16.059 Botschaft zur Ratifikation des Zusatzprotokolls zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung über das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften vom 24. August 2016

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Zusatzprotokolls zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung über das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

24. August 2016

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Johann N. Schneider-Ammann Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Übersicht Das Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung über das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften (nachfolgend «Zusatzprotokoll») bezweckt den Schutz der Mitwirkungsrechte der Bevölkerung an den Angelegenheiten der kommunalen Gebietskörperschaften.

Das Zusatzprotokoll ist am 1. Juni 2012 in Kraft getreten. Es stellt heute den einzigen rechtsverbindlichen Text des Europarats im Bereich der partizipativen Demokratie dar. Es enthält keine direkt anwendbaren Bestimmungen, sodass es in der Verantwortung der Vertragsstaaten liegt, es in der nationalen Gesetzgebung umzusetzen.

Nach Ansicht des Bundesrates erfüllt die Schweiz die Vorgaben des Zusatzprotokolls bereits heute.

Das Zusatzprotokoll ergänzt die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, indem es jeder Person das Recht garantiert, die Ausübung der Kompetenzen einer kommunalen Gebietskörperschaft bestimmen oder beeinflussen zu wollen.

Insbesondere müssen alle Bürgerinnen und Bürger in der Gebietskörperschaft, in der sie ihren Aufenthalt haben, über das aktive und passive Wahlrecht verfügen. Die Vertragsparteien können dieses Recht verschiedenen Formalitäten, Voraussetzungen oder Einschränkungen unterstellen, sofern diese durch das Gesetz vorgeschrieben und mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei vereinbar sind.

Die Vertragsstaaten müssen zudem alle Massnahmen ergreifen, die zur Verwirklichung des Mitwirkungsrechts notwendig sind.

Der Bundesrat hat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement am 12. Juni 2015 beauftragt, eine Vernehmlassung im Hinblick auf eine Ratifikation des Zusatzprotokolls durchzuführen. Aus den 37 eingegangenen Stellungnahmen geht hervor, dass die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer, insbesondere vierzehn Kantone sowie der Schweizerische Gemeindeverband und der Schweizerische Städteverband, die Ratifikation des Zusatzprotokolls unterstützen.

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Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Das Zusatzprotokoll wurde im Europarat auf der Grundlage zahlreicher, seit den 1970er-Jahren durchgeführter Arbeiten im Bereich der lokalen Mitwirkung erarbeitet. An der 15. Konferenz der für die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften zuständigen Ministerinnen und Minister des Europarates, die am 15. und 16. Oktober 2007 in Valencia stattfand, wurde die endgültige Ausarbeitung eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung vom 15. Oktober 19851 beschlossen. Der Steuerungsausschuss des Europarats für lokale und regionale Demokratie (Comité européen sur la démocratie locale et régionale, CDLR; seit 2014 Comité européen sur la démocratie et la gouvernance, CDDG) schloss die entsprechenden Arbeiten im April 2009 ab und unterbreitete den Entwurf des Zusatzprotokolls dem Ministerrat des Europarats. Anlässlich der 16. Konferenz der für die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften zuständigen Ministerinnen und Minister des Europarates, die am 16. und 17. November 2009 in Utrecht stattfand, verabschiedeten die Delegierten der Ministerinnen und Minister des Europarates das Zusatzprotokoll und legten es zur Unterzeichnung auf.

Das Zusatzprotokoll ist am 1. Juni 2012 in Kraft getreten. Es ist bislang von vierzehn Mitgliedsstaaten2 des Europarats ratifiziert und von sechs weiteren3 unterzeichnet worden. Das Zusatzprotokoll ist das einzige rechtsverbindliche Instrument des Europarats im Bereich der partizipativen Demokratie.

