16.058 Botschaft zur Genehmigung des Protokolls von 2014 zum Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit vom 24. August 2016

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Protokolls von 2014 zum Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

24. August 2016

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Johann N. Schneider-Ammann Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Übersicht Das 2014 durch die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) verabschiedete Protokoll über Zwangsarbeit bringt das 1930 in Kraft getretene und von der Schweiz ratifizierte Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit auf den neusten Stand. Es hat zum Ziel, moderne Formen der Zwangsarbeit, darunter auch den Menschenhandel, zu bekämpfen.

Das Protokoll ist ein wichtiger Schritt bei der Bekämpfung der Zwangsarbeit. Es verpflichtet Regierungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmende zur effizienten und dauerhaften Abschaffung der Zwangs- oder Pflichtarbeit.

Das von der Schweiz 1940 ratifizierte Übereinkommen Nr. 29 gilt als Kernübereinkommen der IAO. Das Protokoll ist Bestandteil des Übereinkommens und verfügt über denselben grundlegenden Charakter; es gilt also ebenfalls als Kernübereinkommen. In seiner Botschaft vom 21. September 1998 bezeugte der Bundesrat seinen Willen, alle Kernübereinkommen der IAO zu ratifizieren.

Für die Bekämpfung der Zwangsarbeit spielen das Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit und das Übereinkommen Nr. 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit eine entscheidende Rolle, welche im Protokoll anerkannt wird.

Das Protokoll stärkt den internationalen rechtlichen Rahmen, indem es neue Verpflichtungen schafft. Es fordert die Regierungen auf, Massnahmen zur Prävention von Zwangsarbeit zu ergreifen, die Opfer zu schützen und ihnen Zugang zu Rechtsschutz- und Rechtsbehelfsmechanismen zu gewähren. Es unterstreicht die Rolle der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden bei der Bekämpfung der Zwangsarbeit.

Das Protokoll lässt den Vertragsparteien einen gewissen Spielraum im Hinblick auf die konkreten Massnahmen, die zur Umsetzung der Grundsätze zu ergreifen sind.

Der Entwurf der vorliegenden Botschaft wurde der Tripartiten Kommission für Angelegenheiten der IAO vorgelegt, einer ausserparlamentarischen beratenden Kommission, in welcher Vertreterinnen und Vertreter der schweizerischen Bundesverwaltung und Sozialpartner vertreten sind. Die Kommission hat den Entwurf der Botschaft am 26. Februar 2015 ohne Gegenstimme zur Kenntnis genommen. Das dem Bundesamt für Polizei (fedpol) angegliederte Steuerungsorgan der Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel wurde am 13. November 2015 konsultiert. Es hat die Ratifikation des Protokolls ohne Gegenstimme zur Kenntnis genommen.

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Botschaft 1

Grundzüge des Protokolls

1.1

Ausgangslage

Die Bekämpfung der Zwangsarbeit und die Förderung der menschenwürdigen Arbeit für alle Gruppen von Arbeitnehmenden ist fester Bestandteil des Verfassungsauftrags der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Aus diesem Grund hat sie weniger als 15 Jahre nach ihrer Gründung im Jahre 1919 das Übereinkommen Nr. 29 vom 28. Juni 19301 über Zwangs- oder Pflichtarbeit (im Folgenden «Übereinkommen Nr. 29») verabschiedet. Die Schweiz hat es 1940 ratifiziert. Das Übereinkommen Nr. 29 ist eines der acht Kernübereinkommen der IAO. Diese verfügen über einen sogenannt grundlegenden Charakter, das heisst, sie stellen die grundlegenden Prinzipen und Rechte bei der Arbeit dar. Sie sind der international anerkannte, minimale Sozialstandard, welchem sich alle Mitgliedstaaten der IAO verpflichten, auch wenn sie gewisse Kernübereinkommen nicht ratifiziert haben. Das Protokoll ist Bestandteil des Übereinkommens Nr. 29 und verfügt ebenfalls über grundlegenden Charakter. In seiner Botschaft vom 21. September 19982 zur Ratifikation der beiden Kernübereinkommen Nr. 98 von 1949 über das Vereinigungsrecht und das Recht zu Kollektivverhandlungen und Nr. 138 von1973über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung legte der Bundesrat dar, dass die Ratifikation der Kernübereinkommen der IAO im Kontext des Weltgipfels für soziale Entwicklung in Kopenhagen (6.­11.März 1995) und der innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der IAO zur Globalisierung der Wirtschaft geführten Debatten erfolgt. Diese haben deutlich gemacht, dass für die Staaten die Notwendigkeit besteht, eine gewisse Anzahl von Kernübereinkommen der IAO zu ratifizieren.

Dieses Engagement ist heute nach wie vor erforderlich. Die Ratifikation des Protokolls erfolgt in diesem Kontext der politischen Kohärenz.

Mehr als 80 Jahre nach der Annahme des Übereinkommens Nr. 29 und trotz der nahezu universellen Ratifikation ­ es wurde bislang von 179 der 187 IAOMitgliedstaaten ratifiziert ­ existiert Zwangsarbeit nach wie vor. Sie nimmt heute jedoch meist andere Formen an als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gemäss den Angaben der IAO sind weltweit gegen 21 Millionen Menschen Opfer von Zwangsarbeit. Zahlreiche Länder haben Gesetze und Massnahmen verabschiedet, um die Zwangsarbeit
und damit verbundene Praktiken zu bekämpfen. Die anhaltenden und häufigen Verstösse zeigen jedoch, dass bei der Umsetzung dieser Massnahmen weltweit noch Nachholbedarf besteht. In einigen Ländern ist die von den Behörden auferlegte Zwangsarbeit nach wie vor besorgniserregend. Heute jedoch wird festgestellt, dass es zunehmend Privatpersonen und Unternehmen sind, die den Rechtsstaat nicht achten und Menschen der Zwangsarbeit unterwerfen.

1 2

SR 0.822.713.9 BBl 1999 I 513; Übereinkommen Nr. 98: SR 0.822.719.9; Übereinkommen Nr. 138: SR 0.822.723.8

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1.2

Verlauf der Verhandlungen

An einer von der IAO organisierten und der Schweiz präsidierten Sitzung Anfang 2013 nahmen 23 Expertinnen und Experten aus Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkreisen teil. Diese schlugen die Verabschiedung zusätzlicher Massnahmen vor, um die noch bestehenden, erheblichen Mängel bei der Bekämpfung der Zwangsarbeit in all ihren Formen zu beseitigen. Die Expertinnen und Experten waren der Auffassung, dass diese Mängel durch normative Massnahmen beseitigt werden sollen, um so die Prävention sowie den Schutz und die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit zu fördern.

1.3

Verhandlungsergebnis

Auf der Grundlage der Expertentätigkeit hat die Internationale Arbeitskonferenz (IAK) am 11. Juni 2014 anlässlich ihrer 103. Tagung mit der gemäss den Weisungen des Bundesrates vom 30. April 2014 geleisteten Unterstützung der Schweiz das Protokoll zum Übereinkommen Nr. 29 angenommen. Gemäss Artikel 19 Absatz 5 Buchstabe b der Verfassung der IAO ist der Bundesrat verpflichtet, das Übereinkommen dem Parlament spätestens ein Jahr nach Schluss der Tagung der Konferenz zum Zwecke der Verwirklichung durch die Gesetzgebung oder zwecks sonstiger Massnahmen zu unterbreiten.

1.4

Überblick über den Inhalt des Protokolls

Das Protokoll bringt das 1930 in Kraft getretene Übereinkommen Nr. 29 auf den neusten Stand. Es hat zum Ziel, moderne Formen der Zwangsarbeit, darunter auch den Menschenhandel, zu bekämpfen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich der Kontext und die Formen der Zwangs- oder Pflichtarbeit verändert haben, ist das Protokoll für die Bekämpfung der Zwangsarbeit ein wichtiger Schritt. Es verpflichtet Regierungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmende zur effizienten und dauerhaften Abschaffung der Zwangs- oder Pflichtarbeit.

