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Bundesblatt 9l. Jahrgang.

Bern, den 5. April 1989.

Band I.

Erscheint wöchentlich. Preis HO Franken im Jahr, 10 Franken im Halbjahr, zuzüglich Nachnahme- and Postbestellungsgebühr.

Einrückungsgebühr : 60 Eappen die Petitzeile oder deren Raum. -- Inserate franko an Stämpfli & de. in Bern.

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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren betreffend Notrecht und Dringlichkeit.

(Vom 3. April 1939.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Mit Schlussnahme vom 22./23. Juni 1938 haben Sie uns das am 7. April 1938 vom Landesring der Unabhängigen eingereichte, von 55 786 gültigen Unterschriften unterstützte Volksbegehren betreffend Notrecht und Dringlichkeit zur materiellen Berichterstattung überwiesen. Wir beehren uns nun, Ihnen im folgenden unsere Stellungnahme zu unterbreiten.

Dieses Volksbegehren schlägt eine Abänderung von Abs. 2 und 3 des Art. 89 der Bundesverfassung und die Aufnahme eines neuen Art. 89 bis vor.

Art. 89, Abs. 2, soll lauten: «Bundesgesetze sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse müssen überdies dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird. Die Bäte können über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse auch von sich aus eine sofortige Volksabstimmung beschliessen.» Als Abs. 4 ist in Art. 89 (an Stelle des jetzigen Abs. 3) einzufügen : «Zeitlich unaufschiebbare allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse können bis zum Ablauf der Beferendumsfrist und bis zu einer allfälligen ·Volksabstimmung provisorisch in Kraft gesetzt werden, sofern ihnen mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Bates in namentlicher Abstimmung zustimmt. Sie fallen dahin, wenn sie nicht innert 4 Monaten nach Einreichung der nötigen Unterschriftenzahl dem Volk zur Abstimmung unterbreitet und angenommen werden.» Der vorgeschlagene neue Art. 89 bis hat folgende Fassung : «In Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung können verfassungsmässige Rechte durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse vorübergehend eingeschränkt werden.

Bundesblatt. 91. Jahrg. Bd. 1.

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534 In Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot kann durch ein der obligatorischen Volksabstimmung unterliegendes Gesetz den Bäten auf die Dauer von längstens 2 Jahren die Befugnis erteilt werden, durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse die Handels- und Gewerbefreiheit einzuschränken und ausserordentliche finanzielle Massnahmen zu treffen, beides unter Wahrung der Bechtsgleichheit.

Die auf Art. 89Ms gestützten Gesetze und Bundesbeschlüsse fallen spätestens l Jahr nach Beendigung der Mobilmachung im Sinne von Abs. l oder nach Ablauf des Gesetzes im Sinne von Abs. 2 dahin. Sie können dem Beferendum entzogen werden, sofern ihnen mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Bates in namentlicher Abstimmung zustimmt.

Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, welche unter Missachtung der Art. 89 und 89ßls der Bundesverfassung erlassen wurden, sind für die Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht verbindlich.» Die vorliegende Initiative richtet sich «gegen die Ausschaltung der Volksrechte». Sie ist aus einem Unbehagen über die dringlichen Bundesbeschlüsse der Krisenzeit, und zwar insbesondere über den Inhalt solcher Beschlüsse entstanden. Sie weist somit eine gewisse Verwandtschaft mit andern vor kurzem erledigten Initiativen auf ; so mit der in der Volksabstimmung vom 20. Februar 1938 mit 488 195 gegen 87 638 Stimmen und von allen Ständen verworfenen Initiative der kommunistischen Partei über die Abänderung des fakultativen Beferendums (Bevision von Art. 89, Abs. 2). .Ferner mit der Initiative für Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Bevision von Art. 113), die in der Volksabstimmung vom 22. Januar 1939 mit 347 340 gegen 141 323 Stimmen und von allen Ständen verworfen worden ist, endlich mit der vom Komitee der Bichtlinienbewegung eingereichten und in der Folge zugunsten des Gegenvorschlages der Bundesversammlung zurückgezogenen Initiative für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel (Abänderung von Art. 89).

Der Gegenentwurf zu letzterer Initiative ist in der Volksabstimmung vom 22. Januar 1939 mit 346 024 gegen 155 032 Stimmen und mit 21 gegen l Standesstimme angenommen worden.

Gemäss Art. 15 des Bundesgesetzes vom 27. Januar 1892 über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend Bevision der Bundesverfassung hat die Behandlung der vorliegenden Initiative des Landesringes
bis zur Erledigung des früher eingereichten Volksbegehrens für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel zurückgestellt werden müssen, ' da sie die nämliche Verfassungsmaterie betrifft. Nachdem nun die Volksabstimmung vom 22. Januar 1939 stattgefunden und zur Annahme eines neuen Textes des Art. 89 der Verfassung geführt hat, ist nunmehr die Landesringinitiative zu behandeln.

Bekanntlich unterstellt Art. 89 der Bundesverfassung die Bundesgesetze und die nicht dringlichen allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüsse dem fakultativen Beferendum. Die einfachen, d. h. die nicht allgemeinverbindlichen

535 Bundesbeschlüsse werden abschliessend durch die Bundesversammlung erlassen. Die allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüsse sind in der Eegel unter dem Vorbehalt des fakultativen Eeferendums zu erlassen, ausgenommen ist nur der Fall der Dringlicherklärung. Der am 22. Januar angenommene, nunmehr geltende neue Text des Art. 89 schränkt die Anwendung der Dringlich-, keitsklausel dadurch ein, dass er die Dringlichkeit im Sinne einer zeitlichen umschreibt, für das Zustandekommen der Dringlicherklärung die Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder in beiden Bäten fordert (wodurch ein Zufallsmehr ausgeschaltet wird), sowie dass er vorschreibt, dass die Geltungsdauer dringlicher Bundesbeschlüsse zu befristen ist (womit der vorübergehende Charakter des dringlichen Bundesbeschlusses gewahrt wird, da die allfällige Umwandlung in dauerndes Recht einen unter Beferendumsvorbehalt stehenden Erlass erfordert).

Während der deutsche Titel des vorliegenden Volksbegehrens «betreffend Notrecht und Dringlichkeit» lautet, ist der französische Titel «initiative concernant la réglementation constitutionnelle du droit d'urgence» weniger glücklich, da er keinen Hinweis auf das Notrecht enthält, während doch gerade die vorgeschlagene Ordnung des Notrechts einen Wesenszug der vorliegenden Initiative bildet, durch den sich diese von den erwähnten andern Initiativen unterscheidet. Daher ist die Bezeichnung «initiative concernant le droit de nécessité et la clause d'urgence» vorzuziehen.

Notrecht und Dringlichkeit sind nicht dasselbe; diese beiden Begriffe liegen nicht auf der gleichen Ebene, wohl aber bilden sie die beiden Seiten vieler Krisenerlasse. Die Dringlicherklärung ist ein Begriff des Rechtssetzungsverfahrens und betrifft die Form des Erlasses. Sie bildet die Ausnahme von der Begel, dass allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse dem fakultativen Beferendum unterstehen; durch die Dringlichkeitsklausel wird infolge zeitlicher Unaufschiebbarkeit des Inkrafttretens des Erlasses das Beferendum ausgeschaltet. Für das Notrecht ist dagegen der ausserordentliche Inhalt des Erlasses charakteristisch; dass der Inhalt des Erlasses die Schranken des normalen Verfassungsrechts oder des Gesetzesrechtes überschreitet, macht das Wesen des notrechtlichen Erlasses aus. Dieser enthält Bestimmungen, die normalerweise nicht durch allgemeinverbindlichen
Bundesbeschluss aufgestellt werden dürfen, sondern eine Verfassungsrevision oder doch ein Bundesgesetz voraussetzen würden. Die übliche Form, in die die Notrechtserlasse der Bundesversammlung gekleidet werden, ist nach bisheriger Praxis ein Bundesbeschluss mit Dringlichkeitsklausel. Durch die Verwendung dieser Bechtssetzungsform wird die formelle Verbindlichkeit der Noterlasse der Bundesversammlung verankert, da gemäss Art. 113, Abs. 3, der Verfassung auch die dringlichen Bundesbeschlüsse verbindlich sind.

Die vorliegende Initiative schlägt eine Neuregelung und Verstärkung der Mitwirkung des Volkes bei der. Bechtssetzung insbesondere beim Erlass allgemeinverbindlicher Bundesbeschlüsse vor. Sie will eine Ausschaltung des Referendums erschweren und eine vermehrte Sicherung der Volksrechte

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schaffen. Der Schwerpunkt der Neuregelung liegt in den Vorschlägen über das Notrecht, und zwar soll eine neue Kategorie von allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen ausgebildet werden, nämlich der Bundesbeschluss in Notzeiten (Noterlass), der im Art. 89bls durch Umschreibung der Voraussetzungen, durch inhaltliche Schranken und durch Befristung der Geltungsdauer eingeschränkt werden soll, womit versucht wird, in der Verfassung das Notrecht klar abzugrenzen und es damit zu kanalisieren. Die Initiative macht diese Noterlasse zu einer neuen Eechtssetzungsform, zu einer besonderen Kategorie von allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen, indem sie diese Noterlasse von den dringlichen Bundesbeschlüssen abtrennt. Dadurch wird der dringliche Bundesbeschluss zu einer bloss für normale Zeiten bestimmten Form von Erlassen (oder richtiger ausgedrückt : zu einer Form von Erlassen, deren Inhalt im Eahmen des normalen Verfassungsrechts und der Bundesgesetze bleibt).

Die Trennung zwischen «Dringlichkeit in normalen Zeiten» und «Erlassen in Notzeiten» erlaubt es nach der Auffassung der Initianten, die Wirkung der Dringlicherklärung umzugestalten, um trotz einer Dringlicherklärung die Volksrechte möglichst zu wahren. Nach diesem Vorschlag soll die Dringlicherklärung nur bewirken können, dass der Bundesbeschluss sofort in Kraft gesetzt werden kann und bis zum Ablauf der Eeferendumsfrist oder bis zur allfälligen Volksabstimmung (die spätestens 4 Monate nach Eingang des Beferendumsbegehrens stattzufinden hätte) in Kraft bleibt. Die Dringlicherklärung würde demnach nur eine «provisorische» Inkraftsetzung des Bundesbeschlusses herbeiführen, nämlich eine auf wenige -- höchstens 7 -- Monate beschränkte Inkraftsetzung. Der dringlich erklärte Bundesbeschluss würde dem fakultativen Referendum unterstehen und ausser Kraft treten, wenn er nicht durch unbenutzten Ablauf der Eeferendumsfrist oder durch Annahme in der Volksabstimmung definitive Geltung erlangt. Demnach hätte man 3 Kategorien von allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen: 1. den gewöhnlichen, unter Eeferendumsvorbehalt erlassenen, nicht dringlich erklärten Bundesbeschluss (wie bisher); 2. den dringlich erklärten Bundesbeschluss, der zunächst bloss für höchstens 7 Monate in Kraft tritt ; er wäre mit der Eeferendumsklausel zu versehen, und seine Weitergeltung über die
Dauer des Provisoriums hinaus würde vom stillschweigenden oder ausdrücklichen Entscheid des Volkes abhängen; 3. den Bundesbeschluss, der in Notzeiten auf Grund des vorgeschlagenen Art. 89Ms erlassen wird (Noterlass) ; er wäre entweder mit der Eeferendumsklausel zu versehen (in welchem Falle er sich von einem gewöhnlichen allgemeinverbindlichen Bundesbeschluss nur darin unterscheidet, dass sein Inhalt sich innerhalb des weiteren Eahmens des Art. 89Ws frei bewegen kann), oder es kann das Referendum mit Zustimmung der Hälfte aller Mitglieder in beiden Eäten ausgeschlossen werden.

