48

# S T #

3919

Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Gewährleistung des abgeänderten Art. 69 der Staatsverfassung des Kantons Neuenburg.

(Vom 15. Juni 1939.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Am 15. Mai 1939 hat der Grosse Rat des Kantons Neuenburg ein Dekret betreffend Abänderung von Art. 69 der Kantonsverfassung erlassen.

In der Volksabstimmung vom 3. und 4. Juni 1939 wurde diese abgeänderte Verfassungsbestimmung mit 8596 gegen 4975 Stimmen angenommen. Mit Schreiben vom 13. Juni 1939 sucht der Staatsrat des Kantons Neuenburg die eidgenössische Gewährleistung derselben nach.

Der bisherige und der neue Text lauten wie folgt (Übersetzung) : Bisherige Fassung.

Neue Fassung.

Art. 69.

Jeder volljährige Schweizerbürger, der nicht Neuenburger ist und der sich während zehn Jahren im Kanton aufgehalten hat, von denen 5 Jahre auf einen ununterbrochenen Wohnsitz in der gleichen Gemeinde entfallen, ist berechtigt, die unentgeltliche Aufnahme in das Bürgerrecht dieser Gemeinde zu verlangen.

Die Aufnahme erstreckt sich auf die Ehefrau des Gesuchstellers und auf seine minderjährigen Kinder.

Mit dem Aufnahmegesuch ist ein vom Gemeinderat ausgestelltes Leumundszeugnis vorzulegen; ferner sind

Art. 69.

Jeder Schweizerbürger, der nicht Neuenburger ist, kann in das Bürgerrecht der Gemeinde, in der er Wohnsitz hat, aufgenommen werden, wenn er darum nachsucht und wenn er die im Gesetz vorgesehenen Bedingungen erfüllt.

49 Ausweise darüber zu erbringen, dass der Gesuchsteller während der zehn vorangegangenen Jahre von seiner Heimatgemeinde oder seinem Heimatkanton keinerlei Unterstützung, noch aus dem Armenfonds seines Wohnortes Beiträge erhalten hat, ferner darüber, dass er seinen Verpflichtungen der Öffentlichkeit gegenüber regelmässig nachgekommen ist.

Die Aufnahme kann verweigert werden, wenn feststeht, dass der Gesuchsteller während dieser Zeit von der privaten Wohltätigkeit unterstützt worden ist.

Die Aufnahme erfolgt auf Vorschlag des Gemeinderates durch die Gemeinde (Conseil général). Sie wird dem Staatsrat zur Genehmigung unterbreitet. Auf Grund dieser Genehmigung erwirbt der Bewerber das Bürgerrecht des Kantons Neuenburg ; darauf wird er auf Veranlassung des Gemeinderates in den Bürgerrodel der Gemeinde eingetragen.

Jede Ablehnung der Aufnahmemuss begründet werden ; die Beschwerde an den Staatsrat ist vorbehalten.

Die in diesem Artikel nicht vorgesehenen Aufnahmefällewerden durch Gesetz geregelt.

Die bisherige, hier wiedergegebene Vorschrift ist im Jahre 1887 bei der Eevision der Bestimmungen über die Gemeinden (Art. 64 bis 70) in die Verfassung vom 26. Oktober 1858 aufgenommen worden (Bundesbl. 1887, Bd. III, S. 330; A. S. 10, 99). In Anbetracht des stets zunehmenden Missverhältnisses zwischen der Bevölkerung neuenb'urgischer Herkunft und der Gesamtbevölkerung sollte mit diesen Bestimmungen die Einbürgerung von im Kanton niedergelassenen Schweizern erleichtert und, beim Vorliegen der vorgeschriebenen Bedingungen, die unentgeltliche Aufnahme durch die Wohnortsgemeinde eingeführt werden. In einem am 21. Oktober 1938 dem Grossen Bat erstatteten einlässlichen Bericht hat der Staatsrat die Auswirkungen dargelegt, welche die unentgeltliche Aufnahme von Schweizern anderer Kantone, seit ihrem InkraftBundesblatt.