Für die Bekämpfung der Zwangsarbeit spielen das Übereinkommen Nr. 29 und das Übereinkommen Nr. 105 vom 25. Juni 19573 über die Abschaffung der Zwangsarbeit eine entscheidende Rolle. Im Protokoll wird diese Rolle anerkannt. Das Protokoll stärkt den internationalen rechtlichen Rahmen, indem es neue Verpflichtungen schafft. Es fordert die Regierungen auf, Massnahmen zur Prävention von Zwangsarbeit zu ergreifen, die Opfer zu schützen und ihnen Zugang zu Rechtsschutz- und Rechtsbehelfsmechanismen zu gewähren. Es unterstreicht die Rolle der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden bei der Bekämpfung der Zwangsarbeit.

Das Protokoll lässt den Vertragsparteien im Hinblick auf die konkreten Massnahmen, die zur Umsetzung der definierten Grundsätze zu ergreifen sind, einen gewissen Spielraum.

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SR 0.822.720.5

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Das Protokoll ist ein völkerrechtlicher Vertrag, welcher der Ratifikation bedarf. Nur Staaten, die wie die Schweiz das Übereinkommen Nr. 29 ratifiziert haben, können auch das Protokoll ratifizieren. Alle IAO-Mitgliedstaaten, welche ein Zusatzprotokoll zur Ergänzung eines Übereinkommens ratifizieren, verpflichten sich zu dessen Einhaltung gemäss den mit der Ratifikation angenommenen Obliegenheiten.

Das Protokoll enthält 12 Artikel, wovon es sich bei 5 Artikeln um die üblichen Schlussbestimmungen handelt (Art. 8­12). Gemäss Artikel 8 Absatz 2 tritt das Protokoll zwölf Monate, nachdem die Ratifikationen zweier Mitglieder durch den Generaldirektor der IAO eingetragen worden sind, in Kraft. Das Protokoll wurde durch sieben Mitgliedstaaten der IAO ratifiziert (Niger am 14. Mai 2015, Norwegen am 9. November 2015, Vereinigtes Königreich am 22. Januar 2016, Mauretanien am 9. Februar 2016, Mali am 12. April 2016, Frankreich am 7. Juni 2016, Tschechische Republik am 9. Juni 2016) und tritt am 9. November 2016 in Kraft und für die Schweiz zwölf Monate nach der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde.

Zur inhaltlichen Prüfung des Protokolls muss vorab eine Betrachtung der von der Schweiz angenommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgenommen werden.

Die Präambel des Protokolls verweist auf die besondere Bedeutung folgender Instrumente der IAO: das Übereinkommen Nr. 87 vom 9. Juli 19484 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, das Übereinkommen Nr. 98 vom 1. Juli 19495 über das Vereinigungsrecht und das Recht zu Kollektivverhandlungen, das Übereinkommen Nr. 100 vom 29. Juni 19516 über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit, das Übereinkommen Nr. 111 vom 25. Juni 19857 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, das Übereinkommen Nr. 138 vom 26. Juni 19738 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung, das Übereinkommen Nr. 182 vom 17. Juni 19999 über das Verbot und unverzügliche Massnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, das Übereinkommen Nr. 97 über Wanderarbeiter (Neufassung), das Übereinkommen Nr. 143 über Wanderarbeitnehmer, das Übereinkommen Nr. 189 vom 16. Juni 201110 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte, das Übereinkommen Nr. 181 über private Arbeitsvermittler,
das Übereinkommen Nr. 81 vom 11. Juli 194711 über die Arbeitsaufsicht in Gewerbe und Handel und das Übereinkommen Nr. 129 über die Arbeitsaufsicht in der Landwirtschaft.

Die Präambel verweist ebenfalls auf die Bedeutung weiterer Instrumente der IAO, die nicht der Ratifikation unterliegen, wie der Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit (1998) und der Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung (2008). Diese wurden von der IAK angenommen, um eine formelle, richtungsweisende Erklärung zu formulieren und erneut zu unterstreichen, welche Bedeutung die beteiligten Parteien gewissen 4 5 6 7 8 9 10 11

SR 0.822.719.7 SR 0.822.719.9 SR 0.822.720.0 SR 0.822.721.1 SR 0.822.723.8 SR 0.822.728.2 SR 0.822.728.9 SR 0.822.719.1

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Grundsätzen und Werten beimessen. Von den erwähnten Übereinkommen der IAO hat die Schweiz die acht Kernübereinkommen (Nr. 29, Nr. 87, Nr. 98, Nr. 100, Nr. 105, Nr. 111, Nr. 138 und Nr. 182) sowie die Übereinkommen Nr. 81 und Nr. 189 ratifiziert. Die beiden Erklärungen wurden den eidgenössischen Räten zur Kenntnisnahme vorgelegt.12 In der Präambel wird auf andere einschlägige internationale Instrumente verwiesen, insbesondere auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), den Internationalen Pakt vom 16. Dezember 196613 über bürgerliche und politische Rechte, welcher das Verbot der Zwangsarbeit als absolute Menschenrechtsgarantie festhält, den Internationalen Pakt vom 16. Dezember 196614 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Sklavereiabkommen vom 25. September 192615, das Zusatzübereinkommen vom 7. September 195616 über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken, das Übereinkommen vom 15. November 200017 der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und das Zusatzprotokoll vom 15. November 200018 zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels (im Folgenden: Palermo-Protokoll) sowie das Protokoll vom 15. November 200019 gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg, die Internationale Konvention vom 18. Dezember 1990 zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, das Übereinkommen vom 10. Dezember 198420 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, das Übereinkommen vom 18. Dezember 197921 über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und das Übereinkommen vom 13. Dezember 200622 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Mit Ausnahme der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (1990) ist die Schweiz all diesen internationalen Instrumenten beigetreten. Ausserdem ist die Schweiz dem Übereinkommen vom 16. Mai 200523 zur Bekämpfung des Menschenhandels beigetreten.

Darüber hinaus muss das Protokoll auf seine Kompatibilität mit der in der Schweiz geltenden Gesetze und Verordnungen geprüft werden, insbesondere im Hinblick auf das Schweizerische Strafgesetzbuch24 (StGB), das Schweizerische Zivilgesetzbuch25

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

BBl 2000 330 398, 2012 4209 4257 SR 0.103.2 SR 0.103.1 SR 0.311.37 SR 0.311.371 SR 0.311.54 SR 0.311.542 SR 0.311.541 SR 0.105 SR 0.108 SR 0.109 SR 0.311.543 SR 311.0 SR 210

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(ZGB), das Obligationenrecht26 (OR), die Strafprozessordnung27 (StPO), das Ausländergesetz vom 16. Dezember 200528 (AuG), das Opferhilfegesetz vom 23. März 200729 (OHG), das Arbeitsgesetz vom 13. März 196430 (ArG) und die dazugehörigen Verordnungen, das Bundesgesetz vom 23. Dezember 201131 über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG), das Entsendegesetz vom 8. Oktober 1999 32 (EntsG), das Bundesgesetz vom 11. April 198933 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG), die Verordnung vom 23. Oktober 201334 gegen Menschenhandel, die Verordnung vom 20. Oktober 201035 über den Normalarbeitsvertrag für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Hauswirtschaft (NAV Hauswirtschaft), die kantonalen Normalarbeitsverträge, die Verordnung vom 6. Juni 201136 über die privaten Hausangestellten (PHV), das Arbeitsvermittlungsgesetz vom 6. Oktober 198937 (AVG), das Bundesgesetz vom 16. Dezember 199438 über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB), das Mineralölsteuergesetz vom 21. Juni 199639 (MinöStG) sowie die Verordnung vom 24. Oktober 200740 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE).

Ausserdem vervollständigt die Empfehlung 203 betreffend ergänzende Massnahmen zur effektiven Beseitigung von Zwangsarbeit das Protokoll und das Übereinkommen Nr. 29. Die IAK hat diese Empfehlung, mit der Unterstützung der Schweiz, gleichzeitig mit dem Protokoll angenommen.