Eine weitere Variante will der letzte Satz von Abs. 2 des vorgeschlagenen Art. 89 einführen. Die Eäte sollen auch von sich aus über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse eine sofortige Volksabstimmung beschliessen können. In dieser direkten Volksbefragung erblicken die Initianten eine neue Möglichkeit

537 raschen Handelns, indem die Bundesversammlung direkt an das Volk gelangen könnte, ohne das Zustandekommen des Eeferendums abzuwarten. In den Fällen, in denen die Bundesversammlung von dieser Befugnis Gebrauch machen würde, würde die Anordnung der direkten Volksbefragung an die Stelle des fakultativen Eeferendums treten.

Als Sicherungsmittel, das vor allem die Einhaltung der neuen Vorschriften garantieren soll, will der vorgeschlagene Abs. 4 des Art. 89Ws vorschreiben, dass die «unter Missachtung der Art. 89 und 89bïs» erlassenen Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse für die Gerichte und Verwaltungsbehörden unverbindlich sein sollen. Sowohl diese Vorschrift, die von Art. 113, Abs. 3, der Verfassung abweicht; als auch die soeben erwähnte Bestimmung über direkte Volksbefragung würden sich auch auf Bundesgesetze erstrecken.

Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob die vorliegende Initiative die Einheit der Materie wahrt. Laut Art. 121, Abs. 3, der Verfassung hat, wenn auf dem Wege der Volksanregung mehrere verschiedene Materien zur Eevision oder zur Aufnahme in die Bundesverfassung vorgeschlagen werden, jede derselben den Gegenstand eines besondern Initiativbegehrens zu bilden.

Nicht entscheidend ist, ob das Volksbegehren nur einen oder aber mehrere Verfassungsartikel revidieren will. Massgebend ist vielmehr der innere Zusammenhang des Gegenstandes der Initiative. Es darf nicht verbunden werden, was sachlich nicht zusammengehört. Es dürfen auch nicht mehrere Sachgebiete, die bloss in eine äusserliche Verbindung gebracht werden können, zu einer einzigen Initiative zusammengekoppelt werden. Zwischen den einzelnen Bestimmungen des Vorschlages muss ein innerer Zusammenhang bestehen.

Schwieriger ist allerdings die Frage, wann der innere Zusammenhang vorhanden ist. Nach einer von Prof. Giacometti (Schweizerische Juristenzeitung, Band 32, Seiten 93 f) vertretenen Auffassung würde der innere Zusammenhang zwischen den einzelnen geplanten Massnahmen dann bestehen, wenn die vorgeschlagenen Normen in einer logischen Beziehung zueinander stehen, wenn die eine logischerweise die andere zur Folge hat oder wenn die eine ein notwendiges Mittel für die andere ist. Ist z. B. die eine Norm ein nicht notwendiges Mittel für die andere, so dass diese auch durch andere Mittel verwirklicht werden könnte, so würde dies nach
dieser Auffassung nicht genügen, um die Einheit der Materie zu bejahen. Diese Auffassung ist aber zu eng und würde zu einer empfindlichen Einschränkung des Initiativrechts führen, da sie umfassende und grosszügige Vorschläge verunmöglichen würde. Auch bei einer ganz einfachen Vorlage lässt sich nicht vermeiden, dass ein Bürger mit einem Teil einverstanden, mit einem andern Teil aber nicht einverstanden ist, ohne dass er sich dadurch in einen logischen Widerspruch begibt. Auch wenn z. B. ein Grundsatz und ein Ausführungsmodus vorgeschlagen werden, kann es leicht vorkommen, dass Stimmberechtigte mit dem Grundsatz einverstanden sind, jedoch einen andern Ausführungsmodus vorziehen würden. Sie werden dann eben das, was ihnen zusagt, und das, was ihnen nicht passt, gegeneinander abwägen und je nachdem für oder gegen den Vorschlag stimmen. Der Bürger

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hat eben über einen konkreten Vorschlag zu entscheiden. Dagegen darf ihm nicht zugemutet werden, in einer Abstimmung über Verschiedenartiges zu entscheiden, das in keinem Zusammenhang oder doch nur in einer äusserlichen Verbindung zueinander steht. So wäre es z. B. unzulässig gewesen, wenn mehrere jetzt hängige Initiativen zu einer einzigen Initiative zusammengekoppelt worden wären, etwa z. B. die Alkohol- und die Gütertransportinitiative zusammen als ein einziges Volksbegehren eingereicht worden wären ; das wären in der Tat verschiedenartige Materien. Mit Eecht ist die Praxis, der Bundesversammlung der oben angeführten engen Auffassung nicht gefolgt. So ist z. B. bei der Militärjustizinitiative, bei der Initiative über eine Vermögensabgabe und bei der Kriseninitiative (Volksabstimmungen vom 30. Januar 1921, 3. Dezember 1922 und 2. Juni 1935) die Einheit der Materie als gewahrt erachtet worden. Den einzigen Fall, in dem die Bäte die Einheit der Materie nicht als gewahrt betrachtet haben, hat die Ausländerinitiative (Volksabstimmung vom 11. Juni 1922) gebildet; hier wurde nämlich angenommen, dass die beiden Teile des Volksbegehrens voneinander unabhängig waren (Burckhardt, Bundesrecht, Band 2, Nr. 570, und Kommentar, S. 815; vgl. auch BGE 48, I, 163--166).

Die von der Landesringinitiative vorgeschlagene Neuordnung der Mitwirkung des Volkes bei der Eechtssetzung, insbesondere beim Erlass allgemeinverbindlicher Bundesbeschlüsse, im Sinne einer stärkeren Garantie gegen eine Ausschaltung des Volkes bildet ein zusammenhängendes Ganzes. Schon die Ausbildung einer neuen Kategorie von allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen, speziell die Loslösung der Noterlasse von den dringlichen Bundesbeschlüssen zeigt deutlich den inneren Zusammenhang. Denn das bisherige Institut des dringlichen Bundesbeschlusses soll nach der Initiative1 in zwei besondere Institute aufgespalten werden, nämlich einerseits in den dringlichen Bundesbeschluss für Normalzeiten und anderseits in den Bundesbeschluss für Notzeiten. Diese beiden Gebilde, die vorgeschlagen werden, treten an die Stelle des bisherigen dringlichen Bundesbeschlusses, und insofern sollen Art. 89, Abs. 4, und Art. 89bls zusammen den jetzigen Abs. 3 von Art. 89 ersetzen.

Die Ausbildung einer besondern Form von Erlassen für das Notrecht schafft erst die Möglichkeit,
die Dringlicherklärung in eine blosse provisorische Inkraftsetzung umzuwandeln. Die vorgeschlagene Ordnung der Dringlichkeit hat zur notwendigen Voraussetzung, dass für Notzeiten ein Ventil .vorgesehen werde ; Art. 89Ms erscheint als dieses Ventil. Darin zeigt sich eben die gegenseitige Abhängigkeit der Bestimmungen, die von den Initianten mit Bezug auf die dringlichen Bundesbeschlüsse und auf das Notrecht beantragt werden; Es ergibt sich somit, dass die einzelnen Bestimmungen der vorliegenden Initiative vermöge ihres innern Zusammenhanges ein einheitliches Ganzes bilden und dass daher die Einheit der Materie gewahrt ist. Auch die weitern zwei Bestimmungen, die eher als Anhängsel erscheinen, nämlich die Möglichkeit einer direkten Volksbefragung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse und die Schutzvorschrift, wonach unter Missachtung von Art. 89 und 89bls erlassene Gesetze und Bundesbeschlüsse unverbindlich sein sollen, hängen mit

539 dem übrigen Inhalt des Volksbegehrens innerlich zusammen, so dass die Einheit der Materie nicht gestört wird.

Im folgenden wird zunächst in einem Abschnitt A die Frage des Notrechts (Art. 89Ws, Abs. l--3, der Initiative) erörtert, während in einem weitern Abschnitt B die übrigen Fragen, über die wir uns ja wesentlich kürzer fassen können, nämlich die Vorschläge über die Dringlichkeit in Normalzeiten, über die Möglichkeit einer direkten Volksbefragung und über die Unverbindlichkeit der unter Missachtung von Art. 89 ' und 89bls ergehenden Erlasse (Art. 89, Abs. 2 und 4 und Art. 89bls, Abs. 4, des Textes der Initiative) behandelt werden sollen.

A. Das Notrecht.

I.

Das Notrecht ist eine ausserordentliche Eechtssetzung im Fall eines Staatsnotstandes, durch die einer die Existenzbedingungen des Staates bedrohenden Gefahr begegnet werden soll. Mit Notrecht bezeichnen wir einerseits den Grundsatz, dass bei einem Staatsnotstand ausserordentliche Massnahmen getroffen werden können, die über das normale Verfassungsrecht oder über Gesetzesrecht hinausgehen, und anderseits die Erlasse, die auf Grund dieses Prinzips ergehen.

Im Bund stehen dabei die Noterlasse der Bundesversammlung im Vordergrund, da die Noterlasse des Bundesrates in der Eegel auf einer durch die Bundesversammlung erteilten Delegation (Ermächtigung oder nachträgliche Genehmigung) beruhen. Wesentlich für das Notrecht ist der ausserordentliche Inhalt des Erlasses, indem durch allgemeinverbindlichen Bundesbeschluss Vorschriften aufgestellt werden, die normalerweise nicht durch Bundesbeschluss aufgestellt werden können, sondern für die entweder eine Verfassungsrevision oder doch ein Bundesgesetz erforderlich wäre. Für diese ausserordentliche Rechtssetzung besteht nicht die gleiche Bindung an die Individualrechte der Bürger und an die in der Verfassung festgelegten Kompetenzgrenzen wie bei der ordentlichen Eeehtssetzung. Insbesondere kann Notrecht in Individualrechte eingreifen, soweit die Not es erheischt. Ebenso kann es von der normalen Kompetenzausscheidung zwischen Bund und Kantonen abweichen, soweit dies notwendig wird. Das Notrecht kann auch von Bundesgesetzen abweichen.