Der Bundesrat hat das Zusatzprotokoll in seinem zehnten Bericht vom 27. Februar 20134 über die Schweiz und die Konventionen des Europarates zur Priorität «C» gezählt. Diese Kategorie umfasst die Abkommen, die für die Schweiz von Interesse wären, deren Ratifikation in naher Zukunft jedoch juristische, politische oder praktische Probleme aufwerfen würde.5 Die C-Priorität ging darauf zurück, dass die Kantone einer Ratifikation des Zusatzprotokolls skeptisch gegenüberstanden. Des Weiteren war das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) nicht befriedigt mit der Konzeption des Zusatzprotokolls als Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, weil diese den Gemeinden Rechte garantiert, während jenes den Gemeinden Pflichten auferlegt.

Die Frage einer Ratifikation des Zusatzprotokolls durch die Schweiz
wurde mit einer am 8. September 2014 im Ständerat eingereichten Motion wieder aktuell, die verlangt, dass das Zusatzprotokoll zur nachhaltigen Sicherung des Prinzips der demokratischen Beteiligung auf kommunaler Ebene unterzeichnet wird (Motion 14.3674, 1 2 3 4 5

SR 0.102 Armenien, Bulgarien, Estland, Finnland, Litauen, Mazedonien, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Slowenien, Schweden, Ukraine, Ungarn und Zypern.

Albanien, Belgien, Frankreich, Island, Portugal und Vereinigtes Königreich.

BBl 2013 2145 BBl 2013 2145, 2155 und 2170

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Minder). Der Bundesrat erklärte sich bereit, zu prüfen, ob eine Ratifikation des Zusatzprotokolls inzwischen möglich sei. Er beantragte dem Parlament jedoch die Ablehnung der Motion, weil er vor einer Ratifikation die Kantone konsultieren müsse.

Die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer unterstützt eine Ratifikation des Zusatzprotokolls und sieht keine juristischen, politischen oder praktischen Probleme, die dagegen sprechen würden. Insbesondere unterstützen jetzt die Mehrheit der Kantone, der Gemeindeverband, der Städteverband und auch das EDA eine Ratifizierung.

1.2

Überblick über den Inhalt des Zusatzprotokolls

Nach Artikel 1 Absätze 1 und 2 des Zusatzprotokolls garantieren die Vertragsstaaten jeder Person in ihrem Zuständigkeitsbereich das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten einer kommunalen Gebietskörperschaft, d. h. das Recht, Anstrengungen zu unternehmen, um die Ausübung der Kompetenzen einer kommunalen Gebietskörperschaft zu bestimmen oder zu beeinflussen.

Die Vertragsstaaten sollen alle notwendigen Massnahmen zur Erleichterung und Verwirklichung des Rechts auf Mitwirkung an den Angelegenheiten kommunaler Gebietskörperschaften ergreifen (Art. 1 Abs. 3 und Art. 2). Das Zusatzprotokoll enthält eine nicht abschliessende Liste solcher Massnahmen, wie die Ermächtigung der kommunalen Gebietskörperschaften, die Ausübung des Rechtes auf Mitwirkung zu ermöglichen, zu fördern und zu erleichtern, die Regelung des Zugangs zu amtlichen Dokumenten, die sich im Besitz kommunaler Gebietskörperschaften befinden, sofern dies die Verfassungsordnung vorsieht, die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Personen, die sich bei der Mitwirkung besonderen Hindernissen gegenübersehen, oder die Unterstützung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Förderung und Ausübung des Mitwirkungsrechts (Art. 2 Abs. 2).

Die Vertragsparteien müssen die Ausgestaltung des Mitwirkungsrechts im Gesetz regeln, so den persönlichen Geltungsbereich oder die zu beachtenden Formalitäten, Voraussetzungen und Einschränkungen (Art. 1 Abs. 4.1, 4.2 und 5.1). Das Gesetz muss sicherstellen, dass durch die Ausübung des Rechts auf Mitwirkung nicht die ethische Integrität und die Transparenz bei der Ausübung der Zuständigkeiten der kommunalen Gebietskörperschaften gefährdet werden (Art. 1 Abs. 5.2).

