zu 11.418 Parlamentarische Initiative Gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 22. Januar 2016 Stellungnahme des Bundesrates vom 23. März 2016

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 22. Januar 2016 betreffend die parlamentarische Initiative 11.418 «Gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

23. März 2016

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Johann N. Schneider-Ammann Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2016-0468

3419

BBl 2016

Stellungnahme 1

Ausgangslage

Nach dem Bundesgesetz vom 18. März 19941 über die Krankenversicherung (KVG) übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) die Kosten von Pflegeleistungen bei Krankheit. Sie übernimmt diese Leistungen, sofern sie in einem Spital von Personen durchgeführt werden, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen (Art. 25 Abs. 2 Bst. a KVG). Sie leistet einen Beitrag an die Pflegeleistungen, die aufgrund einer ärztlichen Anordnung und eines ausgewiesenen Pflegebedarfs ambulant, auch in Tages- oder Nachtstrukturen, oder im Pflegeheim erbracht werden (Art. 25a Abs. 1 KVG). Die Pflegeleistungen, die von Pflegefachfrauen und Pflegefachmännern, von Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause und von Pflegeheimen auf ärztliche Anordnung oder im ärztlichen Auftrag erbracht werden können, sind in Artikel 7 der Krankenpflege-Leistungsverordnung vom 29. September 19952 (KLV) umschrieben.

Es sind dies Massnahmen der Abklärung, Beratung und Koordination, Massnahmen der Untersuchung und Behandlung und Massnahmen der Grundpflege. Das KVG unterscheidet zwischen Leistungserbringern, die direkt zulasten der OKP tätig sind ­ u.a. Ärzte, Ärztinnen und Spitäler ­ und Personen oder Organisationen, die Personen beschäftigen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin selbstständig und auf eigene Rechnung Leistungen erbringen (Art. 35 Abs. 2 KVG).

Pflegeheime, Pflegefachpersonen und Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause sind Leistungserbringer, die Pflegeleistungen auf ärztliche Anordnung hin erbringen (Art. 35 Abs. 2 Bst. e und Art. 38 KVG).

Am 16. März 2011 reichte Nationalrat Rudolf Joder die parlamentarische Initiative 11.418 «Gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege» ein. Diese fordert, dass das Bundesgesetz über die Krankenversicherung so angepasst wird, dass Pflegefachpersonen einen bestimmten Anteil an Pflegeleistungen in eigener Verantwortung erbringen dürfen. Damit würde ein Teil der Pflegeleistungen ohne ärztliche Anordnung erbracht werden können. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) gab der parlamentarischen Initiative am 2. Februar 2012 Folge. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-SR) stimmte diesem Beschluss am 16. April
2012 zu.

Die SGK-NR hat einen von einer Subkommission erarbeiteten Vorentwurf beraten und am 15. April 2015 beschlossen, ein Vernehmlassungsverfahren dazu durchzuführen. Sie hat am 22. Januar 2016 die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis genommen, ist auf die Vorlage eingetreten und hat den Entwurf in der Gesamtabstimmung angenommen. Nach den Ausführungen im Bericht der Kommission ist vorgesehen, dass der Teil der Pflegeleistungen, der ohne ärztliche Anordnung erbracht werden könnte, die Massnahmen der Abklärung und Beratung sowie der

1 2

SR 832.10 SR 832.112.31

3420

BBl 2016

Grundpflege beinhalten würde. Massnahmen der Behandlungspflege sollen weiterhin der ärztlichen Anordnung unterliegen.

2

Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Generelle Würdigung der parlamentarischen Initiative

Der Bundesrat hat Verständnis für das Anliegen der parlamentarischen Initiative, den Berufsstatus der Pflegefachpersonen aufzuwerten, und ist sich der Bedeutung der Pflege im Gesundheitswesen bewusst. Er erachtet es indessen als verfehlte Entwicklung, im Sinne der parlamentarischen Initiative zusätzlichen Berufsgruppen Zugang zur direkten Abrechnung zulasten der OKP zu ermöglichen, ohne Lösungen für eine bessere Koordination und eine langfristige Steuerung entwickelt zu haben.

Im Januar 2013 hat der Bundesrat die Strategie «Gesundheit2020» verabschiedet.

Mit verschiedenen Massnahmen in allen Bereichen des Gesundheitssystems sollen die Lebensqualität gesichert, die Chancengleichheit gestärkt, die Versorgungsqualität erhöht und die Transparenz verbessert werden. Die Massnahmen werden schrittweise und unter Einbezug aller wichtigen Akteure umgesetzt, dies mit dem Ziel, das Schweizer Gesundheitssystem optimal auf die kommenden Herausforderungen auszurichten und gleichzeitig bezahlbar zu halten.

Der Nationale Versorgungsbericht für die Gesundheitsberufe3 hat aufgezeigt, dass in der Schweiz zwischen dem prognostizierten Personalbedarf in der Gesundheitsversorgung und den mittelfristig zu erwartenden Bildungsabschlüssen im Pflegebereich ein beträchtlicher Graben entsteht. Mit dem «Masterplan Bildung Pflegeberufe» wurde eine Koordinationsplattform geschaffen, mit der Bund, Kantone und Organisationen der Arbeitswelt Massnahmen zur Erhöhung der inländischen Ausbildungsabschlüsse umgesetzt haben. Der Schlussbericht Masterplan Bildung Pflegeberufe, den der Bundesrat am 3. Februar 2016 in Erfüllung der Postulate Heim 10.3127 und 10.3128 und der Motion CVP-Fraktion 11.3889 verabschiedet hat4, zeigt auf, dass die Attraktivität und die Anzahl der Ausbildungsabschlüsse im Pflegebereich in der Schweiz erhöht wurden. So steigt die Zahl der Abschlüsse in der beruflichen Grundbildung kontinuierlich an: Seit 2007 haben sich die jährlichen Abschlüsse mehr als verdoppelt. Zudem stehen Grundlagen für die Förderung der betrieblichen Ausbildungsplätze zur Verfügung. Erfolgreich war auch die Integration der Pflegeberufe in die Bildungssystematik. Die Ausbildungen reichen von der zweijährigen beruflichen Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest über die Angebote der höheren Berufsbildung bis zu den Bachelor- und
Masterstudiengängen an den Fachhochschulen. Damit wird dem Bedarf der Institutionen des Gesundheitswesens nach Fachkräften mit unterschiedlichsten Abschlüssen Rechnung getragen. Die kontinuierliche Beobachtung des Personalbestandes, der Zahl der ausländischen Fach3

4

GDK-CDS OdA-Santé, Nationaler Versorgungsbericht für die Gesundheitsberufe, 2009.

