04.087 Botschaft über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Freiburg vom 22. Dezember 2004

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen hiermit den Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Freiburg mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

22. Dezember 2004

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Joseph Deiss Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2004-2127

403

Übersicht Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Die Gewährleistung wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

Die Stimmberechtigten des Kantons Freiburg haben in der Volksabstimmung vom 16. Mai 2004 die totalrevidierte Kantonsverfassung angenommen. Die neue Verfassung präsentiert sich sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht als ein neuzeitliches Grundgesetz. Sie weist eine klare Systematik auf, und der Text ist den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten unserer Zeit angepasst. Die Verfassung zeichnet sich ausserdem durch materielle Neuerungen aus, die dazu beitragen, dass sie mehr als nur eine Nachführung darstellt. Dazu gehören die Einführung der Volksmotion, die Unterstützung bei Mutterschaft und die Familienpolitik, die Verkleinerung des Grossen Rates, die Schaffung einer Ombudsstelle und eines Justizrates, die Wahl der Mitglieder der Gerichte auf unbestimmte Dauer und das Vetorecht des Grossen Rates gegen Verordnungen des Staatsrates. Die neue Verfassung enthält schliesslich einen sehr detaillierten Grundrechtskatalog sowie eine relativ lange Liste der von Kanton und Gemeinden zu erfüllenden Aufgaben.

Die Prüfung hat ergeben, dass sämtliche Verfassungsartikel die Voraussetzungen für die Gewährleistung erfüllen. Diese Botschaft geht daher im Einzelnen lediglich auf Bestimmungen ein, die in einem direkten Verhältnis zu bundesrechtlich geregelten Materien stehen.

404

Botschaft 1

Geschichtlicher Werdegang der Totalrevision

In der Volksabstimmung vom 13. Juni 1999 beschlossen die Stimmberechtigten des Kantons Freiburg, ihre Verfassung vom 7. Mai 1857 einer Totalrevision zu unterziehen. Gleichzeitig beschlossen sie, einen Verfassungsrat mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs zu beauftragen. Am 12. März 2000 wurden die 130 Mitglieder des Verfassungsrates vom Freiburger Stimmvolk gewählt. Zwischen Februar und Dezember 2001 haben mehrere Sachbereichskommissionen 400 Thesen erarbeitet. Nach der Verabschiedung des Entwurfs im Plenum wurde ein breit angelegtes Vernehmlassungsverfahren durchgeführt. Am 30. Januar 2004 stimmte der Verfassungsrat dem Entwurf mit 97 gegen 21 Stimmen bei zwei Enthaltungen zu.

Die neue Verfassung wurde von den Stimmberechtigten des Kantons Freiburg am 16. Mai 2004 mit 44 863 Ja gegen 32 446 Nein angenommen.

Mit Schreiben vom 2. Juni 2004 ersucht die Staatskanzlei des Kantons Freiburg um die eidgenössische Gewährleistung.

2

Aufbau und Inhalt der Verfassung

Die neue Verfassung ist übersichtlich aufgebaut und in einer für die Bürgerinnen und Bürger verständlichen Sprache formuliert. Die Demokratie wird gestärkt und das Zusammenwirken der Institutionen neu umschrieben. Im Vergleich zur Verfassung von 1857 stellt das neue Grundgesetz mehr als nur eine formale Verbesserung dar. Die wichtigsten materiellen Neuerungen können wie folgt zusammengefasst werden: ­

Die 1990 angenommene Regelung über die Sprachen wurde ergänzt durch einen Auftrag zur Förderung der Zweisprachigkeit, die Festlegung des der Bundesverfassung entsprechenden Territorialprinzips sowie durch die Verankerung der Möglichkeit, für Gemeinden beide Amtssprachen (Französisch und Deutsch) vorzusehen, wenn sie eine bedeutende angestammte sprachliche Minderheit aufweisen (Art. 6 Abs. 2­4).

­

Als Staatsziele werden die Anerkennung der Familie als Grundgemeinschaft der Gesellschaft und der kantonale Zusammenhalt unter Achtung der kulturellen Vielfalt verankert (Art. 3 Abs. 1 Bst. e und f).

