitseinrichtungen verhinderten.

34

3. Legalitätsprinzip: Frage des Juristen-Komitees zu den gesetzlichen Grundlagen Behauptung 5. Gemäss dem Juristen-Komitee lässt sich eine gesetzliche Grundlage ­ wie bereits für die 3G-Zertifikatspflicht ­ weder im Covid-19-Gesetz noch im Epidemiengesetz finden.

35

141

WHO HQ, Enhancing readiness for omicron (B.1.1.529): Technical Brief and Priority Actions for Member States, 10. Dezember 2021, 20211208-global-technical-brief-andpriority-action-on-omicron---final_rev_2021-12-11.pdf (who.int).

142 WHO, COVID-19 Weekly Epidemiological Update, Edition 70, 14. December 2021, Weekly epidemiological update on COVID-19 ­ 14 December 2021 (who.int).

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Gleich wie die Zugangsbeschränkung auf geimpfte, genesene und negativ getestete Personen stützt sich die 2G- und die 2G+-Zugangsbeschränkung gemäss Covid-19Verordnung besondere Lage (SR 818.101.26, Stand am 20. Dezember 2021) auf Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 40 EpG. Nach Artikel 6 Absatz 2 EpG kann der Bundesrat in einer besonderen Lage und nach Anhörung der Kantone Massnahmen gegenüber einzelnen Personen und gegenüber der Bevölkerung anordnen (Bst. a und b). Die Massnahmen gegenüber der Bevölkerung sind in Artikel 40 EpG aufgeführt. Gemäss Artikel 40 Absatz 2 EpG können insbesondere folgende Massnahmen getroffen werden: Veranstaltungen verbieten oder einschränken (Bst. a), Schulen, andere öffentliche Institutionen und private Unternehmen schliessen oder Vorschriften zum Betrieb verfügen (Bst. b), das Betreten und Verlassen bestimmter Gebäude und Gebiete sowie bestimmte Aktivitäten an definierten Orten verbieten oder einschränken (Bst. c).

36

Artikel 40 enthält verschiedene Massnahmen, die eine Verminderung enger Kontakte zwischen Personen bezwecken oder eine Exposition in einer bestimmten Umgebung verhindern sollen. Diese Massnahmen sind auf die kollektive Ebene ausgerichtet (Social Distancing) und betreffen vor allem Veranstaltungen, Schulen und Unternehmen, da Menschenansammlungen für die Ausbreitung bestimmter Krankheiten (z. B.

Grippe oder Masern) besonders förderlich sind. Die in diesem Artikel vorgesehenen Einschränkungen und Verbote sollen die Zahl der Ansteckungen verringern, indem sie die Ausbreitung der Krankheit eindämmen oder verlangsamen. Beim Entscheid, ob konkrete Massnahmen angeordnet werden sollen, sind das epidemiologische Umfeld in der Schweiz und im internationalen Kontext (Ort, Ausdehnung und Entwicklung der Herde, Infektiosität, besonders betroffene Gruppen) sowie die Merkmale der Veranstaltung, der Schule oder des Unternehmens (Herkunft und Anzahl der Teilnehmenden, Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler zu besonders stark betroffenen Gruppen usw.) zu berücksichtigen. Die Massnahmen dürfen nur so lange angeordnet werden, wie es notwendig ist, um die Verbreitung einer übertragbaren Krankheit zu verhindern. Die zuständigen Behörden sind daher verpflichtet, die Massnahmen regelmässig auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen (BBl 2011 311, 372).

37

Das EDI ist der Ansicht, dass der Beschluss des Bundesrates vom 17. Dezember 2021, neue Zugangsbeschränkungen nach den 2G- und 2G+-Regeln für Veranstaltungen und bestimmte Einrichtungen und Institutionen zu erlassen, sich auf Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 40 Absatz 2 Buchstaben a und b EpG stützt. Diese Rechtsgrundlage ermöglicht die Schliessung von Einrichtungen und als weniger restriktive Massnahme auch eine Zugangsbeschränkung unter bestimmten Voraussetzungen. Für weitere Ausführungen zu den Rechtsgrundlagen wird auf die Frage 1 der GPK an das BJ verwiesen.

38

4. Verhältnismässigkeit der Massnahmen: Fragen des Juristen-Komitees zur Wirksamkeit und Angemessenheit der Massnahmen Der Bundesrat muss im Weiteren dafür sorgen, dass die Verhältnismässigkeit der von ihm angeordneten Massnahmen gewahrt bleibt. Die Massnahmen müssen geeignet und notwendig sein, um das verfolgte Ziel zu erreichen, in diesem Fall den Schutz der öffentlichen Gesundheit vor einer Überlastung des Gesundheitswesens. Schliesslich sollte eine Massnahme, die eine stärkere Einschränkung der Freiheiten bedeutet, 39

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nicht aufrechterhalten werden, wenn sich das angestrebte Ziel voraussichtlich auch mit einer weniger einschneidenden Massnahme erreichen lässt.

Um die Verhältnismässigkeit der vom Bundesrat am 17. Dezember 2021 getroffenen Massnahmen zu beurteilen, muss die zu diesem Zeitpunkt herrschende epidemiologische Lage bewertet werden. Es muss daher auf die verschiedenen Äusserungen des Juristen-Komitees zur Notwendigkeit und Angemessenheit der Massnahmen eingegangen werden.

