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21.504 Parlamentarische Initiative Bei häuslicher Gewalt die Härtefallpraxis nach Artikel 50 AIG garantieren Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 12. Oktober 2023

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf für eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes1. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt Ihnen, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

12. Oktober 2023

Im Namen der Kommission Der Präsident: Marco Romano

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Übersicht Opfern häuslicher Gewalt, die Angehörige von Drittstaaten sind, droht im Falle der Auflösung ihrer Ehe oder Familiengemeinschaft oftmals der Verlust ihres Aufenthaltstitels.

Mit dem Entwurf für eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) schlägt die Staatspolitische Kommission des Nationalrates vor, diesen Personen einen besseren ausländerrechtlichen Schutz zu gewähren, indem die bereits bestehende Härtefallregelung erweitert und präzisiert wird.

Einen entsprechenden Anspruch auf ein Bleiberecht sollen neben den Ehegattinnen und Ehegatten von Schweizerinnen und Schweizern und von Personen mit einer Niederlassungsbewilligung künftig auch Ehegattinnen und Ehegatten von Inhaberinnen und Inhaber einer Aufenthalts- oder einer Kurzaufenthaltsbewilligung sowie vorläufig aufgenommene Personen erhalten. Neben Personen in einer ehelichen Gemeinschaft fallen darunter auch Personen in einer eingetragenen Partnerschaft sowie Konkubinatspartnerinnen und ­partner.

Der Begriff der häuslichen Gewalt soll konkretisiert werden. Indem neu mögliche Hinweise auf häusliche Gewalt im Gesetz beispielhaft aufgeführt werden, soll mehr Kohärenz mit dem Opferhilfegesetz (OHG) hergestellt und die Rechtssicherheit für die Gewaltopfer gestärkt werden.

Für die Bearbeitung der Härtefallgesuche und die Anwendung der neuen Härtefallregelung sind weiterhin die Kantone zuständig. Wie bei der bereits bestehenden Regelung zur Zulassung schwerwiegender persönlicher Härtefälle benötigen die Kantone auch für die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen für Opfer häuslicher Gewalt die Zustimmung der Bundesbehörden.

Mit der vorgeschlagenen Erweiterung des Anspruchs auf eine Regelung des Aufenthalts wird bei einer Ablehnung eines Gesuchs auch der Zugang zum Bundesgericht ermöglicht.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Vorprüfung der parlamentarischen Initiative

Am 5. November 2021 beschloss die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK) mit 21 zu 2 Stimmen bei 2 Enthaltungen die parlamentarische Initiative, durch welche das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG)2 so geändert werden soll, dass Ausländerinnen und Ausländer, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind und deren Familiengemeinschaft aufgelöst wird, künftig einen besseren ausländerrechtlichen Schutz erhalten. Die Initiative in der Form eines ausformulierten Entwurfs geht auf einen Antrag von Vertreterinnen aller Fraktionen der Kommission zurück. Die ständerätliche Schwesterkommission anerkannte ihrerseits gesetzgeberischen Handlungsbedarf und stimmte der Kommissionsinitiative am 10. Januar 2022 mit 8 zu 3 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu. Durch ihre Zustimmung erteilte sie der Nationalratskommission das Mandat, einen entsprechenden Erlassentwurf auszuarbeiten.

Im Rahmen der Vorprüfung stellten die Kommissionen fest, dass sich bei Fällen häuslicher Gewalt viele Opfer mit ausländischer Nationalität in einer schwierigen Situation befinden, weil sie befürchten müssen, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren. Ihr Aufenthaltsrecht ist an die Beziehung, konkret an die Person, die ihnen gegenüber Gewalt ausübt, gebunden. Kommt es zu einer Trennung, dürfen die betroffenen Frauen und Männer grundsätzlich nur in der Schweiz verbleiben, wenn die Ehegemeinschaft mindestens drei Jahre bestanden hat und sie zudem gut integriert sind. Ausnahmen werden nur gewährt, wenn die Betroffenen im Rahmen der Mitwirkungspflicht nachweisen können, dass sie Opfer häuslicher Gewalt sind, dass diese Gewalt eine gewisse Intensität aufweist und sie ihr systematisch ausgesetzt sind. Der Nachweis häuslicher Gewalt gestaltet sich im Einzelfall insbesondere deshalb immer wieder als schwierig, weil es sich um ein Vieraugendelikt handelt und ein solches in der Regel schwer beweisbar, bzw. glaubhaft zu machen ist. Diese Situation kann dazu führen, dass Opfer in gewalttätigen Beziehungen verharren, um keine ausländerrechtliche Wegweisung zu riskieren. Diese Fehlanreize sollen behoben werden, indem die Härtefallregelung in Kohärenz zum Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG)3 ausgestaltet wird. Das verbessert die Rechtssicherheit und stärkt für die Betroffenen den Schutz vor häuslicher Gewalt.