91. Jahrg.

Bd. II.

4

50 treten am 1. Januar 1889, gehabt hat. Schon vom dernographischen Standpunkt aus betrachtet, brachte die Neuerung nicht den erwarteten Erfolg, indem das Verhältnis zwischen Neuenburgern und übrigen Schweizern in der Zeit von 1886 bis 1937 nur um 5,50 Prozent gestiegen ist; es veränderte sich von 49,75 auf 55,25 Prozent. Die finanziellen Polgen waren bedeutend fühlbarer. Der Gesetzgeber von 1887 hatte angenommen, dass die unentgeltlich aufgenommenen Schweizer aus andern Kantonen ihren neuen Heimatgemeinden zahlreiche Vergabungen und Vermächtnisse zuwenden würden ; doch hat sich diese Hoffnung nur in bescheidenem Masse verwirklicht. Da die unentgeltliche Aufnahme ein Eecht darstellt, das allen Schweizern zukam, sofern sie die vorgeschriebenen Bedingungen erfüllten, so konnte sie auch denjenigen nicht verweigert werden, bei denen als wahrscheinlich vorauszusehen war, dass sie bald die Armenunterstützung in Anspruch nehmen würden. In der Tat sind die Aufwendungen der Neuenburger Gemeinden für Unterstützungen seit dem Inkrafttreten der unentgeltlichen Aufnahme um ungefähr 500 Prozent gestiegen. Allerdings ist ein Teil der zusätzlichen Armenlasten, die den Gemeinden aus der unentgeltlichen Aufnahme ins Bürgerrecht erwachsen sind, vom Staat übernommen worden.

In seinem dem Grossen Bat erstatteten Bericht stellt der Staatsrat fest, dass im Jahre 1986 die Unterstützungskosten für unentgeltlich Aufgenommene ungefähr Fr. 200 000 erreichten, was zehn Prozent der Gesamtaufwendungen für die Armenfürsorge gleichkommt. Wohl sieht die Vereinbarung vom Jahre 1926 betreffend die Unterstützung von Bedürftigen, die mehrere Kantonsbürgerrechte besitzen (A.S. 43, 250), vor, dass derartige Kosten von dem beteiligten Heimatkanton zu gleichen Teilen und ohne Bücksicht auf den Wohnsitz des Unterstützten getragen werden; aber die Kantone Bern, Waadt, Freiburg und Aargau, aus denen die grösste Zahl der unentgeltlich Aufgenommenen stammt, sind dieser Vereinbarung nicht angeschlossen. Ausserhalb dieser Übereinkunft sind nun aber alle Armenlasten zugunsten von Unterstützungsbedürftigen mit mehrfachem Bürgerrecht gemäss konstanter Praxis des Bundesgerichts von demjenigen Heimatkanton zu tragen, in welchem der Unterstützte seinen Wohnsitz hat. Der Kanton Neuenburg leistet somit die gesamte Unterstützung der Mehrzahl derjenigen
Bedürftigen, die mehrere Kantonsbürgerreehte besitzen und im Kanton wohnen; damit ist in jedem Falle der ehemalige Heimatkanton entlastet, ohne dass dieser Gegenrecht oder eine Gegenleistung gewährt.

Bei diesen Verhältnissen konnte der Kanton Neuenburg den Konkordaten von 1923 und 1937 betreffend wohnörtliche Unterstützung (A.S. 39, 165; 53, 652) nie beitreten, wollte er nicht die finanziellen Nachteile der unentgeltlichen Aufnahme von Schweizern anderer Kantone noch erschweren. Diese nachteiligen Folgen wären weniger fühlbar gewesen, wenn zahlreiche Kantone das nämliche System angenommen hätten wie es der Kanton Neuenburg besitzt. Tatsächlich haben aber bloss Zürich, Luzern, Basel-Stadt, Schaff hausen und Genf den Grundsatz der unentgeltlichen Aufnahme von Schweizern anderer Kantone in ihrer Gesetzgebung niedergelegt, wobei überdies die Bedingungen, deren Erfüllung vorausgesetzt wird, durchweg strenger sind als in Neuenburg.

