697

# S T #

über

die Beschwerde des F. Fischli, Lehrers in St. Gallen, gegen eine Bussenverfügung des Gemeinderates von Straubenzell wegen Nichtteilnahme an einer eidgenössischen Abstimmung.

(Vom 3. November 1908.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über die Beschwerde des F. Fischii, Lehrers in St. Gallen, gegen eine Bussenverfügung des Gemeinderates von Straubenzell wegen Nichtteilnahme an einer, eidgenössischen Abstimmung, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n Beschluss g e f a sst :

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Am 25. Juni 1908 erliessen die Gemeindekanzleien von St. Gallen, Straubenzell und Tablât einen Aufruf in den als obligatorische Publikationsorgane erklärten 3 Tageszeitungen der Stadt St. Gallen, betreffend die eidgenössische Volksabstimmung vom 5. Juli 1908 über die Ergänzung der Bundesverfassung Bundesblatt.

60. Jahrg. Bd. V.

45

698

durch die Bestimmungen betreffend Gewerbegesetzgebung und das Absinthverbot.

Die Publikation bestimmte, wann und wo die Stimmurnen aufgestellt seien, und enthielt daneben noch folgende Vorschriften : Stimmberechtigt ist jeder Schweizerbürger, welcher das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat und im übrigen nach den kantonalen Gesetzen von der Stimmfähigkeit nicht ausgeschlossen ist.

Stellvertretung ist strafbar. Nichtteilnahme olone gesetzlichen Entschuldigungsgrund wird mit Fr. 2 gebüsst. -- Die blosse Behauptung, keine Stimmkarte erhalten zu haben, befreit nicht von der Busse bei Nichtteilnahme an der Abstimmung.

Fehlende Stimmkarten können reklamiert werden : (folgt die Angabe der Stimmregister- und Eontrollbureaux in St. Gallen, Straubenzell und Tablât.)

Entschuldigungen mit Rückgabe der Stimmfähigkeitsscheine und unter genauen Angabe des Abwesenheitsgrundes sind innert 8 Tagen nach der Abstimmung an die gleichen Adressen einzureichen.

II.

,,Wegen Abwesenheit bei der Urnenabstimmungu vom 5. Juli 1908 fällte der Gemeinderat Straubenzell am 22. Juli 1908 gegen P. Fischii, Lehrer am Institut Schmidt in St. Gallen, eine Busse im Betrage von Fr. 2, wozu 25 Cts. Kosten kommen.

Fischii rekurrierte gegen die Verfügung an die st. gallische Regierung, weil die Teilnahme an eidgenössischen Abstimmungen freigestellt sei und keine Behörde das Eecht habe, wegen Nichtteilnahme Bussen auszusprechen.

In Beantwortung der Eingabe gab das Departement des Innern des Kantons St. Gallen dem Beschwerdeführer am 1. August 1908 folgenden Bescheid : Laut dem Bundesgesetz vom 17. Juni 1874 betreffend Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse ordne jeder Kanton 'die Abstimmung auf seinem Gebiete nach den Vorschriften des Bundesgesetzes Vom 19. Heumonat 1872 betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen. Dieses Gesetz statuiere über die Stimmberechtigung, Stimmregister und Art der Stimmabgabe, und stelle es den Kantonen anheim,

699

neben den bundesrechtlichen Normen besondere Vorschriften über das Abstimmungsverfahren aufzustellen ; da die Bundesgesetzgebung den Stimmzwang nicht statuiere, können ihn die Kantone einführen. Der Stimmzwang sei also nicht bundesrechtswidrig. Der Kanton St. Gallen habe ihn durch Art. 43 seiner Verfassung eingeführt, welcher lautet : ,,Jeder stimmfähige Bürger ist pflichtig, ani den verfassungsmässigen Wahlen und Abstimmungen, sowie an Gemeindeversammlungen teilzunehmen. Diese Pflicht hört mit dem Antritte des 60. Altersjahres auf tt ; das st. gallische Organisationsgesetz spreche in Art. 20, lit. a, für Wegbleiben von, einer Abstimmung oder Wahlversammlung ohne rechtsgültige Entschuldigung eine Busse von Fr. 2 aus.

Wenn der Eekurrent mit der gemeinderätlichen Bussenverfügung nicht einverstanden sei, so stehe ihm nach Art. 20, lit. c, des vorgenannten Organisationsgesetzes innert 8 Tagen das Recht der Entschuldigung beim Gemeinderat offen, auch könne er gegen das gemeinderätliche Bussenurteil gemäss Art. 101 der st. gallischen Prozessordnung bei Vergehen und Übertretungen an die Gerichtskommission rekurrieren.

III.