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SR 142.20 SR 312.5

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1.2

Ausarbeitung der Vorlage durch die Staatspolitische Kommission des Nationalrates

An ihrer Sitzung vom 28. April 2022 konkretisierte die mit der Umsetzung der Initiative befasste Nationalratskommission den Wortlaut des Initiativtextes in einigen Punkten, indem sie gewisse Formulierungen anpasste und auch die formale Kompatibilität mit dem AIG sicherstellte.

An ihrer Sitzung vom 17. November 2022 beriet die SPK den vorliegenden Vorentwurf und verabschiedete diesen mit 18 zu 6 Stimmen bei 1 Enthaltung zuhanden der Vernehmlassung. Die gegnerischen Stimmen wenden ein, dass die beabsichtigten Erweiterungen der Aufenthaltsrechte ein Missbrauchspotenzial bergen würden. Zudem sei durch den Gesetzesentwurf die Objektivierbarkeit von häuslicher Gewalt nicht gewährleistet.

1.3

Kenntnisnahme der Ergebnisse der Vernehmlassung

Im Zuge der Vernehmlassung gingen bei der Kommission insgesamt 143 Stellungnahmen ein. So meldeten sich sämtliche 26 Kantone, 6 politische Parteien, 3 gesamtschweizerische Dachverbände, das Bundesverwaltungsgericht, 6 nationale Konferenzen und Vereinigungen sowie 2 ausserparlamentarische Kommissionen zu Wort.

Darüber hinaus erreichten die Kommission 95 Stellungnahmen aus interessierten Kreisen und von 4 Privatpersonen.

Die überwiegende Mehrheit der Kantone, politischen Parteien, Dachverbände, nationalen Konferenzen und Vereinigungen, ausserparlamentarischen Kommissionen sowie der weiteren interessierten Kreise steht dem Vorentwurf befürwortend gegenüber.

Eine Vielzahl dieser Stimmen hat der Kommission Vorschläge zur Ergänzung und Präzisierung ihres Entwurfs unterbreitet, wobei zahlreiche Teilnehmende konkrete Formulierungsvorschläge einreichten.

Mehrere Kantone und die Vereinigung der Kantonalen Migrationsbehörden (VKM) befürworten den Entwurf nur teilweise und verlangen, einzelne Bestimmungen zu streichen. Insbesondere lehnen diese Kantone und die VKM die Schaffung neuer Rechtsansprüche für jene Personen ab, die vor einer Aufenthaltsregelung wegen häuslicher Gewalt keinen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung hatten.

Dies wird damit begründet, dass ihr ursprünglicher Aufenthalt in der Schweiz auf einem gesetzlich definierten Ermessensentscheid beruht. Die Schaffung von neuen Rechtsansprüchen würde in diesen Fällen dem Sinn des Ausländerrechts widersprechen, wonach der nachziehende Ehegatte dem nachgezogenen Gatten nicht mehr Rechte verschaffen könne, als er selbst besitzt. Einige Vernehmlassungsteilnehmende lehnen zudem die Aussetzung der Prüfung von Integrationskriterien während drei Jahren ab.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) lehnt den Gesetzesentwurf als Ganzes ab, wobei sie die Wichtigkeit der Bekämpfung von häuslicher Gewalt anerkennt. Die Partei vertritt die Meinung, dass die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen bereits heute

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durch die Rechtsprechung, die Lehre, und die Verwaltungspraxis weitgehend abgesichert seien.

An ihrer Sitzung vom 17. August 2023 nahm die Kommission die überwiegend positiven Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis und brachte an der Vorlage letzte kleinere Änderungen und Präzisierungen an. An ihrer Sitzung vom 12. Oktober 2023 schliesslich verabschiedete die SPK ihren Erlassentwurf und den erläuternden Bericht zuhanden des Nationalrates und unterbreitete ihn gleichzeitig dem Bundesrat zur Stellungnahme.

Eine Minderheit der Kommission (Steinemann, Bircher, Bläsi, Fischer Benjamin, Glarner) lehnt die Vorlage ab und beantragt ihrem Rat, auf den Gesetzesentwurf nicht einzutreten. Sie erachtet es für wichtig, dass die Behörden und die Gesellschaft der häuslichen Gewalt die nötige Aufmerksamkeit schenken. Jedoch beurteilt sie die Kommissionsvorlage als zu weitreichend. Die vorgeschlagene Lösung führe automatisch zu einem rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung, was auch ein Missbrauchspotenzial berge. Deshalb sei die geltende Härtefallregelung, zu der aus der Praxis keine stossenden Fälle bekannt seien, als Einzelfallregelung beizubehalten.