Während nämlich in der Eegel ein Bundesbeschluss Bestimmungen eines Bundesgesetzes nicht abändern kann, greift im Falle eines Notstandes eine Ausnahme von dieser Eegel Platz, indem eine zeitweilige Abweichung von Bundesgesetzen durch Bundesbeschluss getroffen werden kann, wo die Notlage sie gebieterisch erheischt (Sten Bull 1920, StB 441; 1917 StE 222; 1914 NE 496; ferner Burckhardt, Bundesrecht Bd. 2, Nr. 617).

Dass ein Notstand des Staates vorkommt, hat sowohl die Zeit des Weltkrieges wie auch die Wirtschaftskrise mit aller Deutlichkeit gezeigt. 1914 bei Ausbruch des Weltkrieges mit seiner sofort ersichtlich einsetzenden Bedrohung unserer staatlichen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit war der Notstand besonders sinnenfällig. Aber auch die Wirtschaftskrise von bisher ungeahntem

540 Ausmasse hat die Grundlage der Existenz weiter Kreise der Bevölkerung erschüttert und die Fundamente unserer Wirtschaft untergraben, so dass eine schwere Gefahr unser Land bedrohte. In derartigen Zeiten müssen zur Erhaltung des Staatswesens ausserordentliche Massnahmen getroffen werden.

Es kommt da alles darauf an, dass rasch und durchgreifend gehandelt werden kann, ohne auf die Einhaltung aller normalen verfassungsmässigen Wege verpflichtet zu sein ; und zwar muss in raschester Anpassung an die sich ändernden Verhältnisse gehandelt werden, da oft unerwartete Ereignisse eintreten und dadurch unvorhergesehene Massnahmen notwendig werden. Es ist übrigens unbestritten, dass es einen echten Notstand geben kann und auch wirklich gibt. Kein Staat vermag ohne Notstandskompetenzen auszukommen (vgl.

Fleiner im schweizerischen Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung 1927, S. 572).

Gerade der demokratische Staat, insbesondere die Beferendumsdemokratie, bedarf eines Ventils, das den Behörden gestattet, bei einem Staatsnotstand die zur Abwendung der Gefahr unerlässlichen Massnahmen vorzukehren.

Weil die demokratische Verfassung Freiheitsrechte gewährleistet und enge Kompetenzschranken aufstellt, bedarf die Demokratie in Notzeiten einer gewissen Beweglichkeit, um eine Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse und Bedürfnisse möglich zu machen. Die Demokratie würde versagen, wenn nicht für die nötige Handlungsfähigkeit in .Notzeiten gesorgt würde. Zur Erhaltung der Kechtsordnung, die die Freiheit schützt und der Gerechtigkeit dient, werden bei einem Staatsnotstand ausserordentliche Massnahmen nötig, die vorübergehend vom normalen Verfassungsrecht oder vom Gesetzesrecht abweichen, um die Notzeit überbrücken zu können und so den Staat und die Verfassung trotz der drohenden Gefahren zu erhalten.

Abgesehen vom Zollnotrecht (letzter Absatz von Art. 29) enthält die Bundesverfassung keine ausdrückliche Bestimmung über Notrecht. Wie wir schon in unsern Berichten vom 17. September 1937 und 10. Mai 1938 über die Volksbegehren für Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit und für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel ausgeführt haben, ist es auch ohne eine ausdrückliche Verfassungsbestimmung zulässig, im Falle des Notstandes Massnahmen zu treffen, die vom normalen Verfassungsrecht oder
vom Gesetzesrecht abweichen, soweit die Not es erfordert. Die Bechtfertigung des ungeschriebenen Notrechts ergibt sich aus der Überlegung, dass die verfassungsmässigen-Bechte der Bürger und die verfassungsmässigen Kompetenzgrenzen den Bestand des Staatswesens zur Voraussetzung haben. Geht die Eidgenossenschaft unter, so geht damit auch die Verfassung zugrunde, und dann ist es auch mit den Freiheitsrechten und mit den Kompetenzen von Bund und Kantonen aus. Kann es der Sinn der Verfassung sein, dass Individualrechte und Kompetenzgrenzen unter allen Umständen unversehrt bleiben müssen, selbst wenn daran die Eidgenossenschaft zugrunde geht ? Die grundsätzliche Ablehnung eines ungeschriebenen Notrechts würde nämlich, zu Ende gedacht, zum absurden Ergebnis führen, es sei Nebensache, ob der Staat und mit ihm die Freiheit

541 und die Verfassung als Ganzes zugrunde gehen; Hauptsache sei, dass, solange das Staatswesen besteht, der Buchstabe jedes einzahlen Verfassungsartikels um jeden Preis striktestens befolgt werde. Damit würde man den Buchstaben des einzelnen Artikels höher stellen als den Sinn und Geist der ganzen Verfassung. Etwas so Widersinniges entspricht sicher nicht dem Willen der Verfassung. Diese kann nicht einen Sinn haben, der eine wirksame Verteidigung der Existenz des Staates und seiner Eechtsordnung dadurch unmöglich machen würde, dass unter allen Umständen nur solche Massnahmen getroffen werden könnten, die die Individualrechte und die Kompetenzgrenzen unangetastet lassen. Bei einer ernsten Gefahr für den Bestand des Staatswesens muss, soweit es nottut, der Bahmen des Verfassungsrechts überschritten werden können. Indem die Individualrechte und die Kompetenzgrenzen auf diese Weise nur vorübergehend eine unumgängliche Einschränkung erleiden, ist ihrem Schutz besser gedient, da ihnen andernfalls der gänzliche Untergang drohen würde% Diese Auslegung der Verfassung gemäss ihrem vernünftigen Sinn, ergibt, dass derartige notwendige Eingriffe rechtmässig sind. Im Grunde genommen wird übrigens ernstlich gar nicht bestritten, dass bei echtem Notstand ein Abweichen vom normalen Verfassungsrecht berechtigt ist. Es entspricht auch sicherlich der Eechtsüberzeugung des S.chweizervolkes, dass es im Falle eines Staatsnotstandes Pflicht der Bundesbehörden ist, rasch und durchgreifend das Nötige vorzukehren. So ist z. B. die Zulässigkeit des Vollmachtenbeschlusses vom 3. August 1914 nicht in Zweifel gezogen worden. Wir erinnern daran, dass auch das Bundesgericht das ungeschriebene Notrecht anerkannt hat (vgl. z. B. BGE 41, I, 558).

Weil das Abweichen von normalem Verfassungsrecht bei Staatsnotstand rechtmässig ist, geht es auch nicht an, hier von Verfassungsverletzung oder Verfassungsbruch zu reden, denn ein solcher Vorwurf würde doch einen rechtswidrigen Eingriff voraussetzen. Mit dem Ausdruck «Verfassungsverletzung» wird der Anschein erweckt, dass ein Missbrauch vorliege und dass die getroffene Massnahme unzulässig sei, während es doch bei einem Staatsnotstand Pflicht der Behörden ist, die unumgänglichen Abwehrmassnahmen zu ergreifen.

Es ist allerdings auch die Ansicht geäussert worden, das Notrecht sei eine
«berechtigte Verfassungsverletzung»; dies ist aber ein widerspruchsvoller Begriff.

Eine andere Frage ist die, ob im Einzelfall vom Notrecht richtig Gebrauch gemacht wird, nämlich ob ein Staatsnotstand besteht und ob er gerade die Massnahme nötig macht, die im konkreten Fall getroffen oder beantragt wird.

Über diese Frage können die Auffassungen auseinandergehen. Der einzelne ist geneigt, die Sachlage vom Standpunkt seiner Interessen aus zu betrachten.

Die Massnahme, die ihn schützt und ihm nützlich ist, wird er sehr leicht als unumgänglich, vielleicht sogar als zu wenig weitgehend ansehen; denn ihm wird gerade die Not, die ihn selber trifft, besonders gross scheinen. Anderseits neigt er dazu, eine Massnahme, die ihn in seiner Freiheitssphäre einschränkt oder ihm Lasten auferlegt, als unnötig und als sachlich unrichtig anzusehen.

Die Bundesbehörden können sich nicht auf eine solche subjektive Betrachtungs-

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weise einlassen, sondern sie müssen die Sachlage von einer objektiven Warte aus unter dem Gesichtspunkt des Landesinteresses würdigen und abwägen.

Sie dürfen für sich nicht in Anspruch nehmen, gegen Irrtümer gefeit zu sein, wohl aber haben sie nach bestem Wissen und Können gehandelt. Über der Kritik am Gebrauch des Notrechts und am Inhalt einzelner Noterlasse darf man nicht übersehen, dass das Notrecht das Durchhalten in der Zeit des Weltkrieges ermöglicht hat und dass es die Folgen der Wirtschaftskrise wesentlich gemildert und erträglich gemacht hat.

Voraussetzungen des Notrechts sind eine ernste Gefahr für das Gemeinwesen und zudem die Unmöglichkeit, dieser Bedrohung seiner Existenzbedingungen durch Massnahmen zu begegnen, die innerhalb des Eahmens des normalen Verfassungsrechts oder der Bundesgesetze bleiben. Eine Aufzählung der einzelnen Notfälle und Notmassnahmen, die in Frage kommen können, ist nicht möglich, da die künftigen Ereignisse sich nicht mit einiger Sicherheit voraussehen lassen und ihre Wirkungen sehr verschieden sein können. Ob im Einzelfall die Gefahr die Berufung auf den Notstand und die einzelne Massnahme rechtfertigt, kann nur auf Grund einer Abwägung und Wertung öffentlicher Interessen und in Kenntnis der in Betracht fallenden Verhältnisse beantwortet werden. Eine sachliche Schranke des Notrechts liegt darin, dass die Noterlasse vom normalen Verfassungsrecht und von Bundesgesetzen nicht mehr abweichen sollen, als nötig ist, wie denn auch nur notwendige Massnahmen getroffen werden sollen. Die Geltungsdauer der Noterlasse muss eine vorübergehende sein, weil es sich um Massnahmen für die Zeit des Notstandes handelt.

Wegen ihres vorübergehenden Charakters kann in den Noterlassen keine Gefährdung der Demokratie erblickt /werden.

IIDie vorliegende Initiative will zu rein demokratischen und verfassungsmässigen Zuständen zurückführen und die Erhaltung der Freiheitsrechte gewährleisten. Damit die Freiheiten in normalen Zeiten gewahrt werden können, wird ein Notstandsartikel vorgeschlagen, der die Eechte des Volkes grundsätzlich nicht antastet und doch in Notzeiten den Bundesbehörden gestattet, zu handeln. Deshalb wünschen die Initianten eine klare Machtbegrenzung in der Verfassung, ein genau umschriebenes Notrecht, das für Notzeiten eine verfassungsmässig korrekte Möglichkeit
schafft, verfassungsmässige Eechte vorübergehend einzuschränken.

