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Aus den Verhandlungen der schweizerischen Bundesversammlung.

.Die gesezgebenden Räthe der Eidgenossenschaft sind am 28.

Mai 1874 wieder zusammengetreten, und es sind die Verhandlungen derselben durch Ansprachen ihrer Präsidenten eröffnet worden.

Die Ansprache des Präsidenten vom Nationalrath, Hrn. Regierungsrath Ziegler von Winterthur, lautet wie folgt: Meine Herren!

Das Bundesgesez vom 31. Januar 1874, betreffend die Revision der Bundesverfassung vom 12. September 1848, ist von der stark überwiegenden Mehrheit, des Schweizervolkes und der Kantone angenommen und es hat .sich .damit die schweizerische Eidgenossenschaft e i n n e u e s G r u n d g e s e z . gegeben. D i e s e s E r e i g n i ß f o r m e l l z u e r w a h r e n wird in diesen Tagen die Aufgabe der Bundesversammlung sein. Tha t s ä ch ] i ch s t e h t dieser bedeutungsvolle W e n d e p u n k t unseres ö f f e n t l i c h e n Lebens bereits so fest, daß es wohl nicht anders möglich wäre, als seiner beim Wiederzusammentritt der Räthe v o r A l l e m und ü b e r a l l e m Andern zu gedenken.

W e l c h e s auch d i e S t e l l u n g d e s E i n z e l n e n i n dem Kampfe der Meinungen und Interessen, der schließlich zur Erneuerung unserer Verfassung führte, gewesen sein mag, s o f i n d e t doch jeder V Vaterlands ds f r e u n d in dem vollzogenen großen Akte Ursache zu gerechter Freude. Im S o n n e n s c h e i n des F r i e d e n s , rein nur dem eigenen Impulse folgend, hat unsere Republik bewiesen, daß sie innere G e s t a l t u n g s k r a f t g e n u g hat, ihr Grundgesez den Aufgaben der Zeit anzupassen» Mit n i e g e s e h e n e r g r o ß a r t i g e r Theilnahme hat unser Volk das schöne Recht und die Pflicht der Kundgebung seines souveränen Willens vollzogen, und nirgends ist die Ruhe und Würde dieser Handlung getrübt worden. U n d e n d l i e h ist d i e s m a l , anders als vor zwei Jahren, ein G o g e n s a, z freundeidgenössisch aufgehoben und ausgeglichen worden, dessen innere Ueberwindung recht eigentlich in den Mittelpunkt der providentiellen Aufgabe unseres aus Völkerschaften verschiedener

827 Sprache und Abstammung zusammengesezten freien Volksstaates gehört.

Daß die g a n z e S c h w e i z die hohe Be d e u t u n g des Resultates dieser Abstimmung fühlte, davon legten die aller Orten flammenden Freudenzeichen beredtes Zeugniß ab, n i c h t m i n d e r a u c h d i e r ü k h a 111 o s e republikanische Achtung, welche von der unterliegenden Minderheit dem ausgesprochenen Mehrheitswillen unverkennbar in guten Treuen entgegengebracht worden ist.

Mit. d e r n e u e n V e r f a s s u n g h a t u n s e r S t a a t s l e b e n eine neue Norm erhalten, von der wir hoffen, daß sie sowohl den in unserm Volke waltenden Kräften als den uns bevorstehenden Aufgaben adäquater sei, als die Verfassung des Jahres 1848, unter der -- was wir dankbar anerkennen wollen -- der Schweiz eine Periode segensvollen Fortschrittes aufgegangen war, die aber doch nach 26 Jahren dem rasch wachsenden Bedürfniß unserer Zeit zu enge geworden war. S o h o c h w i r n u n a b e r a u c h d i e , B e d e u t u u g der neuen gewonnenen Verfassung als leitende Norm für die Bewegung unseres öffentlichen Lebens angesehlagen haben, so schwer der Nachtheil und die Verkümmerung ist, welche daraus entspringen müßten, wenn ein Staat für die Gestaltung der in ihm treibenden Kräfte die rechte Form nicht finden kann, so wollen wir auf der andern Seite s c h o n b e i den e r s t e n S c h r i t t e n auf der neuen Bahn uns erinnern, daß d i e s e N o r m das L e b e n selber noch nicht ist, daß die beste Verfassung nur so viel werth ist, als das Volk werth ist, welches sie umspannt, daß der rechte Inhalt in die Verfassung erst kommen kann und in jedem Augenblik sich je wieder erneuern muß aus den Grundquellen der Einsicht und der sittlichen Kraft, die im Volke lebt. Und hier ist denn auch der P u n k t , w o > wir Alle, haben wir nun mit Ja oder Nein gestimmt,anzugreifenn und gemeinsam die politische Arbeit wiederaufzunehmeni haben; hier zugleich der Buden, auf dem (ich bin dessen freudigüberzeugt)) die in diesem Hause versammelten Vertreter desSchweizervolkess sich aufrichtig die Hand zu reichen und so den alten ehrwürdigen Schweizerbund aufs Neue zu schließen bereit sind. So mögen wir denn mit frischem Fleiß und n e u e M u t h t h an die Erfüllung der Pflichten gehen, die vom V o l k u n s U H übertragen sind. Den höchsten
Lenker der Geschike aber bitten wir, daß unter s e i n e m Segen unser geliebtes Vaterland sich auch unter der neuen Verfassungfriedlicentwikelnlo und fort und fort au Kraft, Wohlfahrt und Ehre möge wachsen.