1.4

Laufende Massnahmen gegen häusliche Gewalt

Im Jahr 2020 beschloss das EJPD, einen strategischen Dialog über häusliche Gewalt zu führen. Mit dieser Initiative wollte das EJPD einen Prozess in Gang setzen, in dem sich alle politischen Akteure auf Bundes- und Kantonsebene zusammentun, um gemeinsam den Kampf gegen häusliche Gewalt zu verstärken; dies unter Wahrung der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen. Der strategische Dialog fand am 30. April 2021 statt. Die Ergebnisse wurden in einer Roadmap4 gegen häusliche Gewalt festgehalten. Darin wurden konkrete Massnahmen bestimmt mit dem Ziel, die erkannten Lücken zu füllen. In Bezug auf die Betreuung des Opfers (Handlungsfeld 6) sieht die Roadmap vor, dass die Situation von Migrantinnen und Migranten, die Opfer häuslicher Gewalt sind, bei der Überprüfung ihres ausländerrechtlichen Status angemessen berücksichtigt werden muss. Zu diesem Zweck haben sich die Kantone verpflichtet, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um die von den Opferhilfestellen bereitgestellten Informationen besser zur berücksichtigen und die Zusammenarbeit zwischen den Migrationsbehörden und diesen Stellen zu vertiefen.

Zwei Jahre nach Annahme der Roadmap haben Vertreterinnen und Vertreter des Eidgenössischen Justiz - und Polizeidepartements (EJPD), der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) und der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) am 26. Mai 2023 einen gemeinsamen Bericht verabschiedet. Der «Zwischenbericht zur Umsetzung der Roadmap

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Abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Gesellschaft >Häusliche Gewalt > Strategischer Dialog «Häusliche Gewalt».

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gegen häusliche Gewalt»5 ermöglicht es den politischen Akteuren, eine Standortbestimmung vorzunehmen.

Im Rahmen der am 28. April 2021 verabschiedeten Gleichstellungsstrategie 2030 hat der Bundesrat verschiedene prioritäre Massnahmen zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt definiert. Unter anderem hat der Bundesrat am 22. Juni 2022 den Nationalen Aktionsplan (NAP IK) 2022­20266 zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) verabschiedet. Ziel des NAP IK 2022­2026 ist es, mit 44 konkreten Massnahmen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu reduzieren. Die Massnahmen richten sich an alle Zielgruppen von Gewalt, unabhängig von Alter, Herkunft und sexueller Orientierung. Der NAP IK wird auf allen staatlichen Ebenen umgesetzt und umfasst Massnahmen des Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Er konzentriert sich auf drei thematische Schwerpunkte, bei denen besonderer Handlungsbedarf besteht: Information und Sensibilisierung der Bevölkerung, Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen und ehrenamtlich Tätigen sowie Prävention und Bekämpfung von sexualisierter Gewalt. Einige der in der Roadmap vom 30. April 2021 vorgesehenen Massnahmen sind in den NAP IK 2022­2026 eingeflossen.

Das Bundesamt für Justiz und das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann koordinieren die Aufsicht über die Umsetzung der Roadmap vom 30. April 2021 und des NAP IK 2022­2026.

2

Grundzüge der Vorlage

Durch die Gesetzesänderung soll in Artikel 50 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (Auflösung der Familiengemeinschaft) die bestehende gesetzliche Härtefallregelung auf alle Ausländerinnen und Ausländer ausgedehnt werden, die häusliche Gewalt erleiden. Demnach sollen künftig nicht nur ausländische Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern sowie Besitzerinnen und Besitzer einer Niederlassungsbewilligung (Ausweis C), sondern neu auch Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B), einer Kurzaufenthaltsbewilligung (Ausweis L) sowie vorläufig Aufgenommene (Ausweis F) Anspruch auf Erteilung und Verlängerung ihrer bisherigen Bewilligung erhalten, wenn sie von den zuständigen Behörden bei einer Trennung als Opfer häuslicher Gewalt anerkannt werden (Abs. 1 E-AIG). Durch die Einführung des Begriffs «häusliche Gewalt» (Abs. 2 Bst. a E-AIG) soll verdeutlicht werden, dass das zu ändernde Recht nicht nur für eheliche Gemeinschaften, sondern auch für deren Kinder, Personen in einer eingetragenen Partnerschaft sowie Konkubinatspartnerinnen und -partner gelten soll (Abs. 4 E-AIG).

Um den Begriff der häuslichen Gewalt zu konkretisieren, sollen im AIG neu mögliche Hinweise auf häusliche Gewalt beispielhaft aufgeführt werden. Diese werden teil5

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Abrufbar unter www.bj.admin.ch > Gesellschaft >Häusliche Gewalt > Strategischer Dialog «Häusliche Gewalt» > Zwischenbilanz zur Umsetzung der Roadmap gegen häusliche Gewalt.

Abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Themen > Gewalt > Koordination und Vernetzung.