Der Bericht ist abrufbar unter www.gdk-cds.ch > Dokumentation > Berichte > Personalversorgung > Nationaler Versorgungsbericht Der Bericht ist abrufbar unter www.sbfi.ch > Themen > Berufsbildung > Gesundheitsausbildungen > Masterplan Bildung Pflegeberufe

3421

BBl 2016

kräfte und die Berechnung des Nachwuchsbedarfs ermöglicht eine bedarfsgerechte Steuerung der Ausbildungstätigkeit.

Aufbauend auf den Arbeiten im Masterplan Bildung Pflegeberufe und im Zusammenhang mit der «Fachkräfteinitiative plus» prüfen das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) bis im Herbst 2016 weitere Massnahmen. Diese betreffen insbesondere die Erhöhung der Verbleibdauer im Pflegeberuf, die Erleichterung der Spätrekrutierung und des Wiedereinstiegs im Bereich Pflege sowie die weitere Erhöhung der Abschlusszahlen im Bereich Pflege.

Eine Massnahme die in der Strategie «Gesundheit2020» vorgesehen ist, ist auch die Erarbeitung eines Gesundheitsberufegesetzes. Der Bundesrat hat am 18. November 2015 die Botschaft zum Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe verabschiedet.5 Mit dem Gesetz soll die Qualität der Ausbildungen in den neu auf Fachhochschulstufe erlernten Gesundheitsberufen gefördert und gewährleistet werden, dass die in den Studiengängen vermittelten Kompetenzen auf den Bedarf im Gesundheitssystem abgestimmt sind. Damit soll die Attraktivität der Fachhochschulausbildungen in den Gesundheitsberufen gestärkt werden. Da im Bereich der Gesundheitsberufe das Gefährdungspotenzial für die Patientinnen und Patienten hoch ist, sieht die Vorlage für die Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung eine Bewilligungspflicht mit abschliessend definierten Voraussetzungen und Berufspflichten vor. Die Bewilligung für die Berufsausübung soll den Kantonen obliegen. Diese regeln insbesondere den vorausgesetzten Bildungsabschluss, die Berufspflichten und die Disziplinarmassnahmen. Pflegefachpersonen sind in eigener fachlicher Verantwortung tätig, wenn sie nicht unter Aufsicht einer Fachperson desselben Berufes stehen, beispielsweise selbstständig erwerbstätige Personen oder angestellte Führungskräfte in Institutionen, welche die fachliche Verantwortung für die Berufsausübung der ihnen unterstellten Mitarbeitenden tragen. Dies hat keine direkte Auswirkung auf die mit der vorliegenden parlamentarischen Initiative beabsichtigte Möglichkeit zum Erbringen von Leistungen der Grundpflege zulasten der Krankenversicherung.

Die genannten Anstrengungen sind darauf ausgerichtet, mehr und gut qualifiziertes Gesundheitspersonal
sicherzustellen und die Attraktivität der Pflegeberufe zu fördern. Sie erfüllen damit bereits wichtige Forderungen der parlamentarischen Initiative 11.418.

Ebenfalls im Rahmen der Strategie «Gesundheit2020» soll die koordinierte Versorgung mit Blick auf die Optimierung der Qualität der Behandlung gefördert werden, was nach Ansicht des Bundesrates mit der vorliegenden parlamentarischen Initiative nicht erreicht werden kann (vgl. Ziff. 2.3).

In diesem Zusammenhang wird derzeit auch das Förderprogramm «Interprofessionalität im Gesundheitswesen 2017­2021» konkretisiert. Das vom Bundesrat am 4. März 2016 beschlossene Förderprogramm ist eine Massnahme der Fachkräfteinitiative (FKI) und hat zum Ziel, die Effizienz und die Qualität der Gesundheitsversorgung sowie die Verweildauer des Fachpersonals im Beruf durch stärkere interprofessionelle Zusammenarbeit zu steigern und dadurch zur Eindämmung des 5

BBl 2015 8715

3422

BBl 2016

Fachkräftemangels beizutragen. Dieses Programm sieht insbesondere die Förderung von wissenschaftlichen Grundlagen und Projekten im Bildungs- und Berufsausübungsbereich vor. Sämtliche Fördermassnahmen werden in enger Zusammenarbeit zwischen dem EDI und dem WBF (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, Staatssekretariat für Wirtschaft) und den verschiedenen Verbänden der Leistungserbringer umgesetzt. Die strategische Programmleitung stellt sicher, dass bereits laufenden Aktivitäten und der Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen Rechnung getragen wird.

2.2

Leistungserbringer im heutigen System des KVG

Das KVG unterscheidet heute zwischen Leistungserbringern, die direkt zulasten der OKP tätig sind, und Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin selbstständig und auf eigene Rechnung Leistungen erbringen: ­

Zulasten der OKP tätig sind nach Artikel 35 Absatz 2 KVG u.a. Ärzte und Ärztinnen, Chiropraktoren und Chiropraktorinnen, Hebammen, Spitäler, Geburtshäuser, Pflegeheime, Einrichtungen, die der ambulanten Krankenpflege durch Ärzte und Ärztinnen dienen, sowie Personen, die auf ärztliche Anordnung oder im ärztlichen Auftrag Leistungen erbringen, und Organisationen, die solche Personen beschäftigen.