40

a. Ausführungen zu den Risiken im Zusammenhang mit geimpften Personen und der geringen Gefährlichkeit von Covid-19 Behauptung 6.1. Gemäss Juristen-Komitee zeigen internationale Daten gar, dass Geimpfte ein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung, Hospitalisation und Tod infolge COVID aufweisen: So werden laut aktuellen Zahlen aus England 6 von 10 «COVID-Fällen», 6 von 10 «COVID- Hospitalisationen» und 8 von 10 «COVIDTodesfällen» von vollständig «geimpften» Personen generiert.

41

Der vom Komitee zitierte Bericht der UK Health Security Agency («Covid-19 vaccine surveillance report, 8/11 Week 48)143 weist explizit darauf hin, dass bei einer hohen Durchimpfung ein grosser Teil der Fälle, Hospitalisationen und Todesfälle bei geimpften Personen zu erwarten ist. Dies aus dem Grund, dass es in der Bevölkerung wesentlich mehr geimpfte als ungeimpfte Personen gibt und ein Impfstoff (selbst ein hochwirksamer) nie zu hundert Prozent schützt.144 42

Der Begriff «erhöhtes Risiko» im Argumentarium des Komitees ist daher mit Vorsicht zu interpretieren. Hospitalisations- und Todesfallzahlen müssen immer in Bezug auf die jeweilige geimpfte bzw. ungeimpfte Bevölkerung betrachtet werden (Inzidenzraten), um eine Aussage über das relative Risiko machen zu können (siehe Antwort insb. zu Frage 2.4 oben).

43

Die Daten aus dem schweizerischen spitalbasierten Surveillance System (CHSUR)145 zeigen, dass der Anteil vollständig immunisierter Patienten, welche einer Hospitalisierung bedurften, trotz dem (gerade in älteren Bevölkerungsgruppen deutlich) höheren Anteil in der Bevölkerung einen kleineren Anteil an den Hospitalisierten ausmachte.146 Das gleiche gilt für die Todesfälle nach Immunstatus.147 44

Die Aussage, dass Geimpfte ein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung, Hospitalisation und Tod infolge COVID aufweisen, ist eindeutig und nachgewiesenermassen falsch. Alle internationalen als auch nationalen Daten belegen, dass eine Covid-19 Impfung vor schweren Verläufen inklusive Notwendigkeit einer Hospitalisation und 45

143 144

Siehe COVID-19 vaccine surveillance report ­ week 48 (publishing.service.gov.uk).

Siehe dazu S. 30 COVID-19 vaccine surveillance report ­ week 48 (publishing.service.gov.uk).

145 Siehe schweizerischen spitalbasierten Surveillance System (CH-SUR).

146 Siehe dazu Sektion 4.1 des Berichts vom Februar 2022, abrufbar unter www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/mt/k-und-i/aktuelle-ausbrueche-pandemien/2019-nCoV/sur-bericht-februar-2022.pdf.download.pdf/2022_02_report_full_introDE_2022_02_22.pdf.

147 Siehe dazu Sektion 4.3 des Berichts unter 146.

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Verlegung auf eine Intensivstation schützt. Das Risiko für schwere Verläufe ist für Ungeimpfte gegenüber Geimpften um ein Vielfaches höher. Die Impfung trägt somit für die einzelne Person und aus gesellschaftlicher Perspektive entscheidend zur Reduktion der Krankheitslast bei.

Behauptung 6.2. Gemäss Juristen-Komitee können Geimpfte das Virus so gut wie Ungeimpfte übertragen und im FaIle eines «lmpfdurchbruchs» so schwer wie Ungeimpfte erkranken.

46

Die Mehrheit der Geimpften ist vor einer Infektion geschützt. Dieser Schutz ist initial hoch und fällt mit der Zeit ab, kann aber durch eine Booster-Impfung für einen gewissen Zeitraum wiederhergestellt werden.148 Auf Bevölkerungsebene führt dies zu einer deutlichen Reduktion der Übertragungen. Der Impfschutz vor einer Infektion ist aber nicht absolut und insbesondere abhängig von den vorherrschenden bzw. neu auftretenden Virusvarianten.Dies bedeutet, dass auch Geimpfte, sofern sie sich infizieren, andere Personen anstecken können, selbst wenn sie selbst nicht schwer erkranken. Zur Verhinderung einer Ansteckung auf individueller Ebene und möglicher Ausbreitung muss die Impfung durch Schutz- und Präventionsmassnahmen ergänzt werden (z. B.

das Maskentragen). Dies gilt bei besonderer Gefährdung auch für Geimpfte, für welche eine individuelle Risikoabwägung erfolgen muss. Eine Impfung schützt nachgewiesenermassen anhaltend vor schweren Verläufen.149 47

Behauptung 6.3. Insgesamt betrachtet gehe von SARS-CoV 2 kein grösseres Risiko aus als dasjenige einer saisonalen Grippe: In einer Studie vom Oktober 2020 sei eine globale Letalität von gerade einmal 0,15 %­0,20 % errechnet worden; für Personen unter 70 Jahren gar nur von 0,03­0,04 %. In einer neueren Studie werde noch von einer Gesamtletalität von 0,15 % ausgegangen. Bei Kindern und Jugendlichen werde weltweit von einer Letalität von SARS-CoV-2 von nur 0,0027 % ausgegangen, womit das «Risiko» für diese gegen Null tendiere.