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weise aus der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE)7 übernommen und im Gesetz erweitert. So haben die Migrationsbehörden bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen in der Folge häuslicher Gewalt zu berücksichtigen, dass ein Anspruch auf Leistungen nach dem Opferhilfegesetz besteht, die Bestätigung einer Beratung, Betreuung oder Schutzgewährung einer auf häusliche Gewalt spezialisierte Fachstelle vorliegt oder polizeiliche oder auch richterliche Massnahmen zum Schutz des Opfers getroffen wurden. Damit soll mehr Kohärenz mit dem OHG geschaffen werden und die heutige Praxis, bei der Schutz und Unterstützung in Frauenhäusern und Gewaltschutzstellen sowie als Opfer im Sinne des OHG anerkannt worden zu sein, in vielen Fällen nicht ausreicht, korrigieren. Als weitere zu berücksichtigende Hinweise werden Arztberichte, Polizeirapporte und Strafanzeigen sowie strafrechtliche Verurteilungen genannt (Abs. 2 Bst. a. Ziff. 1­6 E-AIG).

Nach der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung aufgrund der Anerkennung als Opfer häuslicher Gewalt soll den betroffenen Personen genügend Zeit gegeben werden, um sich im Hinblick auf ein eigenständiges Leben in der Schweiz verstärkt zu integrieren.

Aus diesem Grund soll bei der Verlängerung der jeweiligen Aufenthaltsbewilligung während drei Jahren der Erwerb von Sprachkompetenzen und die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung zwar geprüft und diese bei Bedarf mit geeigneten Massnahmen gefördert werden. Die Prüfung hat jedoch keinen Einfluss auf die Verlängerung der Bewilligung. Vorbehalten bleibt die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die Respektierung der Werte der Bundesverfassung.

Eine Integrationsvereinbarung soll jedoch auch während dieser Karenzfrist abgeschlossen werden können (Abs. 2bis E-AIG).

Regelt ein Kanton den Aufenthalt gestützt auf den Sachverhalt der häuslichen Gewalt neu, muss er die Bewilligung wie bis anhin dem Staatssekretariat für Migration (SEM) zur Zustimmung unterbreiten. Das Zustimmungsverfahren dient insbesondere einer einheitlichen kantonalen Praxis.

Mit der vorgeschlagenen Erweiterung der Rechtsansprüche auf eine Härtefallregelung wird in diesen Fällen auch eine Beschwerdemöglichkeit an das Bundesgericht geschaffen.

Die beabsichtigte Gesetzesänderung ist für die Opfer häuslicher
Gewalt günstiger als das geltende Recht. Deshalb soll auch für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens hängigen Gesuche das neue Recht zur Anwendung kommen (Art. 126g Abs. 1 E-AIG).

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Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

3.1

Ausländer- und Integrationsgesetz

In Artikel 50 AIG wird der Begriff «eheliche» Gewalt verwendet. Dieser soll durch den Begriff «häusliche» Gewalt ersetzt werden, damit insbesondere auch Kinder und die eingetragenen Partnerschaften erfasst werden, bei denen ebenfalls ein Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der Kurzaufenthalts- oder der Aufenthaltsbewilligung oder auf Anordnung einer vorläufigen Aufnahme besteht. Zudem soll dieser Anspruch 7

SR 142.201

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unter bestimmten Voraussetzungen neu auch für Konkubinatspaare gelten, die nicht verheiratet sind.

Art. 50 Abs. 1 Neu sollen auch Ehegattinnen und Ehegatten von Personen mit Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B) oder Kurzaufenthaltsbewilligung (Ausweis L) sowie von vorläufig aufgenommenen Personen (Ausweis F) bei einer Auflösung der Ehe oder der Familiengemeinschaft einen Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der bisherigen Aufenthaltsregelung haben, wenn die Voraussetzungen von Buchstabe a oder b erfüllt sind. Damit soll erreicht werden, dass für alle Opfer von häuslicher Gewalt unabhängig vom bisherigen Aufenthaltsstatus die gleichen Regelungen zur Anwendung kommen. Opfer von häuslicher Gewalt sollen somit einen Anspruch auf die Weiterführung der bestehenden Aufenthaltsbewilligung, Kurzaufenthaltsbewilligung oder vorläufigen Aufnahme haben. Die Kurzaufenthaltsbewilligung wird für befristete Aufenthalte bis zu einem Jahr erteilt und kann auch in diesen Fällen um maximal ein Jahr verlängert werden (Art. 32 Abs. 1 und Abs. 3 AIG).

Zudem erhalten diese Personen neu auch einen Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der bisherigen Aufenthaltsregelung, wenn die Ehegemeinschaft bis zur Auflösung mindestens drei Jahre bestanden hat und die Integrationskriterien nach Artikel 58a AIG erfüllt sind.

Nach geltendem Recht kann die Aufenthaltsbewilligung von Ehegattinnen und Ehegatten von Personen mit Aufenthaltsbewilligung bei einer Auflösung der Familiengemeinschaft verlängert werden, ohne dass ein Anspruch darauf besteht (Art. 77 Abs. 1 VZAE). Die Voraussetzungen dafür sind gleich wie in Artikel 50 AIG.

