zu 13.443 Parlamentarische Initiative Angemessene Vertretung der Sprachgemeinschaften in einem Bundesrat mit neun Mitgliedern Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 4. Februar 2016 Stellungnahme des Bundesrates vom 20. April 2016

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-N) vom 4. Februar 20161 betreffend die parlamentarische Initiative 13.443 der SPK-N «Angemessene Vertretung der Sprachgemeinschaften in einem Bundesrat mit neun Mitgliedern» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

20. April 2016

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Johann N. Schneider-Ammann Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 30. August 2013 beschloss die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) die Einreichung der parlamentarischen Initiative 13.443 «Angemessene Vertretung in einem Bundesrat mit neun Mitgliedern». Nachdem die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S) am 27. Januar 2014 dem Beschluss der SPKN zugestimmt hatte, erarbeitete die SPK-N eine Vorlage. Vorgesehen sind zwei Verfassungsänderungen: In Artikel 175 Absatz 1 der Bundesverfassung2 (BV) soll festgehalten werden, dass der Bundesrat künftig aus neun statt wie heute aus sieben Mitgliedern besteht. Artikel 175 Absatz 4 BV soll das Anliegen einer angemessenen Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen kohärenter und in einer besseren Übereinstimmung der verschiedenen Sprachfassungen zum Ausdruck bringen.

Am 4. Februar 2016 hiess die SPK-N die Vorlage gut und lud den Bundesrat zur Stellungnahme ein.

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Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat steht wie die SPK-N uneingeschränkt zum in Artikel 175 Absatz 4 BV verankerten Gebot, bei der Zusammensetzung der Landesregierung auf eine angemessene Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen Rücksicht zu nehmen. Die Abbildung der Vielfalt unseres föderalistischen Staatswesens in der Regierung ist von fundamentaler Bedeutung für unser Land. Dennoch lehnt der Bundesrat die von der SPK-N vorgeschlagene Erweiterung des Bundesrates auf neun Mitglieder ab.

2.1

Artikel 175 Absatz 1 BV

Die SPK-N möchte die in Artikel 175 Absatz 1 BV festgelegte Anzahl der Mitglieder des Bundesrates von sieben auf neun erhöhen. Im Vordergrund dieser Erweiterung steht das Ziel, die sprachliche und regionale Vielfalt in der Regierung besser abbilden zu können. Die Kommission führt aber auch Vorteile einer besseren Verteilung der Arbeitslast, der stärkeren Wahrnehmung von Aufgaben durch Regierungsmitglieder statt durch Verwaltungsangestellte und der zweckmässigeren Departementalorganisation an.

Der Bundesrat lehnt die vorgeschlagene Änderung aus folgenden Gründen ab.

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2.1.1

Bundesversammlung ist verantwortlich für eine sprachlich und regional vielfältige Zusammensetzung des Bundesrates

Die Bundesversammlung wählt die Mitglieder des Bundesrates (Art. 168 Abs. 1 BV). Die Mitglieder der Bundesversammlung stimmen ohne Weisungen, was auch für Wahlen gilt (Art. 161 Abs. 1 BV). Das bestehende Verfassungsgebot der Rücksichtnahme auf eine angemessene Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen im Bundesrat richtet sich primär an die Bundesversammlung als Wahlorgan des Bundesrates. Es liegt in der Verantwortung der Bundesversammlung, bei der Wahl der Mitglieder des Bundesrates die Vielfalt des Landes in sprachlicher und regionaler Hinsicht angemessen zu berücksichtigen. Diese Pflicht besteht nach geltendem Recht bei einem Bundesrat mit sieben Mitgliedern (Art. 175 Abs. 1 BV). Rechtliche Hindernisse, die die Bundesversammlung daran hindern könnten, ihre Verantwortung wahrzunehmen, gibt es nicht. Die Wahl einer Vertreterin oder eines Vertreters einer bestimmten Sprachregion oder Landesgegend in den Bundesrat hängt letztlich davon ab, dass die einzelnen Mitglieder der Bundesversammlung ihr Wahlrecht im Einklang mit Artikel 175 Absatz 4 BV ausüben.