­

Die Personen, die auf ärztliche Anordnung hin Leistungen erbringen, sind in Artikel 46 der Verordnung vom 27. Juni 19956 über die Krankenversicherung (KVV) genannt: Es sind dies, neben den Pflegefachpersonen, die Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen, Ergotherapeuten und Ergotherapeutinnen, Logopäden und Logopädinnen sowie die Ernährungsberater und Ernährungsberaterinnen. Auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen können nach Artikel 35 Absatz 2 Buchstabe e KVG auch Organisationen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin tätige Personen beschäftigen. Die Voraussetzungen dafür, dass diese Organisationen zulasten der OKP Leistungen erbringen können, sind in den Artikeln 51­52b KVV festgehalten. Pflegefachpersonen sind namentlich in Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause beschäftigt. Analog zum Spital und zum Pflegeheim tritt in dieser Konstellation nicht die Pflegefachperson, sondern die Organisation der Krankenpflege und Hilfe zu Hause gegenüber der OKP als Leistungserbringer auf.

In seiner Botschaft vom 6. November 19917 über die Revision der Krankenversicherung äusserte sich der Bundesrat zum System und der Rolle des Arztes oder der Ärztin wie folgt: «Die Grundversorgung für die Patienten soll, wie auch heute, in erster Linie unter der Obhut und Führung des Arztes erbracht werden, der sozusagen in einer «Scharnierfunktion» den Leistungsbedarf und die Bedarfsdeckung in zweckmässiger und optimaler Form [...] zusammenführen soll. Er kann und wird dies im Zusammenwirken mit den anderen Leistungserbringern tun. In ähnlicher, 6 7

SR 832.102 BBl 1992 I 93 163

3423

BBl 2016

aber auf sein Gebiet zugeschnittener Form wird dies, wie auch heute, der Chiropraktor tun. [...] Für die anderen, im Gesetz bewusst nicht abschliessend aufgezählten medizinisch-therapeutischen Berufe und Berufe der spitalexternen sowie der Hauskrankenpflege [heute: Krankenpflege ambulant beziehungsweise zu Hause] gilt demgegenüber, wie heute, dass sie nur auf ärztliche Anordnung für die soziale Krankenversicherung tätig werden sollen. Angestrebt wird damit eine möglichst gute Koordination von Diagnose und Therapie, was der Qualitätssicherung und der Wirtschaftlichkeit der Leistungen, und damit letztlich dem Interesse der Versicherten und der Patienten dienen soll.» Die Eidgenössischen Räte haben die vom Bundesrat vorgeschlagene Ordnung übernommen.

Mit der parlamentarischen Initiative sollen nun die Pflegefachpersonen die Abklärung, Beratung und Koordination sowie die Massnahmen der Grundpflege selbstständig und ohne ärztliche Anordnung erbringen können. Die Behandlungspflege soll wie bis anhin auf ärztliche Anordnung hin erfolgen. Neben den Ärzten und Ärztinnen sowie den Chiropraktoren und Chiropraktorinnen sollen damit auch Pflegefachpersonen in gewissen Bereichen selbstständig tätig werden und zulasten der OKP abrechnen können. Das würde eine klare Änderung des bisherigen Systems im KVG bedeuten. Die Scharnierfunktion, die heute mehrheitlich bei den Ärzten und Ärztinnen lag, würde zu einem Teil auf die Pflegefachpersonen übergehen.

Dadurch würde die Anzahl der Personen, die eine koordinierende Funktion übernehmen stark steigen. Zur Einschätzung der Grössenordnung können folgende Zahlen beigezogen werden: Im Medizinalberuferegister waren im Jahr 2014 ca.

30 000 Ärzte und Ärztinnen mit Berufsausübungsbewilligung verzeichnet. Es gab 2014 gemäss der Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 20148 des Bundesamtes für Statistik (BFS) ca. 14 000 Pflegefachpersonen im Bereich der Spitex, gemäss der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen 20149 des BFS ca. 18 000 Pflegefachpersonen in Alters- und Pflegeheimen und gemäss Krankenhausstatistik 201410 des BFS ca. 85 000 Pflegepersonen in Spitälern.

2.3

Bereits initiierte Förderung der koordinierten Versorgung

Patienten und Patientinnen, die an mehreren Krankheiten leiden, konsultieren oft viele verschiedene Fachpersonen. Diese behandeln sie aus der Perspektive ihres Fachbereichs und ihre Leistungen erfolgen oft zu wenig koordiniert. So sind Übergänge (z.B. von einer stationären Behandlung in eine ambulante Versorgung zu Hause) nicht optimal organisiert. In der Summe können die ungenügend koordinier8

9

10

BFS, Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 2014 ­ Detaillierte Daten, Tabelle 11.1. Die Statistik ist abrufbar unter www.bfs.admin.ch > Themen > 14 ­ Gesundheit > Gesundheitsdienste und Personal > Hilfe und Pflege zu Hause > Detaillierte Daten BFS, Statistik der sozialmedizinischen Institutionen, 2014 ­ Provisorische Standardtabellen, Tabelle 7-A. Die Statistik ist abrufbar unter www.bfs.admin.ch > Themen > 14 ­ Gesundheit > Gesundheitsdienste und Personal > Sozialmedizinische Institutionen > Detaillierte Daten BFS, Krankenhausstatistik: Provisorische Standardtabellen 2014, Tabelle B1. Die Statistik ist abrufbar unter www.bfs.admin.ch > Themen > 14 ­ Gesundheit > Gesundheitsdienste und Personal > Krankenhäuser > Detaillierte Daten

3424

BBl 2016

ten Behandlungen zu einer Über-, Unter- oder Fehlversorgung führen und damit die Qualität der Versorgung gefährden. Mit der Managed-Care-Vorlage wollten Bundesrat und Parlament bessere Rahmenbedingungen für die integrierte Versorgung schaffen.11 Nach der Ablehnung der Vorlage in der Volksabstimmung vom 17. Juni 2012 gilt es nun, neue Ansätze zu verfolgen, um die Rahmenbedingungen für die Koordination der Versorgung entlang der Patientenpfade zu verbessern.