Für Ehegattinnen oder Ehegatten von vorläufig aufgenommenen Personen besteht nach geltendem Recht bei einer Auflösung der Familiengemeinschaft keine rechtliche Regelung für den weiteren Aufenthalt. Beim Entscheid über die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme (Art. 84 Abs. 2 AIG) und bei einem Entscheid über die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung wegen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls (Art. 84 Abs. 5 AIG) kann jedoch wichtigen persönlichen Gründen wie häuslicher Gewalt Rechnung getragen werden. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die Gründe, die zur vorläufigen Aufnahme geführt haben, in der Regel bei den Familienangehörigen ebenfalls vorliegen (Unzulässigkeit, Unmöglichkeit oder
Unzumutbarkeit der Rückkehr).

Für Ehegattinnen oder Ehegatten von Personen mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung besteht nach geltendem Recht ebenfalls keine entsprechende rechtliche Regelung für den Fall einer Auflösung der Familiengemeinschaft. Ihr Aufenthalt ist jedoch von Anfang an befristet, da Kurzaufenthaltsbewilligungen für maximal ein Jahr erteilt und um ein weiteres Jahr verlängert werden können (Art. 32 AIG). Im Einzelfall kann jedoch auch in diesen Fällen eine verlängerbare Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, wenn wegen der häuslichen Gewalt ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vorliegt (Art. 30 Abs. 1 Bst. b AIG).

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Bei Ehegattinnen und Ehegatten von EU/EFTA-Angehörigen kommt Artikel 50 AIG subsidiär zur Anwendung, falls kein Anspruch gestützt auf das Abkommen vom 21. Juni 19998 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA) oder das Übereinkommen vom 4. Januar 19609 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) (mehr) besteht (Art. 2 Abs. 2 und 3 AIG).

Gemäss der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts sind ausländische Ehegattinnen oder Ehegatten von EU/EFTA-Angehörigen, die über ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz verfügen, bei der Anwendung von Artikel 50 AIG gleich zu behandeln wie Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern (BGE 144 II 1 E. 4, Urteile des Bundesgerichts 2C_682/2021 vom 3. November 2021 E. 1.2.2 und 2C_222/2017 vom 29. November 2017 E. 4.7). In diesen Fällen kommt Artikel 50 AIG jedoch erst nach einer formellen Auflösung der Ehe subsidiär zur Anwendung, wenn die betroffene Person nicht ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gestützt auf das FZA oder das EFTA geltend machen kann.

Die Regelung des Aufenthalts nach der Auflösung der ehelichen Gemeinschaft soll weiterhin dem SEM zur Zustimmung unterbreitet werden (Art. 99 AIG i.V. Art. 4 Bst. d Verordnung des EJPD über das ausländerrechtliche Zustimmungsverfahren; ZV-EJPD)10.

Mit den vorgeschlagenen zusätzlichen Rechtsansprüchen wird bei einer letztinstanzlichen kantonalen Ablehnung des Härtefallgesuchs oder bei einer Bestätigung der Verweigerung der Zustimmung durch das SEM durch das Bundesverwaltungsgericht in diesen Fällen neu auch die Möglichkeit einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht geschaffen (e contrario Art. 83 Bst. c Ziff. 2 Bundesgerichtsgesetz11; BGG). Eine solche Beschwerde ist jedoch bei der vorläufigen Aufnahme unzulässig (Art. 83 Bst. c Ziff. 3 BGG). Bei der vorläufigen Aufnahme handelt es sich um eine Ersatzmassnahme für eine nicht vollziehbare Wegweisung und damit nicht um eine Bewilligung gemäss Artikel 83 Buchstabe c Ziffer 2 BGG.

Der Anspruch auf die vorläufige Aufnahme erlischt zudem auch in diesen Fällen, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme nicht mehr erfüllt sind (Art. 83 AIG).

Abs.2 Die Aufzählung der
wichtigen Gründe nach Absatz 1 Buchstabe b werden weiterhin nicht abschliessend aufgeführt. Gemäss den Weisungen des SEM12 kann ein solcher wichtiger Grund zum Beispiel auch beim Tod des Ehegatten vorliegen.

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SR 0.142.112.681 SR 0.632.31 SR 142.201.1 SR 173.110 Weisungen AIG, Ziff. 6.15.3.2; abrufbar unter www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen und Kreisschreiben > I. Ausländerbereich.

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Bst, a Es wird klargestellt, dass auch Kinder Opfer häuslicher Gewalt werden können und daher wichtige persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen.

Eine Minderheit der Kommission (Steinemann, Bircher, Bläsi, Fischer Benjamin, Glarner, Marchesi, Rutz Gregor) erachtet diese Präzisierung für überflüssig, weil durch die Einführung des Begriffs der «häuslichen Gewalt» ebenfalls betroffene Kinder mitgemeint sind.

Neu sollen Hinweise für häusliche Gewalt beispielhaft im Gesetz aufgeführt werden.