1.3

Vernehmlassungsverfahren

Der Bundesrat eröffnete die Vernehmlassung zur Ratifikation des Zusatzprotokolls am 12. Juni 2015. Sie endete am 16. Oktober 2015.6 Von den 50 eingeladenen Behörden und Organisationen haben 34 Stellung genommen. Darüber hinaus haben 6

Die Vernehmlassungsunterlagen und der Ergebnisbericht sind zu finden unter www.bundesrecht.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2015 > EJPD.

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drei Institutionen spontan Stellung genommen. Die Ratifikation des Zusatzprotokolls wird allgemein gut aufgenommen: Zwanzig Vernehmlassungsteilnehmer stimmen ihr zu7. Zehn Teilnehmer lehnen sie ab.8 Sieben sind weder für noch gegen die Ratifikation des Zusatzprotokolls oder haben ausdrücklich auf eine Stellungnahme verzichtet.9 Die Meinung der Kantone, die für die Regelung der Mitwirkung der Bevölkerung an den kommunalen Angelegenheiten zuständig sind, ist von besonderer Bedeutung.

Vierzehn Kantone begrüssen die Ratifikation des Zusatzprotokolls. Fünf Kantone äussern sich eher positiv oder haben nichts gegen die Ratifikation einzuwenden; ein Kanton zum Beispiel befürwortet die Ratifikation des Zusatzprotokolls, wenn sie vom Bundesrat und der Mehrheit der Kantone gutgeheissen wird. Der Kanton Graubünden hat nicht Stellung genommen. Sechs Kantone sprechen sich gegen die Ratifikation des Protokolls aus.

Im Hinblick auf Artikel 50 der Bundesverfassung10 (BV) ist auch die Haltung des Schweizerischen Gemeindeverbands und des Schweizerischen Städteverbands hervorzuheben. Beide Verbände stimmen der Ratifikation des Zusatzprotokolls zu.

Das Hauptargument der Befürworter der Ratifikation des Zusatzprotokolls ist der Umstand, dass die Schweiz dessen Anforderungen bereits erfüllt. Sie machen überdies geltend, dass die Schweiz durch die Ratifikation des Zusatzprotokolls einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie auf internationaler Ebene leisten könne. Zudem könne sie sich dadurch im Bereich der Demokratie international noch stärker positionieren.

Dass die Schweiz die Anforderungen des Zusatzprotokolls bereits erfüllt, ist hingegen in den Augen anderer Vernehmlassungsteilnehmer ein Grund für die Ablehnung einer Ratifikation, weil diese somit überflüssig sei. Dieser Grund allein rechtfertigt es jedoch nicht, dass die Schweiz das Zusatzprotokoll nicht ratifiziert. Bereits in seinem Bericht des Jahres 2013 hielt der Bundesrat fest, dass die Schweiz nicht beabsichtige, das Zusatzprotokoll in naher Zukunft zu unterzeichnen, dass sie sich aber an die darin verfochtenen Werte halte. Heute unterstützen die Mehrheit der Kantone und der Schweizerische Gemeindeverband sowie der Schweizerische Städteverband die Ratifikation des Zusatzprotokolls. Für die Ratifikation spricht ausserdem, dass die Rechtsordnung der Schweiz
die Anforderungen des Zusatzprotokolls bereits erfüllt.

Die eine Ratifikation ablehnenden Vernehmlassungsteilnehmer weisen ferner auf die mangelnde Klarheit des Wortlauts des Zusatzprotokolls hin und befürchten, dass die Vorgaben des Protokolls weit ausgelegt werden könnten.11 Diesbezüglich ist daran zu erinnern, dass die Mitwirkungsrechte durch die Mitgliedstaaten des Europarates in recht unterschiedlicher Weise garantiert werden. Es ist daher unvermeidlich, dass die Bestimmungen des Zusatzprotokolls offen formuliert sind. Die Befürchtung, 7

8 9 10 11

ZH, BE, UR, ZG, FR, SO, BS, BL, AR, SG, TG, TI, VD, NE; CVP, SP; Schweizerischer Gemeindeverband, Schweizerischer Städteverband; Gemeindeexekutive der Gemeinde Meyrin, EKM.