48

Bei Krankheiten wie der Grippe und Covid-19, welche sowohl mild als auch schwer verlaufen können, ist mit einer hohen Dunkelziffer an Infektionen zu rechnen. Die Schätzungen der Letalitäten (Todesfälle pro infizierte Personen) basieren daher auf vielen Annahmen ­ dies im Gegensatz zur Mortalität (Todesfälle pro Bevölkerung).

Die Letalität und die Mortalität können sich in Abhängigkeit von der zirkulierenden Virusvariante und der vorbestehenden Immunität in der Bevölkerung ändern. Bei sehr hohem Infektionsgeschehen kann auch ein Virus mit moderater Letalität zu einer hohen Mortalität, einer Bedrohung der öffentlichen Gesundheit und einem grossen volkswirtschaftlichen Schaden führen. So wurden in der Schweiz zeitgleich mit den 49

148

https://sciencetaskforce.ch/en/policy-brief/protection-duration-after-vaccination-or-infection-and-efficacy-of-a-third-dose-by-vaccination-or-booster-by-infection/ 149 ebda (s. vorherige Quellenangabe)

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Covid-19 Epidemiewellen teils hohe Übersterblichkeiten150, 151 bei Personen ab 65 Jahren beobachtet. Auch in einigen starken saisonalen Grippeepidemien war dies der Fall (z. B. 2017), aber in bedeutend kleinerem Ausmass und dies obwohl keine staatlichen Massnahmen bestanden. Neuere Modellierungen schätzen aufgrund von Excessmortalitätsdaten, dass global die Mortalität im Zusammenhang mit Covid-19 dreimal höher sein dürfte als gemäss der Zahl der registrierten Todesfälle, für die Schweiz 1,3-mal so hoch.152 Dies entspricht weltweit 18,2 Millionen Todesfällen für 2020­21 (somit 9,1 Millionen pro Jahr). Demgegenüber wird die Zahl Grippe-assoziierter Todesfälle weltweit auf jährlich 291 000­646 000 geschätzt.153, 154 Die Mortalität im Zusammenhang mit Covid-19 war während der pandemischen Phase somit in der Schweiz wie weltweit deutlich höher als die Mortalität der saisonalen Grippe.

Behauptungen 6.4. In der Schweiz seien in den Altersklassen 0­9 und 10­19 im Zeitraum 24.02.2020 bis 05.12.2021 denn auch gerade einmal drei Todesfälle (bei insgesamt über 11 000 Todesfällen) im Zusammenhang mit einem positiven PCRTest registriert worden; der letzte um den 28.03.2021.

50

Es war in der Tat erfreulich beobachten zu können, dass Kinder weniger stark betroffen waren.

51

b. Behauptungen zur Schädlichkeit der Massnahmen Behauptungen 7. Gemäss dem Juristen-Komitee ist es seit der am 17.12.2021 beschlossenen 2G Regel zu einem überproportionalen Anstieg von Neuinfektionen oder Covid-19 assoziierten Todesfällen in Alters- und Pflegeheimen gekommen.

52

Die Datenanalyse zeigt, dass die Anzahl Neuinfektionen und Covid-19 assoziierten Todesfälle in Alters- und Pflegeheimen seit Inkrafttreten der 2G Regel auf sehr tiefem Niveau stabil geblieben ist. Auch der Anteil der notwendigen Hospitalisationen von Bewohnenden von Alters- und Pflegeheimen ist verglichen mit vorherigen Wellen niedriger.

53

Die Infektionsprävention in Alters- und Pflegeheimen beinhaltet jedoch nicht nur eine einzelne Massnahme, sondern umfasst ein dynamisches Massnahmenbündel, welches regelmässig an die epidemiologische Situation angepasst wird. Die 2G Regel ­ ausschliesslich gültig in öffentlich zugänglichen Bereichen der Institution (Restaurants, Café) ­ ist eine Massnahme neben vielen weiteren wie beispielsweise kon54

150

151 152

153 154

Bundesamt für Statistik, Sterblichkeit, Todesursachen, Wöchentliche Todesfälle, 2020 ­ 2022, zugegriffen am 14.3.2022: Sterblichkeit, Todesursachen | Bundesamt für Statistik (admin.ch).

Bundesamt für Statistik, Mortalitätsmonitoring (MOMO), zugegriffen am 14.3.2022: Mortalitätsmonitoring (MOMO) | BFS ­ Experimentelle Statistiken (admin.ch).

COVID-19 Excess Mortality Collaborators, Estimating excess mortality due to the COVID-19 pandemic: a systematic analysis of COVID-19-related mortality, 2020­21 ­ ScienceDirect, Lancet, 2022.

Iuliano A, Estimates of global seasonal influenza-associated respiratory mortality: a modelling study ­ The Lancet, 2017.