Dabei wird die bestehende Aufzählung auf Verordnungsstufe (Art. 77 Abs. 6 und 6bis VZAE) übernommen (Ziff. 2 ­ 6) und erweitert (Ziff. 1 ­ 4). Auch Zeugenaussagen, zum Beispiel von Nachbarn, werden mitberücksichtigt.

Es liegt an der betroffenen Person, im Rahmen des Gesuchsverfahrens und ihrer Mitwirkungspflicht (Art. 90 AIG) solche Hinweise den Migrationsbehörden bekannt zu geben. Die zuständige Migrationsbehörde kann bei Bedarf bei den betreffenden Stellen weitere Informationen einholen (Art. 97 AIG).

Liegen Hinweise gemäss den Ziffern 1­6 vor, muss im Bewilligungsverfahren gemäss der bisherigen Praxis des Bundesgerichts abgeklärt werden, ob es der betroffenen Person nicht länger zugemutet werden kann, die eheliche Gemeinschaft fortzuführen.

Dies ist der Fall, wenn sie durch das Zusammenleben in ihrer Persönlichkeit ernstlich gefährdet ist. Dabei kann die häusliche Gewalt sowohl physischer als auch psychischer Natur sein. Somit handelt es sich weiterhin um einen Ermessensentscheid.

Ziff. 1 Gemäss dem Opferhilfegesetz hat jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist, Anspruch auf Unterstützung (Opferhilfe; Art. 1 Abs. 1 OHG). Eine Strafanzeige ist nicht erforderlich, erleichtert aber den Nachweis einer Straftat.

Bei den zuständigen Behörden handelt es sich um fachlich selbstständige öffentliche oder private Beratungsstellen gemäss Artikel 9 Absatz 1 OHG oder andere kantonale Behörden, die zuständig sind, Leistungen im Bereich der Opferhilfe zu gewähren.

Ziff. 2 Dieser Hinweis ist bisher in Artikel 6bis VZAE enthalten. Neu wird zusätzlich präzisiert, dass eine auf häusliche Gewalt spezialisierte Fachstelle bestätigt, dass die Beratung, Betreuung oder Schutzgewährung für ein Opfer
notwendig wurde oder dass eine solche Fachstelle entsprechende Berichte vorlegt oder Auskünfte erteilt. Dazu gehören insbesondere Schutz- und Notunterkünfte. Die Fachstelle ist in der Regel öffentlich mitfinanziert. Dies soll sicherstellen, dass einheitliche Standards eingehalten werden. Die öffentliche Mitfinanzierung kann aus einer Teilfinanzierung, einer Projektfinanzierung oder einer anderen Art der Unterstützung bestehen.

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Eine Kommissionsminderheit (Cottier, Bourgeois, Bircher, Bläsi, Fischer Benjamin, Fluri, Glarner, Marchesi, Ruch, Rutz Gregor) beurteilt die Bestimmung als zu weitreichend und beantragt, auf die Kriterien der Beratung sowie Auskünften und Berichten einer solchen Fachstelle zu verzichten.

Ziff. 3 Zu diesen Hinweisen gehören alle durch die Polizei oder ein Gericht angeordneten Massnahmen sowie staatsanwaltliche Massnahmen, wenn sie dem Schutz des Opfers vor häuslicher Gewalt dienen. Dazu zählen die bisher auf Verordnungsstufe (Art. 77 Abs. 6 Bst. d VZAE) erwähnten Massnahmen nach Artikel 28b des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB13). Sie betreffen Kontakt- und Rayonverbote sowie die Ausweisung der verletzenden Person aus der gemeinsamen Wohnung (Wegweisung). Seit dem 1. Januar 2022 können diese Massnahmen mittels elektronischer Überwachung durchgesetzt werden (Art. 28c ZGB); sie fällt ebenfalls unter diese Ziffer.

Ziff. 4 Der Inhalt dieser Bestimmung wird im geltenden Recht grundsätzlich auf Verordnungsstufe geregelt (Art. 77 Abs. 6 Bst. a VZAE). Der Begriff «Arztzeugnis» soll jedoch durch «Arztberichte oder andere Gutachten» ersetzt werden. Damit wird die genauere Terminologie des Bundesgerichts übernommen (z.B. Urteil 2C_451/2014 vom 24. Dezember 2014, E. 6.2). Eine Praxisänderung ist damit nicht verbunden.

Ein ärztliches Zeugnis dient in erster Linie dazu, das Ausmass und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit einer Patientin oder eines Patienten zu bescheinigen. Hier geht es aber darum, einen ärztlichen Bericht oder ein Gutachten vorzulegen, in dem insbesondere die durchgeführten medizinischen Untersuchungen, die gerichtsmedizinischen Feststellungen, die physische und/oder psychische Natur der vom Opfer erlittenen Beeinträchtigungen sowie weitere detaillierte Informationen über seine Gesundheit, die Diagnose und die vorgeschlagene Behandlung beschrieben werden. In der Praxis kann es sich auch um Austrittsberichte von Spitälern handeln.