Bei der Empfehlung 203 handelt es sich um ein nicht verbindliches Instrument, das nicht der Ratifikation unterliegt, jedoch den Zweck verfolgt, im Hinblick auf die Umsetzung des Übereinkommens Nr. 29 und des Protokolls als Wegweiser für das politische Handeln zu dienen. Sie enthält konkrete Anleitungen für die Konzeption und Umsetzung effizienter Massnahmen zur Prävention von Zwangsarbeit, zum Schutz der Opfer und zur Gewährung des Zugangs zu Rechtsbehelfen.

Die Empfehlung wird der Bundesversammlung zur Information vorgelegt.

1.5

Würdigung

Zwangsarbeit stellt einen Verstoss gegen die Menschenrechte dar und verletzt die Würde von Millionen Männern, Frauen, Mädchen und Jungen. Sie trägt zum Fortbestehen von Armut bei und steht im Widerspruch zum fairen Wettbewerb unter 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

SR 220 SR 312.0 SR 142.20 SR 312.5 SR 822.11 SR 312.2 SR 823.20 SR 281.1 SR 311.039.3 SR 221.215.329.4 SR 192.126 SR 823.11 SR 172.056.1 SR 641.61 SR 142.201

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Arbeitgebern. Sie steht der Verwirklichung von menschenwürdiger Arbeit weltweit im Wege. Derzeit wird die Anzahl der Opfer von Zwangsarbeit weltweit auf 21 Millionen geschätzt, und die IAO geht davon aus, dass durch diese modernen Formen der Sklaverei in der Privatwirtschaft jährlich illegale Einnahmen in der Höhe von 150 Milliarden Dollar generiert werden.

Das Protokoll bekräftigt die Definition von Zwangs- oder Pflichtarbeit gemäss dem Übereinkommen Nr. 29: «Als Zwangs- oder Pflichtarbeit [...] gilt jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.» Durch die Bekräftigung dieser Definition wollte die IAK unterstreichen, dass die vom Protokoll vorgesehenen Massnahmen spezifische Handlungen zur Bekämpfung der Zwangs- oder Pflichtarbeit beinhalten müssen, sofern diese mit Menschenhandel in Verbindung steht. Die Konferenz hat bewusst darauf verzichtet, von «Menschenhandel zum Zwecke der wirtschaftlichen Ausbeutung» zu sprechen, da die Voraussetzungen der Ausbeutung im Kontext der IAO (Niedriglöhne, ausserordentlich lange Arbeitszeiten, usw.) nicht immer auch Zwangsarbeit darstellen. Letztere beinhaltet ausnahmslos den Aspekt des Zwangs.

In dem von der Schweiz ratifizierten Palermo-Protokoll «bezeichnet der Ausdruck die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung.

Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen».

Die Definitionen der Begriffe Zwangsarbeit und Menschenhandel überschneiden sich in grossen Teilen. Es gibt jedoch Formen der Zwangsarbeit, die nicht mit Menschenhandel in Verbindung stehen (z. B. Pflichtarbeit in Gefängnissen oder bestimmte Fälle von Schuldknechtschaft),
sowie Formen des Menschenhandels, die nicht unter die Definition des Begriffs Zwangsarbeit fallen (z. B. Menschenhandel zur Entnahme von Organen, bestimmte Fälle von Zwangsheirat oder Zwangsadoption).

Der Bundesrat analysiert die Bestimmungen des Protokolls unter Berücksichtigung der genannten Definitionen und geht davon aus, dass Situationen der Zwangsarbeit innerhalb der Privatwirtschaft durch die Definition des Menschenhandels abgedeckt sind. Die im Rahmen des Menschenhandels getroffenen Massnahmen decken ebenfalls die im Protokoll beschriebenen Formen der Zwangsarbeit ab. Die folgende Analyse der einzelnen Artikel des Protokolls nimmt daher direkten Bezug auf die in der Schweiz getroffenen Massnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels.

Da es sich beim Protokoll um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält (vgl. Ziff. 5.2) und der damit dem fakultativen Referendum unterliegt, hat sich die Frage einer möglichen Vernehmlassung gestellt.

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Die völkerrechtlichen Verträge der IAO haben aufgrund der tripartiten Struktur der Organisation einen speziellen Charakter, weshalb auf eine Vernehmlassung gemäss Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 2005 41 (VlG) verzichtet werden kann. Die Sozialpartner waren direkt an der Erarbeitung des Protokolls beteiligt und haben dessen Annahme zugestimmt. Es kann darum davon ausgegangen werden, dass von einer Vernehmlassung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind, weil die Positionen der interessierten Kreise bereits bekannt sind (Art. 3a Abs. 1 Bst. b VlG). Die Übereinkommen der IAO werden im Rahmen der sogenannten «doppelten Diskussion» an zwei aufeinanderfolgenden Sessionen der IAK diskutiert und verabschiedet. Die Ratifizierung selbst kann erst nach der Genehmigung durch die Bundesversammlung geschehen. Dieses Prinzip ergibt sich aus der von der Schweiz unterzeichneten Verfassung der IAO und ist somit anwendbar. Zudem wurde der Entwurf der vorliegenden Botschaft der Tripartiten Kommission für Angelegenheiten der IAO vorgelegt. Hierbei handelt es sich um eine ausserparlamentarische beratende Kommission, in welcher Vertreterinnen und Vertreter der Bundesverwaltung und Sozialpartner vertreten sind. Die Kommission hat den Entwurf am 26. Februar 2015 ohne Gegenstimme zur Kenntnis genommen. Das Steuerungsorgan der der Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) des fedpolwurde am 13. November 2015 konsultiert; es hat die Ratifikation des Protokolls ohne Gegenstimme zur Kenntnis genommen.

1.6

Sprachfassungen des Protokolls

Der französische und der englische Wortlaut dieses Protokolls sind in gleicher Weise massgebend. Beim deutschen und italienischen Wortlaut handelt es sich um Übersetzungen, die in Absprache mit den betreffenden Ländern durch die IAO angefertigt wurden.

2

Erläuterungen zu den Bestimmungen

Art. 1 Artikel 1 definiert die Ziele des Protokolls, insbesondere die Einsetzung wirksamer Massnahmen durch die Mitgliedstaaten, um die Anwendung von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verhindern und zu beseitigen, den Opfern Schutz und Zugang zu geeigneten und wirksamen Rechtsbehelfen und Abhilfemassnahmen (wie zum Beispiel Entschädigung) zu gewährleisten und die für Zwangs- oder Pflichtarbeit Verantwortlichen zu bestrafen.

Um diese Ziele zu erreichen, muss jeder Vertragsstaat ­ in Absprache mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden ­ eine innerstaatliche Politik und einen innerstaatlichen Aktionsplan zur wirksamen und dauerhaften Beseitigung von Zwangs- oder Pflichtarbeit entwickeln. Die zuständigen staatlichen Stellen koor-

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SR 172.061

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dinieren sich bei der Umsetzung gegebenenfalls mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie mit anderen in Betracht kommenden Gruppen.

Artikel 1 bekräftigt schliesslich die im Übereinkommen Nr. 29 enthaltene Definition der Zwangs- oder Pflichtarbeit (vgl. Ziff. 1.5) und legt dar, dass die in diesem Protokoll genannten Massnahmen ein gezieltes Vorgehen gegen den Menschenhandel für Zwecke der Zwangs- oder Pflichtarbeit umfassen müssen.

Die Bekämpfung des Menschenhandels in der Schweiz beruht auf der internationalen Definition gemäss Artikel 3 des Palermo-Protokolls, das dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 15. November 2000 gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität beigefügt ist. Die Schweiz hat das Palermo-Protokoll im Oktober 2006 ratifiziert und gleichzeitig den Straftatbestand des Menschenhandels im StGB an diese Definition angepasst. In der Schweiz unterliegt der Menschenhandel Artikel 182 StGB, der alle Formen des Menschenhandels gemäss der genannten internationalen Definition unter Strafe stellt. Bereits eine zum Nachteil einer einzigen Person begangene Tat stellt eine Straftat dar. Für Straftaten des Menschenhandels können Freiheitsstrafen von bis zu 20 Jahren gesprochen werden. Handelt es sich beim Opfer um eine minderjährige Person oder handelt der Täter gewerbsmässig, so ist mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu rechnen. Bei Straftaten des Menschenhandels ist das möglicherweise vom Opfer gegebene Einverständnis zur beabsichtigten Ausbeutung nicht ausschlaggebend, wenn die wirtschaftlich prekäre Lage des Opfers ausgenutzt wurde, um dessen Einverständnis zu erlangen. Gewerbsmässiger Menschenhandel zum Zwecke der Ausbeutung wird nach Artikel 182 StGB bestraft. Die Förderung der Prostitution ist gemäss Artikel 195 StGB untersagt. Aus diesem Grunde unterliegen Arbeitsverhältnisse, die zum Ziel haben, eine Person trotz ihres Widerspruchs zur Prostitution zu zwingen oder sie in der Prostitution festzuhalten, der Strafe.