Einen ersten Schritt dazu stellte der 2012 lancierte «Masterplan Hausarztmedizin» dar, der u.a. das Ziel verfolgte, die Hausarztmedizin und die medizinische Grundversorgung zu stärken, um eine allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität zu gewährleisten. Nach Abschluss des Masterplans und vor dem Hintergrund des neuen Artikels 117a der Bundesverfassung12 zur medizinischen Grundversorgung wurde am 6. Oktober 2015 das Forum medizinische Grundversorgung gegründet, in dem sich Bund und Kantone weiterhin regelmässig mit einer Vielzahl von Akteuren im Gesundheitswesen austauschen und gemeinsam Prioritäten für die zukünftige Entwicklung der Gesundheitsversorgung setzen können.

Der Masterplan hatte zudem zum Ziel, neue Versorgungsmodelle zu fördern, die sich durch eine effiziente und koordinierte Zusammenarbeit auszeichnen. So lancierte der Bundesrat Anfang 2016 das Nationale Forschungsprogramm «Gesundheitsversorgung», für das 20 Millionen Franken bereitgestellt wurden und das zum Ziel hat, Erkenntnisse zur Struktur und Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung in der Schweiz zu gewinnen. Im Zentrum des Programms steht die Optimierung der Ressourcenzuteilung durch Verminderung der Unter- und Überbeanspruchung von Leistungen. Ein besonderer Schwerpunkt soll zudem auf der Prävention und der Behandlung von mehrfachen und chronischen Erkrankungen liegen.

Schliesslich soll das Forschungsprogramm dazu beitragen, Verfügbarkeit, Verknüpfung und Vergleichbarkeit von Gesundheitsdaten zu verbessern.

Auch das bereits erwähnte Förderprogramm «Interprofessionalität im Gesundheitswesen 2017­2021» (siehe Ziff. 2.1) hat zum Ziel, die Koordination von Gesundheitsleistungen zu verbessern und dadurch die Qualität und die Effizienz der Leistungen zu erhöhen.

Die Förderung der koordinierten Versorgung ist umso wichtiger, als die Zahl der behandlungs-
und kostenintensiven Patienten und Patientinnen zunehmen wird: Es wird in den kommenden Jahren mehr ältere Menschen geben, die Behandlungsmöglichkeiten nehmen aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts stetig zu und die (Über-)Lebenszeit schwerkranker Patienten und Patientinnen wird länger.

Die Förderung der koordinierten Versorgung ist deshalb eine der zentralen Massnahmen der Strategie «Gesundheit2020» (Ziel 1.1 «Förderung zeitgemässer Versorgungsangebote»). Im Zentrum stehen auch hier die Menschen und ihr Wohlbefinden. Ihre Lebensqualität soll gewahrt oder verbessert werden.

Die koordinierte Versorgung wird definiert als die Gesamtheit der Verfahren, die dazu dienen, die Qualität der Behandlung der Patienten und Patientinnen über die ganze Behandlungskette hinweg zu verbessern, wobei ­ wo sinnvoll ­ auch Präven11 12

BBl 2011 7441 SR 101

3425

BBl 2016

tionsaspekte einfliessen sollen. Das heisst, der Patient oder die Patientin soll im Zentrum stehen und die Integration und Koordination sollen entlang der Patientenpfade erfolgen. Die Stärkung der koordinierten Versorgung soll damit zu einem gezielteren Einsatz der personellen und infrastrukturellen Ressourcen führen. Im Rahmen der Strategie «Gesundheit2020» haben bereits einige Projekte solche Koordinationsthemen für einzelne Patientengruppen aufgenommen (Krebsstrategie, Demenzstrategie, Strategie Palliative Care, Konzept seltene Krankheiten). Andere haben explizit den Auftrag, die Koordination von Behandlungsprozessen mit geeigneten Kommunikationsinstrumenten zu unterstützen (E-Medikation, elektronisches Patientendossier, digitale Unterstützung von Behandlungsprozessen). Nach einer ersten Diskussion mit den Kantonen im Rahmen des Dialogs Nationale Gesundheitspolitik im Mai 2014 wurde die 2. Nationale Konferenz «Gesundheit2020» im Januar 2015 dem Thema «Koordinierte Versorgung» gewidmet. Vorgängig wurden verschiedene Grundlagenstudien zur besseren Charakterisierung der leistungs- und kostenintensiven Patienten und Patientinnen sowie eine Online-Befragung der Konferenzteilnehmenden zu den besonders zu beachtenden Schnittstellen, zu möglichen Massnahmen und bestehenden Herausforderungen durchgeführt. Auf der Grundlage dieser Arbeiten wurden anschliessend vier leistungsintensive Patientengruppen mit hohem Koordinationsaufwand bezeichnet, bei denen der Handlungsbedarf besonders gross ist: ältere, gebrechliche Menschen («Frail Elderly»), chronisch Kranke (inkl. Multimorbidität), psychisch Kranke sowie Krebspatienten und -patientinnen.

Zur Förderung der koordinierten Versorgung werden die weiteren Arbeiten unter Berücksichtigung der bestehenden Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen sowie unter Beachtung des Äquivalenzprinzips nun auf drei Ebenen vorangetrieben: ­

Massnahmen für spezifische Patientengruppen lancieren, die viele und aufwendige Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen;

­

Rahmenbedingungen verbessern, z.B. in den Bereichen Bildung, elektronisches Patientendossier und Finanzierung;

­

Aktivitäten und Projekte zur Förderung der koordinierten Versorgung der laufenden Strategien und Massnahmen der Strategie «Gesundheit2020», z.B.