­

Es werden neue Grundrechte anerkannt: die Freiheit, sich in der Amtssprache seiner Wahl an eine kantonale Behörde zu wenden (Art. 17); die Freiheit, eine andere Form des Zusammenlebens als die Ehe zu wählen, sowie für gleichgeschlechtliche Paare das Recht auf Eintragung ihrer Partnerschaft (Art. 14 Abs. 1 und 2); das Recht auf Information (Art. 19 Abs. 2); das Recht, auf eine Petition an Behörden eine begründete Antwort zu erhalten (Art. 25 zweiter Satz).

­

Als Sozialrecht verankert die neue Verfassung den Anspruch auf materielle Sicherheit vor und nach der Geburt sowohl für erwerbstätige als auch für nicht erwerbstätige Mütter (Art. 33).

405

­

Die Zusammensetzung des Stimmvolks wird insofern verändert, als die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, die das Freiburger Bürgerrecht haben oder im Kanton Freiburg Wohnsitz hatten, stimmberechtigt werden (Art. 39 Abs. 1 Bst. b).

­

Auf kommunaler Ebene wird das Stimm- und Wahlrecht niederlassungsberechtigten Ausländerinnen und Ausländern zuerkannt, wenn diese seit mindestens 5 Jahren Wohnsitz im Kanton haben (Art. 48 Abs. 1 Bst. b und 131 Abs. 1).

­

Auf kantonaler Ebene wird die Volksmotion eingeführt (Art. 47).

­

Die Familie steht im Zentrum mehrerer öffentlicher Aufgaben: Eine umfassende Familienpolitik soll es den Eltern u. a. ermöglichen, Erwerbs- und Familienleben zu verbinden; es werden die Ausrichtung von Familienzulagen unabhängig vom Angestelltenverhältnis der Eltern vorgesehen und die Bereitstellung von Betreuungsmöglichkeiten für nichtschulpflichtige Kinder in Aussicht genommen (Art. 59 Abs. 2, 60 Abs. 1­3).

­

In der Grundschule muss die jeweils andere Amtssprache als erste Fremdsprache unterrichtet werden (Art. 64 Abs. 3).

­

Es wird eine kantonale Mutterschaftsversicherung geschaffen, soweit eine solche nicht auf Bundesebene existiert (Art. 33 Abs. 2 und 148).

­

Im Bereich der kantonalen Behörden sind als wichtigste Neuerungen zu erwähnen: die Verkleinerung des Grossen Rates von 130 auf 110 Mitglieder, womit bei der Anzahl Einwohner pro Ratsmitglied eine Annäherung an den schweizerischen Durchschnitt erfolgt (Art. 95 Abs. 1), sowie die Einsetzung einer unabhängigen Ombudsstelle für Verwaltungsangelegenheiten (Art.

119).

­

Im Bereich der Justiz sind drei wichtige Neuerungen festzuhalten: die Vereinigung von Kantonsgericht und Verwaltungsgericht (Art. 123 Abs. 3 und 124 Abs. 1), die Einsetzung eines Justizrates als unabhängige Aufsichtsbehörde über die Justiz (Art. 125­128) und die Wahl der Richterinnen und Richter auf unbestimmte Dauer (Art. 121 Abs. 2).

­

Die Bedeutung der Zivilgesellschaft wird anerkannt, indem Vereine und politische Parteien unterstützt werden können (Art. 137­139).

Die neue Verfassung setzt mit einer Präambel ein, die detaillierter ist als die bisherige und den Geist der Verfassung zum Ausdruck bringt. Die folgenden 153 Artikel sind in 11 Titel unterteilt: Allgemeine Bestimmungen, Grundrechte und Sozialrechte, Politische Rechte, Öffentliche Aufgaben, Finanzordnung, Kantonale Behörden, Gemeinden und territoriale Gliederung, Zivilgesellschaft, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Verfassungsrevision sowie Schlussbestimmungen.