Ziff. 5 und 6 Der Inhalt dieser Bestimmungen entspricht dem geltenden Recht auf Verordnungsstufe (Art. 77 Abs. 6 Bst. b, c und e VZAE).

Bst. b und c Diese weiteren wichtigen persönlichen Gründe werden neu in der Form einer Aufzählung dargestellt. Inhaltlich sind sie jedoch unverändert.

Abs. 2bis Nach der Erteilung einer Härtefallbewilligung soll den betroffenen
Personen Zeit gegeben werden für die Integration in der Schweiz. Auf Grund ihrer schwierigen Situation besteht hier oft ein Nachholbedarf. Deshalb sollen bei der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung während drei Jahren die Sprachkompetenzen (Art. 58a Abs. 1 Bst. c AIG) und die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung 13

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(Art. 58a Abs. 1 Bst. d AIG) zwar geprüft werden. Die Nichterfüllung dieser Integrationskriterien hat indessen während dieser Zeit keinen Einfluss auf die Verlängerung der Bewilligung. Bei Bedarf wird jedoch die Integration gemäss den Bestimmungen zur Integrationsförderung nach Artikel 53 ff. AIG gefördert.

Dies gilt jedoch nicht für die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Art. 58a Abs. 1 Bst. a AIG) und die Respektierung der Werte der Bundesverfassung (Art. 58a Abs. 1 Bst. b AIG), da diese Integrationskriterien unabhängig von der persönlichen Situation erfüllt werden können. Eine Integrationsvereinbarung (Art. 77g VZAE) kann auch in den ersten drei Jahren abgeschlossen werden.

Bei der Berechnung der dreijährigen Frist soll auf den Zeitpunkt der Erteilung der eigenständigen Aufenthaltsbewilligung abgestellt werden.

Eine Minderheit der Kommission (Steinemann, Bircher, Bläsi, Fischer Benjamin, Glarner, Marchesi, Rutz Gregor) beantragt, Abs. 2bis zu streichen, weil die Integrationsbestimmungen für alle gleichermassen gelten sollen.

Abs. 4 Nach geltendem Recht fallen Konkubinatspaare nicht unter den Anwendungsbereich von Artikel 50 AIG (Urteil des Bundesgerichts 2C_105/2017 vom 8. Mai 2018, E. 2.6). Ihnen kann jedoch eine verlängerbare Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, wenn im Einzelfall wegen häuslicher Gewalt ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vorliegt (ohne Rechtsanspruch; Art. 30 Abs. 1 Bst. b AIG).

Die Ansprüche nach den Absätzen 1­3 sollen neu auch für Konkubinatspaare gelten.

Damit wird sichergestellt, dass die angestrebte Gleichbehandlung auch für Konkubinatspartnerinnen und Konkubinatspartner erreicht wird.

Eine Kommissionsminderheit (Steinemann, Bircher, Bläsi, Fischer Benjamin, Glarner, Marchesi, Rutz Gregor) beantragt, Abs. 4 zu streichen.

Art. 126g

Übergangsbestimmung zur Änderung vom ...

Das neue Recht ist für die betroffenen Personen (Opfer von häuslicher Gewalt) günstiger. Deshalb soll bei Gesuchen, die zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung der neuen Bestimmungen hängig sind, das neue Recht gelten. Ohne spezielle Übergangsbestimmung käme die generelle Übergangsbestimmung zur Anwendung, wonach für hängige Gesuche das alte Recht gilt (Art. 126 Abs. 1 und 2 AIG; Urteil des Bundesgerichts 2D_10/2020 vom 9. Juli 2020 E. 2.3).

4

Auswirkungen

4.1

Finanzielle und personell Auswirkungen auf den Bund

Die Gruppe der Personen mit Anspruch auf eine Aufenthaltsregelung nach Auflösung der Familiengemeinschaft wird mit der vorgeschlagenen Änderung erweitert (siehe Ziff. 4.1 zu Art. 50 Abs. 1 VE-AIG). Ehegattinnen und Ehegatten von Personen mit Aufenthaltsbewilligung können jedoch bereits nach geltendem Recht ein entsprechen12 / 14

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des Bewilligungsgesuch nach Artikel 77 Absatz 1 Buchstabe b VZAE einreichen (ohne Rechtsanspruch). Ehegattinnen und Ehegatten von Personen mit Kurzaufenthaltsbewilligung sowie Konkubinatspartnerinnen und Konkubinatspartner können zudem nach geltendem Recht ein allgemeines Härtefallgesuch für eine Bewilligung nach Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe b AIG stellen. Ist die kantonale Migrationsbehörde mit einer solchen Bewilligungserteilung einverstanden, muss sie schon heute dem SEM zur Zustimmung unterbreitet werden (Art. 99 AIG; Art. 4 Bst. d und Art. 5 Bst. d ZVEJPD). Somit kann davon ausgegangen werden, dass sich der personelle Aufwand für das SEM mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung nicht wesentlich verändert. Ein allfälliger Mehraufwand kann voraussichtlich mit dem bestehenden Personal aufgefangen werden. Dies gilt auch für den vorgeschlagenen neuen Anspruch für Personen mit einer vorläufigen Aufnahme (Art. 50 Abs. 1 VE-AIG; Ziff. 4.1).