Palliative Care, Demenz, Qualität oder Nichtübertragbare Krankheiten, priorisieren.

Die oben erwähnten Massnahmen in Verbindung mit jenen im Bereich der Gesundheitsberufe erscheinen dem Bundesrat für die gewünschte Prozessoptimierung während der gesamten Behandlungskette zweckmässiger als die Änderung der gesetzlichen Kompetenzen zur Leistungserbringung, wie dies die der vorliegende Gesetzesentwurf vorsieht.

3426

BBl 2016

2.4

Gefahr der Kostensteigerung und Mengenausweitung

Eine grosse Anzahl von Kantonen und die Versicherer äusserten sich in der Vernehmlassung zum Vorentwurf der SGK-NR betreffend der parlamentarischen Initiative kritisch zur Mengenausweitung und Kostenfolge der vorgeschlagenen Regelung. Der Bundesrat teilt diese Bedenken. Er geht bei der Umsetzung der vorgeschlagenen Gesetzesänderung von einer erheblichen Mehrbelastung für die OKP aus, die auch mit einer zeitlichen Befristung der Regelung sowie durch die Vertragsfreiheit und die bedarfsabhängige Zulassung, wie sie in der Gesetzesänderung vorgeschlagen werden, nicht aufgefangen werden kann.

Mit der vorgeschlagenen Regelung fällt sowohl bei der Krankenpflege im Pflegeheim als auch bei der ambulanten Pflege das Erfordernis einer ärztlichen Anordnung für die Grundpflege sowie die Abklärung, Beratung und Koordination weg. Die betroffenen Leistungserbringer können folglich Leistungen gleich selber erbringen und abrechnen. Aus der ökonomischen Perspektive besteht damit ein Anreiz zur Mengenausweitung. Dies zeigt sich beispielsweise auch bei den ärztlichen Leistungen, die in der aktuell gültigen Tarifstruktur TARMED teilweise nicht mehr sachgerecht bewertet sind. Eine nachträgliche Korrektur von solchen Anreizen erweist sich in der Regel als äusserst schwierig (vgl. dazu die Anpassung der Tarifstruktur TARMED in der Verordnung vom 20. Juni 201413 über die Anpassung von Tarifstrukturen in der Krankenversicherung oder auch die Botschaft vom 18. Februar 201514 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Steuerung des ambulanten Bereichs)).

Krankenpflege im Pflegeheim Im Pflegeheim ist der Anreiz zur Mengenausweitung im Bereich der Abklärung, Beratung und Koordination sowie der Grundpflege eher gering: Die OKP vergütet einen Beitrag pro Tag in Abhängigkeit der Pflegebedarfsstufe des Patienten oder der Patientin, jedoch unabhängig davon, welche Art von Leistungen gemäss KVG erbracht werden. Wenn in dieser Konstellation mehr Leistungen der Grundpflege sowie der Abklärung, Beratung und Koordination erbracht werden, steigen die Kosten in der OKP für die Pflegeheime nicht automatisch, sondern nur dann, wenn eine Einteilung in eine höhere Pflegebedarfsstufe erfolgt. Mehrkosten für die OKP können dann entstehen, wenn sich die Beurteilung des Pflegebedarfs unter der vorgeschlagenen Regelung derart
verändert, dass die Patienten und Patientinnen von den Pflegefachpersonen tendenziell in höhere Pflegebedarfsstufen eingeteilt werden, als dies der Fall wäre, wenn noch die Zustimmung des Arztes oder der Ärztin benötigt würde.

Im Jahr 2014 entrichtete die OKP Bruttoleistungen von rund 1,8 Milliarden Franken an die Pflege im Pflegeheim.15 Der Branchenverband der Krankenversicherer 13 14 15

SR 832.102.5 BBl 2015 2317 Bundesamt für Gesundheit, Statistik der obligatorischen Krankenversicherung 2014, Tabelle 2.17. Die Statistik ist abrufbar unter www.bag.admin.ch > Themen > Krankenversicherung > Statistiken

3427

BBl 2016

Santésuisse rechnet für den Bereich der Pflegeheime mit Mehrkosten von 30 Millionen Franken pro Jahr, wenn die vorgeschlagene Regelung angenommen wird.16 Auf diese Mehrkosten kommt Santésuisse unter der Annahme, dass sich unter der vorgeschlagenen Regelung bei 10 Prozent der Patienten und Patientinnen die Beiträge um eine Stufe erhöhen (von Beitragsstufe 6 mit 54 Fr./Tag, da die Heimbewohner und Heimbewohnerinnen im Schnitt dort eingestuft werden auf Beitragsstufe 7 mit 63 Fr./Tag). In diesen Berechnungen nicht berücksichtigt ist die zu erwartende und von der Vorlage unabhängige Kostenzunahme aufgrund der medizinischen, demografischen, gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Entwicklungen in den nächsten Jahren. Der Bundesrat erachtet die von Santésuisse berechneten Mehrkosten als realistisch. Eine derartige Kostensteigerung würde zulasten der OKP gehen und sich entsprechend negativ auf die Entwicklung der Prämienhöhe auswirken.

Zudem könnten weitere Mehrkosten für die Patienten und Patientinnen (nicht von Sozialversicherungen gedeckte Pflegekosten, höchstens 20 % des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Pflegebeitrags) sowie insbesondere für die Kantone als Restfinanzierer entstehen.

Ob diese Kostenfolgen in der Folge der vorgeschlagenen Gesetzesänderung tatsächlich eintreten werden, kann nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden, auch wenn dies aus der Sicht des Bundesrates als plausibel betrachtet wird. Zu den Pflegeheimen veröffentlicht das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sowohl ein Monitoring der Kosten pro Versicherten17 als auch Kennzahlen zu Versorgungsaspekten und Finanzen.18. Eine auffällige Entwicklung in Bezug auf Kosten und Personal in der Folge der vorgeschlagenen Gesetzesänderung würde in Bezug auf den Pflegeheimbereich innert nicht allzu langer Zeit sichtbar.