Im ersten Titel (Art. 1­7) werden der Kanton Freiburg und sein Gebiet umschrieben, die Hauptstadt und das Wappen festgelegt, die Staatsziele (insgesamt acht) und die Grundsätze staatlichen Handelns aufgeführt, die Beziehungen nach aussen behandelt, in einem Artikel die Sprachenfrage geregelt und die Pflichten von Privatpersonen und Gemeinwesen erwähnt.

Der zweite Titel (Art. 8­38) enthält einen umfassenden Katalog von Grundrechten und Sozialrechten und schliesst mit einer Bestimmung über den Geltungsbereich dieser Rechte und über die Voraussetzungen für deren Einschränkung.

406

Der dritte Titel (Art. 39­51) regelt die politischen Rechte auf kantonaler und kommunaler Ebene. Auf kantonaler Ebene werden die Stimm- und Wahlberechtigung, die Wahlen, die Volksinitiative, das Referendum sowie die Volksmotion geregelt.

Auf kommunaler Ebene werden ebenfalls die Sitmm- und Wahlberechtigung geregelt sowie die Wahlen und die übrigen politischen Rechte behandelt. Schliesslich werden die verfassungsrechtlichen Grundlagen für Gemeindeverbände geschaffen.

Der vierte Titel (Art. 54­80) ist den öffentlichen Aufgaben gewidmet. Er enthält zunächst die allgemeinen Grundsätze und präzisiert die öffentlichen Aufgaben danach in folgenden Bereichen: materielle Sicherheit, Wohnen, Wirtschaft, Familie, Jugend, Beziehungen zwischen den Generationen, verletzliche und abhängige Personen, Bildung, Gesundheit, Ausländerinnen und Ausländer, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, Umwelt und Raum, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Wasser- und Energieversorgung, Verkehr und Kommunikation, Kultur, Sport und Freizeit.

Der fünfte Titel (Art. 81­84) befasst sich mit der Finanzordnung. Es werden die Grundsätze für die Steuererhebung festgelegt. Es wird eine Haushaltsführung nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und des ausgeglichenen Haushalts vorgeschrieben. Dem Kontrollorgan, das die Aufsicht über die Finanzen ausübt, wird die Unabhängigkeit gewährleistet.

Der sechste Titel (Art. 85­128) verankert in den allgemeinen Bestimmungen ausdrücklich den Grundsatz der Gewaltenteilung, legt die Wählbarkeitsbestimmungen fest, sieht Fälle von Unvereinbarkeit vor, verankert die Informationspflicht der Behörden, die Äusserungsfreiheit und die Immunität der Mitglieder des Grossen Rates und des Staatsrats, legt die Grundlagen für die Haftung der Gemeinwesen fest, umschreibt die Erlassformen und regelt die Delegation von Kompetenzen. Stellung, Zusammensetzung, Wahl, Organisation und Kompetenzen des Parlaments (Grosser Rat) und der Regierung (Staatsrat) sowie der Gerichtsbehörden, namentlich auch des neuen Justizrates, werden festgelegt.

Der siebte Titel (Art. 129­136) umschreibt Stellung und Aufgaben der Gemeinden und legt die Grundlagen der politischen Organisation der Gemeinden fest. Er verankert den Finanzausgleich auf dieser Ebene des föderalistischen Staatswesens. Ausserdem werden Grundsätze für
die Fusion von Gemeinden verankert und die Förderung der interkommunalen Zusammenarbeit vorgesehen. Schliesslich ist hier die Grundlage für die Aufteilung des Kantonsgebiets in Bezirke enthalten.

Der achte Titel (Art. 137­139) befasst sich mit der Zivilgesellschaft. Nach der Festlegung allgemeiner Grundsätze werden die Vereine und die politischen Parteien behandelt.

Im neunten Titel (Art. 140­143) werden der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche eine öffentlichrechtliche Stellung zuerkannt und vorgesehen, dass weitere Religionsgemeinschaften öffentlichrechtliche Befugnisse erhalten oder öffentlichrechtlich anerkannt werden können.

Der zehnte Titel (Art. 144 und 145) enthält die Bestimmungen über Total- und Teilrevision der Verfassung.

Der elfte Titel (Art. 146­153) besteht aus den Schlussbestimmungen.

407

3

Voraussetzungen für die Gewährleistung

3.1

Allgemeines

Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt.

Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Die Gewährleistung wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

3.2

Annahme durch das Volk

Die neue Verfassung wurde dem Volk am 16. Mai 2004 zur Abstimmung unterbreitet. Die Stimmberechtigten des Kantons Freiburg haben die neue Verfassung angenommen (vgl. Ziff. 1).

Artikel 51 Absatz 1 BV, der die Zustimmung des Volkes zur Kantonsverfassung verlangt, ist daher erfüllt.

3.3

Revidierbarkeit

Die Artikel 144 und 145 regeln in Verbindung mit den Artikeln 41 Buchstabe a und 42­44 der neuen Verfassung das Verfahren der Verfassungsrevision. Die Totalrevision oder die Teilrevision der Kantonsverfassung kann sowohl vom Grossen Rat als auch vom Volk verlangt werden (Art. 144 Abs. 1 und 145 Abs. 1). Nach Artikel 42 Absatz 2 können 6000 Stimmberechtigte eine Teil- oder Totalrevision der Verfassung verlangen. Die freie Revidierbarkeit der Verfassung im Sinne von Artikel 51 Absatz 1 BV ist damit sichergestellt.

3.4

Demokratische Verfassung

Eine kantonale Verfassung genügt den Anforderungen an die demokratische Ausgestaltung, wenn sie ein gewähltes Parlament vorsieht und den Grundsatz der Gewaltenteilung beachtet (BBl 1997 I 218). Nach Artikel 39 Absatz 1 BV fällt die Regelung der Ausübung der politischen Rechte auf kantonaler Ebene in die Kompetenz der Kantone. Bei der Ausübung dieser Kompetenz sind die Kantone jedoch verpflichtet, gewisse materielle bundesrechtliche Regelungen zu beachten, so namentlich den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 8 BV und den Grundsatz des allgemeinen und gleichen Stimm- und Wahlrechts (BBl 2001 2489; BGE 129 I 185 ff.; Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Auflage, Zürich 2001, Rz. 1016). Bei der Verwirklichung des Grundsatzes der Gewaltenteilung besteht ein grosser Gestaltungsspielraum; die Art und Weise, wie die Kantone diesen Grundsatz in ihrem Verfassungsrecht verwirklichen, fällt denn auch in ihre Kompetenz (BBl 1995 I 977).

408

Die Artikel 40 Absatz 1 und 95 Absatz 2 der neuen Verfassung sehen vor, dass die Mitglieder des Grossen Rates vom Volk, d.h. von allen Personen, die nach Artikel 39 Absatz 1 stimmberechtigt sind, gewählt werden. Nach Artikel 39 Absatz 1 steht das Stimmrecht allen mündigen Schweizerinnen und Schweizern zu, die Wohnsitz im Kanton haben, sowie den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern, die über das freiburgische Bürgerrecht verfügen oder im Kanton Wohnsitz hatten. Die Regelung des Ausschlusses vom Stimm- und Wahlrecht wird an das Gesetz delegiert.

Artikel 39 Absatz 1 der neuen Verfassung entspricht der fast in allen Kantonen geltenden Regelung, die faktisch durch Artikel 39 Absatz 3 BV vorgegeben ist, dass nämlich die Ausübung der politischen Rechte in mehr als einem Kanton untersagt ist.

Unter den politischen Rechten, welche die neue Verfassung den Stimmberechtigten des Kantons Freiburg verleiht, sind neben dem Recht, die Mitglieder des Grossen Rates zu wählen (Art. 40 Abs. 1 und 95 Abs. 2), das Recht, die Mitglieder der Regierung (Art. 40 Abs. 1 und 106 Abs. 6) und die Vertretung des Kantons Freiburg im Ständerat (Art. 40 Abs. 1) zu wählen, das Recht zu erwähnen, eine Verfassungsoder Gesetzesinitiative (Art. 41) einzureichen, sowie das Recht, das obligatorische (Art. 45) und das fakultative (Art. 46) Referendum zu ergreifen.

Die in den Artikeln 85­128 festgelegte Behördenorganisation des Kantons Freiburg (vgl. dazu auch Ziff. 3.5.5) entspricht in allen Teilen dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der überdies ausdrücklich verankert wird (Art. 85).