Die vorgeschlagene Erweiterung der Bewilligungsansprüche hat zudem Auswirkungen auf die Belastung des Bundesgerichts (Ziff. 4.1). Bei einem ablehnenden kantonalen Endentscheid oder einer Verweigerung der Zustimmung durch das Bundesverwaltungsgericht kann neu Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht geführt werden. Ob damit ein Mehraufwand verbunden ist und wie hoch dieser ist, kann jedoch nicht näher abgeschätzt werden. Es ist nicht bekannt, in wie vielen Fällen heute ein weiterer Aufenthalt nach Auflösung der ehelichen Gemeinschaft verweigert wird. Gemäss Artikel 83 Buchstabe c Ziffer 3 BGG sind Beschwerden betreffend die vorläufige Aufnahme generell unzulässig (siehe Ziff. 5.1 zu Art. 50 Abs. 1 VE-AIG).

4.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Die kantonalen Migrationsbehörden sind zuständig für die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen im Rahmen des Familiennachzugs. Dies beinhaltet auch die Aufenthaltsregelung nach Auflösung der Familiengemeinschaft. Mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung erweitert sich die Gruppe der Personen mit Anspruch auf eine Aufenthaltsregelung (Ziff. 4.1). Da diese Personen bereits heute die Möglichkeit haben, ohne Bewilligungsanspruch ein Härtefallgesuch zu stellen (nach Art. 77 Abs. 1 Bst. b VZAE oder Art. 30 Abs. 1 bst. b AIG), ist nicht von einer wesentlichen Zunahme der Härtefallgesuche insgesamt auszugehen (siehe auch Ziff. 5.1).

Bei dieser Ausgangslage ist mit den vorgeschlagenen Gesetzesänderungen auch nicht mit wesentlichen finanziellen und personellen Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden zu rechnen (siehe auch Ziffer 5.1).

4.3

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Mit den vorgeschlagenen Gesetzesänderungen sollen alle ausländischen Opfer von häuslicher Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen einen Aufenthaltsanspruch in der Schweiz erhalten. Sie sollen nicht aus Angst vor einer Wegweisung in einer unzumutbaren Ehe oder Partnerschaft verbleiben müssen. Damit wird der Schutz vor 13 / 14

BBl 2023 2418

häuslicher Gewalt verbessert. Dies entspricht einem allgemein anerkannten gesellschaftspolitischen Anliegen.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Der Entwurf stützt sich auf Artikel 121 Absatz 1 BV (Gesetzgebungskompetenz des Bundes über die Gewährung von Asyl sowie Aufenthalt und Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern). Er ist mit der Verfassung vereinbar.

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Der Entwurf ist mit dem geltenden internationalen Recht vereinbar.

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention14) sieht insbesondere vor, dass ein Opfer, dessen Aufenthaltsstatus vom Aufenthaltsstatus seiner Ehefrau oder Partnerin im Sinne des internen Rechts beziehungsweise seines Ehemanns oder Partners im Sinne des internen Rechts abhängt, im Fall der Auflösung der Ehe oder Beziehung bei besonders schwierigen Umständen auf Antrag einen eigenständigen Aufenthaltstitel unabhängig von der Dauer der Ehe oder Beziehung erhält. Die Bedingungen für die Bewilligung und Dauer des eigenständigen Aufenthaltstitels werden durch das interne Recht festgelegt (Art. 59 Istanbul-Konvention). Die Schweiz hat zu Artikel 59 der Istanbul-Konvention einen Vorbehalt angebracht, weil bisher nicht alle Gruppen von ausländischen Personen über einen gesetzlichen Anspruch verfügen (siehe Ziff. 2.1). Bei einer Annahme der vorgeschlagenen Gesetzesänderung kann die Aufhebung dieses Vorbehalts geprüft werden, da neu auch Ehegattinnen und Ehegatten von Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung oder einer Kurzaufenthaltsbewilligung, von vorläufig aufgenommenen Personen sowie Konkubinatspartnerinnen und Konkubinatspartner neu einen Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der bisherigen Aufenthaltsregelung erhalten sollen, wenn sie Opfer von häuslicher Gewalt wurden. Damit erfüllt die Schweiz die internationalen Verpflichtungen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt noch besser.

5.3

Erlassform

Nach Artikel 164 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) erlässt die Bundesversammlung alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes.

Mit diesem Entwurf wird eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes vorgeschlagen. Nach Artikel 141 Absatz 1 BV unterliegen Bundesgesetze dem fakultativen Referendum.

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SR 0.311.35

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