Paget, Global mortality associated with seasonal influenza epidemics: New burden estimates and predictors from the GLaMOR Project ­ PubMed (nih.gov), 2019.

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sequentem Tragen der Maske aller Besuchenden und Mitarbeitenden, repetitivem Testen, Besuchermanagement, Isolation oder Quarantäne.

c. Rechtliche Beurteilung: Die Bedingung der Verhältnismässigkeit der Massnahmen ist erfüllt Aus der Sicht des EDI entspricht die vom Bundesrat am 17. Dezember 2021 eingeführte Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Einrichtungen, Institutionen und Veranstaltungen im Innenbereich auf geimpfte und genesene Personen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Die Massnahmen waren angesichts der sehr angespannten Lage in den Spitälern und des Wissensstandes zum Zeitpunkt des Beschlusses geeignet, notwendig und verhältnismässig zum verfolgten Ziel.

55

Obwohl die Immunität nur teilweise vor der Übertragung der Omikron-Variante schützt, ist anerkannt, dass sie wirksam schwere Krankheitsverläufe und Hospitalisierungen verhindert. Personen, die nur ein negatives Testresultat vorweisen konnten, wurde der Zugang zu bestimmten Veranstaltungen und Betrieben verwehrt. Dadurch sollte das Risiko reduziert werden, dass nicht immunisierte Personen, welche das Virus leichter weitergeben und potentiell schwer erkranken (inkl. Hospitalisierung), infiziert werden. Die Maskenpflicht war eine zusätzliche Massnahme, die sich zur Verringerung des Übertragungsrisikos eignete. Da die Omikron-Variante stark immunevasiv und übertragbar ist, betrafen die verschärften Massnahmen (Maskenpflicht) auch den geimpften und genesenen Bevölkerungsteil. Dort, wo die Maskenpflicht nicht eingehalten werden konnte, musste auch der Zugang auf genesene oder geimpfte Personen mit negativem Testergebnis bzw. frisch geimpfte oder genesene Personen beschränkt werden, um das Infektionsrisiko stark zu reduzieren, wo dies notwendig war, um den Betrieb der Spitäler nicht zu gefährden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass solche Zugangsbeschränkungen dazu dienten, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen, zumal durch die Beschränkung des Zugangs auf Inhaberinnen und Inhaber von 2G- und 2G+-Zertifikaten das Übertragungsrisiko und damit das Risiko eines Anstiegs der Anzahl Erkrankter, die eine Spitalbehandlung benötigen, verringert wurden. Das Hauptziel des Bundesrates bei der Anordnung der Massnahmen, nämlich der Schutz der Spitalinfrastruktur, war somit gewährleistet, und die Massnahmen waren geeignet, den beabsichtigten Zweck zu erfüllen.

56

Die zugangsbeschränkenden Massnahmen 2G und 2G+ erwiesen sich als notwendig, d. h. sie waren nicht unverhältnismässig. Dies gilt für ihre Art, da es sich um Zugangsbeschränkungen und nicht um ein vollständiges Zugangsverbot handelte, für ihre Dauer, da sie vorerst bis zum 24. Januar 2022 befristet waren, und schliesslich auch für ihre räumliche Reichweite, da sie sich auf bestimmte Institutionen und Einrichtungen aus dem Freizeit-, Unterhaltungs-, Sport- und Kulturbereich beschränkten und keine Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs betrafen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Mitte Dezember 2021 noch immer die Delta-Variante vorherrschend war und über Omikron noch keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse zum Gefährdungsrisiko vorlagen.

57

[...]

Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass der Bundesrat die Massnahmen entsprechend dem Antrag des EDI bewusst befristet hatte. Damit kommt der Wille des Bundesrats zum Ausdruck, die jeweiligen Massnahmen und die damit einhergehenden 58

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Grundrechtsbeschränkungen laufend auf ihre Notwendigkeit hin bzw. im Lichte der Kriterien nach Artikel 36 BV zu überprüfen. Vor diesem Hintergrund standen EDI und BAG in regelmässigem Austausch mit weiteren betroffenen Bundesstellen. Insbesondere haben das EDI und das BAG die Fragen zur Kenntnis genommen, die das Bundesamt für Justiz im Rahmen der Konsultation zu einem Entwurf über zusätzliche Massnahmen Ende Dezember 2021 (Stellungnahme des BJ vom 28. Dezember 2021) sowie zu einem Entwurf zur Verlängerung der Massnahmen Mitte Januar 2022 (Stellungnahme des BJ vom 17. Januar 2022) angesprochen hat. Die vom BJ in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen wurden vertieft diskutiert und analysiert. Auf der Grundlage des Antrags des EDI traf der Bundesrat in voller Transparenz und Kenntnis der Sachlage schwierige Entscheidungen angesichts der zahlreichen Unsicherheiten in diesem Zeitraum und stützte sich dabei auf das Vorsorgeprinzip und auf den damaligen Wissensstand. Dabei stand er in engem und regelmässigen Austausch mit der Swiss National Covid-19 Science Task Force. Im Rahmen der regelmässigen Überprüfung des Massnahmendispositivs zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie hat der Bundesrat schliesslich bereits Mitte Februar 2022 die Zugangsbeschränkungen auf Personen mit einem Covid-19-Zertifikat aufgehoben.