Artikel 51 Absatz 1 BV, der von den Kantonen eine demokratische Verfassung verlangt, ist damit eingehalten.

3.5

Bundesrechtmässigkeit

3.5.1

Allgemeines

Bei der Prüfung einer totalrevidierten Kantonsverfassung auf ihre Übereinstimmung mit dem Bundesrecht stellt sich insbesondere das Problem, dass eine kantonale Grundordnung, die im Wesentlichen auf einige Jahrzehnte hinaus konzipiert ist, am Bundesrecht gemessen werden muss, das sich zum Teil rasch weiterentwickelt, so dass einzelne Bestimmungen der neuen Kantonsverfassung später in ihrer Bedeutung geschmälert oder gar gegenstandslos werden können.

Der Kanton kann in Gebieten, die unter eine ausschliessliche Bundeskompetenz fallen, keine Regelungen vornehmen. Er darf dagegen Aufgaben wahrnehmen, die von einer umfassenden, jedoch nicht voll ausgeschöpften Bundeskompetenz erfasst werden. Kantonale Verfassungsnormen in Bereichen, in denen der Bund seine Kompetenzen nicht voll ausgeschöpft hat und die bundesrechtskonform ausgelegt werden können, sind zu gewährleisten.

409

3.5.2

Aufbau und Gliederung des Kantons

Die neue Verfassung nennt als territoriale Einheiten des Kantons die Gemeinden und die Bezirke (Art. 129 und 136 Abs. 1). Die einzelnen Gemeinden und Bezirke werden in der Verfassung nicht aufgeführt und deren Gebiet nicht umschrieben, aber die Verfassung garantiert ausdrücklich die Existenz von Gemeinden (Art. 129 Abs. 1 erster Satz). Sie ermöglicht es auch Gemeindeverbänden, sich in ihrem Zuständigkeitsbereich auf die Gemeindeautonomie zu berufen (Art. 129 Abs. 2 zweiter Satz), und macht damit von der Möglichkeit Gebrauch, zwischen Kanton und Gemeinde eine weitere Ebene zu schaffen (Vincent Martenet, L'autonomie constitutionnelle des cantons, Basel, Genf, München 1999, S. 269). Die neue Verfassung sieht im Weiteren vor, dass Gemeinden zu einer Fusion verpflichtet werden können, wenn es die kommunalen, regionalen oder kantonalen Interessen erfordern (Art. 135 Abs. 4).

Die Gemeindeautonomie wird in der Verfassung ausdrücklich verankert (Art. 129 Abs. 2). Die Gemeinden erfüllen die Aufgaben, die ihnen die Verfassung oder das Gesetz überträgt (Art. 130 Abs. 1). Die Verfassung schafft ausserdem einen Finanzausgleich, der die Unterschiede zwischen den Gemeinden vermindern soll (Art. 133). In der Verfassung werden weiter die Mindestanforderungen an die Organisation der Gemeinden festgelegt (Art. 131), wobei namentlich auf die Verpflichtung zur Einhaltung des Gewaltenteilungsprinzips verwiesen wird (Art. 85, anwendbar durch Verweis in Art. 131 Abs. 3) und festgehalten wird, dass die Organe der Gemeinde die Gemeindeversammlung oder der Generalrat sowie der Gemeinderat sind (Art. 131 Abs. 2). Schliesslich sieht die Verfassung eine Aufsicht des Staatsrates über die Gemeinden vor (Art. 115).

Alle diese Bestimmungen liegen im Bereich der kantonalen Organisationskompetenz und enthalten nichts, was dem Bundesrecht zuwiderläuft.