Die Initiative sieht zwei Notstandsfälle vor, nämlich einerseits «Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung» (Abs. l von Art. 89bls) und anderseits «Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot» (Abs. 2 desselben Artikels). Diese Unterscheidung geht offenbar von der Erwägung aus, dass in Mobilmachungszeiten die Bundesbehörden eine grössere Handlungsfreiheit haben müssen, damit der Gefahr in wirksamer Weise begegnet werden könne, während in. Krisenzeiten den Noterlassen nur ein engerer Eahmen einzuräumen sei.

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Unter «Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung» ist der Fall der Mobilmachung zum Aktivdienst zu verstehen (Art. 8, lit. b, und 198 der Militärorganisation, Art. 102, Ziff. 11, der Verfassung). Es ist also damit gemeint die «Zeit, da Truppen zum aktiven Dienste aufgeboten sind» (wie in Art. 86, 87, 89, 97, 102 usw. des Militärstrafgesetzes). Voraussetzung für die Anwendung von Abs. l des Art. 89bls wäre somit die Tatsache, dass eine Aktivmobilmachung angeordnet worden ist.. Es besteht kein Zweifel, dass auch eine Teilmobilmachung zu aktivem Dienst darunter fällt und dass die «Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung» so lange dauern, als Truppen im Aktivdienst stehen.

Nun zeigt allerdings der neueste Bundesbeschluss vom 3. Februar 1939 betreffend ausserordentliche Truppenaufgebote im Jahre 1939 (AS 55, 246), dass es auch eine Zwischenstufe von Militärdienst geben kann; ein ausserordentliches Truppenaufgebot gemäss diesem Bundesbeschluss würde, da der Dienst als Instruktionsdienst gilt, wohl nicht unter den Begriff «Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung» im Sinne der Initiative fallen. Vor allem stellt sich aber die Frage, ob nicht unter Umständen schon vor einer Mobilmachung der Erlass von Notmassnahmen unentbehrlich sein kann. Ein solcher Fall kann vorkommen, und dann würde der von den Initianten vorgeschlagene Notrechtsartikel versagen. Über den Inhalt des Notrechts für Mobilmachungszeiten bestimmt Abs. l, dass verfassungsmässige Eechte durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse vorübergehend eingeschränkt werden können.

Wir setzen voraus, dass eine Delegation durch den Bundesbeschluss an den Bundesrat, die ja in Mobilmachungszeiten unvermeidlich sein kann, nicht ausgeschlossen wäre. Das Verhältnis des Notrechts zu den Individualrechten wird im Abs. l in einer Weise geregelt, die den Bundesbehörden die nötige Handlungsfreiheit einräumt. Unklar bleibt aber, wie sich dieses Notrecht zu den übrigen Verfassungsbestimmungen verhält, z. B. ob die Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Kantonen eine absolute Schranke für das Notrecht bilden sollen.

Will der Abs. l nur das Verhältnis zu den Individualrechten in der Meinung ordnen, dass die übrigen Verfassungsnormen keine Schranke für das Notrecht bilden sollen, oder soll nur eine Einschränkung von Freiheitsrechten zulässig und jede Abweichung
von andern Verfassungsnormen unzulässig sein? Diese Frage bleibt offen. Im übrigen können die Noterlasse auf Grund von Abs. l alles vorkehren, was zur Abwehr der Gefahr, die den Grund der Mobilmachung bildet, als notwendig befunden wird.

Eine andere Eegelung sieht Abs. 2 für «Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot» vor. Die Initianten gehen davon aus, dass -- abgesehen von Mobilmachungszeiten -- nur das Volk selbst auf seine Rechte «verzichten» könne, indem es der Bundesversammlung besondere Vollmachten gibt. Deshalb wird die Kompetenz, in Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot Notrecht zu erlassen, von einem Ermächtigungsgesetz abhängig gemacht, das der obligatorischen Volksabstimmung unterliegt und längstens 2 Jahre gilt. Durch das Ermächtigungsgesetz wäre formell festgestellt, dass Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot vorliegen. Die Ermächtigung würde dahingehen, «durch allgemeinverbindliche

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Bundesbeschlüsse die Handels- und Gewerbefreiheit einzuschränken und ausserordentliche finanzielle Massnahmen zu treffen, beides unter Wahrung der Rechtsgleichheit». Gewiss hätte diese Lösung den Vorteil, dass die Voraussetzung für Notmassnahmen nach Abs. 2 durch einen formellen authentischen Akt des Volkes festgestellt würde und dass das Ermächtigungsgesetz den Rahmen der Vollmacht näher umschreiben könnte. Sobald das Ermächtigungsgesetz erlassen wäre, hätte man eine feste Grundlage für die zu treffenden Massnahmen.

Anderseits können aber vor dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes keine Notmassnahmen getroffen werden. Deshalb bestehen schwere Bedenken gegen eine Ordnung, die den Erlass der erforderlichen Massnahmen von einem Ermächtigungsgesetz abhängig macht. Der Notstand tritt eben nicht erst mit der Annahme des Ermächtigungsgesetzes ein, sondern besteht schon vorher.

Auch von der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes in der Bundesversammlung bis zum Tage der Volksabstimmung vergeht notwendigerweise eine gewisse Zeit; unterdessen könnte nichts vorgekehrt werden. Wir erinnern daran, dass nach der geltenden Gesetzgebung eine Abstimmungsvorlage spätestens 4 Wochen vor dem Abstimmungstag in Händen der Stimmberechtigten zu sein hat und dass sie vorher gedruckt und an die Kantone und Gemeinden verteilt werden muss. Sollen, solange das Ermächtigungsgesetz nicht vom Volke angenommen ist, zur Abwehr der Gefahr unentbehrliche Massnahmen wirklich verboten sein, soweit sie den Rahmen des normalen Verfassungsrechts überschreiten? Es könnte der Fall eintreten, dass infolge des Erfordernisses einer Volksabstimmung über das Ermächtigungsgesetz ein rechtzeitiges Handeln unmöglich wäre. Die praktischen Schwierigkeiten zeigen sich schon, wenn man sich fragt, wann während der letzten Wirtschaftskrise ein solches Ermächtigungsgesetz hätte erlassen werden sollen. Etwa schon im Herbst 1931 ? Damals konnte man aber kaum ahnen, welchen Umfang die Notmassnahmen annehmen würden, und es ist doch fraglich, ob damals die Erkenntnis der Notwendigkeit derart einschneidender Massnahmen so allgemein verbreitet war, dass ein Ermächtigungsgesetz angenommen worden wäre. Gerade wirtschaftliche Notzeiten setzen nicht auf einmal in ihrer vollen Schwere ein, sondern entwickeln sich allmählich. Am Anfang wird man Bedenken haben,
ein Ermächtigungsgesetz mit allgemeinen weitgehenden Vollmachten zu erlassen. Wartet man aber, bis die Not ganz gross ist, so können eben, solange das Ermächtigungsgesetz noch nicht da ist, die nötigen Massnahmen nicht getroffen werden, und es kann auf diese Weise dem Lande unwiederbringlicher Schaden entstehen.

Es wäre Sache des Ermächtigungsgesetzes, innert der Grenzen von Abs. 2 den Umfang der Ermächtigung zu umschreiben. Diese könnte entweder allgemein bevollmächtigen, die zur Bekämpfung der Wirtschaftsnot erforderlichen Massnahmen zu treffen, oder sie könnte auch einen engern Rahmen aufstellen, z. B. einzelne Zwecke der Massnahmen aufzählen. Für finanzielle Massnahmen stellt Abs. 2 eine einzige Schranke auf, nämlich die Wahrung der Rechtsgleichheit; einen engern Rahmen könnte das Ermächtigungsgesetz aufstellen. Für wirtschaftspolitische Massnahmen schreibt Abs. 2 vor, dass nur die Handels-

545 und Gewerbefreiheit eingeschränkt werden kann, so dass Eingriffe in andere Individualrechte unzulässig sein sollen. Man kann sich fragen, ob nicht unter Umständen in Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot auch Einschränkungen anderer Individualrechte notwendig werden können. Was die Eechtsgleichheit anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass sie nur dann verletzt wird, wenn bei tatsächlicher Gleichheit eine rechtliche Differenzierung Platz greift oder wenn bei erheblicher tatsächlicher Verschiedenheit eine gerechtfertigte Unterscheidung unterlassen wird. Im allgemeinen wird das richtig verstandene Gebot der Eechtsgleichheit auch in Zeiten der Wirtschaftsnot gewahrt werden können.

Mit Bezug auf die Handels- und Gewerbefreiheit wird sich auch die Frage stellen, in welchem Verhältnis Abs. 2 des Art. 89Ms der Initiative zu den in Vorbereitung befindlichen neuen Wirtschaftsartikeln (Art. 81 ff.) stehen soll; wir lassen jetzt diese Frage offen, da der definitive Text der neuen Wirtschaftsartikel noch nicht feststeht. Wie beim Abs. l bleibt auch beim Abs. 2 unklar, ob die Noterlasse von andern Verfassungsbestimmungen abweichen können.

Wie verhält es sich, wenn ein anderer Notstand als der Mobilmachungsfall oder die Wirtschaftsnot eintritt ? Die Meinung der Initiative geht wohl dahin, dass Art. 89Ms die Fäile, in denen Noterlasse zulässig sein sollen, abschliessend aufzähle, so dass es ausserhalb des Art. SO1318 kein Notrecht geben würde.

Nun ist es aber keineswegs ausgeschlossen, dass unter Umständen ein anderer Notstand vorkommen kann, oder auch, dass vor einer Aktivmobilmachung oder vor der Annahme eines Ermächtigungsgesetzes Notmassnahmen unentbehrlich werden, wenn einer Gefahr, die die Existenzbedingungen des Staatswesens bedroht, in wirksamer Weise begegnet werden soll. In solchen Fällen versagt der vorgeschlagene Art. 89bls.