Die Bekämpfung des Menschenhandels ist nicht nur auf die strafrechtliche Verfolgung der Täter beschränkt, sondern stellt eine multidisziplinäre Herausforderung dar, bei der die Unterstützung des Opfers eine zentrale Rolle spielt. Aus diesem Grunde hat die Schweiz eine Strategie und einen nationalen Aktionsplan erarbeitet.
Die Strategie zur Bekämpfung des Menschenhandels beruht auf vier Säulen: Prävention, Strafverfolgung, Opferschutz und Partnerschaften. Die entsprechenden Kompetenzen liegen teilweise beim Bund, teilweise bei den Kantonen. Die KSMM, deren Geschäftsstelle beim fedpol angesiedelt ist, stellt schweizweit die Koordination der Bekämpfung des Menschenhandels sicher, indem sie Instrumente und Strategien erarbeitet, die betroffenen Akteure miteinander vernetzt, die Situation analysiert und Informationen übermittelt. Mit dem nationalen Aktionsplan kann die Schweiz einem internationalen Trend folgen, der darin besteht, den nationalen Handlungsbedarf gegen Menschenhandel in Aktionsplänen aufzuzeigen und damit die Strategie und die Anstrengungen gegen diese Kriminalitätsform umfassend für die Öffentlichkeit darzustellen.

Im Hinblick auf die Schuldknechtschaft schützen die Artikel 27 und 28 ZGB die Persönlichkeit im Allgemeinen. Artikel 328 OR schützt die Persönlichkeit der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers im Besonderen. Die Bezahlung eines Gehalts ist gemäss Artikel 320 Absatz 2 OR für jede Arbeit garantiert, deren Leistung nach den Umständen nur gegen Lohn zu erwarten ist. Der Lohnrückbehalt und 7022

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die Verpfändung von Lohnforderungen sind gemäss OR ebenfalls eingeschränkt (Art. 323a Abs. 2 und 323b Abs. 2 OR). Das ArG regelt die Arbeitsbedingungen sowie die Gesundheits- und Hygienemassnahmen, die die Arbeitgeber in den dem Gesetz unterliegenden Unternehmen treffen müssen. Hinsichtlich des StGB sind Artikel 157, der Wucher unter Strafe stellt, und Artikel 181, der Nötigung verbietet, anwendbar. Im Zivilrecht erlaubt Artikel 21 OR (Übervorteilung), einen Arbeitsvertrag für ungültig zu erklären, wenn ein offenbares Missverhältnis in der Auszahlung des Lohnes aufgrund von Ausbeutung der Notlage, Unerfahrenheit oder Leichtsinn des Arbeitnehmers zustande kam. Gemäss den Artikeln 29 und 30 OR können Arbeitsverträge ebenso für ungültig erklärt werden, wenn sie unter Furchterregung des Arbeitnehmers oder seiner Güter abgeschlossen wurden. Schliesslich regelt Artikel 92 SchKG im Hinblick auf Schuldbetreibung und Konkurs, dass bestimmte Vermögenswerte unpfändbar sind: Vermögenswerte, welche für den Schuldner und seine Familie unentbehrlich sind, dürfen nicht gepfändet werden. Gemäss SchKG sind bestimmte Vermögenswerte unpfändbar. Das Betreibungsamt erstellt Regeln mit Hinweisen zur Ermittlung des Existenzminimums. Beschränkt pfändbare Vermögenswerte (wie der Lohn) können jedoch gepfändet werden, wenn sie «nach dem Ermessen des Betreibungsbeamten für den Schuldner und seine Familie nicht unbedingt notwendig sind» (Art. 93 SchKG). Dies wird als Existenzminimum erachtet.

Schliesslich kann man in der Schweiz nicht verschuldet oder in Schuldknechtschaft geboren und für die Rückzahlung der durch seine Vorfahren eingegangenen Schulden zur Verantwortung gezogen werden. Folglich ist eine Schuldknechtschaft in der Schweiz nicht möglich. Zudem stellt das SchKG sicher, dass die Ausübung von Zwangsarbeit das Prärogativ der staatlichen Organe bleibt.

Weitere, mit dem EntsG und dem AVG zusammenhängende Aspekte werden im Hinblick auf Artikel 2 des Protokolls dargelegt.

Die Pflichtarbeit in Gefängnissen fällt unter die Artikel 81­83 StGB, welche die Arbeit der Gefangenen in Schweizer Gefängnissen regeln. Gefangene sind zur Arbeit verpflichtet. Die Arbeit hat so weit als möglich den Fähigkeiten, der Ausbildung und den Neigungen der oder des Gefangenen zu entsprechen. Gefangene erhalten für ihre Arbeit ein von der
Leistung abhängiges und den Umständen angepasstes Entgelt. Sie können während des Vollzugs nur über einen Teil des Arbeitsentgeltes frei verfügen. Ein Teil (1/6 bis 1/3) des Arbeitsentgelts verbleibt bis zur Entlassung der oder des Gefangenen auf einem Sperrkonto. Derselbe Anteil wird auf einem Konto zurückbehalten, das der Zahlung der Kosten dient, welche in Verbindung mit seiner Entlassung entstehen. Der verbleibende Anteil steht dem Gefangenen zur freien Verfügung. Sofern es der Status der oder des Gefangenen oder die Art des Strafvollzuges erlauben, kann die oder der verurteilte Gefangene mit ihrer oder seiner Zustimmung auf der Grundlage eines üblichen Arbeitsvertrages bei einem privaten Arbeitgeber beschäftigt werden. Die Arbeitstätigkeit ist somit Bestandteil der Behandlung von Gefangenen. Sie verfolgt primär das Ziel der Förderung der Reintegration: über die Beschäftigung und Ausbildung hinaus sollen Gefangene einer regelmässigen Tätigkeit nachgehen, wodurch eine spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert werden soll. Gefangene können Arbeiten für Privatunternehmen auch innerhalb des Gefängnisses ausführen. Die Arbeitsbedingungen in den anstaltsinternen Werkstätten werden durch die Gesundheits- und

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Strafvollzugsbehörden unter Aufsicht der für den Strafvollzug verantwortlichen kantonalen Stelle überprüft.

Hausangestellte gelten als besonders anfällig für Zwangsarbeit. In der Schweiz werden die Arbeitsbedingungen der Hausangestellten von diplomatischem Personal durch die PHV geregelt. Die anderen in unserem Land beschäftigten Hausangestellten unterliegen den Bestimmungen des OR und den auf Bundes- und Kantonsebene geltenden Normalarbeitsverträgen. Darüber hinaus hat die Schweiz am 12. November 2014 das Übereinkommen Nr. 189 der IAO über Hausangestellte ratifiziert.

Zudem werden alle interessierten Kreise und Dachverbände bei der Vorbereitung von Gesetzesrevisionen im Rahmen der Bekämpfung des Menschenhandels konsultiert. In den Vernehmlassungen stellt das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) die Koordination mit Verbänden und Sozialpartnern gemäss den Vorgaben des Übereinkommens durch die ihm unterstellte Tripartite Kommission der IAO sicher. Die KSMM gewährleistet die Koordination multidisziplinärer Aspekte.

Art. 2 In Artikel 2 werden die Massnahmen geregelt, die für die Verhütung von Zwangsoder Pflichtarbeit zu treffen sind.