3.5.3

Grundrechte

Nach Lehre und Rechtsprechung haben die Grundrechte der Kantone so weit selbständige Bedeutung, als sie einen über das Bundesrecht hinausgehenden Schutz gewähren (Denise Buser, Kantonales Staatsrecht. Eine Einführung für Studium und Praxis, Basel, Genf, München 2004, Rz. 430 ff.; Andreas Auer/Giorgio Malinverni/Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Bd. II: Les droits fondamentaux, Bern 2000, S. 40 ff.; Vincent Martenet, L'autonomie constitutionnelle des cantons, Basel, Genf, München 1999, S. 420 ff.; BGE 121 I 267, 269; 119 Ia 53, 55). Das bedeutet, dass die Kantone die gleichen Rechte wie der Bund garantieren oder auch darüber hinausgehen können. Es bedeutet aber auch, dass die Gewährleistung dort nicht erteilt werden darf, wo der Kanton mit ausdrücklicher und zwingender Vorschrift einen geringeren Schutzumfang festlegt, als dies der Bund mit seinen Grundrechten tut.

Der Grundrechtskatalog der neuen Verfassung geht in einigen Punkten über den vom Bundesrecht gewährleisteten Umfang hinaus. Er bleibt dagegen für kein Grundrecht hinter dem Bundesrecht zurück, so dass der Gewährleistung nichts entgegensteht.

Im neuen Verfassungstext wird zwischen Grundrechten und Sozialrechten formell unterschieden (zweiter Titel). Die meisten von ihnen haben ihre Entsprechung in der

410

Bundesverfassung, an der sie sich weitgehend orientieren; die Änderungen im Vergleich zur Bundesverfassung sind oft lediglich redaktioneller Art.

Folgende Bestimmungen gehen über das hinaus, was das Bundesrecht garantiert: ­

Artikel 19 Absatz 2 zweiter Satz garantiert jeder Person das Recht, ohne ein berechtigtes Interesse geltend machen zu müssen, Einsicht in amtliche Akten zu nehmen, soweit kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegensteht (Einsichtsrecht)1.

­

Artikel 25 zweiter Satz gibt jeder Person, die eine Petition an eine Behörde richtet, Anspruch auf eine begründete Antwort. Artikel 33 Absatz 2 BV beschränkt sich darauf, die Behörden zur Kenntnisnahme von Petitionen zu verpflichten, und verpflichtet sie nicht zu einer Antwort.

Im Katalog der Grundrechte und der Sozialrechte sind auch einige Sozialziele enthalten, die sich an den Gesetzgeber richten und dessen Tätigwerden erfordern. Dies ist beispielsweise bei der Einführung der kantonalen Mutterschaftsversicherung der Fall, die den in der Volksabstimmung vom 26. September 2004 vom Schweizervolk beschlossenen Mutterschaftsurlaub auf Bundesebene ergänzt (Art. 33 Abs. 2 und 148 Abs. 3).

Im Weiteren bedürfen die Artikel 14 Absätze 1 und 2 sowie 33 Absatz 1 einer kurzen Erläuterung hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Bundesrecht: ­

1

Artikel 14 Absatz 1 garantiert neben dem Recht auf Ehe und Familie das Recht, eine andere Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu wählen. Das Verbot, eine Person wegen ihrer Lebensform zu diskriminieren, ergibt sich direkt aus Artikel 8 Absatz 2 BV. Da der Bund nach Artikel 122 Absatz 1 BV für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts zuständig ist, kann die genannte Bestimmung der neuen Verfassung keine Wirkungen auf die zivilrechtliche Beziehung von Nichtehepaaren entfalten, indem beispielsweise die Wirkungen der Ehe auf Konkubinatspaare oder auf gleichgeschlechtliche Paare ausgedehnt würden. Es sind aber durchaus Fälle denkbar, in denen die Bestimmung Auswirkungen entfalten kann, so etwa bei der Ausübung persönlichkeitsnaher Rechte (Jörg Paul Müller in: Walter Kälin/ Urs Bolz [Hrsg.], Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 39 f.) oder im Bereich der Erbschaftssteuern (Bernhard Pulver, L'union libre. Droit actuel et réformes nécessaires, Lausanne 1999, S. 210). Absatz 2 dieser Bestimmung gewährt gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht, ihre Partnerschaft einzutragen. Nun hat aber die Bundesversammlung am 18. Juni 2004 das Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare verabschiedet (PartG, BBl 2004 3137). Falls dieses Gesetz in Kraft tritt, verliert die betreffende kantonale Bestimmung weitgehend ihre Bedeutung.