Gemäss Abs. 8 dieses Artikels kann ein allgemeinverbindlicher Bundesbeschluss, der auf Grund von Abs. l oder 2 ergeht, ohne Eeferendumsvorbehalt erlassen werden, wenn ihm in beiden Bäten mindestens die Hälfte aller Mitglieder in namentlicher Abstimmung zustimmt; andernfalls untersteht er dem fakultativen Eeferendum. Die Mehrheit, die die Initiative für den Ausschluss des Eeferendums bei Noterlassen fordert, stimmt im wesentlichen überein mit der Mehrheit, die nach dem jetzt
geltenden Art. 89 für die Dringlicherklärung eines Bundesbeschlusses erforderlich ist. Dass nach diesem Artikel die «Mehrheit aller Mitglieder in jedem der beiden Eäte» nötig ist, die Initiative aber die Zustimmung mindestens der Hälfte aller Mitglieder jedes Eates fordert, ist genau dasselbe, wenn die Zahl der Eatsmitglieder eine ungerade Zahl ist. Ist sie eine gerade Zahl, so besteht ein ganz kleiner Unterschied; so ist beispielsweise bei einer Mitgliederzahl des Ständerates von 44 nach dem jetzt geltenden Art. 89 erforderlich, dass mindestens 23 für die Dringlicherklärung stimmen, während nach der Initiative die Zustimmung von 22 Mitgliedern genügen würde. Ferner ist zu bemerken, dass der geltende Art. 89 dieses Mehr in bezug auf die Abstimmung über die Dringlicherklärung verlangt, während die Initiative auf die Abstimmung über den Bundesbeschluss selbst abzustellen scheint. Nach der Initiative müsste die Abstimmung in den Eäten

546

unter Namensaufruf stattfinden; dies wird als ein Mittel befürwortet, das die Verantwortlichkeit der Volksvertreter festhalten soll. Unseres Brachtens ist es nicht am Platze, in der Verfassung eine solche Bestimmung reglementarischer Natur aufzustellen. Der Abstimmungsmodus ist in den Eatsreglementen geregelt und gehört nicht in die Verfassung. Laut den bestehenden Eatsreglementen können ohnehin im Nationalrat 30 Mitglieder oder auch der Präsident und im Ständerat 10 Mitglieder den Namensaufruf bei einer Abstimmung verlangen. Es besteht kaum Veranlassung, bei Noterlassen (wie übrigens bei dringlichen Bundesbeschlüssen nach Abs. 4 von Art. 89 der Initiative) allgemein eine Abstimmung unter Namensaufruf vorzuschreiben, um so weniger, als in den letzten Jahren die meisten Krisenerlasse einstimmig oder beinahe einstimmig gefasst worden sind und in derartigen Fällen der Namensaufruf bloss ein unzweckmässiger Zeitverlust wäre.

Laut Abs. 3 des Art. 89bls sollen die auf diesen Artikel gestützten «Gesetze und Bundesbeschlüsse» spätestens ein Jahr «nach Beendigung der Mobilmachung» (dies soll wohl bedeuten : nach Beendigung des Aktivdienstzustandes) oder nach Ablauf des Ermächtigungsgesetzes dahinfallen. Warum Abs. 3 auch die «Gesetze» erwähnt, ist nicht klar; denn das Ermächtigungsgesetz nach Abs. 2 ist damit offenbar nicht gemeint, da es nach Ablauf der Frist von längstens 2 Jahren, für die die Ermächtigung erteilt worden ist, ohne weiteres wegfällt; im übrigen werden in Abs. l und 2 nur Bundesbeschlüsse und nicht Bundesgesetze vorgesehen. · Ob für die in Mobilmachungszeiten ergangenen Noterlasse eine Liquidationsfrist von einem Jahr'nach Beendigung des Aktivdienstzustandes immer ausreicht, ist sehr fraglich. Denn j e umfassendere Notmassnahmen getroffen werden müssen, desto mehr Zeit nimmt auch die Liquidation der Noterlasse in Anspruch. Was die Dauer der in Zeiten von Wirtschaftsnot ergehenden Noterlasse anbelangt, fällt in Betracht, dass das Ermächtigungsgesetz eine Vollmacht auf längstens 2 Jahre erteilt und dass nach deren Ablauf ein neues Ermächtigungsgesetz, das ebenfalls der Volksabstimmung unterbreitet werden muss, die Vollmacht wiederum längstens für 2 Jahre erneuern kann. Spätestens ein Jahr nach dem definitiven Ablauf des Ermächtigungsgesetzes sollen alle auf Abs. 2 beruhenden Noterlasse
dahinfallen. Auch diese Liquidationsfrist stellt eine zu starre und schema tische Lösung dar. So richtig der Gedanke ist, dass das Notrecht entsprechend seiner vorübergehenden Natur nicht länger gelten soll, als zur Bekämpfung der Notlage erforderlich ist, so muss man sich doch vor einer starren Lösung hüten, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird.

Die Prüfung von Abs. l--3 des vorgeschlagenen Art. 89bls ergibt demnach, dass die Frage, ob dieser Artikel Gewähr dafür bietet, dass im Falle eines Staatsnotstandes rechtzeitig vorgekehrt werden könne, was zur Abwehr der Gefahr unumgänglich ist, nicht bejaht werden kann. Insbesondere sind die vorgesehenen Voraussetzungen für den Erlass von Notrecht zu beanstanden, weil doch die Möglichkeit besteht, dass noch andere als die beiden im Art. 89bls angeführten Notstandsfälle vorkommen und auch.dass schon vor einer Mobil-

547 machung oder vor Annahme eines Ermächtigungsgesetzes ausserordentliche Massnahmen unentbehrlich sind. Infolge dieser Lücken musate man sich trotz des Art. 89bls unter Umständen auf ungeschriebenes Notrecht berufen oder aber man müsste darauf verzichten, der Gefahr rechtzeitig und in wirksamer Weise zu begegnen, was jedoch verhängnisvolle Folgen haben könnte. Zu beanstanden ist ferner, dass über die inhaltlichen Schranken der Massnahmen nach Abs. l und 2, insbesondere über das Verhältnis zu andern Verfassungsbestimmungen als solchen über die Individualrechte, eine Unklarheit besteht und dass in Zeiten der Wirtschaftsnot dem Notrecht zu enge Schranken gezogen wären.

Auch erscheint die Bestimmung über das automatische Dahinfallen der Noterlasse infolge Zeitablaufs als zu schematiscb.

Der vorgeschlagene Notrechtsartikel ist ängstlich darauf bedacht, die verfassungsmässigen Rechte zu schützen, er sorgt jedoch nicht in genügender Weise für die Möglichkeit, dass die zur Abwehr des Notstandes unerlässlichen ausserordentlichen Massnahmen getroffen werden können. Er sorgt also nicht in ausreichendem Masse für die Erhaltung unseres Staates und damit der ganzen Verfassung. Daher lässt sich die Annahme des Vorschlages nicht verantworten, und wir gelangen somit zur Ablehnung der Initiative.

III.

Um sich darüber schlüssig zu werden, ob ein Gegenentwurf aufzustellen ist, muss geprüft werden, ob es angezeigt sei, einen Notrechtsartikel in die Verfassung aufzunehmen. Der Gedanke, das Notrecht solle in einem Verfassungsartikel klar umschrieben werden, hat in der Tat auf den ersten Blick etwas Bestechendes. Man muss sich aber vor Illusionen hüten und über die Schwierigkeiten der Aufgabe Eechenschaft geben.

Wer einen Notstandsartikel in der Verfassung postuliert, zielt hauptsächlich auf eine genaue Abgrenzung des Notrechts ab, nämlich auf eine genaue Umschreibung der Voraussetzungen und der inhaltlichen Schranken sowie auf eine Begrenzung der Geltungsdauer. Man stellt sich vor, dass durch eine geschriebene klare Regelung den Behörden ermöglicht werden solle, in Notzeiten die unentbehrlichen Massnahmen zu treffen. Von einer solchen ausdrücklichen Verfassungsnorm verspricht man sich einerseits eine Garantie gegen missbräuchliche Ausschaltung des Volkes und anderseits eine Beseitigung von Misstrauen und infolgedessen eine Stärkung der Behörden, da das Odium des Vorwurfs der Verfassungsverletzung auf diese Weise von den Behörden ferngehalten würde.

Man steht jedoch bei der Aufstellung eines Notstandsartikels vor einer fatalen Alternative: Entweder wählt man eine ganz generelle und elastische Fassung, und dann gelangt man weder zu einer klaren Begrenzung noch zu einer Einschränkung des Notrechts, ja es entsteht dann sogar die Gefahr, dass das Notrecht sich viel mehr ausdehne als bisher. Oder aber man stellt engumschriebene Schranken auf, was jedoch zu einer starren Einschränkung des Notrechts

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führt; dann besteht aber die Gefahr, dass der Notstandsartikel, sobald man ihn anwenden sollte, gänzlich versagt. Die Not lässt sich nicht verklausulieren, sondern kommt auch, soweit sie nicht vorgesehen ist. Schon die nächste Notzeit kann ganz anders liegen, als man bei der Formulierung des Verfassungsartikels sich vorstellt ; es können Ereignisse eintreten, die sich nicht voraussehen lassen und unerwartete Wirkungen zeitigen, und man kann nicht wissen, was für Massnahmen sie nötig machen werden.

Soll ein Notstandsartikel seinen Zweck erfüllen, so muss er eine genügende Grundlage für die unentbehrlichen Massnahmen in Notzeiten schaffen, zugleich aber eine klare und genaue Abgrenzung des Notrechts bringen. Diese beiden Anforderungen stehen aber zueinander in einem Gegensatz und lassen sich nicht unter einen Hut bringen. Ist man darauf bedacht, dass der Notstandsartikel bei jedem möglichen Staatsnotstand ausreiche, so gelangt man zu einer ganz allgemeinen elastischen Fassung, wie es etwa die folgende wäre : «Im Fall eines Notstandes kann die Bundesversammlung die notwendigen Massnahmen treffen. Diese sollen von den Bestimmungen der Verfassung und der Gesetze nur so weit abweichen, als zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist. Sie sollen nicht länger in Geltung bleiben, als notwendig ist.» Eine solche Bestimmung .dürfte eine ausreichende Handlungsfreiheit für die in Fällen von Staatsnotstand notwendigen Massnahmen bieten, dagegen kann sie die Forderung nach einer genauen und klaren Abgrenzung keineswegs erfüllen. Ihre vage Formulierung müsste schwersten Bedenken rufen.

Insbesondere würde sie weder zu einer Einschränkung des Notrechts noch zu einer Garantie gegen missbräuchliche Ausschaltung der Volksrechte, sondern zu einer Ausdehnung des Notrechts führen. Daher wäre eine solche Fassung nicht annehmbar.

Geht man von der Überlegung aus, dass die Verfassung zwar nicht alle Notstände, die künftig einmal eintreten können, vorauszusehen brauche, aber doch gut tue, wenigstens diejenigen Notfälle vorzusehen, in denen nach den bisherigen Erfahrungen ein wichtiges Bedürfnis nach umfassenderen ausserordentlichen Massnahmen zutage getreten ist, so könnte man an eine bloss teilweise Eegelung des Notrechts denken, z. B. an etwa folgende Fassung: «Zur Wahrung der Sicherheit des Landes und zur Abwendung
ausserordentlicher Gefahren für die schweizerische Volkswirtschaft kann die Bundesversammlung die erforderlichen Massnahmen treffen. Beschränkungen verfassungsmässiger Eechte sind nur zulässig, wenn sie zur Abwendung der Gefahr notwendig sind. Die Massnahmen sollen nicht länger als nötig in Geltung bleiben.» Erste Voraussetzung einer solchen Bestimmung wäre, dass man sich bewusst sei, dass unter Umständen in Notzeiten doch auch ausserhalb dieses Artikels ausserordentliche Massnahmen nötig sein können und dass dann der Grundsatz des ungeschriebenen Notrechts in die Lücke treten müsste. Man

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würde somit auf eine abschliessende Eegelung des Notrechts verzichten und -neben dem neuen Verfassungsartikel den Grundsatz des ungeschriebenen Notrechts weiterbestehen lassen. Eine Berufung auf ungeschriebenes Notrecht "käme bloss deshalb seltener vor als bisher, weil wenigstens in den Fällen, die im Artikel vorgesehen werden, eine geschriebene Grundlage vorhanden wäre.