LU, SZ, OW, NW, AI, VS; FDP, SVP; SGV; Centre Patronal.

GL, SH, AG, GE, JU; economiesuisse, Schweizerischer Arbeitgeberverband.

SR 101 SZ, AI, VS; SVP; SGV.

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dass sie weit ausgelegt werden können, ist nicht begründet. Denn einerseits sind sie nicht direkt anwendbar; die Vertragsstaaten müssen sie also umsetzen und deren Tragweite gegebenenfalls in ihrer Gesetzgebung präzisieren. Andererseits sind die in der Schweiz garantierten Mitwirkungsrechte weiter entwickelt als in anderen Mitgliedstaaten des Europarates.

Drei Vernehmlassungsteilnehmer führen an, dass die Ratifikation des Zusatzprotokolls nicht die im Bereich der direkten Demokratie bestehenden Praktiken und Traditionen der kommunalen Gebietskörperschaften in Frage stellen oder zu zusätzlichen Massnahmen führen sollte.12 Die Einführung der elektronischen Stimmabgabe oder der Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts auf andere Personen als die Bürgerinnen und Bürger beispielsweise sollten weiterhin von den kommunalen Gebietskörperschaften beurteilt werden können. Dazu ist festzuhalten, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen durch das Zusatzprotokoll nicht geändert wird. Für die Klärung dieser Fragen sind folglich weiterhin die Kantone zuständig.

Aus Sicht dreier Teilnehmer sollte die Schweiz die Anwendung des Zusatzprotokolls auf die politischen Gemeinden beschränken und eine entsprechende Erklärung abgeben, wie sie dies bei der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung getan hat.13 Der Bundesrat teilt diese Auffassung (vgl. Art. 1 Abs. 3 des Entwurfs des Bundesbeschlusses).

Zusammengefasst befürworten die Mehrheit der Kantone, der Schweizerische Gemeindeverband und der Schweizerische Städteverband eine Ratifikation des Zusatzprotokolls und erachten sie als günstig für die Förderung der Demokratie auf internationaler Ebene und das Engagement der Schweiz in diesem Bereich.

1.4

Würdigung

Alle europäischen Staaten anerkennen, dass die Mitwirkung der Bevölkerung an den kommunalen Angelegenheiten zur Wahrung des Rechtsstaats und der Demokratie beiträgt. Durch die Ratifikation des Zusatzprotokolls würde die Schweiz nicht nur einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie auf internationaler Ebene leisten und der Tätigkeit des Europarats in diesem Bereich Nachdruck verleihen, sondern sich auch im Bereich der partizipativen Demokratie international noch stärker positionieren.

Darüber hinaus erfüllt die Schweiz nach Ansicht des Bundesrates bereits heute die Anforderungen für eine Ratifikation des Zusatzprotokolls.

Vor diesem Hintergrund vertritt der Bundesrat die Auffassung, dass ein Mitgliedstaat des Europarates mit so umfangreichen Mitwirkungsrechten wie die Schweiz dem einzigen Instrument des Europarates auf diesem Gebiet beitreten sollte. Dies umso mehr, als sich die Mehrheit der Kantone sowie der Schweizerische Gemeindeverband und der Schweizerische Städteverband für die Ratifikation des Zusatzprotokolls aussprechen.

12 13

Schweizerischer Gemeindeverband, Schweizerischer Städteverband; Centre Patronal.

BS, SG; Schweizerischer Städteverband.

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2

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des Zusatzprotokolls

Präambel Die kurze Präambel hält die Gründe für die Schaffung des Zusatzprotokolls fest.

Wie in der Präambel der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung wird im dritten Absatz der Präambel des Zusatzprotokolls festgehalten, dass die Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten ein allen Europaratsstaaten gemeinsamer demokratischer Grundsatz ist.

Die Erwähnung der Konvention des Europarats über den Zugang zu amtlichen Dokumenten14 im sechsten Absatz soll auf die enge Verbindung aufmerksam machen, die zwischen dieser Konvention und dem Zusatzprotokoll besteht (vgl. dazu unten die Erläuterungen zu Art. 2 Abs. 2 des Zusatzprotokolls).