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Anhang 2

Schreiben des BJ vom 13. April 2022 an die GPK-N 1. Frage 1: Rechtsgrundlage der Zertifikatspflicht Die Pflicht, den Zugang zu bestimmten Räumen oder Veranstaltungen auf Personen mit Covid-19-Zertifikat zu beschränken, stützte sich auf das Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG, SR 818.101) und die darauf abgestützte Verordnung vom 23. Juni 2021 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage, SR 818.101.26, zwischenzeitlich abgelöst durch die gleichnamige Verordnung vom 16. Februar 2022).

1

Jeweils anhand einer Revision der Covid-19-Verordnung besondere Lage erliess der Bundesrat im Juni 2021 erstmals eine Zertifikatspflicht, u. a. betreffend Grossveranstaltungen sowie Diskotheken und weitere Kultur- und Sporteinrichtungen (AS 2021 379). Er dehnte sie später auf zusätzliche Lebensbereiche aus (AS 2021 542 und AS 2021 813) und erliess im Dezember 2021 eine befristete 2G-Zertifikatsplicht, u. a. betreffend die Innenbereiche von Restaurations-, Bar- und Clubbetrieben, in denen die Konsumation vor Ort erfolgt, und eine befristete 2G+-Zertifikatspflicht betreffend Diskotheken und weitere Kultur- und Sporteinrichtungen (AS 2021 882). Er hob die Zertifikatspflicht im Februar 2022 schliesslich auf (AS 2022 97).155 2

Gemäss Artikel 5 Absatz 1 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV, SR 101) ist das Recht «Grundlage und Schranke staatlichen Handelns». Dieses Legalitätsprinzip beinhaltet nach allgemein anerkannter Auffassung vier Teilgehalte. Vorliegend scheint unumstritten zu sein, dass die Zertifikatspflicht in Form einer generell-abstrakten Norm erging (Erfordernis des Rechtssatzes) und ordnungsgemäss publiziert wurde (Erfordernis der genügenden Kundmachung). Auf diese beiden Teilgehalte gehen wir deshalb vorliegend nicht weiter ein.

3

Hingegen wird vom Schreiben Juristen-Komitee (bzw. den dort in Fussnote 18­23 zitierten Fachbeiträgen und Medienartikeln) in Abrede gestellt, dass die Erfordernisse der Normstufe und der Normbestimmtheit erfüllt sind.

4

Das Erfordernis der Normstufe verlangt, dass «wichtige rechtsetzende Bestimmungen», insbesondere die «grundlegenden Bestimmungen» über schwere Grundrechtseinschränkungen, in der Form des Bundesgesetzes erlassen werden (Art. 36 Abs. 1 zweiter Satz und 164 Abs. 1 Bst. b BV). Nach dem Erfordernis der Normbestimmtheit müssen Rechtsnormen so bestimmt sein, dass der Bürger sein Verhalten 5

155

Zudem erliess der Bundesrat die Verordnung vom 4.6.2021 über Zertifikate zum Nachweis einer Covid-19-Impfung, einer Covid-19-Genesung oder eines Covid-19-Testergebnisses (Covid-19-Verordnung Zertifikate, SR 818.102.2), gestützt auf Art. 6a des Bundesgesetzes vom 25.9.2020 über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Gesetz, SR 818.102).

In der Covid-19-Verordnung Zertifikate werden insbesondere die Voraussetzungen für die Ausstellung von Covid-19-Zertifikaten sowie deren Gültigkeitsdauer geregelt.

Sie stellt aber nicht die Rechtsgrundlage für die Zertifikatspflicht selber dar.

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danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem dem Umstand entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (BGE 119 IV 242 E. 1c).

Wie einleitend dargelegt, stützte sich die Zertifikatspflicht auf die Bestimmungen des 4. Abschnitts der zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden Fassung der Covid-19-Verordnung besondere Lage, welche sich wiederum auf Artikel 6 des Epidemiengesetzes stützte. Dessen Absatz 2 Buchstaben a und b lautet: 6

«Der Bundesrat kann nach Anhörung der Kantone folgende Massnahmen anordnen: a.

Massnahmen gegenüber einzelnen Personen;

b.

Massnahmen gegenüber der Bevölkerung».

Artikel 6 EpG erfüllt unzweifelhaft das Erfordernis der Normstufe, da es sich um eine formell-gesetzliche Bestimmung handelt.

7

Die nachfolgenden Ausführungen zeigen, dass das Epidemiengesetz auch das Erfordernis der Normbestimmtheit als rechtliche Grundlage für die Zertifikatspflicht zu wahren vermag.

8

Artikel 6 Absatz 2 Buchstaben a und b EpG bildet die formell-gesetzliche Grundlage für den Erlass der Covid-19-Verordnung besondere Lage (und damit die Zertifikatspflicht), ist aber nicht isoliert, sondern im Kontext des restlichen Epidemiengesetzes zu lesen. Das Epidemiengesetz unterscheidet die Normallage, die besondere Lage (Art. 6) und die ausserordentliche Lage (Art. 7). Mit dem Wechsel von der normalen in die besondere oder ausserordentliche Lage einher geht eine «Kompetenzeskalation» von den ordentlichen Vollzugsorganen hin zum Bundesrat. Dieser kann die notwendigen «Massnahmen gegenüber einzelnen Personen» und «gegenüber der Bevölkerung» anordnen.