!Eine zweite Voraussetzung wäre die, dass die obige Fassung die Einschränkung verfassungsmässiger Eechte limitieren, jedoch die Möglichkeit einer Abweichung ·von andern Verfassungsnormen nicht beschränken will. Auch wenn man von ·diesen beiden Voraussetzungen ausgeht, müsste aber die angeführte Fassung Be· denken erwecken, da auch sie keine präzise Abgrenzung des Notrechts vornehmen kann, eine Berufung auf ungeschriebenes Notrecht nicht ausschliesst und die Befürchtung erwecken muss, dass das Notrecht eine grössere Aus· dehnung erhalten würde als bisher.

Ein Notstandsartikel kann auch nicht bewirken, dass Vorwürfe der Verfassungsverletzung aufhören. Denn über die Verfassungsmässigkeit der einzelnen Notmassnahme würde ebensoviel gestritten werden wie bisher. Im Grunde ge-nommen ist ja auch jetzt nicht der G r u n d s a t z des Notrechts ernstlich be,-stritten, sondern die Meinungen gehen über dessen Anwendung im Einzelfall oft auseinander. Die Frage, ob ein Notstand vorliegt, ob er gerade die .'Massnahme erfordert, die beantragt oder getroffen wird, und ob diese Massnahme sachlich richtig ist, wäre nach der Aufnahme eines Notstandsartikels /genau so umstritten wie bisher. Es ist ja der Inhalt gewisser Noterlasse, der ·da und dort' zu einer Mißstimmung geführt hat. An der Beanstandung des Inhalts von Noterlassen könnte auch die Aufnahme eines Notstandsartikels :nichts ändern. Auch wenn man den Erlass von Notmassnahmen von einer formellen Voraussetzung abhängig macht, wie die vorliegende Initiative es tut, ·so wird zwar die Frage, ob ein Notstand vorhanden ist, gegenstandslos, sobald die formelle authentische Feststellung ergangen ist (z. B. Mobilmachung oder .Ermächtigungsgesetz). Aber auch eine solche Lösung, der zudem schwere Nachteile anhaften (s. Ziff. II hievor), beseitigt keineswegs den Streit über die Verf assungsmässigkeit der einzelnen Notmassnahme; denn ob diese notwendig ·und sachlich richtig ist, kann wie bisher zu
Meinungsverschiedenheiten führen, und daher würde auch der Vorwurf der Verfassungsverletzung sicher nicht ausbleiben. Ja man würde den Behörden sogar noch vorwerfen, dass sie den neuen Verfassungsartikel missbrauchen, der gerade zum Zwecke einer klaren Begrenzung des Notrechts aufgenommen worden sei. Infolgedessen glauben wir nicht, dass ein Notstandsartikel zu einer Stärkung des Vertrauens in die Behörden führen würde. Das Vertrauen hängt nicht etwa von einer schriftlichen Fixierung des Notrechtsprinzips ab, sondern von der Einsicht in das Vorhandensein des Notstandes und in die Notwendigkeit der einzelnen Massnahme.

Wir erinnern daran, dass beispielsweise auch am schweizerischen Juristentag von 1934, wo in der Diskussion über die Verfassungsgerichtsbarkeit auch · das Notrecht berührt wurde, gegen eine ausdrückliche Eegelung des Notrechts .Bedenken geäussert wurden. Ein Notstandsartikel sei äusserst gefährlich und Bundesblatt. 91. Jahrg. Bd. I.

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550 könne auch bei vorsichtigster Formulierung sogar zu einem Leck in der Verfassung werden, das die Freiheitsrechte zum Sinken brächte. Es sei besser,dass die Bundesbehörden ihre Notstandsmassnahmen im vollen Bewusstsein; ihrer Verantwortlichkeit ergreifen; ohne einen ausdrücklichen Verfassungsartikel würden sie sich eher auf Fälle beschränken, in denen ein Notstand wirklich vorliegt. In der Tat sind im Ausland mit Notrechtsartikeln schlechte Erfahrungen gemacht worden. In der Schweiz liegen die Verhältnisse allerdings deshalb anders, weil die demokratischen Grundanschauungen imSchweizervolk tief verwurzelt sind. Zuzugeben ist aber, dass ein Notrechtsartikel für die Behörden ein sehr bequemes Mittel wäre, um Schwierigkeiten aus demt Wege zu gehen. Die Versuchung, ohne zwingende Gründe zu diesem bequemen Mittel zu greifen, könnte im Laufe der Zeit doch dazu führen, dass das Vorliegen eines Notstandes und die Notwendigkeit der Massnahmen allzu leicht bejaht würden. Die Gefahr einer extensiven Auslegung eines Notstandsartikels ist nicht von dei1 Hand zu weisen. Wird das Notrecht in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen, so würde geltend gemacht werden, es sei ein verfassungsmässiges Institut und die Bundesversammlung sei verpflichtet, von diesen ausserordentlichen Kompetenzen Gebrauch zu machen. Die Begehrlichkeit der Interessenten würde jedenfalls noch stark zunehmen ; diese würden den Notstandsartikel anrufen und noch mehr ausserordentliche Massnahmen fordern als bisher. DieGefahr einer extensiven Auslegung würde zwar gemildert, wenn der Notstandsartikel etwa nach dem Vorschlag der Initianten ein der Volksabstimmung unterliegendes Ermächtigungsgesetz als Grundlage für .Noterlasse fordern würde;., eine solche Lösung muss jedoch wegen anderer bedenklicher Nachteile abgelehnt werden.

Aus diesen Gründen kommen wir zum Ergebnis, dass ein Notstandsartikel' die Aufgabe, die ihm zugedacht werden soll, nicht erfüllen kann. Er kann weder eine klare Begrenzung des Notrechts einführen noch zur Stärkung des.

Vertrauens beitragen, noch den Streitigkeiten über die Verfassungsmässigkeit der einzelnen Notmassnahmen ein Ende bereiten. Es dürfte bessere Gewähr gegen eine missbräuchliche Ausschaltung der Volksrechte bieten, wenn kein Notrechtsartikel in der Verfassung steht und man sich nur auf den ungeschriebenen
Grundsatz des Notrechts berufen kann. Ein Notstandsartikel würdeentweder einer übermässigen Ausdehnung ausserordentlicher Massnahmen Vorschub leisten, oder aber, wenn man ihn mit starren Schranken umgibt, unter Umständen lebenswichtige Massnahmen verhindern, es sei denn, dass er dann, -doch unter Berufung auf ungeschriebenes Notrecht überschritten werde.

Die Forderung nach einem Notstandsartikel beruht auf einer Überschätzung formaler mechanischer Rechtsgarantien und des Buchstabens. Politische Garantien gegen eine Einschränkung der Volksrechte haben wir im Zweikammersystem, im Verfassungseid, in der Verantwortung und im Verantwortungsbewusstsein der Bundesbehörden, in der kurzen Amtsdauer und in der öffentlichen Meinung. Die stärkste und wirksamste Garantie liegt in den staatsrechtlichen Anschauungen des Schweizervolkes und seiner Behörden, insbeson-

551 dere in der tief verwurzelten demokratischen Gesinnung und im hohen Wert, den der Schweizerbürger auf unsere Freiheitsrechte und auf die bundesstaatliche Struktur unseres Staats-wesens legt.

Wir sehen daher von einem Gegenentwurf ab und halten es für besser, es beim ungeschriebenen Notrecht bewenden zu lassen. Auch die von der Initiative vorgeschlagene Ausbildung einer besondern Form von Erlassen für die Notmassnahmen (Abtrennung von den dringlichen Bundesbeschlüssen) erscheint nicht als notwendig.

Wir fügen bei, dass gegenwärtig nach Möglichkeit am Abbaii des in der Krisenzeit entstandenen Notrechts gearbeitet wird. Die Ubergangsordnung des Finanzhaushaltes und die Abänderung des Art. 89 der Bundesverfassung sind bereits von Volk und Ständen angenommen worden, und die Eevision der Wirtschaftsartikel ist bei den Eäten hängig. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Wortlaut der Verfassung und der Wirklichkeit wird durch die erwähnten Eevisionen und durch die Überführung anderer Noterlasse, soweit solche noch nicht dahinfallen können, in die ordentliche Eechtssetzung verringert. Verschiedenes, das während des Weltkrieges und in der Krisenzeit als Notrecht erlassen werden musste, hat inzwischen in der ordentlichen Eechtssetzung eine Eegelung gefunden. Bei einem künftigen Notstand können aber vielleicht auch ganz andere Massnahmen nötig werden, und darum kann der Grundsatz des ungeschriebenen Notrechts nicht entbehrt werden.

B. Die übrigen Fragen.

I. Der dringliche Bundesbeschluss.

Seit der Einreichung der Initiative ist durch die Volksabstimmung vom 22. Januar 1939 eine Eeform des dringlichen Bundesbeschlusses zustande gekommen. Art. 89 der Verfassung lautet in der nunmehr geltenden Fassung: «Für Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse ist die Zustimmung beider Eäte erforderlich.

Bundesgesetze, sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse sind dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 80 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird.

Allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, können'durch die Mehrheit aller Mitglieder in jedem der beiden Eäte als dringlich erklärt werden. In diesen Fällen kann die Volksabstimmung nicht verlangt werden. Die Geltungsdauer von dringlichen Bundesbeschlüssen ist zu befristen.

Staatsverträge mit dem Auslande, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind, sind ebenfalls dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird.»

552 Der von der Initiative vorgeschlagene Art. 89, Abs. 2, deckt sich in seinem ersten Satz mit dem jetzt geltenden Abs. 2 (abgesehen von einem unbedeutenden rein redaktionellen Unterschied). Mit Bezug auf den neu vorgeschlagenen zweiten Satz von Abs. 2 verweisen wir auf Ziffer II hiernach.