Die Erklärung und der Aktionsplan des Dritten Gipfels der Staats- und Regierungschefs des Europarats15, die im siebten Absatz erwähnt werden, enthalten insbesondere die Absichtserklärung der Staats- und Regierungschefs, die Arbeiten im Bereich der Demokratie zu verstärken und diesbezügliche Normen zu entwickeln, soweit sich dies als nötig erweist (Erklärung, Ziff. 3; Aktionsplan, Ziff. 3).

Art. 1 In dieser Bestimmung ist festgehalten, dass jeder Person das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten kommunaler Gebietskörperschaften zu garantieren ist, d. h.

das Recht, Anstrengungen zu unternehmen, um die Ausübung der Kompetenzen einer kommunalen Gebietskörperschaft zu bestimmen oder zu beeinflussen (Abs. 1 und 2). Die Umsetzung dieses Rechts liegt in der Verantwortung der Vertragsstaaten. Diese Bestimmung verpflichtet die Vertragsstaaten nicht, Ausländerinnen und Ausländern das aktive oder das passive Wahlrecht zu gewähren (Abs. 4.1).

Absatz 3 verpflichtet die Vertragsstaaten, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen oder zu erhalten, der die Ausübung des Mitwirkungsrechts erleichtert. Dieser Rahmen muss nicht für alle Personen gleich sein, sondern kann Massnahmen vorsehen, die je nach den objektiven Eigenschaften der Personen oder Gebietskörperschaften verschieden ausfallen, beispielsweise Massnahmen zugunsten der Wählerinnen und Wähler. Es wird präzisiert, dass diese Massnahmen niemanden ungerechtfertigt diskriminieren dürfen.

Absatz 4.1 gewährleistet das aktive und das passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Die in einer grossen Mehrheit der schweizerischen Gemeinden praktizierte direkte Versammlungsdemokratie (Bürgerversammlungen) wird durch diese
Bestimmung nicht in Frage gestellt. Absatz 4.1 des Zusatzprotokolls ist also nicht so zu verstehen, dass eine Pflicht zur Schaffung von Gemeindeparlamenten besteht.16 Das 14 15 16

SEV 205; von der Schweiz nicht unterzeichnet.

Abrufbar unter www.coe.int > Demokratie > Kongress der Gemeinden und Regionen (ab hier nur noch französisch und englisch) > Textes Textes adoptés.

Vgl. Kilian Meyer, Gemeindeautonomie im Wandel, Diss. St. Gallen 2011, S. 410.

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aktive und das passive Wahlrecht können von den Vertragsparteien gemäss Absatz 5.1 durch Gesetz von Bedingungen und Einschränkungen abhängig gemacht werden.

Das Wahlrecht kann somit beispielsweise ans Schweizer Bürgerrecht, an den Wohnsitz in der Gemeinde und die Volljährigkeit geknüpft werden. Das Wahlrecht wird von Absatz 4.1 des Weiteren nur für Bürgerinnen und Bürger gewährleistet, die im Wahlkreis ihren Aufenthalt haben.

Absatz 4.2 hält fest, dass es den Vertragsparteien unbenommen bleibt, das aktive und das passive Wahlrecht auch Personen einzuräumen, die nicht ihre Bürgerinnen bzw.

Bürger sind oder nicht im Wahlkreis ihren Aufenthalt haben.

Absatz 5.1 schreibt vor, dass alle Formvorschriften, Bedingungen oder Einschränkungen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen und im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen müssen.

Absatz 5.2 verlangt von den Vertragsparteien den Erlass der notwendigen gesetzlichen Formvorschriften, Bedingungen und Einschränkungen zur Sicherstellung, dass durch die Ausübung des Rechts auf Mitwirkung nicht die ethische Integrität und die Transparenz bei der Ausübung von Befugnissen und Zuständigkeiten kommunaler Gebietskörperschaften gefährdet werden. Diese Bestimmung bezweckt die Verhinderung von unannehmbaren Handlungen wie Korruption, Gewaltanwendung und Zwang.