51 Dies sind im wesentlichen die Erwägungen, die den Gesetzgeber des Kantons Neuenburg veranlasst haben, eine Eevision des Art. 69 der Verfassung vorzunehmen. Inskünftig werden die im Kanton Neuenburg niedergelassenen Schweizer anderer Kantone nicht mehr das Eecht, sondern bloss die Möglichkeit haben, in das Bürgerrecht ihrer Wohnsitzgemeinde aufgenommen zu werden.

Der neue Art. 69 stellt nur den Grundsatz der Aufnahme in das Bürgerrecht auf; inskünftig werden auch Minderjährige darum nachsuchen können, sofern sie die Bedingungen dazu erfüllen. Letztere sind jetzt nicht mehr in der Verfassung selbst umschrieben, sondern im Gesetz vom 5. März 1888 über die Gemeinden, dessen Art. 45 und 46 durch ein Dekret des Grossen Eates vom 13. März 1939 entsprechend abgeändert worden sind. Dieses System hat den Vorteil, dass je nach den Verhältnissen die Voraussetzungen der Aufnahme in das Bürgerrecht ohne Verfassungsrevision umgestaltet werden können. Es ist hier nicht der Ort, den neuen Wortlaut der Art. 45 und 46 des Gesetzes über die Gemeinden wiederzugeben. Wir beschränken uns auf den Hinweis, dass darin neben den im bisherigen Art. 69 der Verfassung aufgestellten Bedingungen vom Bewerber noch ein Ausweis verlangt wird, wonach er «voraussichtlich dauernd für sich und den Unterhalt seiner Familie wird aufkommen können»; ferner hat er eine Kanzleigebühr von 100 Franken zu bezahlen, die allerdings vom Staatsrat herabgesetzt oder sogar erlassen werden kann, wenn der Heimatkanton des Gesuchstellers die Gegenseitigkeit gewährleistet. Diese Einkünfte kommen zur einen Hälfte der Gemeinde zu, die sie zugunsten eines «Fonds des ressortissants» kapitalisiert. Die andere Hälfte wird dem durch das Gesetz über die Gemeinden begründeten «Fonds de réserve et de secours» zugewiesen. Das Verfahren ist das nämliche geblieben, die Frist für die an den Staatsrat zu richtende Beschwerde wegen Verweigerung der Aufnahme beträgt zwanzig Tage.

Der neue Verfassungsartikel beschlägt ausschliesslich kantonales Eecht.

Er enthält nichts, das den Bestimmungen der Bundesverfassung zuwiderlaufen würde. Insbesondere steht die neue Eegelung hinsichtlich der Aufnahme von Angehörigen anderer Kantone in keiner Weise in Widerspruch mit den Art. 43, 44, 45 und 60 der Bundesverfassung; vom Standpunkte der letztern aus betrachtet ist sie ebenso
zulässig wie das bisherige System. Wir beantragen Ihnen daher, der neuen Verfassuhgsbestimmung durch Annahme des beiliegenden Beschlussesentwurfes die Gewährleistung des Bundes zu erteilen.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 15. Juni 1939.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Etter.

Der Bundeskanzler: G. Bovet,

52 (Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

die Gewährleistung der Abänderung des Art. 69 der Verfassung des Kantons Neuenburg.

Die Bundesversammlung der schweizerischen E i d g e n o s s e n s c h a f t , in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 15. Juni 1939, in Erwägung, dass die abgeänderte Verfassungsbestimmung nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthält, beschliesst:

Art. 1.

Der in der Volksabstimmung vom S./4. Juni 1939 angenommenen Abänderung des Art. 69 der Verfassung des Kantons Neuenburg wird die Gewährleistung des Bundes erteilt.

Art. 2.

Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

1331

-^K«>

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Gewährleistung des abgeänderten Art. 69 der Staatsverfassung des Kantons Neuenburg. (Vom 15. Juni 1939.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1939

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

25

Cahier Numero Geschäftsnummer

3919

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

21.06.1939

Date Data Seite

48-52

Page Pagina Ref. No

10 033 994

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.