Ambulante Krankenpflege Der Beitrag der OKP an die Leistungen der selbstständig tätigen Pflegefachpersonen und der Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause, die Pflegefachpersonen beschäftigen, bemisst sich nach den geleisteten Stunden. Aus der ökonomischen Perspektive besteht für diese Leistungserbringer ein starker Anreiz zur Erbringung von möglichst vielen Leistungen, denn mit jeder für die Abklärung, Beratung und Koordination sowie die Grundpflege eingesetzten Stunde steigen die Kosten der OKP und der
Restfinanzierung, die von den Kantonen zu regeln ist. In diesem Sinne ist anzunehmen, dass sich für selbstständig tätige Pflegefachpersonen und für Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause neue Möglichkeiten, Einkommen zu generieren, ergeben würden: Auf Begehren der Person, die nach eigenem Ermessen Pflege benötigt, wird der Pflegebedarf durch eine Fachperson abgeklärt und die Leistung wird, allenfalls von der gleichen Fachperson, erbracht. Wenn die Pflegefachperson direkten Zugang zum Patienten oder zur Patientin hat, entscheidet somit die Fachperson, die die Pflegediagnose stellt, über die Notwendigkeit und, im Rahmen der in der KLV definierten Leistungen, über die Art und das Ausmass der von 16 17

18

Stellungnahme Santésuisse vom 30. Juni 2015, Ziff. C Das Monitoring der Krankenversicherungs-Kostenentwicklung ist abrufbar unter: www.bag.admin.ch > Themen > Krankenversicherung > Statistiken > Graph. Darstellungen > Kostenmonitoring Die Kennzahlen zu den Pflegeheimen sind abrufbar unter: www.bag.admin.ch > Themen > Krankenversicherung > Statistiken > Pflegeheime

3428

BBl 2016

ihr erbrachten Leistungen, ohne dass zwingend ein Arzt oder eine Ärztin konsultiert werden muss. Das Kostenmonitoring des BAG umfasst die Spitex (Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause), nicht aber die selbstständig tätigen Pflegefachpersonen, sodass in diesem Bereich im Falle einer Annahme der vorgeschlagenen Gesetzesänderung die daraus entstehenden Auswirkungen auf die Kosten der OKP nicht in vollem Umfang verfolgt werden können.

Heute erfolgt die Kontrolle der Rechnungen von selbstständig tätigen Pflegefachpersonen überwiegend in Form von Stichproben. Sollten Pflegeleistungen ohne Einbezug eines Arztes oder einer Ärztin von den Pflegefachpersonen nach eigenem Ermessen erbracht werden, dürfte diese Art der Kontrolle nicht ausreichend sein, um rechtzeitig unerwünschte Entwicklungen festzustellen. Mindestens in diesem Bereich dürfte eine Änderung der Kontrollpraxis der Versicherer angezeigt sein.

Im Jahr 2014 entrichtete die OKP Bruttoleistungen von rund 736 Millionen Franken an die Krankenpflege zu Hause, die durch selbstständig tätige Pflegefachpersonen und durch Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause, die Pflegefachpersonen beschäftigen, erbracht wurde19.

Gestützt auf die Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause des Bundesamts für Statistik lässt sich folgende Schätzung erstellen: Im Jahr 2014 sind für 225 660 Klienten und Klientinnen 12 639 887 Stunden Pflege zu Hause und ambulant zulasten der OKP verrechnet worden20. Dies bedeutet, dass: ­

im gesamtschweizerischen Durchschnitt pro Klient und Klientin 56 Stunden der Grund- und Behandlungspflege sowie Leistungen der Abklärung, Beratung und Koordination erbracht wurden;21 und

­

im gesamtschweizerischen Durchschnitt 28 Klienten und Klientinnen pro 1000 Einwohner und Einwohnerinnen Leistungen der Pflege zu Hause und ambulant bezogen haben.22

60 Prozent der zulasten der OKP verrechneten Stunden betrafen die Grundpflege, 7 Prozent Leistungen der Abklärung, Beratung und Koordination23. Für die Leistungen der Grundpflege vergütet die OKP einen Beitrag von 55 Franken pro Stunde, für die Leistungen im Rahmen von Abklärung, Beratung und Koordination einen solchen von 80 Franken. Für jeden Patienten und jede Patientin, der oder die Leistungen der Abklärung, Beratung und Koordination sowie Leistungen der Grundpflege benötigt, gibt die OKP durchschnittlich knapp 2200 Franken (60 % * 56 Std. * 55 Fr. + 7 % * 56 Std. * 80 Fr.) pro Jahr aus. Die maximale Kostenbeteiligung der Patienten und Patientinnen bleibt unverändert. Die Kantone müssen die Restfinanzierung regeln. Diese dürfte rund 30 Prozent der von der OKP getragenen Kosten ausmachen (also ca. 660 Fr. pro Patient/in)24. Unter der Annahme, dass die Anzahl 19 20

21 22 23 24

BAG, Statistik der obligatorischen Krankenversicherung 2014, Tabelle 2.17. Die Statistik ist abrufbar unter www.bag.admin.ch > Themen > Krankenversicherung > Statistiken BFS, Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 2014, Tabelle 12.1. Die Statistik ist abrufbar unter www.bfs.admin.ch > Themen > 14 ­ Gesundheit > Gesundheitsdienste und Personal > Hilfe und Pflege zu Hause BFS, Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 2014, Tabelle 7.7 BFS, Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 2014, Tabelle 7.9 BFS, Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 2014, Tabelle 12.1 BFS, Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 2014, Tabelle 15.2

3429

BBl 2016

der Personen, die Spitex-Leistungen in Anspruch nehmen, um 10 Prozent zunimmt, weil die Pflegefachperson direkt kontaktiert werden kann, würde die OKP zusätzlich mit rund 50 Millionen Franken (2200 Fr. * 225 660 Personen * 10 %) belastet und die Kantone im Umfang von etwa 15 Millionen Franken (660 Fr. * 225 660 * 10 % bzw. 30 % * 50 Mio. Fr.). Santésuisse rechnet im Vergleich dazu für den ambulanten Bereich mit einer jährlichen Kostensteigerung von 20­100 Millionen Franken.

