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zu 21.504 Parlamentarische Initiative Bei häuslicher Gewalt die Härtefallpraxis nach Artikel 50 AIG garantieren Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 12. Oktober 2023 Stellungnahme des Bundesrates vom 29. November 2023

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 12. Oktober 20231 betreffend die parlamentarische Initiative 21.504 «Bei häuslicher Gewalt die Härtefallpraxis nach Artikel 50 AIG garantieren» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

29. November 2023

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 5. November 2021 hat die Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-N) die Initiative 21.504 «Bei häuslicher Gewalt die Härtefallpraxis nach Artikel 50 AIG garantieren» eingereicht. Durch eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetz vom 16. Dezember 2005 (AIG)2 soll die ausländerrechtliche Situation von Opfern häuslicher Gewalt verbessert werden.

Die SPK-N beschloss am 5. November 2021 mit 21 Stimmen zu 2 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten. Am 10. Januar 2022 stimmte die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S) mit 8 Stimmen zu 3 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) dem Vorhaben ebenfalls zu.

An ihrer Sitzung vom 28. April 2022 konkretisierte und ergänzte die SPK-N den Wortlaut des Initiativtextes in einigen Punkten.

Am 17. November 2022 verabschiedete die SPK-N den Vorentwurf mit 18 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung. Die Ablehnung wurde hauptsächlich damit begründet, dass die beabsichtigten Erweiterungen der Aufenthaltsrechte für Opfer häuslicher Gewalt ein Missbrauchspotenzial bergen würden. Zudem sei die Objektivierbarkeit von häuslicher Gewalt auch mit den geänderten und ergänzten Bestimmungen nicht gewährleistet.

Das Vernehmlassungsverfahren dauerte vom 24. November 2022 bis zum 15. März 2023. Die Vernehmlassung hat gezeigt, dass die grosse Mehrheit der Kantone, Parteien, nationalen Verbände, Konferenzen und Vereinigungen sowie der interessierten Kreise die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen begrüsst.

Am 17. August 2023 nahm die SPK-N die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis und trat mit 16 zu 5 Stimmen auf die Vorlage ein. In der Detailberatung wurden einige Änderungen am Gesetzesentwurf vorgenommen.

Der Gesetzesentwurf der SPK-N sieht vor, dass durch die Änderung von Artikel 50 AIG die bestehende Härtefallregelung erweitert wird. Demnach sollen bei einer Auflösung der familiären Gemeinschaft künftig nicht nur ausländische Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern sowie ausländische Personen mit einer Niederlassungsbewilligung (Ausweis C), sondern neu auch Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B), einer Kurzaufenthaltsbewilligung (Ausweis L) sowie vorläufig Aufgenommene (Ausweis F) Anspruch auf Erteilung und Verlängerung ihrer bisherigen Bewilligung erhalten, wenn sie Opfer häuslicher Gewalt sind (Abs. 1
E-AIG). Durch den Ersatz des Begriffs «eheliche Gewalt» durch «häusliche Gewalt» (Abs. 2 Bst. a E-AIG) soll verdeutlicht werden, dass das zu ändernde Recht nicht nur für eheliche Gemeinschaften, sondern auch für deren Kinder, Personen in einer eingetragenen Partnerschaft sowie Konkubinatspartnerinnen und -partner gelten soll (Abs. 4 E-AIG).

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Im Weiteren soll Absatz 2 mit einer Aufzählung der durch die Behörden zu beachtenden möglichen Hinweise auf familiäre Gewalt ergänzt werden. Dazu gehören zum Beispiel die Anerkennung der betroffenen Person als Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes vom 23. März 2007 (OHG)3, die Bestätigung einer notwendigen Beratung, Betreuung oder Schutzgewährung durch eine auf häusliche Gewalt spezialisierte Fachstelle sowie Auskünfte und Berichte einer solchen Fachstelle.

Der neue Absatz 2bis sieht vor, dass bei der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung aufgrund von häuslicher Gewalt während drei Jahren die Integrationskriterien der Sprachkompetenzen (Art. 58a Abs. 1 Bst. c AIG) und der Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung (Art. 58a Abs. 1 Bst. d AIG) zwar geprüft werden sollen. Diese Prüfung soll aber keinen Einfluss auf die Verlängerung der Bewilligung haben. Bei Bedarf wird die Integration gefördert, und der Abschluss von Integrationsvereinbarungen ist möglich.

An der Sitzung vom 12. Oktober 2023 verabschiedete die SPK-N den vorliegenden Gesetzesentwurf und den Bericht4 zuhanden des Nationalrates; die SPK-N beschloss zudem die Veröffentlichung des Ergebnisberichtes der Vernehmlassung. Gestützt auf Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20025 wurden der Gesetzesentwurf und der Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme überwiesen.

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Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich das Anliegen der parlamentarischen Initiative und den Gesetzesentwurf der SPK-N. Bei einer Annahme des Gesetzesentwurfs durch das Parlament wird der Bundesrat prüfen, ob der Vorbehalt der Schweiz zu Artikel 59 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention)6 aufgehoben werden kann. Diese Bestimmung sieht vor, dass alle Opfer von häuslicher Gewalt unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status einen eigenständigen Aufenthaltstitel beantragen können.

Gemäss Artikel 50 Absatz 2bis E-AIG sollen die Integrationskriterien nach Artikel 58a Absatz 1 Buchstaben c und d AIG während drei Jahren zwar geprüft werden, aber keinen Einfluss auf die Verlängerung der Bewilligung haben. Bei Bedarf wird die Integration gefördert. Artikel 58a Absatz 2 AIG sieht jedoch bereits vor, dass der Situation von Personen, welche die Integrationskriterien (Sprachkompetenzen und Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung) aufgrund einer Behinderung oder Krankheit oder anderer gewichtiger persönlicher Umstände nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erfüllen können, angemessen Rechnung zu tragen ist. Präzisiert wird diese Bestimmung in Artikel 77f der Verordnung vom 24. Oktober 20077 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE). Diese Ausnahmebe-

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stimmungen sind bekannt, und sie werden von den kantonalen Migrationsbehörden auch angewandt.

Da somit bereits eine vergleichbare Ausnahmeregelung besteht, kann Artikel 50 Absatz 2bis E-AIG gestrichen werden. Dadurch können auch Auslegungsprobleme zwischen der vorgeschlagenen Bestimmung und dem geltenden Recht vermieden werden. Zudem ist damit auch sichergestellt, dass notwendige und zumutbare Integrationsmassnahmen durchgeführt werden können und die betroffene Person auch daran teilnehmen muss.

Der Bundesrat ist bei einem Verzicht auf diesen Absatz bereit, die nicht abschliessende Aufzählung in Artikel 77f VZAE zu ergänzen, wonach auch den negativen Folgen von häuslicher Gewalt oder Zwangsheirat bei der Beurteilung der Integrationskriterien nach 58a Absatz 1 Buchstaben c und d AIG angemessen Rechnung zu tragen ist.

Auch eine Minderheit der SPK-N (Steinemann, Bircher, Bläsi, Fischer Benjamin, Glarner, Marchesi, Rutz Gregor) beantragt, Absatz 2bis zu streichen, weil die Integrationsbestimmungen für alle gleichermassen gelten sollen.

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Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt Eintreten und Zustimmung zur Vorlage der SPK-N, mit folgender Änderung: Art. 50 Abs. 2bis Streichen Der Bundesrat lehnt die weiteren Minderheitsanträge ab.

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