9

Diese Begriffe sind für sich genommen sehr offen. Nach den Materialien beschränkt sich der Handlungsspielraum des Bundesrates jedoch auf die in den Artikeln 31­38 sowie 40 EpG festgelegten Massnahmen (Botschaft zur Revision des EpG vom 3. Dezember 2010 [im Folgenden «Botschaft EpG»], BBl 2011 364). Die Artikel 30­40 EpG konkretisieren Artikel 6 EpG, indem sie einen dem Bundesrat zur Verfügung stehenden Massnahmenkatalog regeln. Gegenüber Einzelnen kann der Bundesrat etwa eine Quarantäne anordnen (Art. 35 EpG) oder bestimmte Tätigkeiten oder die Berufsausübung einschränken (Art. 38 EpG). Gegenüber der Bevölkerung oder bestimmten Personengruppen kann der Bundesrat insbesondere Veranstaltungen verbieten oder einschränken, Schulen, andere öffentliche Institutionen und private Unternehmen schliessen oder Vorschriften zum Betrieb verfügen. Er kann auch das Betreten und Verlassen bestimmter Gebäude und Gebiete sowie bestimmte Aktivitäten an definierten Orten verbieten oder einschränken (Art. 40 Abs. 2 EpG). Diesen Massnahmen auf der kollektiven Ebene ist gemeinsam, dass sie die Wahrscheinlichkeit senken sollen, dass Individuen mit einem Erreger infiziert werden («social distancing»; vgl. Botschaft EpG, 392).

10

Dieser Katalog an Massnahmen gegenüber der Bevölkerung oder bestimmten Personengruppen ist nicht abschliessend (wie der Begriff «insbesondere» im Einleitungssatz von Art. 40 Abs. 2 EpG klarstellt); der Bundesrat kann also weitere notwendige Massnahmen ergreifen. Das Epidemiengesetz belässt dem Bundesrat demnach bewusst einen weiten Ermessensspielraum. Weil es dem Gesetzgeber nicht möglich ist, 11

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diese Massnahmen im Vornherein abschliessend zu bezeichnen, überlässt es das Epidemiengesetz weitgehend dem Verordnungsgeber, die im Einklang mit dem Zweck des Gesetzes (Art. 2 EpG) stehenden Massnahmen zu ergreifen.

Artikel 40 EpG konkretisiert die Grundnorm von Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b EpG allerdings durch die Nennung beispielhafter Massnahmen wesentlich.Dass die Zertifikatspflicht nicht ausdrücklich als mögliche Massnahme genannt wird, ist dabei nicht von abschliessender Bedeutung. Denn Artikel 40 EpG erlaubt dem Bundesrat umfangreiche und eingriffsintensive Massnahmen, wenn es zur Bekämpfung einer übertragbaren Krankheit notwendig ist. Dazu gehören u. a. Veranstaltungsverbote und Zwangsschliessungen von Schulen, öffentlichen Institutionen und Unternehmen. Die Zertifikatspflicht ist im Vergleich dazu eine mildere Massnahme, welche es dem Bundesrat gerade ermöglichen sollte, auf die Schliessung der genannten Einrichtungen und das Verbot von Veranstaltungen zu verzichten. Ist der Bundesrat befugt, derart weitgehende Massnahmen zu ergreifen, muss er a fortiori auch befugt sein, eine mildere Massnahme zu ergreifen, welche denselben Zweck verfolgt (die Verminderung der Wahrscheinlichkeit, dass Individuen mit dem Erreger infiziert werden). Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit (Art. 5 Abs. 2 und 36 Abs. 3 BV).

12

Dass die Zertifikatspflicht in den Artikeln 6 und 40 EpG nicht ausdrücklich genannt wird, ist auch mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgebot vereinbar: Das Bestimmtheitsgebot darf 13

«nicht in absoluter Weise verstanden werden (...). Der Gesetzgeber kann nicht darauf verzichten, allgemeine und mehr oder minder vage Begriffe zu verwenden, deren Auslegung und Anwendung der Praxis überlassen werden muss. Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt festlegen. Er hängt unter anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und der Vorhersehbarkeit der im Einzelfall erforderlichen Entscheidung, von den Normadressaten, von der Schwere des Eingriffs in Verfassungsrechte und von der erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten Entscheidung ab» (BGE 132 I 49 E. 6.2; bestätigt im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie in BGE 147 I 478 E. 3.1.2).