Dabei ging Santésuisse davon aus, dass rund bis ¾ der Bruttoleistungen der OKP (671 Mio. Fr. im Jahr 2013) an die Krankenpflege zu Hause Leistungen der Grundpflege und der Abklärung, Beratung und Koordination sind und dass bei Verrechnung dieser Pflegeleistungen ohne ärztliche Anordnung mit einer Kostensteigerung von 5­20 Prozent gerechnet werden muss ( * 671 Mio. Fr. * 5 % = 22 Mio. Fr.; ¾ * 671 Mio. Fr. * 20 % = 101 Mio. Fr.). Mit Zahlen aus dem Jahr 2014 (OKPBruttoleistungen von 736 Mio. Fr.) und derselben Berechnungsart ergeben sich Mehrkosten von 25­110 Millionen Franken. Auch in diesen Berechnungen ist die zu erwartende und von der Vorlage unabhängige Kostenzunahme aufgrund der medizinischen, demografischen, gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Entwicklungen in den nächsten Jahren nicht berücksichtigt.25 Über 58 Prozent der Stunden der Pflege zu Hause und ambulant werden für Personen über 80 Jahren erbracht, weitere 24 Prozent für Personen zwischen 65 und 80 Jahren.26 Die demografisch bedingte Zunahme der pflegebedürftigen Personen wird auch ohne angebotsbedingte Mengenausweitung zu einer grossen Herausforderung für die Finanzierbarkeit der OKP und für die privaten Haushalte führen. Weil ein grosser Teil der Kantone das Prinzip «ambulant vor stationär» ihrer Strategie für die Langzeitpflege zugrunde gelegt hat27, ist davon auszugehen, dass sich der Bedarf für Grundpflege zu Hause in Zukunft zusätzlich erhöht. In diesem Sinne dürften sich die erwähnten Annahmen an der unteren Grenze bewegen und die Kostenzunahme deutlich höher einzuschätzen sein.

Abschliessend ist zu erwähnen, dass die vorgeschlagene Regelung sicherlich auch Potenzial für finanzielle Einsparungen durch Vermeidung von Doppelspurigkeiten bietet. Der Bundesrat ist daher im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben offen für Möglichkeiten der Vereinfachung im administrativen Bereich, damit die administrative Belastung des Pflegepersonals verringert werden kann.

2.5

Präjudizwirkung

Es ist davon auszugehen, dass bei einer Annahme der vorgeschlagenen Gesetzesanpassung entsprechende analoge Begehrlichkeiten bei anderen medizinisch-therapeutischen Berufen wie beispielsweise im Bereich der Physiotherapie, der Ergotherapie oder der Logopädie geweckt würden. Im Rahmen der Vernehmlassung machten 25 26 27

Stellungnahme Santésuisse vom 30. Juni 2015, Ziff. C BFS, Statistik der Hilfe und Pflege zu Hause 2014, Tabelle 12.1 Schweizerisches Gesundheitsobservatorium OBSAN, Rapport 69 «Soins de longue durée dans les cantons: un même défi, différentes solutions» (2016). Der Bericht ist auf Französisch abrufbar unter www.obsan.admin.ch > Gesundheitsthemen > Alter und Langzeitpflege > Langzeitpflege

3430

BBl 2016

denn auch diverse Stakeholder (u.a. Santésuisse) in ihrer Stellungnahme auf diesen Punkt aufmerksam. Eine ungebremste, kaum einschränkbare Mengenentwicklung wäre die unerwünschte Folge.

2.6

Ablehnung der partiellen Vertragsfreiheit

Um die Auswirkungen auf die Menge der Pflegeleistungen und dementsprechend auch auf die Prämien zu begrenzen, sieht eine der begleitenden Massnahmen des Entwurfs vor, die Pflegefachpersonen, die ihre Leistungen direkt abrechnen wollen, zu verpflichten, einen Zulassungsvertrag mit einem oder mehreren Versicherern abzuschliessen (Art. 40a des Entwurfs). Diese Bestimmung würde zu einem Bruch mit der aktuellen Situation führen, welche den Versicherern Kontrahierungszwang dadurch auferlegt, dass die Leistungserbringer zugelassen sind, wenn sie die Voraussetzungen der Artikel 36­40 KVG erfüllen. Der Bundesrat ist skeptisch gegenüber der ­ im vorliegenden Fall partiellen ­ Aufhebung des Kontrahierungszwangs.

Er machte dies bereits deutlich, als er am 29. Mai 2013 die Ablehnung der Motion 13.3265 Stahl «Gegenvorschlag zum Zulassungsstopp für Ärzte» empfahl. Die Abschaffung des Kontrahierungszwangs wurde im Übrigen von Parlament bereits mehrfach verworfen, insbesondere mit der Ablehnung der Motion 08.3929 ForsterVannini «Ablösung des Zulassungsstopps für Ärzte durch eine freiheitliche und praxistaugliche Lösung» und der Motion 12.3638 Gutzwiller «KVG. Vertragsfreiheit einführen» mit dem Nichteintreten auf die Vorlage des Bundesrates zur Vertragsfreiheit28, sowie der Ablehnung der Motion 13.3265 Stahl «Gegenvorschlag zum Zulassungsstropp für Ärzte» am 2. März 2016. Die Befürchtung, dass die Auswahl der zulasten der OKP tätigen Leistungserbringer durch die Versicherer de facto zu einer Abschaffung der freien Wahl des Leistungserbringers führt, war auch ein entscheidender Faktor bei der Ablehnung der Managed-Care-Vorlage29 durch das Volk am 17. Juni 2012. Im Hinblick auf die Vorbereitung einer langfristig anwendbaren Lösung, um den bis 30. Juni 2016 geltenden Artikel 55a KVG abzulösen, führte der Bundesrat (am 2. September 2013 und am 11. Februar 2014) Gespräche am runden Tisch mit den wichtigsten interessierten Partnern durch, um verschiedene Möglichkeiten zu beurteilen. Diese Gespräche haben bestätigt, dass die Vertragsfreiheit ­ in verschiedenen Formen ­ keine mehrheitsfähige Lösung darstellt. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass sich das Parlament derzeit mit dieser Frage befasst. Die Diskussionen, die entstanden sind, nachdem das Parlament am 18. Dezember 2015 den vom Bundesrat mit der Botschaft vom
24. März 2015 30 zur Änderung des KVG vorgelegten Entwurfs zur Steuerung des ambulanten Bereichs abgelehnt hat, führen dazu, dass der Bundesrat verschiedene Szenarien prüfen wird.