Mit Eingabe vom 6. August 1908 hat F. Fischii gegen die Bussenverfügung die staatsrechtliche Beschwerde an den Bundesrat ergriffen und die Aufhebung der Busse verlangt, weil er nicht gewusst habe, dass im Kanton St. Gallen der Stimmzwang bestehe, weil ihm kein Stimmausweis zugestellt worden sei, weil er vor der Ausfällung der Busse nicht gehört worden sei, und weil er endlich am 5. Juli zur Führung der Aufsicht im Institut Schmidt, wo er Lehrer sei, habe bleiben müssen, und aus diesem Grunde auf keinen Fall an der Urne hätte stimmen können.

IV.

Zur Vernehmlassung auf die Besehwerde eingeladen, hat die Regierung des Kantons St. Gallen die Abweisung der Beschwerde beantragt, im wesentlichen aus folgenden Gründen : Es bedürfe keiner weitern Darlegung, dass der in Art. 43 der Verfassung des Kantons St. Gallen statuierte Stimmzwang sich auch auf die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen erstrecke ; dieser Artikel sei in der Praxis immer so ausgelegt, worden. Was die von Fischii in der Beschwerdeschrift an den

700

Bundesrat geltend gemachten Einwände betreffe, so sei Rechlsunkenntnis keim Entschuldigungsgrund, und nach der Versicherung des Gemeindeweibels sei Fischii eine Stimmkarte zugestellt worden ; den vom Rekurrenten vor dem Bundesrate vorgebrachten Entschuldigungsgrund hätte der Rekurrent vorschriftsmässig vor oder innert 8 Tagen nach der Abstimmung geltend machen können und er wäre vom Gemeinderat Straubenzell wohl auch berücksichtigt worden ; jetzt sei die Entschuldigung verspätet.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Der vom Rekurrenten angeführte Rekursgrund, er habe keinen Stimmausweis erhalten, scheint nach der Vernehmlassung des Regierungsrates tatsächlich unzutreffend zu sein und wäre auch sonst nicht ausreichend, da der Rekurrent sich rechtzeitig eine Stimmkarte hätte verschaffen können. Der weitere Rekursgrund des Rekurrenten, er sei nicht gehört worden, trifft ebenfalls nicht zu, da der am Stimmen verhinderte Bürger seine Entschuldigungsgründe innert 8 Tagen angeben kann, was der Rekurrent nicht getan, hat.

Es bleibt somit bloss zu untersuchen, ob der Stimmzwang in einer eidgenössischen Angelegenheit überhaupt zulässig ist.

Art. l des Bundesgesetzes betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen, vom 19. Juli 1872, bestimmt, dass die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat, die Wahlen der eidgenössischen Geschwornen und die Abstimmungen über die Revision der Bundesverfassung nach den Vorschriften der kantonalen Gesetze stattfinden, unter Vorbehalt der folgenden Bestimmungen des gleichen. Gesetzes. Die Kantone haben also die Vorschriften aufzustellen, nach denen die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vorzunehmen sind ; diese Vorschriften dürfen aher denjenigen des eidgenössischen Gesetzes nicht widersprechen. Das Bundesgesetz enthält nun keine ausdrückliche Bestimmung über den Stimmzwang. Die Bestimmungen, welche von dem Stimmrecht sprechen, können nicht dahin ausgelegt werden, dass der zum Stimmen Befugte nur dazu berechtigt und nicht verpflichtet sein solle, denn der Stimmberechtigung entspricht auch die Pflicht, das Stimmrecht auszuüben, wenn diese Pflicht auch im Bundesrecht nicht in der Weise ausgebildet ist, dass der Stimmzwang von Gesetzes wegen

701

eingeführt ist (vgl. Bundesratsbeschluss vom 31. August 1897 i. S. Lepori, Bundesbl. 1897, IV, 104 ; Salis, III, Nr. 1154).

Wenn das kantonale Recht daher die Stimmberechtigten zur Ausübung ihres Rechtes verpflichtet und die Vernachlässigung dieser Pflicht mit Strafe bedroht, so stellt es sich mit den eidgenössischen Vorschriften nicht in Widerspruch (Salis, III, Nr. 1153; S c h o l l e n b e r g e r, Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht, Bd. X, S. 88 ff.). Der Bundesrat hat zwar diese Auslegung noch nicht ausdrücklich in einem Rekursentscheide sanktioniert, wohl aber stillschweigend, indem er nie gegen die Anwendung des Stimmzwanges in eidgenössischen Angelegenheiten Widerspruch erhoben hat, trotzdem er gegen Verletzungen des erwähnten Bundesgesetzes von Amtes wegen hätte einschreiten müssen.

Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird abgewiesen.

B e r n , den 3. November 1908.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

-

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des F. Fischli, Lehrers in St. Gallen, gegen eine Bussenverfügung des Gemeinderates von Straubenzell wegen Nichtteilnahme an einer eidgenössischen Abstimmung. (Vom 3. November 1908.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1908

Année Anno Band

5

Volume Volume Heft

46

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

11.11.1908

Date Data Seite

697-701

Page Pagina Ref. No

10 023 094

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.