Die in der Schweiz getroffenen Präventionsmassnahmen im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels spielen vor allem für die Privatwirtschaft eine Rolle. Das für die Behörden geltende Verbot der Zwangsarbeit macht spezifische Präventionsmassnahmen entbehrlich. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass Präventions- und Aufklärungsarbeit zur Bekämpfung des Menschenhandels ständig und langfristig betrieben werden.

Mit der Verordnung vom 23. Oktober 2013 gegen Menschenhandel hat die Schweiz eine allgemeingültige Rechtsgrundlage, die es dem Bund ermöglicht, selbst Massnahmen zur Prävention von Menschenhandel zu treffen oder Präventionsmassnahmen der zivilgesellschaftlichen Organisationen zu unterstützen. Seit 2015 werden zu diesem Zweck jährlich 400 000 Franken bereitgestellt. Von diesem Betrag kommen 300 000 Franken zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich gegen den Menschenhandel einsetzen, zugute. Die verbleibenden 100 000 Franken werden spezifischen Massnahmen zugesprochen, die im Rahmen bestimmter Projekte durchgeführt werden.

Auf der Informationsplattform der Geschäftsstelle der KSMM können den strategischen und operativen Stellen darüber hinaus nützliche
Unterlagen zur Verfügung gestellt werden. Besonderes Augenmerk gilt hier der wirtschaftlichen Ausbeutung.

Zu diesem Themenbereich wird ein derzeit in Bearbeitung befindliches Hilfsmittel den Begriff der wirtschaftlichen Ausbeutung klären und darlegen, welche Massnahmen zur Bekämpfung dieses Phänomens in der Schweiz ergriffen werden. Dieses wird ein Arbeitsdokument sein, das in der Praxis dabei helfen soll, Fälle der wirtschaftlichen Ausbeutung zu erkennen.

Im Hinblick auf die Information potenzieller Opfer beschränken sich die Bemühungen der Schweiz nicht nur auf das eigene Hoheitsgebiet. Die Schweiz ist für den 7024

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Menschenhandel sowohl Ziel- als auch Transitland. Daher werden auch jenseits der Landesgrenzen spezifische Präventionsmassnahmen getroffen. Diesbezügliche Projekte und Programme werden von der Schweiz unterstützt und in den jeweiligen Herkunftsländern durch Partnerorganisationen (internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen) umgesetzt. So werden zum Beispiel Projekte in den EU-Mitgliedstaaten durch den Erweiterungsbeitrag finanziert. Diese Projekte haben zum Ziel, die staatlichen Stellen oder die Zivilgesellschaft bei der Bekämpfung des Menschenhandels zu stärken. Sie betreffen in erster Linie Ungarn, Rumänien und Bulgarien. In den Herkunftsländern wird das Hauptaugenmerk auf Projekte gelegt, die darauf abzielen, Präventionsschutz für potenzielle Opfer zu gewähren, um zu verhindern, dass sie in die Maschinerie des Menschenhandels geraten. So tragen sie zu einer Senkung der Opferzahlen in Zielländern wie der Schweiz bei.

Im Hinblick auf die Umsetzung der PHV werden Arbeitgeber, die Vorrechte und Immunitäten geniessen, sowie deren Arbeitnehmende, klar über die in der Schweiz geltenden Konditionen informiert. Sie müssen einen schriftlichen Arbeitsvertrag unterzeichnen, der dem vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) erarbeiteten Modell entspricht. Hausangestellte werden im Rahmen des Visumverfahrens persönlich in der Schweizer Vertretung empfangen. Nach ihrer Einreise in die Schweiz werden sie erneut in der Vertretung in Genf oder beim Protokolldienst des EDA in Bern empfangen. Diese Dienste stellen sicher, dass die Hausangestellten den Inhalt ihres jeweiligen Arbeitsvertrages sowie die damit zusammenhängenden Rechte und Pflichten verstanden haben, und sie erläutern ihnen, an wen sie sich bei Fragen oder Schwierigkeiten wenden können.

Im Hinblick auf den Anwendungsbereich der einschlägigen Gesetzgebung zur Prävention von Zwangs- oder Pflichtarbeit gibt es in der Schweiz arbeitsbereichsunabhängig einen relativ breiten Sockel an Schutzmechanismen für alle Arbeitsverhältnisse. Die Bestimmungen des OR zum Arbeitsvertrag gelten unabhängig vom jeweiligen Arbeitsbereich. Zwar sind manche arbeitsrechtlichen Beziehungen vom Anwendungsbereich des öffentlichen Rechts zum Schutz der Arbeitnehmenden ausgeschlossen, aber das OR deckt den privatwirtschaftlichen Sektor
unseres Landes grösstenteils ab. Die von den Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Organisationen frei ausgehandelten Gesamtarbeitsverträge (GAV) gelten nur für bestimmte Bereiche.

Der Normalarbeitsvertrag (NAV) wird für Bereiche ohne GAV erstellt, in welchen im Vergleich zu den üblichen Löhnen wiederholt missbräuchliches Lohndumping festgestellt wird.

Zur Prävention von Zwangsarbeit, die aus strafbaren Anstellungs- und Arbeitsvermittlungspraktiken resultiert, erfolgt die Regelung der Arbeitsvermittlung auf der Grundlage des AVG und der entsprechenden Verordnungen. Arbeitsvermittlungstätigkeiten unterliegen der Genehmigung. Die Höhe der vom Arbeitssuchenden zu entrichtenden Anmeldegebühr und der Vermittlungsprovision sind vom Gesetz geregelt. Darüber hinaus müssen besondere Dienstleistungen, wie z. B. Fahrt- und Reisekosten, nach effektivem Aufwand entschädigt werden. Verstösse können entsprechend den Vorschriften bestraft werden. Direkter Personalverleih vom Ausland in die Schweiz ist nicht gestattet. Der ausländische Personalverleiher sowie sein Schweizer Kunde machen sich in diesem Fall strafbar. Ein Personalverleiher im Ausland muss daher bei der Rekrutierung von Arbeitnehmenden zum Zweck des 7025

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Verleihs in der Schweiz mit einem in der Schweiz ansässigen Personalverleiher zusammenarbeiten, welcher über eine Bewilligung verfügt. Der in der Schweiz ansässige Partner muss für eine fachgerechte Verleihtätigkeit Gewähr bieten. Der Endkunde sowie die bewilligten Vermittlungs- und Verleihbetriebe werden in die Verantwortung mit einbezogen. So will die schweizerische Gesetzgebung erreichen, dass auch die im Ausland rekrutierten Arbeitssuchenden effizient geschützt sind.

Das EntsG zielt darauf ab, präventiv dafür Sorge zu tragen, dass die Ausführung von Arbeiten durch entsandte Arbeitskräfte weder zu Lohn- noch zu Sozialdumping zum Nachteil der in der Schweiz tätigen Arbeitnehmenden führt. Daher bestimmt es die minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen für entsandte Arbeitskräfte aus den EUund Drittstaaten und erklärt bestimmte in der Schweiz geltende Bestimmungen auch für diese Arbeitnehmenden anwendbar. Der in den betroffenen Bereichen einzuhaltende Massnahmenkatalog entspricht demjenigen der Richtlinie 96/71/EG42, das heisst: Arbeits- und Ruhezeiten, Mindesturlaub, Mindestlohnsätze, Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz, Schutz von Schwangeren, Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen sowie Gleichbehandlung von Männern und Frauen.

Die Aufhebung des Cabaret-Tänzerinnen-Statuts gilt seit dem 1. Januar 2016 (Revision vom 22. Oktober 201443 der Verordnung vom 24. Oktober 200744 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE). Dank einer Übergangsregelung von etwas mehr als einem Jahr können sich die betroffenen Geschäftsbetriebe und Personalvermittlungen auf die veränderte Lage einstellen. Die Aufhebung des Statuts wird begleitet durch diverse Massnahmen zum Schutz von Frauen. Die Mitarbeitenden der Vertretungen der Schweiz im Ausland werden im Hinblick auf diese Frage sensibilisiert und die Informationsarbeit wird intensiviert. In der Schweiz wurde die Unterstützung der Präventionsarbeit von Organisationen, welche den Schutz von Frauen zum Ziel haben, verstärkt, indem die Verordnung vom 18. November 201545 über Massnahmen zur Verhütung von Straftaten im Zusammenhang mit Prostitution auf den 1. Januar 2015 erlassen wurde. Eine Revision des AuG ist zurzeit in Vorbereitung. Personen, die im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit Opfer von Straftaten im Sinne des OHG werden, werden die
Möglichkeit erhalten, Rückkehrhilfe oder eine Regelung ihres Aufenthaltes zu beantragen.