Dieses Recht wird künftig ebenfalls auf Bundesebene anerkannt (vgl. dazu Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung, von der Bundesversammlung am 17. Dezember 2004 verabschiedet, aber noch nicht in Kraft, BBl 2004 7269).

411

­

3.5.4

Artikel 33 Absatz 1 garantiert jeder erwerbstätigen oder nichterwerbstätigen Frau ­ entsprechend der Regelung von Artikel 35 der Verfassung des Kantons Waadt ­ den Anspruch auf materielle Sicherheit vor und nach der Niederkunft. Die Mutterschaft wird geschützt durch positive Massnahmen zum Ausgleich biologischer Unterschiede. In gewissen Situationen kann diese Bestimmung über die Leistungen hinausgehen, die sich aus Artikel 116 Absatz 3 BV ergeben, namentlich was die Zeit vor der Niederkunft betrifft.

Öffentliche Aufgaben und Staatsziele

Nach den Artikeln 3 und 43 BV haben die Kantone alle Kompetenzen, die nicht durch die Bundesverfassung dem Bund übertragen werden. Das Bundesrecht verlangt daher für die kantonale Gesetzgebung keine ausdrückliche Grundlage in der Kantonsverfassung. Die Mehrheit der Kantone verzichtet denn auch auf eine abschliessende Verankerung der staatlichen Aufgaben und der entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen in der Kantonsverfassung. Die Verfassung des Kantons Freiburg folgt in dieser Hinsicht den Verfassungen der Kantone Bern, Uri, Solothurn, Glarus, Waadt und Graubünden (SR 131.212, 131.214, 131.221, 131.217, 131.231 und 131.226), die aus Gründen der Klarheit, der Rechtssicherheit und zur Kompetenzaufteilung zwischen Staat und Gemeinden einen detaillierten Katalog von Aufgaben enthalten, die der Staat und die Gemeinden zu erfüllen haben. Dieser Aufgabenkatalog richtet sich an den Gesetzgeber, der die Aufgaben im Gesetz unter Beachtung der bundesrechtlichen Bestimmungen zu konkretisieren hat. Der Aufgabenkatalog wird durch drei Grundsätze eingeleitet: die Grundsätze über die Aufgabenerfüllung, die Aufgabenteilung zwischen Staat und Gemeinden und die Aufgabenerfüllung durch Dritte (Art. 52­54). Er umschreibt danach die wichtigsten Aufgabenbereiche von Kanton und Gemeinden: materielle Sicherheit, Wirtschaft, Familie, Jugend, Beziehungen zwischen den Generationen, verletzliche und abhängige Personen, Bildung, Gesundheit, Ausländerinnen und Ausländer, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, Umwelt und Raum, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Wasser und Energieversorgung, Verkehr und Kommunikation, Kultur, Sport und Freizeit (Art. 55­80).

Die Regelungen im vierten Titel der Verfassung des Kantons Freiburg enthalten keine bundesrechtswidrigen Bestimmungen, auch wenn mehrere der aufgeführten Aufgabenbereiche sich mit Bundeskompetenzen überschneiden, beispielsweise im Bereich des Umweltschutzes (Art. 71). Auch in Bereichen, in denen der Bund legiferiert hat, verbleiben den Kantonen wichtige Vollzugsaufgaben und Restkompetenzen; die Erwähnung dieser Aufgaben lässt sich daher auch mit der Informationsfunktion begründen. Was die kantonalen Kompetenzen betrifft, so hat sich der Verfassungsgeber entschieden, auf Verfassungsebene einige Aufgaben festzulegen, beispielsweise den Schutz der Familien in ihrer
Vielfalt (Art. 59 Abs. 1) oder die Förderung der Erwachsenenbildung (Art. 66).