Absatz 5.3 behandelt die Formvorschriften, Bedingungen oder Einschränkungen, die einem anderen Zweck als dem in Absatz 5.2 genannten dienen. Diese müssen zusätzlich zu den in Absatz 5.1 genannten Voraussetzungen mindestens eine der drei folgenden Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen notwendig sein für das Funktionieren eines wirklich demokratischen Systems, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft oder für die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch die Vertragspartei.

Art. 2 Nach Absatz 1 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, alle Massnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um das Recht auf Mitwirkung an den Angelegenheiten kommunaler Gebietskörperschaften zu verwirklichen. Dies umfasst insbesondere gesetzgeberische Massnahmen, ohne sich hierauf zu beschränken.

In Absatz 2 findet sich eine nicht abschliessende Liste der Massnahmen, denen gemäss Zusatzprotokoll eine besondere Bedeutung zukommt: Verfahren zur
Beteiligung der Bevölkerung; Verfahren für den Zugang zu amtlichen Dokumenten; Massnahmen für Personen, die sich bei der Mitwirkung besonderen Hindernissen gegenübersehen; Verfahren für die Behandlung von Beschwerden und von Vorschlägen bezüglich der Arbeitsweise kommunaler Gebietskörperschaften und kommunaler öffentlicher Dienste.

Was den Zugang zu amtlichen Dokumenten betrifft, so sah das Zusatzprotokoll ursprünglich ein eigentliches Zugangsrecht vor. Nachdem der Ministerrat des Europarats am 27. November 2008 das Übereinkommen über den Zugang zu amtlichen Dokumenten verabschiedet und zur Unterzeichnung aufgelegt hatte, wurde dieser Vorschlag verworfen. Das Zusatzprotokoll verlangt nun bloss Verfahren für den 6976

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Zugang zu amtlichen Dokumenten, die im Einklang mit der verfassungsmässigen Ordnung und den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen. Es steht einer Ratifikation durch die Schweiz deshalb nicht entgegen, dass einzelne Kantone das Öffentlichkeitsprinzip nicht eingeführt haben.

Absatz 3 erlaubt es, die Massnahmen der Grösse und den Kompetenzen der kommunalen Gebietskörperschaften anzupassen.

Nach Absatz 4 müssen die kommunalen Gebietskörperschaften bei den Planungsund Entscheidungsprozessen in Bezug auf die Massnahmen zur Umsetzung des Mitwirkungsrechts angemessen einbezogen werden. Die Anhörung der Gemeinden muss so durchgeführt werden, dass diese genügend Bedenkzeit haben; sie kann auch über den Städte- und den Gemeindeverband erfolgen.17 Art. 3 Das Zusatzprotokoll gilt für alle Arten kommunaler Gebietskörperschaften, die im Hoheitsgebiet der Vertragspartei bestehen. Jeder Staat kann jedoch den Anwendungsbereich des Zusatzprotokolls bestimmen, indem er ihn beispielsweise auf gewisse Arten kommunaler oder regionaler Gebietskörperschaften beschränkt.

Ähnlich wie bei der Charta18 wäre für das Zusatzprotokoll in einer Erklärung zu präzisieren, dass dieses in der Schweiz nur für die Einwohnergemeinden gilt (vgl. Art. 1 Abs. 3 des Entwurfs des Bundesbeschlusses).

Art. 4 Dieser Artikel enthält Bestimmungen über den räumlichen Geltungsbereich, wie sie üblicherweise in den Konventionen des Europarats vorkommen.

Nach Absatz 1 kann die Vertragspartei einzelne oder mehrere Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die das Zusatzprotokoll Anwendung findet. Dieser Artikel bezieht sich auf die Überseegebiete mancher Staaten sowie auf Gebiete, die zwar zum Hoheitsgebiet des Vertragsstaates gehören, jedoch einen besonderen Status haben. Hingegen findet der Artikel nicht Anwendung auf Gliedstaaten von Bundesstaaten wie z. B.

die Kantone der Schweiz.19 Jede Vertragspartei kann jederzeit danach durch eine Erklärung die Anwendung des Zusatzprotokolls auf weitere Hoheitsgebiete erstrecken oder diese durch eine Notifikation wieder aus dem Anwendungsbereich ausschliessen (Abs. 2 und 3).