Die gebührende Sorgfalt bei der Risikoprävention im Bereich der Zwangsarbeit muss im Rahmen der Unterstützung des öffentlichen und des privaten Sektors unterschiedlich betrachtet werden. Im öffentlichen Sektor definiert der Bund die Minimalanforderungen für die Einhaltung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutzbestimmungen im öffentlichen Beschaffungswesen (Art. 8 Abs. 2 BöB und Art. 7 der Verordnung vom 11. Dezember 199546 über das öffentliche Beschaffungswesen), bei der Förderung von biogenen Treibstoffen (Art. 12b MinöStG) und im Rahmen 42

43 44 45 46

Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 18 vom 21.1.1997, S. 1.

AS 2014 3541 SR 142.201 SR 311.039.4 SR 172.056.11

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des Exportrisikoversicherungsgesetzes vom 16. Dezember 200547. Der Bund sensibilisiert den privaten Sektor im Rahmen von regelmässig mit den Unternehmen geführten Dialogen zu Fragen der sozialen Verantwortung. Darüber hinaus unterstützt er private, durch Labels oder andere Verhaltenskodizes erarbeitete Lösungen, die es beispielhaft vorgehenden Unternehmen ermöglichen, ihr Engagement zu kommunizieren.

Schliesslich geht die Schweiz auch aktiv bei der Bekämpfung der zugrunde liegenden Ursachen und Faktoren vor, welche die Risiken von Zwangsarbeit erhöhen. Die Schweiz setzt sich insbesondere für die Verbesserung des allgemeinen Bildungsniveaus und die Armutsbekämpfung ein. Ihr Engagement erfolgt insbesondere im Rahmen von Kooperationsprojekten, aber auch durch aktive Teilnahme bei der Erarbeitung von Lösungen auf multilateraler Ebene.

Art. 3 Artikel 3 betrifft den Opferschutz. Jedes Mitglied muss wirksame Massnahmen zur Ermittlung, zur Befreiung, zum Schutz, zur Erholung und zur Rehabilitation aller Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit sowie zur Bereitstellung anderer Formen von Hilfe und Unterstützung ergreifen. Die Massnahmen, die getroffen werden müssen, um diese Ziele zu erreichen, werden nicht spezifiziert.

Die Massnahmen zum Opferschutz haben zum Ziel, die Opfer von Ausbeutung zu ermitteln, ihnen zu helfen, sich aus der Situation der Ausbeutung zu befreien und ihre Rechte geltend zu machen, ihnen Opferhilfe zu gewähren, ihren Aufenthalt zu regeln, sie vor den Tätern zu schützen und sie schliesslich wieder in die Gesellschaft einzugliedern und darauf zu achten, dass sie nicht erneut in den Kreislauf des Menschenhandels geraten. Opfer haben darüber hinaus einen Anspruch auf Schadenersatz und Genugtuung. Opfer von Menschenhandel, insbesondere Opfer langfristiger sexueller Ausbeutung, sind nach der Befreiung aus ihrer Zwangslage nach wie vor anfällig. Sie haben spezifische Bedürfnisse und benötigen in Anbetracht der dem Menschenhandel eigenen Umstände, der Herausforderungen und ihrer spezifischen Schutzbedürftigkeit fachliche Unterstützung.

Der Begriff des «Opfers von Zwangsarbeit» ist weder im Protokoll noch im Übereinkommen Nr. 29 näher definiert. Die durch die Kontrollorgane der IAO im Bereich der Zwangsarbeit erstellten Studien enthalten ebenfalls keine näheren Angaben zur Definition. In
Anbetracht der bereits genannten, durch die IAO verwendeten Definition von Zwangsarbeit («Als Zwangs- oder Pflichtarbeit [...] gilt jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat») kann davon ausgegangen werden, dass jede Person in einer Situation der Zwangs- oder Pflichtarbeit auch als Opfer gilt.

In der Schweiz sind die gesetzlichen Grundlagen zum Opferschutz in verschiedenen Bundes- und Kantonsgesetzen verankert. Die grundlegendsten Bestimmungen befinden sich im OHG und im AuG. Darüber hinaus enthalten die StPO und das ZeugSG Bestimmungen zum Opferschutz.

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SR 946.10

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Im Sinne des OHG hat jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), Anspruch auf Unterstützung nach diesem Gesetz (Opferhilfe). Zwar definiert das OHG den Begriff «Opfer» etwas strenger, es setzt aber auch eine Straftat voraus (z. B. eine Nötigung gemäss Art. 181 StGB oder Menschenhandel gemäss Art. 182 StGB). Opfer von Zwangsarbeit können in der Schweiz daher unter die Definition des Opferbegriffs gemäss OHG fallen. Zwangsarbeit ist eine Freiheitsbeschränkung und gemäss den Artikeln 180­184 StGB mit Strafe bedroht. Die der Zwangsarbeit inhärenten Konditionen (mangelndes Einverständnis, Drohung, Zwang) implizieren das tatsächliche Vorliegen einer Verletzung der körperlichen, seelischen oder sexuellen Unversehrtheit.

Die Hilfe, die auch Angehörige des Opfers in Anspruch nehmen können, umfasst in der Hauptsache die folgenden Leistungen: Beratung, Soforthilfe und längerfristige Unterstützung ­ zum Beispiel medizinische, psychologische oder rechtliche Unterstützung ­ sowie finanzielle Leistungen. Personen, die im Ausland Opfer einer Straftat werden, können diese Leistungen ebenfalls in Anspruch nehmen, wenn auch in eingeschränkter Form.

In einem Fall ist das OHG nicht anwendbar, namentlich, wenn die der Zwangsarbeit unterworfene Person keinen anderen Schaden erleidet als die Wegnahme der Entlohnung für geleistete Arbeit (ausschliesslich wirtschaftlicher Schaden). In diesem Falle finden die entsprechenden Bestimmungen des StGB und des OR oder des ZGB Anwendung.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass rechtmässig in der Schweiz wohnhafte Personen aus EU-/EFTA-Mitgliedstaaten Opfer von Menschenhandel sind oder werden. Jedoch handelt es sich bei Opfern von Menschenhandel und Zwangsarbeit meist um Personen, die sich illegal in der Schweiz aufhalten. Diesbezüglich sieht das AuG Ausnahmen zum üblichen Aufenthaltsgenehmigungsverfahren vor, um den Aufenthalt der Opfer oder Zeugen von Straftaten des Menschenhandels sowie auch den Aufenthalt von Personen zu regeln, die im Rahmen eines in der Schweiz, im Ausland oder durch einen internationalen Strafgerichtshof eingerichteten Zeugenschutzprogramms mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren. Das AuG sieht auch eine Einzelfallprüfung vor, um schwerwiegende
persönliche Härtefälle oder Fälle von grossem öffentlichem Interesse berücksichtigen zu können. Die VZAE sieht darüber hinaus vor, den Opfern und Zeugen von Straftaten des Menschenhandels, die mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren, die Möglichkeit zu bieten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Das AuG wiederum regelt die Rückkehr- und Wiedereingliederungshilfeprogramme.

Zugang zu diesen Programmen haben Opfer und Zeugen von Straftaten des Menschenhandels sowie Cabaret-Tänzerinnen, die in der Schweiz der Ausbeutung zum Opfer gefallen sind.

Das am 1. Januar 2013 in Kraft getretene ZeugSG schafft die rechtlichen Grundlagen und Strukturen für die Durchführung von Zeugenschutzprogrammen zugunsten bedrohter Personen in Strafverfahren des Bundes und der Kantone. Mit der Erfüllung dieser Aufgabe wurde die nationale Zeugenschutzstelle im fedpol betraut.