So wurde er namentlich beauftragt, im Bericht, der im von der SGK-SR eingereichten Postulat 16.3000 «Alternativen zur heutigen Steuerung der Zulassung von Ärztinnen und Ärzten» gefordert wird, aufzuzeigen, «ob den Versicherern die Möglichkeit eingeräumt werden kann, mit einzelnen Leistungserbringern keinen Vertrag abzuschliessen, wenn diese zu einer Kategorie gehören, bei der die Anzahl der 28 29 30

BBl 2004 4293 BBl 2011 7441 BBl 2015 2317

3431

BBl 2016

Leistungserbringer über [einer] vom Bundesrat definierten Obergrenze liegt.» Unter Berücksichtigung der kommenden Diskussionen und der wahrscheinlichen Entwicklungen in diesem Bereich, erachtet es der Bundesrat nicht als zweckmässig, das geltende Recht lediglich für eine einzelne Gruppe von Gesundheitsfachleuten anzupassen. Er bevorzugt eine vollständige und umfassende Prüfung dieser Möglichkeit, in die dann auch der konkrete Fall der Pflegefachpersonen einbezogen werden kann.

2.7

Auswirkung der befristeten bedarfsabhängigen Zulassung

Nach Artikel 55a KVG hat der Bundesrat bis zum 30. Juni 2016 die Möglichkeit, die Zulassung von Ärztinnen und Ärzten, die in Praxen, Einrichtungen oder im ambulanten Bereich von Spitälern zulasten der OKP tätig sind, von einem Bedürfnis abhängig zu machen. Gemäss dem vorliegenden Entwurf zur Änderung des KVG soll diese Zulassungsbeschränkung nun ebenfalls auf Pflegefachpersonen, die ihre Tätigkeit selbstständig oder unselbstständig ausüben, und auf Pflegefachpersonen, die ihre Tätigkeit in einer Organisation nach Artikel 35 Absatz 2 Buchstabe d bis KVG (Erlassentwurf) oder im ambulanten Bereich von Spitälern nach Artikel 39 KVG ausüben, ausgeweitet werden. Das Anliegen, die Zulassungsbeschränkung auf die genannten Personen auszuweiten, entspricht einer gewissen Logik, könnte mit dieser Massnahme doch auch im Bereich der selbstständig erbrachten Pflegeleistungen die Kostenentwicklung eingedämmt werden. Wie eingangs erwähnt, ist aber die Zulassungsbeschränkung befristet und bei einem Scheitern der parlamentarischen Initiative der SGK-NR 16.401 «Verlängerung von Artikel 55a KVG» würde die flankierende Massnahme zur Beschränkung der Mengenausweitung bereits per 1. Juli 2016 entfallen.

3

Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat ist sich der Bedeutung der Pflegefachpersonen für ein funktionierendes Gesundheitswesen bewusst. Zur Sicherstellung von genügend und gut qualifiziertem Pflegepersonal und zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufes sind im Rahmen des Masterplans Pflege, des Entwurfs zu einem Gesundheitsberufegesetz und der Aktivitäten im Rahmen der Förderung der Interprofessionalität bereits verschiedene Massnahmen eingeleitet worden. Der Bundesrat erachtet es indessen als verfehlte Entwicklung, im Sinne der parlamentarischen Initiative zusätzlichen Berufsgruppen Zugang zur direkten Abrechnung gegenüber der OKP zu ermöglichen, ohne Lösungen in Bezug auf eine bessere Koordination und eine langfristige Steuerung entwickelt zu haben. Mit der parlamentarischen Initiative ist aus Sicht des Bundesrates insbesondere zu befürchten, dass die Kosten in der OKP trotz der vorgesehenen flankierenden Massnahmen steigen könnten. Mit der bundesrätlichen Strategie «Gesundheit2020» sollen dagegen Fehlanreize, die zu einer Mengenausweitung führen, behoben und neue Versorgungsmodelle, welche die Qualität der Behandlung entlang der ganzen Behandlungskette optimieren, gefördert werden.

3432

BBl 2016

Deshalb beantragt der Bundesrat dem Parlament, nicht auf die durch die SGK-NR unterbreitete Änderung des KVG im Zusammenhang mit der parlamentarischen Initiative 11.418 «Gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege» einzutreten bzw. diese subsidiär zurückzuweisen. Auch der Minderheitsantrag zu den Artikeln 25a Absatz 2 und 33 Absatz 1bis KVG, der die gemeinsame Anordnung von einem Arzt oder einer Ärztin und einer Pflegefachperson von Leistungen der Akutund Übergangspflege fordert, ändert nichts an der allgemeinen Haltung des Bundesrates. Insbesondere ist der Ablauf der gemeinsamen Anordnung nicht definiert und auch das Vorgehen bei divergierenden Ansichten von Ärzteschaft und Pflegefachpersonen ist unklar.

3433

BBl 2016

3434