17 18 19

Vgl. Botschaft des Bundesrats vom 19. Dez. 2003 zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, BBl 2004 79, hier 93.

Vgl. Botschaft des Bundesrats vom 19. Dez. 2003 zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, BBl 2004 79, hier 98.

Siehe Botschaft des Bundesrats vom 19. Dez. 2003 zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, BBl 2004 79, hier 99.

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Art. 5­7 Die Artikel 5­7 enthalten die üblichen Schlussbestimmungen der Konventionen des Europarates. Sie beziehen sich auf die Unterzeichnung, das Inkrafttreten und die Kündigung des Zusatzprotokolls sowie auf die Notifikationen.

3

Auswirkungen

Das Zusatzprotokoll enthält keine direkt anwendbaren Bestimmungen, sodass es in der Verantwortung der Vertragsstaaten liegt, es in der nationalen Gesetzgebung umzusetzen.

Die vom Zusatzprotokoll geregelte Materie liegt im ausschliesslichen Kompetenzbereich der Kantone. Die Regelung der Mitwirkung auf kommunaler Ebene verbleibt auch bei einer Ratifikation des Zusatzprotokolls in der kantonalen Zuständigkeit.

Die von Artikel 50 BV garantierte Gemeindeautonomie wird nicht tangiert.

Das Zusatzprotokoll hat keine finanziellen oder personellen Auswirkungen auf den Bund. Auch für die Kantone dürfte keine Mehrbelastung entstehen, da die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zur Mitwirkung an kommunalen Angelegenheiten in allen Gemeinden bereits sehr gut ausgebaut sind.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrates

Die Ratifikation des Zusatzprotokolls ist in der Botschaft vom 27. Januar 2016 20 zur Legislaturplanung 2015­2019 nicht angekündigt.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 54 Absatz 1 BV ist der Abschluss völkerrechtlicher Verträge Sache des Bundes. Insbesondere ist der Bundesrat ermächtigt, die Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren; er unterbreitet sie der Bundesversammlung zur Genehmigung (Art. 184 Abs. 2 BV). Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern nicht der Bundesrat durch Gesetz oder einen völkerrechtlichen Vertrag zum selbstständigen Vertragsabschluss ermächtigt ist (siehe auch Art. 24 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dez. 200221 [ParlG] und Art. 7a Abs. 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 199722 [RVOG]).

20 21 22

BBl 2016 1105 SR 171.10 SR 172.010

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5.2

Form des zu genehmigenden Erlasses

Nach Artikel 163 BV erlässt die Bundesversammlung rechtsetzende Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes oder der Verordnung. Sie genehmigt völkerrechtliche Verträge, die dem Referendum unterliegen, in der Form eines Bundesbeschlusses, andere völkerrechtliche Verträge genehmigt sie in der Form eines einfachen Bundesbeschlusses (Art. 24 Abs. 3 ParlG).

Dem obligatorischen Referendum unterliegt namentlich der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften (Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV). Das Zusatzprotokoll sieht dies nicht vor und untersteht folglich nicht dem obligatorischen Referendum.

Dem fakultativen Referendum werden völkerrechtliche Verträge unterstellt, wenn sie unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen, wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV). Unter rechtsetzenden Normen sind gemäss Artikel 22 Absatz 4 ParlG jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen (Art. 164 Abs. 1 BV). Das Zusatzprotokoll enthält solche Bestimmungen.

Aus diesen Gründen untersteht der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Zusatzprotokolls dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV.

5.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage untersteht nicht der Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV, da sie weder Subventionsbestimmungen noch die Grundlage für die Schaffung eines Verpflichtungskredites oder Zahlungsrahmens enthält.

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