828 Noch bleibt mir die Pflicht, eines Mannes zu gedenken, der vor nicht ganz einem Jahre während der Arbeit zur lievisioa unserer Bundesverfassung mitten unter uns vom Finger des Todes berührt und vor einigen Monaten in die Ewigkeit gerufen worden ist. Herr J o h a n n Michael Stähli h l i n v o n 1870 au als Mitglied des Ständerathes au den Arbeiten der Bundesversammlung Theil genommen hatte, am 27. Oktober 1872 in den Nationalrath gewählt worden, welcher Behörde er bis zu seinem Todestag angehörte. Ihm folgt das Zeugniß maßvollen biedern Strebens und treuer Pflichterfüllung nach. Die Erde sei ihm leicht !

Der Präsident des Ständerathes, Herr Regierungsrath A. Kopp von Luzern, hielt folgende Eröffnungsrede: Meine Herren!

Sie wurden zur Fortsetzung der Wintersession auf heute eingeladen; ich heiße Sie alle vou Herzen willkommen.

Die neue Bundesverfassung ist nunmehr von der Mehrheit des Volkes und der Stände angenommen ; dieses Resultat zu konstatiren und das neue Grundgesetz zu proklamiren, ist der Zwek gegenwärtiger Versammlung der eidgenössischen Käthe.

Eine langdauernde Periode des Kampfes der Meinungen und Parteien ist damit abgeschlossen. Für die annehmende Mehrheit und die verwerfende Minderheit ist die Verfassung das gleiche Gesez, Alle werden mit gleicher Treue ihm huldigen. Es ist dieses die erste Voraussezung der republikanischen und demokratischen Staatsform, und auch darin soll die Schweiz Europa voranleuchten. Es kann hiemit nicht ausgesprochen sein, daß es gar keine Kämpfe mehr gebe ; aber diese bewegen sich nicht mehr um die Verfassung, sondern auf dem Boden der Verfassung. Wie aber auch im bisherigen Ringen alle Parteien sich bewußt waren, nicht nur von politischen Ueberzeugungen, sondern ebensosehr von warmer Liebe und Begeisterung für die Interessen und das Wohl des Vaterlandes sich haben leiten lassen, so sollen und werden die gleichen Motive auch in Zukunft für Alle maßgebend sein. Standen wir auch oft als Gegner einander gegenüber, ein Gefühl der Liebe für das Vaterland hat uns doch immer durchdrungen und wird uns fürder durchdringen und verbinden.

Und je mehr diese Ueberzeugung allseitig sich Bahn bricht und zur Geltung kommt, in dem Maße wird es nach dem Tage

829 der Proklamation der Verfassung weder Sieger noch Besiegte mehr geben; sie wird für Alle sein, was auf ihre Fahne geschrieben wurde, ein W e r k der V e r s ö h n u n g , der Vermittlung berechtigter Gegensäze in der Auffassung des Geistes unserer staatlichen Institutionen.

Mögen die Differenzen, welche sich in der Abstimmung manifestirt haben, durch die Ausführung des neuen Grundgesezes beseitigt oder doch gemildert werden, damit alle Theile des Volkes und alle Kantone sich des Werkes freuen können. Aufdiese; Weise wird das Mißtrauen verscheucht, welches d a u n d d dort Plaz gegriffen hat, wird derfreundeidgenössischeeBrudersinnn gewekt und genährt, wird das Gefühl der Zusammengehörigkeit lebendiger. So gelingt es dem staatsmännischen Takte und der weisen Mäßigung, eine Aéra des Friedens und derinnernn Ruhe einzuführen, was Mangel au schonender Rüksichtsnahme und edler gewinnender Loyalität niemals zu Staude brächte.

Verschiedene Faktoren berechtigen zu der Annahme, daß unsere Hoffnungen und Wünsche in Erfüllung gehen.

Gott erhalte das theure, schöne Vaterland!

Ich erkläre die dermalige Fortsezungssession des Schweiz.

Ständerathes für eröffnet.

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