2.1.2

Vertretungsvielfalt erfordert keine Erweiterung des Bundesrates

Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, die Regierung zur Stärkung der Vertretungsvielfalt von sieben auf neun Mitglieder zu vergrössern. Die Wahrscheinlichkeit, dass zahlenmässig stark minoritäre Sprachregionen wie die italienische oder die rätoromanische Schweiz im Bundesrat häufiger als bisher vertreten wären, mag mit neun Mitgliedern etwas zunehmen. Eine regelmässige Präsenz ist aber auch auf dieser Basis nicht garantiert. Die Wahl der Mitglieder des Bundesrates durch die Bundesversammlung hängt in der Praxis von einer Vielzahl von Faktoren und Kriterien ab, die aufgrund der jeweiligen Lage des Landes und der politischen Konstellation unterschiedlich gewichtet werden. Es gilt ausserdem zu bedenken, dass das Gewicht einer einzelnen Vertreterin oder eines einzelnen Vertreters im Bundesrat bei einer erhöhten Gesamtzahl des Kollegiums tendenziell abnimmt.

2.1.3

Diversität ist in der Praxis gut gewährleistet

Ein Blick auf die Zusammensetzung des Bundesrates seit 1848 zeigt, dass die Bundesversammlung auf eine angemessene Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen insgesamt gut Rücksicht genommen und bei der Wahl der Mitglieder der Landesregierung namentlich auch gegenüber den französisch- und italienischsprachigen Regionen eine grosse Sensibilität gezeigt hat. Über die gesamte Zeit seit der Gründung des Bundesstaates hinweg lässt sich gemessen am Anteil der einzelnen Sprachgemeinschaften an der Gesamtbevölkerung mit Ausnahme einer geringfügigen Abweichung beim Rätoromanischen keine Untervertretung der verschiedenen Sprachgemeinschaften im Bundesrat feststellen. Untervertretungen in einzelnen 3829

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Phasen gehen mit Übervertretungen in anderen Phasen einher. Es gab Zeiten, in denen der Bundesrat aus fünf Deutschschweizern und zwei Mitgliedern aus der Romandie bestand. Es gab Zeiten mit vier Deutschschweizern, zwei Mitgliedern aus der Romandie und einem Tessiner. Manchmal setzte sich der Bundesrat aus vier Vertretern der deutschen und drei der französischen Sprachregion zusammen, wie das auch gegenwärtig der Fall ist. Bei der Gesamterneuerungswahl des Bundesrates vom 9. Dezember 2015 bewarben sich für einen wegen Rücktritts frei gewordenen Sitz Kandidaten aus der deutschen, der französischen und der italienischen Sprachregion. Sprachregion und Landesgegend sind neben der politischen Ausrichtung und ­ seit etwas über drei Jahrzehnten ­ dem Geschlecht der Kandidierenden die wichtigsten Repräsentationskriterien bei der Wahl von Bundesratsmitgliedern. Das war schon so, bevor die Verfassungsbestimmung von Artikel 175 Absatz 4 BV am 1. Januar 2000 in Kraft trat. Die angemessene Vertretung der Sprachregionen und Landesgegenden im Bundesrat ist in der Praxis gewährleistet. Eine Erweiterung des Bundesrates ist demnach aus diesem Grund nicht nötig.

2.1.4

Erweiterung des Bundesrates erscheint aus strukturellen Gründen problematisch

Die Organisation des Bundesratskollegiums kann sich nicht allein nach der Vertretungsvielfalt richten. Es geht primär darum, mit welcher Grösse und Struktur sich die Regierungsaufgaben am besten bewältigen lassen. Eine Erweiterung des Bundesrates von sieben auf neun Mitglieder würde das Kollegialprinzip stärkeren Belastungen aussetzen. Der administrative Aufwand würde grösser, weil mehr interdepartementale Schnittstellen entstünden. Die Departementalisierung würde weiter zunehmen. Diese gegen eine Erweiterung des Kollegiums auf neun Mitglieder sprechenden Argumente führte der Bundesrat schon in seiner Botschaft vom 19. Dezember 20013 zur Staatsleitungsreform an. Statt einer Vergrösserung des Bundesrates schlug er damals eine Zwei-Kreise-Regierung mit delegierten Ministerinnen und Ministern vor.