14

Vor diesem Hintergrund ist die Offenheit der Artikel 6 Absatz 2 und 40 EpG als Ausdruck davon zu sehen, dass der Gesetzgeber gerade bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten nicht bis in alle Einzelheiten vorhersehen kann, welche Massnahmen der Gefahrenabwehr in einem sich dynamisch wandelnden Umfeld notwendig und verhältnismässig sein werden. Dies anerkennt auch das Bundesgericht, wenn es spezifisch im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie festhält: 15

«Bei polizeilichen Massnahmen, die gegen schwer vorhersehbare Gefährdungen angeordnet werden und situativ den konkreten Verhältnissen anzupassen sind, müssen der Natur nach Abstriche an der Genauigkeit der gesetzlichen Grundlage akzeptiert werden. Bei unbestimmten Normen kommt dafür dem Verhältnismässigkeitsprinzip besondere Bedeutung zu: Wo die Unbestimmtheit von Rechtssätzen zu einem Verlust an Rechtssicherheit führt, muss die Verhältnismässigkeit umso strenger geprüft werden» (BGE 147 I 478 E. 3.1.2; vgl. auch BGE 143 I 310 E. 3.3.1).

16

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Zusammenfassend ist festzuhalten: Das Epidemiengesetz nennt beispielhaft die Massnahmen, welche der Bundesrat in einer besonderen oder ausserordentlichen Lage ergreifen kann. Wie die bundesgerichtliche Rechtsprechung bestätigt, kann der Gesetzgeber im Bereich der gesundheitspolizeilichen Gefahrenabwehr die notwendigen Massnahmen indes nicht im Vornherein abschliessend bestimmen. Das Gesetz gibt dem Bundesrat deshalb einen weiten Ermessensspielraum; er kann auch eingriffsintensive Massnahmen wie Zwangsschliessungen und Veranstaltungsverbote erlassen.

Im Sinne der Verhältnismässigkeit umfasst dies auch die Befugnis, mildere Massnahmen mit demselben Ziel zu ergreifen. Artikel 6 EpG i. V. m. den weiteren Bestimmungen des Epidemiengesetzes, insbesondere Artikel 40 EpG, und der Covid-19Verordnung besondere Lage erweist sich demnach als ausreichend bestimmte Rechtsgrundlage für die 2G-Zertifikatspflicht. Davon separat zu beurteilen ist die Frage, ob eine bestimmte Massnahme durch ein ausreichendes öffentliches Interesse gerechtfertigt und ob sie angesichts allfälliger Grundrechtseinschränkungen zweckmässig, notwendig und zumutbar ist.

17

2. Frage 2: Konsultation des BJ vor dem Beschluss der 2G-Zertifikatspflicht Am Freitagabend, 10. Dezember 2021 eröffnete das BAG eine Ämterkonsultation zu einer Revision der Covid-19-Verordnung besondere Lage. Die Frist zur Stellungnahme lief am Dienstag, 14. Dezember ab. Der Text enthielt zwei Varianten (eine Variante 1 mit einer umfassenden 2G-Regel und eine Variante 2 mit Teilschliessungen). Den beiden Varianten beigelegt war ein Dokument, in dem diese namentlich wie folgt begründet wurden: 18

«Aufgrund der bereits hohen Auslastung der IPS [Intensivpflegestationen], die in den nächsten Wochen noch zunehmen wird, sowie den Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Omikron-Variante gilt es zu verhindern, dass die Viruszirkulation weiter zunimmt. Es ist eine Abnahme der Ansteckungs- und Hospitalisationszahlen nötig.

Dies auch, damit im Hinblick auf eine mögliche Omikron Welle im Januar Handlungsspielraum bestehen bleibt.

19

Der Bundesrat hat deswegen beschlossen, den Kantonen, parlamentarischen Kommissionen, Sozialpartnern und direktbetroffenen Verbänden vorsorglich zwei Varianten zum weiteren Vorgehen in der Pandemiebekämpfung zur Konsultation zu unterbreiten. Mit diesem Vorgehen sollen umfassende Schliessungen abgewendet werden.» 20

Das BJ nahm am 14. Dezember 2021 zu einer ganzen Reihe von Bestimmungen der beiden Varianten Stellung und verlangte hauptsächlich eine Klärung zahlreicher vorgesehener Regelungen. Es äusserte sich nicht ausdrücklich zur Frage der Verhältnismässigkeit der beiden Varianten. Das BJ bestritt demnach die Einschätzung des BAG nicht, wonach das Ziel der Eindämmung der Verbreitung des Virus und der Reduktion der Infektionen im überwiegenden öffentlichen Interesse liege.

21

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3. Frage 3: Überprüfung der Voraussetzungen für Grundrechtseinschränkungen durch das BJ Nach Artikel 7 Absatz 3 der Organisationsverordnung für das EJPD (SR 172.213.1) überprüft das BJ sämtliche Entwürfe für rechtsetzende Erlasse auf ihre Verfassungsund Gesetzmässigkeit, auf ihre Übereinstimmung und Vereinbarkeit mit dem geltenden nationalen und internationalen Recht und auf ihre inhaltliche Richtigkeit.

Angesichts der teilweise umfangreichen Erlassentwürfe und mangels Erkennbarkeit aller möglichen Anwendungsfälle kann diese abstrakte Normenkontrolle nicht immer in allen Punkten in die Tiefe gehen; offensichtliche Verletzungen des massgebenden Rechts können auf diese Weise aber vermieden werden (vgl. den Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 über die Stärkung der präventiven Rechtskontrolle, BBl 2010 2211­2212).