Als Abs. 4 von Art. 89 schlägt die Initiative folgende Bestimmung vor: «Zeitlich unaufschiebbare allgemeinverbindliche Bundesboschlüsse können bis zum Ablauf der Referendumsfrist und bis zu einer allfälligen Volksabstimmung provisorisch in Kraft gesetzt werden, sofern ihnen mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Eates in namentlicher Abstimmung zustimmt. Sie fallen dahin, wenn sie nicht innert 4 Monaten nach Einreichung der nötigen Unterschriftenzahl dem Volk zur Abstimmung unterbreitet und angenommen werden.» Diese Bestimmung würde den geltenden Abs. 3 ersetzen. Dass die Initiative ihn als Abs. 4 bezeichnet, ist offenbar bloss darauf zurückzuführen, · dass der frühere Art. 89 bloss drei Absätze hatte und dass die Initiative den von ihr vorgeschlagenen neuen Absatz am Schluss des Artikels beifügen wollte. Der geltende Abs. 4 wird durch die Initiative in keiner Weise abgeändert; diese will also -- mit Eecht -- an der bestehenden Eegelung über die Staatsverträge nichts ändern.

In der Umschreibung der Dringlichkeit als zeitlicher Unaufschiebbarkeit stimmt die Initiative mit dem jetzt geltenden Art. 89 («Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt») materiell überein. Auch in bezug auf die zur Dringlicherklärung erforderliche Mehrheit stimmt die Initiative im wesentlichen mit der jetzt geltenden Bestimmung überein; in betreff einer kleinen Nuance und auch in betreff des vorgeschlagenen Namensaufrufs verweisen wir auf unsere Ausführungen (Seite 545) über die entsprechenden Vorschläge der Initianten zu Art. 89Ws, Abs. 3.

Eine wichtige Neuerung wollen die Initianten hinsichtlich der Wirkung der Dringlicherklärung einführen. Bei der Prüfung dieses Vorschlages ist zu beachten, dass die Dringlicherklärung nach der Initiative für Normalzeiten bestimmt ist, also für Erlasse, deren Inhalt .im Rahmen des normalen Verfassungsrechts und der Bundesgesetze bleibt, während die Noterlasse im Art. 89bl8 geregelt würden. Diese Umwandlung des dringlichen Bundesbeschlusses in ein blosses Institut für Normalzeiten
lässt es verständlich erscheinen, dass über den dringlichen Bundesbeschluss noch strengere,, Vorschriften als bisher vorgeschlagen werden. Die Initiative anerkennt, dass es auch in Normalzeiten Fälle geben kann, in denen ein rascheres Bechtssetzungsverfahren als das eines Erlasses mit Eeferendumsklausel unentbehrlich ist. Sie schränkt aber die Wirkung der Dringlicherklärung ein. Der dringliche Bundesbeschluss wird durch die Initiative scharf als eine Überbrückungsmassnahme gekennzeichnet, die über die im Verzug liegende Gefahr hinweghelfen soll. Dieser Gedanke liegt allerdings auch dem jetzt geltenden Art. 89 zugrunde, indem auch er durch die Vorschrift, wonach die Geltungsdauer dringlicher Bundesbeschlüsse zu be-

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fristen ist, für eine bloss vorübergehende Geltungsdauer sorgt und damit den Grundsatz sanktioniert, dass dauerndes Eecht (oder eine Umwandlung in dauerndes Eecht) nur durch einen unter Referendumsvorbehalt stehenden Erlass geschaffen werden darf. Die Initiative ist aber strenger, indem sie der Dringlicherklärung keine andere Bedeutung beilegt als die, eine Inkraftsetzung auf wenige Monate zu ermöglichen. Durch diese Ordnung wollen die Initianten die Bundesversammlung auch veranlassen, die Beschlüsse so zu fassen, dass sie vom Volk womöglich stillschweigend gebilligt werden; so behalte das Volk die Kontrolle, und den Bundesbehörden bleibe die Schlagfertigkeit und das Vertrauen gewahrt. Es ist zuzugeben, dass die Initiative es ganz ausschliesst, dass die Dringlicherklärung zur Umgehung des Referendums führen könne, da nur eine sofortige Inkraftsetzung auf wenige Monate herbeigeführt wird und der dringliche Bundesbeschluss ohne weiteres ausser Kraft treten würde, wenn er in der Volksabstimmung verworfen wird oder wenn binnen 4 Monaten nach Eingang des Referendumsbegehrens keine Volksabstimmung stattfindet. Eine andere Präge ist aber die, ob die Beschränkung der Dringlicherklärung auf eine so kurzfristige Inkraftsetzung eine praktisch brauchbare Lösung darstellt.

Die Initiative spricht von einer «provisorischen» Inkraftsetzung. Immerhin kann der Ausdruck «provisorisch» nicht den Sinn einer bloss vorsorglichen Verfügung haben wie z. B. bei einer vorläufigen Beschlagnahme in einem Prozessverfahren, sondern er soll offenbar nur die zeitlich beschränkte Geltungsdauer des Bundesbeschlusses bezeichnen, nämlich die zunächst bloss vorübergehende Geltungsdauer im Gegensatz zu einer auf die Dauer bestimmten Ordnung. Während seiner kurzen Geltungsdauer aber würde der «provisorisch» in Kraft gesetzte Bundesbeschluss unbedingt gelten. Nur seine Geltungsdauer würde aufhören, wenn er infolge Verwerfung durch das Volk ausser Kraft tritt.

Die Tatsachen, die unter der Herrschaf t des sogenannten Provisoriums eintreten, bleiben auch nachher bestehen und können nicht nachträglich ungeschehen gemacht werden. Auch ist daran festzuhalten, dass der Bundesbeschluss während des Provisoriums zu Recht bestanden hat und dass infolgedessen auch dasjenige, was während seiner Geltungsdauer verfügt worden, rechtsgültig ist. Gleichwohl
wurden im Falle der Verwerfung in der Volksabstimmung erhebliche Schwierigkeiten entstehen. ,,Mit der Verwerfung würde der Bundesbeschluss ausser Kraft treten; die während seiner Geltungsdauer getroffenen Verfügungen würden jedenfalls nicht mit Wirkung ex tunc aufgehoben, sondern es hätte wohl eine Liquidation zu beginnen. Es ist aber unklar, wie dies zu geschehen hätte. Allfällige Strafen für während seiner Geltungsdauer begangene Widerhandlungen könnten wohl noch nachher verhängt und vollstreckt werden. Allfällige Subventionen, die auf Grund des provisorisch in Kraft gesetzten Bundesbeschlusses ausgerichtet worden sind, wären nicht zurückzuerstatten (es sei denn, dass sie gemäss den Subventionsbedingungen zurückzuerstatten wären), und die mit der Subventionsgewährung verbundenen Auflagen würden weiterhin bestehen. Dagegen müsste nach der Verwerfung des Bundesbeschlusses die Ausrichtung von Subventionen ein-

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gestellt werden. Dann käme es aber darauf an, ob die Subvention zufällig vorher ausgerichtet worden ist oder nicht. Ein dringlicher Bundesbeschluss kann auch einen einmaligen Akt enthalten, z. B. eine Kreditgewährung, eine Hilfeleistung oder Beteiligung des Bundes an Unternehmungen usw. Auch da wären die Wirkungen des Ausserkrafttretens nicht klar, und es rnüssten sich erhebliche praktische Schwierigkeiten ergeben.

Aber auch abgesehen vom Fall der Verwerfung in der Volksabstimmung,, der vielleicht nur selten eintreten würde, ist zu bemerken, dass eine Massnahme, die von vorneherein als «provisorisch» hingestellt wird, ihre Wirkung verfehlen kann, so dass der Beschluss seine Aufgabe nicht erfüllen könnte.

Der Umstand, dass der Erlass zunächst bloss für ein paar Monate gelten würde, könnte praktisch seine Durchführung lahmlegen; denn man hätte es zunächst mit einer Schwebezeit zu tun. Der Vollzug des Beschlusses während der Schwebezeit könnte leicht auf starken Widerstand stossen, wenn die Betroffenen damit rechnen, dass der Beschluss nach wenigen Monaten dahinfallen werde.

Nachdem am 22. Januar 1939 eine Eeform des dringlichen Bundesbeschlusses im Sinne der Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel zustande gekommen ist, besteht kein Bedürfnis, den Art. 89 der Bundesverfassung neuerdings zu revidieren. Die jetzige Ordnung hat den Vorteil, dass im Einzelfall beim Erlass eines Bundesbeschlusses dessen Geltungsdauer zu befristen ist. Wird es auf den Ablauf der Frist nötig, den Beschluss zu erneuern oder ihn in dauerndes Eecht überzuführen, so ist ein neuer Eechtssetzungsakt erforderlich, und bei diesem Anlass können die inzwischen gesammelten Erfahrungen verwertet werden. Es ist besser, wenn über das definitive Inkraftbelassen nicht schon wenige Monate nach der erstmaligen Inkraftsetzung entschieden wird, weil in einem so frühen Zeitpunkt sich oft nicht beurteilen lässt, ob eine längere Geltungsdauer nötig wird und ob eventuell gewisse Abänderungen wünschbar werden.

II. Direkte Volksbefragung über Bandesgesetze und Bundesbeschlüsse.

Der zweite Satz des vorgeschlagenen Abs. 2 von Art. 89 lautet : «Die Bäte können über Bundesgesetze und'Bundesbeschlüsse auch von sich aus eine sofortige Volksabstimmung beschliessen.» In dieser Befugnis, Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse direkt zur
Volksabstimmung zu bringen, ohne das Zustandekommen eines Eeferendumsbegehrens abzuwarten, liegt nach Ansicht der Initianten eine neue Möglichkeit raschen Handelns; noch wichtiger sei, dass in schwierigen Situationen die Bundesbehörden selbst an ein Zutrauensvotum des Volkes appellieren können, da dies den Kontakt und das Vertrauen zwischen Volk und Behörden stärken werde. Der Gedanke des Appellierens an ein Zutrauensvotum entstammt der repräsentativen Demokratie. In unserer Eeferendumsdemokratie entscheidet das Volk über eine Sachfrage, nicht über ein Zutrauensvotum. Die Bundesversammlung hat ihre Kompetenzen auszuüben und dafür die Verantwortung

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au tragen. Sie soll die Verantwortung für ihre Beschlüsse nicht auf das Volk abwälzen. Aus diesem Grunde ist ein ähnlicher Vorschlag auch schon seinerzeit im Jahre 1872 abgelehnt worden (Burckhardt, Kommentar, S. 712).

In einzelnen Kantonen bestehen allerdings ähnliche Einrichtungen. Es "trifft auch zu, dass bei Bundesgesetzen und allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen die Möglichkeit einer direkten Volksbefragung an Stelle des fakultativen Eeferendums zu einer gewissen Zeitersparnis führen würde in den Tällen, in denen von vorneherein als sicher angenommen werden kann, das Beferendumsbegehren werde zustande kommen. Meistens steht aber im Zeitpunkt, in dem ein Bundesbeschluss in den Bäten verabschiedet wird, keineswegs -fest, ob das Beferendum zustande kommen werde.