2.1.5

Vergrösserung der Regierung war bis anhin nie mehrheitsfähig

Bislang war kein Anlauf zu einer Vergrösserung der Regierung mehrheitsfähig.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert hatte sich der Bundesrat gegen eine Erweiterung des Kollegiums ausgesprochen. 1900 und 1942 wurden Volksinitiativen, die die Volkswahl eines auf neun Mitglieder erweiterten Bundesrates zur Entscheidung stellten, jeweils deutlich verworfen. 1996 scheiterte eine Gesetzesvorlage in der Referendumsabstimmung, die zwar nicht die Regierung zahlenmässig erweitern, aber indirekt stärken wollte, indem jeweils zwei bis drei neuartige Staatssekretärinnen und Staatssekretäre die Departementsvorsteherinnen und -vorsteher bei Aufgaben der Departementsführung hätten entlasten sollen. Im 3

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Rahmen der Arbeiten zur Botschaft zur Staatsleitungsreform von 2001 verwarf der Bundesrat die Variante eines Neuner-Bundesrates mit stärkerem Bundespräsidium, nachdem diese in der Vernehmlassung kontroverse Reaktionen ausgelöst hatte. In den parlamentarischen Beratungen zur Staatsleitungsreform sprach sich der Ständerat am 4. März 2003 für einen Bundesrat mit neun Mitgliedern aus. Der Nationalrat lehnte dieses Modell jedoch ab und wies die Vorlage im März 2004 an den Bundesrat zurück, was der Ständerat im Juni 2004 ebenfalls tat. Mit Beschlüssen vom 10. September 2012 (Nationalrat) und 27. November 2012 (Ständerat) schrieben die Räte noch hängige Punkte der Staatsleitungsreform ab, womit auch der Erweiterungsbeschluss des Ständerates von 2003 gegenstandslos wurde. Der Bundesrat stellt überdies fest, dass sich in der von der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates im Frühjahr 2015 durchgeführten Vernehmlassung zum vorliegenden Entwurf eine deutliche Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer, namentlich auch bei den Kantonen und den Parteien, gegen eine Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Bundesrates ausgesprochen hat.

2.2

Artikel 175 Absatz 4 BV

Die SPK-N schlägt vor, Artikel 175 Absatz 4 BV sprachlich neu zu formulieren und den Wortlaut der drei Fassungen besser aufeinander abzustimmen. Beim Verb soll die deutsche Fassung der französischen und italienischen Fassung angeglichen werden, um die Verbindlichkeit der Bestimmung besser auszudrücken. Umgekehrt sollen die in der deutschen Fassung verwendeten Begriffe «Landesgegenden» und «Sprachregionen» in den beiden anderen Fassungen präziser abgebildet werden. Der Bundesrat hat keine grundsätzlichen Einwände gegen eine Angleichung der drei Sprachfassungen. Es fragt sich aber, ob eine Änderung der Bundesverfassung nur zum Zweck der Angleichung der unterschiedlichen Sprachfassungen wirklich sinnvoll ist.

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Schlussfolgerungen

Der Bundesrat lehnt die vorgeschlagene Änderung von Artikel 175 Absatz 1 BV mit der Erweiterung des Bundesrates von sieben auf neun Mitglieder ab. Die Bundesversammlung steht schon heute in der Pflicht, Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Sprachregionen und Landesgegenden in den Bundesrat zu wählen.

Rechtliche Hindernisse gibt es keine. In der Praxis zeigt es sich, dass die Bundesversammlung das Erfordernis einer angemessenen Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen insgesamt gut berücksichtigt. Eine Erweiterung des Bundesrates vermag auch aus strukturellen Gründen nicht zu überzeugen (mehr Schnittstellen zwischen den Departementen, Zunahme der Departementalisierung). Zudem war bisher keiner der diversen Versuche, die Regierung zu vergrössern, von Erfolg gekrönt. Gegen die vorgeschlagene sprachliche Angleichung der drei Fassungen von Artikel 175 Absatz 4 BV opponiert der Bundesrat nicht.

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Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der von der SPK-N vorgeschlagenen Erweiterung des Bundesrats von sieben auf neun Mitglieder (Änderung von Art. 175 Abs. 1 BV).

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