22

Die Kontrolle der Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht erfolgt üblicherweise im Rahmen der Ämterkonsultation. Manchmal wird das BJ bereits vor der Ämterkonsultation konsultiert (Vorkonsultation). Bei den rasch aufeinanderfolgenden Revisionen der Covid-19-Verordnung stand nun bereits das federführende BAG selbst unter hohem Zeitdruck. Das BJ wurde deshalb oft nur äusserst kurzfristig konsultiert.

Zeitgleich mussten die Revisionsvorlagen innert derselben, kurzen Frist von der verwaltungsinternen Redaktionskommission (VIRK) redaktionell überprüft werden.

Deshalb stand für die Kontrolle der Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht äusserst wenig Zeit zur Verfügung. Zudem wurden die Revisionsvorlagen dem BJ bisweilen ohne erläuternden Bericht unterbreitet. Das BJ verfügte im Übrigen kaum über Informationen, um die Verhältnismässigkeit der vorgesehenen Massnahmen selbstständig zu beurteilen. Deshalb musste sich das BJ oft damit begnügen, in einer beschränkten Kontrolle zu überprüfen, ob die Grundrechte in den ihm unterbreiteten Revisionsvorlagen nicht offensichtlich verletzt werden.

23

Am 22. Dezember 2021 schickte das BAG eine Reihe neuer Massnahmen wie die 2G+-Regel oder die Ausweitung der 3G-Zertifikatspflicht in die Ämterkonsultation.

Gestützt auf die neuen Erkenntnisse zur Übertragbarkeit der Omikron-Variante stellte das BJ in einer Stellungnahme zuhanden des BAG die Verfassungsmässigkeit ausdrücklich in Frage. Am 30. Dezember 2021 forderte das BJ das BAG auf, folgenden Abschnitt in einen allfälligen Bundesratsantrag aufzunehmen: 24

«Der Bundesrat muss darauf achten, dass die von ihm angeordneten Massnahmen verhältnismässig sind. Gemäss dem BJ gilt dies für jede von Massnahmen.

Eine Massnahme, mit der die Freiheiten mehr eingeschränkt werden, sollte nicht ergriffen werden, wenn das verfolgte Ziel wahrscheinlich mit einer milderen Massnahme erreicht werden kann. Die allgemeine Maskenpflicht und die Schliessung der Einrichtungen, in denen die Maske nicht getragen werden kann, sind zur starken Verminderung des Ansteckungsrisikos gerechtfertigt, wenn dies erforderlich ist, um eine Gefährdung des Betriebs der Spitäler zu verhindern. Der Ausschluss nicht geimpfter und nicht genesener Personen von einer breiten Palette von Aktivitäten durch die 2GZertifikatspflicht ist hingegen eine Einschränkung, deren Verhältnismässigkeit dort fraglich ist, wo der Schutz vor Infektionen durch die Maskenpflicht ausreichend gewährleistet werden können sollte. Eine Verschärfung durch die 2G+-Zertifikatspflicht würde aktuell bedeuten, dass die Wirtschaftsfreiheit der betroffenen Unternehmen schwerwiegend eingeschränkt wird. Denn mehr als die Hälfte der vollständig geimpf25

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ten Bevölkerung hat die dritte Dosis noch nicht erhalten und müsste sich folglich testen lassen, um Zugang zu den Dienstleistungen dieser Unternehmen zu erhalten. Bei einer undifferenzierten Anwendung der 2G+-Zertifikatspflicht selbst in Bereichen, in denen damit gerechnet werden kann, dass die Maskenpflicht weitgehend eingehalten werden wird, bestünde somit die Gefahr, dass die Massnahme als unverhältnismässig eingestuft wird, wenn die vollständig Geimpften genügend vor einer Hospitalisierung geschützt bleiben. [...] Schliesslich ist fraglich, ob die Beibehaltung der 3G-Regel gerechtfertigt ist, wenn sich die Omikron-Variante auch unter geimpften und genesenen Personen weit verbreiten kann. Die Testpflicht ausschliesslich für Personen, die weder geimpft noch genesen sind, trägt nur noch marginal zu deren Schutz vor einer Ansteckung bei; das verfolgte Ziel könnte mit einer allgemeinen Testpflicht (3G+ oder gar 1G) besser erreicht werden.» Auf sämtliche vom BAG am 22. Dezember 2021 vorgesehenen neuen Massnahmen zur Bekämpfung der Omikron-Variante wurden in der Folge verzichtet.

26

Am 17. Januar 2022 wies das BJ in einer Stellungnahme zu einer neuen Ämterkonsultation erneut darauf hin, der Bundesrat müsse darauf achten, dass die von ihm angeordneten Massnahmen verhältnismässig sind. Eine Massnahme, mit der die Freiheiten mehr eingeschränkt würden, sollte nicht beibehalten werden, wenn das verfolgte Zielt wahrscheinlich mit einer milderen Massnahme erreicht werden könne.

Das BJ hielt fest, dass nicht geimpfte und nicht genesene Personen durch die 2GZertifikatspflicht von einer breiten Palette von Aktivitäten ausgeschlossen seien. Die Verlängerung dieser Massnahme um mehr als zwei Monate sei eine Einschränkung, deren Verhältnismässigkeit dort fraglich sei, wo der Schutz vor Infektionen durch die Maskenpflicht ausreichend gewährleistet werden können sollte.

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