Die Verfassung des Kantons Freiburg enthält im Weiteren eine allgemeine Bestimmung über die Staatsziele (Art. 3), in der unterschiedliche Anliegen erfasst werden, so die Anerkennung und Unterstützung der Familien als Grundgemeinschaften der Gesellschaft (Abs. 1 Bst. b), Gerechtigkeit (Abs. 1 Bst. d) und kantonaler Zusammenhalt unter Achtung der kulturellen Vielfalt (Abs. 1 Bst. f). Eine solche Bestimmung beschränkt sich darauf, dem Kanton Leitlinien bei der Ausgestaltung der 412

politischen Tätigkeit zu geben. Die Prüfung der Bundesrechtmässigkeit dieser Bestimmungen ­ die nach den gleichen Regeln erfolgt wie die Überprüfung der kantonalen Grundrechte (vgl. Ziff. 3.5.3) oder der kantonalen öffentlichen Aufgaben ­ hat ergeben, dass diese bundesrechtskonform sind.

3.5.5

Behördenorganisation und Verfahren

Die Bestimmungen über Zusammensetzung, Zuständigkeiten und Organisation der kantonalen und der kommunalen Behörden sowie die für ihre Tätigkeit vorgesehenen Verfahren tragen den Erfordernissen des Bundesrechts ausreichend Rechnung.

Die für die Besetzung von Behördenstellen geltenden Wählbarkeitsvoraussetzungen sind in der Verfassung vorgesehen (Art. 86 und 39 Abs. 1).

Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist in Artikel 85 ausdrücklich verankert und wird durch die Bestimmungen über die Unvereinbarkeit (Art. 87) sowie durch die Kompetenzaufteilung zwischen Grossem Rat, Staatsrat und richterlichen Behörden (Art. 99 ff., 110 ff. und 123 ff.) umgesetzt.

Die neue Verfassung des Kantons Freiburg reduziert die Zahl der Mitglieder des Grossen Rates von bisher 130 auf 110 (Art. 95 Abs. 1). Sie verpflichtet den Staatsrat, eine unabhängige Ombudsstelle für Verwaltungsangelegenheiten einzurichten (Art. 119).

Der Bereich der Justiz erfährt eine grundlegende Neuordnung. Die beiden höchsten Gerichte, das Kantonsgericht und das Verwaltungsgericht, werden zusammengelegt (Art. 123 Abs. 3 und 124 Abs.1). Ausserdem wird ein Justizrat eingeführt, der die Aufsicht über alle gerichtlichen Behörden, das Kantonsgericht eingeschlossen, ausübt sowie bei Wahlen eine Begutachtung der Bewerberinnen und Bewerber vornimmt (Art. 125­128). Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die Richterinnen und Richter zur Stärkung ihrer Unabhängigkeit auf unbestimmte Dauer gewählt werden (Art. 121 Abs. 2).

Die Bestimmungen über das Gesetzgebungsverfahren, die dem Grossen Rat ­ unter Vorbehalt des fakultativen (Art. 46) und des obligatorischen Referendums (Art. 45) ­ die Befugnis zum Erlass von Gesetzen sowie zum Abschluss internationaler und interkantonaler Verträge, die nicht in die ausschliessliche Kompetenz der Kantonsregierung fallen (Art. 99 und 100), erteilen, genügen den in Artikel 51 Absatz 1 erster Satz BV festgelegten Anforderungen an eine demokratische Ausgestaltung.

Bezüglich der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Legislative und Exekutive ist festzuhalten, dass der Grosse Rat die grundlegenden Bestimmungen in Form des Gesetzes erlässt (Art. 93 Abs. 2). Gegen Rechtssätze, die in Wahrnehmung von Delegationsbefugnissen ergangen sind, kann der Grosse Rat das Veto einlegen (Art. 93 Abs. 3).

Die Organisationsbestimmungen der Verfassung des Kantons Freiburg liegen im Rahmen der kantonalen Organisationskompetenz (Art. 3 und 39 Abs. 1 BV) und verletzen keine Bestimmungen des Bundesrechts.

413

3.6

Zusammenfassung

Die Verfassung des Kantons Freiburg vom 16. Mai 2004 erfüllt die Anforderungen von Artikel 51 Absatz 2 zweiter Satz BV; es ist ihr deshalb die Gewährleistung zu erteilen.

4

Verfassungsmässigkeit

Die Bundesversammlung ist nach den Artikeln 51 und 172 Absatz 2 BV zuständig, die Kantonsverfassungen zu gewährleisten.

414