Unklar ist, ob ausser den Bundesgesetzen nur allgemeinverbindliche .Bundesbeschlüsse oder auch einfache Bundesbeschlüsse gemeint sind. Sollte ·sich der zitierte Satz auch auf einfache Bundesbeschlüsse beziehen, so könnte ·die Bundesversammlung einen einfachen Bundesbeschluss, der sonst von ihr .abschliessend zu erlassen ist, dem Volksentscheid unterstellen; diese Kompetenzverschiebung wäre mit einer Verzögerung und mit einer gewissen Kornplizierung verbunden.

III. Unverbindlichkeit von Bundesgesetzen und Bundesbeschlüssen, die unter Missachtung von Art. 89 oder 89bls erlassen werden.

Als Abs. 4 von Art. 89blB schlägt die Initiative vor: « Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, welche unter Missachtung der Art. 89 und 89Ms der Bundesverfassung erlassen wurden, sind für die Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht verbindlich.» Eine derartige Bestimmung würde den Art. 113, Abs. 3, und 114bts, Abs. 3, ·der Verfassung, wonach Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse für das Bundesgericht massgebend (und damit überhaupt für Gerichte und Verwaltungsbehörden wie auch für den Bürger verbindlich) sind, einschränken. Jedes Gericht und jede Verwaltungsbehörde könnten, bevor sie in einem konkreten Fall ein Bundesgesetz oder einen Bundesbeschluss anwenden, frei nachprüfen, ob der Erlass unter Missachtung von Art. 89 oder 89bls gefasst worden ist. Sie hätten den Erlass nicht anzuwenden, wenn sie annehmen, 'dass er unter Verletzung eines von diesen beiden Verfassungsartikeln erlassen worden sei. Es wird also eine generelle akzessorische
Prüfung, ob ein Erlass im ^Einklang mit Art. 89 oder 89Ma ergangen sei, allen Gerichten und Verwaltungsbehörden eingeräumt. Die Initianten lassen sich von der Überlegung leiten, ·dass Erlasse, die verfassungswidrig unter Ausschaltung der Volksentscheidung zustande gekommen seien, für Gericht und Verwaltungsbehörden--und infolgedessen offenbar auch für den Bürger -- unverbindlich sein sollen.

Die Prüfung auf die Verfassungsmässigkeit würde einerseits weniger weit :gehen als nach der am 22. Januar 1939 verworfenen Initiative, indem die "Prüfung sich auf die Übereinstimmung mit Art. 89 und 89blB, nicht auch auf

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die Übereinstimmung mit andern Verfassungsbestimmungen erstrecken würdeAnderseits geht der Vorschlag-insofern weiter, als er allen Gerichten und Verwaltungsbehörden diese Prüfungsbefugnis einräumt, während die verworfeneInitiative nur dem Bundesgericht als Staatsgerichtshof eine Überprüfungder Verfassungsmässigkeit übertragen wollte. Soweit der Vorschlag sich auf Bundesgesetze bezieht, können wir ihm allerdings keine praktische Bedeutungbeimessen. Denn ein Bundesgesetz würde nur dann unter Missachtung von Art. 89 erlassen, wenn es dem fakultativen Referendum (oder der direkten:.

Volksbefragung) entzogen würde, was nicht denkbar ist; ebensowenig kämees vor, dass das in Art. 89bls, Abs. 2, vorgesehene Ermächtigungsgesetz dem.

obligatorischen Eeferendum entzogen würde. Ferner ist auch festzustellen, dass der Vorschlag die Staatsverträge überhaupt nicht einbezieht, da er nur Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, nicht aber Staatsverträge erfasst.

Mit Bezug auf Bundesbeschlüsse aber besitzt der Vorschlag eine ganz gefährliche praktische Tragweite. Bei der Prüfung, ob ein allgemeinverbindlicher Bundesbeschluss unter Missachtung von Art. 89 oder 89bl8 erlassen; worden sei, können sich im wesentlichen folgende Fragen stellen: Ist ein dringlich erklärter Bundesbeschluss wirklich zeitlich unaufschiebbar ? Gegen die sofortige Inkraftsetzung könnte eingewendet werden, sie missachte den. » Art. 89, Abs. 4, der Initiative, weil die zeitliche Unaufschiebbarkeit fehle;, diese Frage könnte offenbar von Verwaltungsbehörden und Gerichten frei, nachgeprüft werden! Was ferner Art. 89bls, Abs. l, anbelangt, könnte jemand, sogar bestreiten, dass Mobilmachungszeiten vorliegen (z. B. bei einer Teilmobilmachung), oder es könnte jemand versuchen zu behaupten, dass ein: Eingriff in ein verfassungsmässiges Eecht seinem Masse nach unzulässig sei, weil er keine blosse Einschränkung, sondern eine Aufhebung des verfassungsmässigen Bechts sei. Was den Abs. 2 von Art. 89bl8 anbelangt, wäre zwar durch das Ermächtigungsgesetz authentisch festgestellt, dass Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot vorliegen; wohl aber könnte darüber gestritten werden, ob diegetroffene Massnahme den Eahmen der erteilten Ermächtigung einhält, insbesondere ob die Wirtschaftsnot gerade diese Massnahme erforderte, ob der Noterlass etwa ein anderes verfassungsmässiges
Eecht verletze, ob er dieEechtsgleichheit wahre und ferner, ob er allfällige im Ermächtigungsgesetz; aufgestellte Schranken überschreite. Die Prüfung aller dieser Fragen erfordert, eine sachliche Bewertung und Abwägung, die eine gründliche Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse und Bedürfnisse voraussetzt. Die Gerichte sind, hiefür ungeeignet, weil sie keinen genügenden Einblick in diese Verhältnisseund Zusammenhänge haben.

Wir verweisen auf die grundsätzliche Stellungnahme in unserm Bericht, vom 17. September 1937 über das seither verworfene Volksbegehren für Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit (vgl. hierüber auch die Verhandlungen der Eäte: StenBull 1937, StE 419--427 und 1938 NE 262--283). Gerade dieFragen, die bei der Prüfung, ob ein Bundesbeschluss unter Missachtung von Art. 89 und 89bl8 erlassen worden sei, zu beantworten sind, sind hochpolitische

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Fragen, die sich für eine gerichtliche Überprüfung gewiss nicht eignen. Geradebeim Notrecht wäre eine solche Prüfungsmöglichkeit äusserst gefährlich. Dasssie auch zu einer bedenklichen Rechtsunsicherheit führen müsste, dürfte ohneweiteres einleuchten. Man stelle sich vor, dass eine untere Instanz einem Bundesbeschluss als verfassungswidrig bezeichnen würde; der Bürger würdesich auf einen solchen Entscheid berufen und den Erlass als unverbindlich behandeln. Ja schon die Tatsache, dass die Unverbindlichkeit vor einer Verwaltungs- oder Gerichtsinstanz geltend gemacht wird, würde schon während der Hängigkeit des Verfahrens sich praktisch als eine Anstiftung auswirken, sich dem Erlass nicht zu fügen. Mag auch schliesslich nach Durchlaufen aller Instanzen die Verbindlichkeit des Bundesbeschlusses und die Unbegründetheitdes Einwandes anerkannt werden, so hätte man doch eine lähmende Rechtsunsicherheit, wenigstens bis der Entscheid der letzten Instanz bekannt würde..

Nebenbei sei auch auf die Unzuträglichkeit hingewiesen, die sich aus abweichenden Entscheidungen der verschiedenen Gerichte oder Verwaltungsbehörden, ergeben würde.

Auf Grund vorstehender Ausführungen empfehlen wir, das Volksbegehren!

betreffend Notrecht und Dringlichkeit mit dem A n t r a g auf V e r w e r f u n g der Abstimmung des Volkes und der Stände zu unterbreiten. Wir fügen bei, dass-die Unterzeichner des Volksbegehrens das Initiativkomitee ermächtigt haben, das Begehren zugunsten eines Gegenvorschlages der Bundesversammlung; zurückzuziehen. Wir haben oben (Abschnitt A III) die Gründe dargelegt,, aus denen wir von der Aufstellung eines Gegenentwurfes Umgang nehmen..

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung; unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 3. April 1939.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,.

Der Vizepräsident:

Pilet-Golaz.

Der Bundeskanzler:

G. Bovet.

-558 ((Entwurf.)

· Bundesbeschluss über

das Volksbegehren betreffend Notrecht und Dringlichkeit.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht des Volksbegehrens betreffend Notrecht und Dringlichkeit -
Das Volksbegehren betreffend Notrecht und Dringlichkeit wird der Abstimmung des Volkes und der Stände unterbreitet.

Dieses Volksbegehren lautet wie folgt: Die unterzeichneten stimmberechtigten Schweizerbürger verlangen die .folgende Teilrevision der Bundesverfassung: Art. 89, Abs. 2, der Bundesverfassung soll lauten: Bundesgesetze sowie allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse müssen, ·überdies dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn ·es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von acht Kantonen verlangt wird. Die Bäte können über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse .auch von sich aus eine sofortige Volksabstimmung beschliessen.

Neu einzufügen ist in Art. 89 der folgende Abs. 4: Zeitlich unaufschiebbare allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse lönnen bis zum Ablauf der Eeferendumsfrist und bis zu einer allfälligen Volksabstimmung provisorisch in Kraft gesetzt werden, sofern ihnen mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Eates in namentlicher Abstimmung ·zustimmt. Sie fallen dahin, wenn sie nicht innert vier Monaten nach Einreichung der nötigen Unterschriftenzahl dem Volk zur Abstimmung unterbreitet und angenommen werden.

559 Ferner ist neu in die. Bundesverfassung einzufügen der folgende neue Artikel 89bls: In Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung können verfassungsmässige Bechte durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse vorübergehend eingeschränkt werden.

In Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot kann durch ein der obligatorischen Volksabstimmung unterliegendes Gesetz den Eäten auf die Dauer von längstens zwei Jahren die Befugnis erteilt werden, durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse die Handels- und Gewerbefreiheit einzuschränken und ausserordentliche finanzielle Massnahmen zu treffen, beides unter Wahrung der Bechtsgleichheit.

Die auf Art. 89bis gestützten Gesetze und Bundesbeschlüsse fallen spätestens ein Jahr nach Beendigung der Mobilmachung im Sinne von Abs. l oder nach Ablauf des Gesetzes im Sinne von Abs. 2 dahin. Sie können ·dem Beferendum entzogen werden, sofern ihnen mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Bates in namentlicher Abstimmung zustimmt.

Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, welche unter Missachtung der Art. 89 und 89Ws der Bundesverfassung erlassen wurden, sind für die Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht verbindlich.

Art. 2.

Dem Volke und den Ständen wird die Verwerfung des Volksbegehrens beantragt.

Art. 3.

Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren betreffend Notrecht und Dringlichkeit. (Vom 3. April 1939.)

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1939

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05.04.1939

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