Diese sorgt dafür, dass gefährdete Personen in Strafverfahren des Bundes und der 7028

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Kantone auch ausserhalb der eigentlichen Verfahrenshandlungen und nach Abschluss des Verfahrens geschützt werden können. Diese Schutzmassnahmen sind im Hinblick auf die Verurteilung der Täterinnen und Täter ausschlaggebend, da die Zeugenaussage der Opfer oftmals massgeblich ist.

Schliesslich ist hervorzuheben, dass in den vergangenen Jahren diverse Massnahmen zur Identifizierung und Befreiung von Opfern ergriffen wurden. Beispielsweise wurde bei den Kantonspolizeien eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen. So kann die Koordination der Massnahmen zur Bekämpfung dieser Straftaten auf nationaler Ebene verbessert werden. Auch wurden spezifische Aus- und Fortbildungen im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels eingerichtet. Diese richten sich in erster Linie an die Mitarbeitenden der Migrationsbehörden, der Staatsanwaltschaften und der Polizei. Diese Ausbildungskurse sind wesentliche Elemente der Strategie zur Bekämpfung des Menschenhandels und werden insbesondere weitergeführt, um die Verbindungen zwischen den Akteuren der Bekämpfung des Menschenhandels und die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse minderjähriger Opfer sicherzustellen. Befindet sich eine minderjährige Person nicht in Begleitung einer Person, die über das elterliche Sorgerecht verfügt, so gilt es als unbegleitete minderjährige Person. Werden Minderjährige Opfer von Menschenhandel, gilt sowohl der Kindeswie auch der Opferschutz. Schliesslich sorgt die KSMM für die Entwicklung und Umsetzung strategischer Massnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels auf nationaler Ebene. Die operative Bekämpfung des Menschenhandels erfordert die Einrichtung interdisziplinärer Runder Tische auf kantonaler Ebene und die Annahme von Kooperationsübereinkommen, die es den zuständigen Behörden und Dienststellen ermöglichen, ihre Aufgabenbereiche, die Schnittstellen und die Massnahmen zur Umsetzung klar zu definieren. In mehr als der Hälfte der Kantone bestehen derzeit solche Runden Tische. Die Bemühungen zur Einrichtung runder Tische in allen Kantonen werden weiter vorangetrieben.

Jedoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Befreiung von Opfern von Menschenhandel nur möglich ist, wenn das Opfer kooperiert. Diese Kooperation ist oftmals nur schwer umsetzbar, da das Opfer und dessen Angehörige Bedrohungen ausgesetzt sind und sie aufgrund
ihres möglicherweise illegalen Aufenthaltsstatus sowie in Ermangelung von Kenntnissen der lokalen Institutionen den Behörden gegenüber misstrauisch sind.

Art. 4 Artikel 4 betrifft die Rechtsbehelfe und Abhilfemassnahmen. Gemäss dieser Bestimmung hat jedes Mitglied sicherzustellen, dass alle Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit ungeachtet ihrer Anwesenheit oder ihres Rechtsstatus im Hoheitsgebiet, also beispielsweise auch bei illegalem Aufenthalt, Zugang zu geeigneten und wirksamen Rechtsbehelfen und Abhilfemassnahmen wie Entschädigung haben. Darüber hinaus hat jeder Unterzeichnerstaat im Einklang mit den Grundsätzen seiner Rechtsordnung die Massnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass die zuständigen Stellen die Befugnis haben, Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit wegen ihrer Beteiligung an unrechtmässigen Tätigkeiten, zu denen sie als unmittelbare Folge der ihnen auferlegten Zwangs- oder Pflichtarbeit gezwungen worden sind, nicht strafrechtlich zu verfolgen oder von einer Bestrafung abzusehen.

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Gemäss dem OHG stehen jeder Person, die in der Schweiz durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt wurde, unabhängig von ihrer Nationalität und ihrem Aufenthaltsstatus Beratung und Hilfe zu. Die Opfer von Menschenhandel können bei staatlichen und privaten Opferberatungsstellen um Hilfe ersuchen. Die Leistungen der Opferhilfe beinhalten Beratung sowie medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe. Gemäss OHG und StPO stehen den Opfern, die als Zeuginnen oder Zeugen aussagen, eine Reihe von prozessualen Opfer- und Zeugenschutzrechten zu. Seit dem 1. Januar 2013 machen es das ZeugSG, die dazugehörige Verordnung vom 7. November 201248 über den ausserprozessualen Zeugenschutz und eine neu geschaffene Zeugenschutzstelle des Bundes möglich, Zeuginnen und Zeugen, welche an Strafverfahren des Bundes und der Kantone beteiligt sind, nötigenfalls auch ausserhalb der eigentlichen Verfahrenshandlungen und nach Abschluss des Verfahrens zu schützen. Darüber hinaus können Opfer auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmungen des StGB und des ZGB (Schutz der Persönlichkeit) Entschädigung und Leistung von Genugtuung verlangen.

Von Bedeutung für den Opferschutz ist die Regelung der aufenthaltsrechtlichen Situation. Grundlage ist das seit 2008 geltende Ausländerrecht. Nach der Ausbeutung wird dem Opfer eine Bedenkzeit von 30 Tagen gewährt. Es hat während dieser Zeit die Gelegenheit, sich zu erholen sowie sich eine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden zu überlegen. Nach Ablauf der Bedenkzeit und wenn das Opfer zu einer Zusammenarbeit mit den Behörden bereit ist, kann diesem für die Dauer des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden. Diese Aufenthaltsbewilligung kann in individuellen Härtefällen verlängert werden (Art. 36 Abs. 6 VZAE). Wenn das Opfer nicht zur Aussage bereit ist, seine persönliche Situation jedoch gegen seine Rückkehr ins Heimatland spricht, kann auch in diesem Fall eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden (Härtefall). Das Opfer kann auch eine Aufenthaltsbewilligung erhalten, wenn die Ausschaffung nicht möglich oder nicht zulässig ist, oder vernünftigerweise nicht erwartet werden kann (Art 36 Abs. 6 VZAE und Art. 83 AuG).

Wenn die Straftat im Ausland begangen
wurde, werden die Leistungen der Beratungsstellen unter bestimmten Bedingungen bewilligt. Opfer haben Anspruch auf Unterstützung, wenn sie zum Zeitpunkt der Straftat und zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Schweiz domiziliert waren. Die Hilfe kann auch Angehörigen gewährt werden, wenn sie wie das Opfer zum Zeitpunkt der Straftat und zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Schweiz domiziliert waren. Grundsätzlich wird keine Entschädigung oder Genugtuung gewährt. Opferhilfe wird nur gewährt, wenn der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde, keinerlei oder nur unzureichende Leistungen erbringt.

Im Hinblick auf Entschädigung kann sich das Opfer von Menschenhandel gemäss OHG am Strafverfahren beteiligen und seine Zivilansprüche geltend machen. Damit wird es zur beschwerdeführenden Partei. Im Rahmen der Urteilsfindung muss sich das Strafgericht auch zu zivilrechtlichen Ansprüchen äussern. Sofern die vollständige Beurteilung der Zivilansprüche einen unverhältnismässigen Aufwand erfordern 48

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würde, kann das Strafgericht die Ansprüche nur dem Grundsatz nach entscheiden und das Opfer im übrigen an das Zivilgericht verweisen. In der Praxis erfolgt nur sehr selten eine vollumfängliche Entschädigung des Opfers von Menschenhandel durch den Täter. Eine Entschädigung der Opfer durch den Staat wird dank der auf die Anspruchsberechtigten anwendbaren Regelungen und der im OHG vorgesehenen geografischen Zuordnung garantiert.

Alle Vertragsstaaten müssen Möglichkeiten vorsehen, um Opfer von Zwangsarbeit für ihre Beteiligung an rechtswidrigen Handlungen straffrei zu lassen, wenn sie zu dieser Beteiligung gezwungen wurden. In diesem Zusammenhang sind die Botschaft vom 17. November 201049 zur Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die Bekämpfung des Menschenhandels und zum Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz massgeblich. Eine dem Artikel 26 dieses Übereinkommens ähnliche Bestimmung wurde von der Schweiz angenommen.

Artikel 26 legt dar, dass jede Vertragspartei die Möglichkeit vorsieht, Opfer für ihre Beteiligung an rechtswidrigen Handlungen nicht zu bestrafen, wenn sie dazu gezwungen wurden. Das schweizerische Recht beruht in seinen Grundsätzen auf dem Verschuldensprinzip, demzufolge eine Person trotz der Begehung einer Straftat nur dann strafbar ist, wenn sie schuldhaft handelt (Art. 19 StGB). Die Artikel 52­55 StGB bestimmen die Bedingungen, unter welchen eine Strafbefreiung oder eine Einstellung des Verfahrens bewirkt werden können. Wenn das Opfer von Menschenhandel eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um sich oder eine andere Person vor einem unmittelbaren Schaden zu bewahren, sind in jedem Fall die Bedingungen für rechtfertigende Notwehr und rechtfertigenden Notstand gemäss den Artikeln 15­ 18 StGB und insbesondere das Vorliegen eines Notstands zu prüfen.

Art. 5 Artikel 5 unterstreicht den transnationalen Aspekt bestimmter Formen der Zwangsarbeit. Er verlangt von den Mitgliedstaaten, zusammenzuarbeiten, um die Verhütung und Beseitigung aller Formen von Zwangs- oder Pflichtarbeit sicherzustellen.

Die Zusammenarbeit zwischen den Ziel-, Transit- und Herkunftsländern der Opfer von Menschenhandel wird immer wichtiger. In diesem Zusammenhang nimmt die strategische Zusammenarbeit eine zentrale Rolle ein, denn dank einer optimalen Kooperation der operativ
tätigen Dienststellen in den Bereichen der Strafverfolgung und des Opferschutzes sollen die Fälle auch grenzübergreifend so effizient wie möglich behandelt werden.

Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und den operativ tätigen Dienststellen geschieht jedoch nicht automatisch. In diesem Zusammenhang ist es von grosser Bedeutung, den direkten Kontakt zwischen den zuständigen Stellen und dem jeweils betroffenen Land zu fördern. Dieser Kontakt kann im Rahmen des politischen Dialogs zwischen den Schweizer Botschaften und den schweizerischen Kooperationsbüros im Ausland oder mit manchen Ländern auch über spezifische Arbeitsgruppen erfolgen. Regelmässige Treffen oder internationale Runde Tische zum Thema Menschenhandel stärken die Netzwerkarbeit auf internationaler Ebene. Die Schweiz 49

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stützt sich hierbei in erster Linie auf Migrationspartnerschaften. Durch diese können immer dort Lücken geschlossen werden, wo Strukturen der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Menschenhandels nicht oder nicht in ausreichendem Masse vorhanden sind. Die positiven Auswirkungen der strategischen Zusammenarbeit zeigen sich in einer besseren Koordination und Ausgewogenheit von Strafverfahren sowie in der erleichterten Rückkehr und der erfolgreicheren Wiedereingliederung der Opfer.

Art. 6 Artikel 6 sieht vor, dass die Massnahmen zur Anwendung der Bestimmungen des Protokolls und implizit auch des Übereinkommens Nr. 29 durch die innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder durch die zuständige Stelle nach Absprache mit den in Betracht kommenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden festzulegen sind.

Wie bereits dargelegt beruhen die in der Schweiz getroffenen Massnahmen auf einer formellen rechtlichen Grundlage, auf die sich die zuständigen Gerichts- und Verwaltungsbehörden stützen.

Betreffend die Konsultation der Dachverbände der Sozialpartner wird auf die Erläuterungen zu Artikel 1 verwiesen.

Art. 7 Artikel 7 klärt den Status der Übergangsbestimmungen des Übereinkommens Nr. 29: Artikel 1 Absätze 2 und 3 und die Artikel 3­24 des Übereinkommens sind aufzuheben.

Da die Schweiz im Verlauf der Ratifikation des Übereinkommens Nr. 29 diese Übergangsbestimmungen nicht geltend gemacht hat, zieht deren Aufhebung für die Umsetzung des Übereinkommens keinerlei Änderung nach sich.

Schlussfolgerungen Aufgrund dieser Ausführungen geht der Bundesrat davon aus, dass die Bedingungen für eine Ratifikation des Protokolls zum Übereinkommen Nr. 29 durch die Schweiz erfüllt sind.

Beim Engagement zur der Bekämpfung der Zwangsarbeit handelt es um einen Akt der internationalen Solidarität, der das langjährige Engagement der Schweiz für die Ratifikation der Kernübereinkommen der IAO unterstreicht. Obgleich Zwangsarbeit einhellig verurteilt wird, ist sie für fast 21 Millionen Opfer weltweit noch Realität.

Davon werden 18,7 Millionen Personen in der Privatwirtschaft ausgebeutet. Die restlichen 2,2 Millionen Personen werden von staatlichen Stellen oder militärischen Rebellengruppen der Zwangsarbeit unterworfen. Traditionelle Sklaverei besteht in einigen Regionen fort. Dies gilt auch für Zwangsarbeit in Form von
Zwangsrekrutierungssystemen und für Schuldknechtschaft. Zwangsarbeit ist schliesslich auch ein Mittel zur Bestrafung von Personen, die es gewagt haben, ihrer politischen Meinung Ausdruck zu verleihen.

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Die Beseitigung der Zwangsarbeit ist nach wie vor eine der grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Zwangsarbeit ist nicht nur ein gravierender Verstoss gegen ein grundlegendes Menschenrecht, sondern auch einer der Hauptgründe für Armut. Zwangsarbeit behindert wirtschaftliche Entwicklung. In Verbindung mit gezielter technischer Hilfeleistung sind die Normen der IAO zur Zwangsarbeit die wichtigsten Mittel zur Bekämpfung dieses Übels auf internationaler Ebene.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

3.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Wie bereits in den Erläuterungen zu Artikel 1 des Protokolls dargelegt wurde (vgl.

Ziff. 2), wird die für die Umsetzung des Protokolls erforderliche Koordination durch die entsprechenden beratenden Organe des fedpol und des SECO sichergestellt. Die Ratifikation des Protokolls hat keine finanziellen Auswirkungen.

3.1.2

Personelle Auswirkungen

Die Ratifikation des Protokolls hat keine Auswirkungen auf den Personalbestand des Bundes.

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Ratifikation des Protokolls hat keine Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden. Dasselbe gilt für urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die Ratifikation des Protokolls hat keine Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und wird weder das Wachstum noch die Beschäftigung und das Preis- und Lohnniveau in der Schweiz beeinflussen. Mit der Ratifikation kann die Umsetzung der schweizerischen Gesetzgebung und Praxis in Bezug auf die Arbeitsbedingungen von ausgebeuteten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verbessert werden.

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4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 27. Januar 201650 zur Legislaturplanung 2015­2019 noch im zugehörigen Bundesbeschluss51 über die Legislaturplanung 2015­2019 angekündigt, da die Entscheidungen der IAK zur Annahme von Übereinkommen und Protokollen nicht im Voraus geplant werden können. Die Schweiz muss sich so bald wie möglich auf internationaler Ebene in kohärenter und solidarischer Weise für die Bekämpfung der Zwangsarbeit engagieren. Das anwendbare Schweizer Recht steht im Einklang mit dem Protokoll, und der Bundesrat ist gemäss der Verfassung der IAO verpflichtet, dem Parlament das Protokoll spätestens ein Jahr nach seiner Verabschiedung zu unterbreiten (vgl. Ziff. 1.3).

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)52, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200253; Art. 7a Abs. 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199754).

5.2

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert.

Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generellabstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Die Umsetzung des vorliegenden Protokolls erfordert bei der derzeitigen Rechtslage weder die Verabschiedung neuer Vorschriften noch eine Änderung bereits bestehender Bestimmungen. Das Protokoll enthält jedoch wichtige rechtsetzende Bestimmungen im Sinne von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Präambel (vgl. Ziff. 1.4) und insbesondere in den Artikeln 1­5 (vgl. Ziff. 2).

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BBl 2016 1105 BBl 2016 5183 SR 101 SR 171.10 SR 172.010

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Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Protokolls ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.

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