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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des Josef Kaufmann-Graber in Wauwil betreffend Verweigerung einer Bewilligung zum Kleinverkauf geistiger Getränke.

(Vom 30. Juni 1908.)

Der schweizerische

Bundesrat

hat über die Beschwerde des J o s e f K a u f m a n n - G r ä b e r in Wauwil betreffend Verweigerung einer Bewilligung zum Kleinverkauf geistiger Getränke, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n Beschluss

gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Mit Beschluss vom 4. Januar 1908 hat der Regierungsrat des Kantons Luzern das Gesuch des Josef Kaufmann-Graber in Wauwil um eine Bewilligung zum Kleinverkauf von gebrannten Wassern und von Flaschenweinen über die Gasse mit der Begründung abgewiesen, dass dem Gesuch ,,mangels Bedürfnisses und mit Rücksicht auf das öffentliche Wohl" nicht entsprochen werden könne.

Mit Eingabe vom 21. März 1908 beschwert sich Josef Kaufmann-Graber beim Bundesrat über diesen Beschluss und

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stellt das Begehren, der Beschluss sei als verfassungswidrig aufzuheben und die Regierung des Kantons Luzern einzuladen, dem Rekurrenten die verlangte Bewilligung zu erteilen.

Der Entscheid stehe- im Widerspruch mit den Art. 31, 32bis und 4 der Bundesverfassung. Gemäss Art. 31 der Bundesverfassung könne die Ausübung des Wirtschaftsgewerbes und der Kleinhandel mit geistigen Getränken nur auf dem Wege der Gesetzgebung den durch das öffentliche Wohl geforderten Beschränkungen unterworfen werden. Eine gesetzliche Vorschrift, die es gestatten würde, auch gegenüber Gesuchen um Kleinverkaufsbewilligungen die Bedürfnisfrage aufzuwerfen, fehle im Recht des Kantons Luzern ; denn der Bedürfnisparagraph, § 20 des luzernischen Wirtschaftsgesetzes vom 22. November 1883, beziehe sich, wie aus seinem Wortlaut und aus der Definition des Begriffs ,,Wirtschaft" in § 2 des zitierten Gesetzes hervorgehe, nur auf Wirtschaften, nicht aber auf Kleinverkaufsstellen. Ebenso sei es weder nach der kantonalen Verordnung betreffend den Kleinhandel mit gebrannten Wassern vom 3. Dezember 1887 noch nach dem Bundesgesetz über gebrannte Wasser vom 29. Juni 1900 gestattet, die Bewilligungen zum Kleinverkauf vom Bedürfnis abhängig zu machen. Der angefochtene Entscheid sei daher willkürlich, die verlangte Bewilligung könne dem Rekurrenten nicht verweigert werden.

Aber wenn auch die Bedürfnisfrage aufgeworfen werden dürfte, so müsste sie doch im vorliegenden Falle bejaht werden. Der Rekurrent betreibe schon jetzt einen Wein- und Mosthandel und ausserdem eine Drogerie. Der Kleinverkauf gebrannter Wasser und feiner Flaschenweine stehe in natürlichem Zusammenhang mit seinem gegenwärtigen Gewerbebetrieb, und namentlich der Vertrieb von Krankenweinen, den er besonders zu pflegen gedenke, sei für Wauwil und die umliegenden Dörfer ein unabweisbares Bedürfnis, da solche Getränke in den beiden Wirtschaften des Dorfes nicht zu haben seien, sondern von Dagmersellen oder Sursee bezogen werden müssen.

Jedenfalls aber liege in der Abweisung des Gesuches des Rekurrenten eine Verletzung der Rechtsgleichheit, da in Dagmersellen neben fünf Wirtschaften zwei Kleinverkaufsstellen bestehen, während in Wauwil, das mit den umliegenden Ortschaften wohl ebensoviel Einwohner zähle wie Dagmersellen, und zudem eine grosse Fabrik habe, neben zwei Wirtschaften keine Kleinverkaufsstelle existiere.

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II.

In seinen Vernehmlassungen vom 11. April und 6. Mai 1908 beantragt der Regierungsrat des Kantons Luzern Abweisung der Beschwerde.

Der Rekurrent sei schon am 13. Oktober 1906 mit einem gleichen Gesuch abgewiesen worden. Dieser Entscheid sei rechtskräftig geworden, da Kaufmann nicht dagegen rekurriert habe. Seither haben sich die Verhältnisse nicht verändert. Es dürfe daher auf die vorliegende Beschwerde nicht eingetreten werden (vgl. Salis, Bundesrecht, II, Nr. 331).

Im übrigen sei der Rekurs materiell unbegründet. Das luzernische Wirtschaftsgesetz handle im ersten Teil unter der Aufschrift ,, Von der Wirtsberechtigung im allgemeinentt auch von dem Kleinverkauf geistiger Getränke. Unzweifelhaft finde daher § 20 des Gesetzes, welcher die Bedürfnisfrage regelt, auch auf die Patente zum Kleinverkauf Anwendung.

Zudem könne gemäss Art. 17 des Bundesgesetzes über gebrannte Wasser der Kleinhandel nur mit Bewilligung der kantonalen Behörden ausgeübt werden, und Art. 76 der Vollziehungsverordnung vom 24. Dezember 1900 zum genannten Bundesgesetz mache den Kantonen die Aufsicht über den Privathandel mit gebrannten Wassern zur Pflicht. Wenn also die kantonale Verordnung betreffend den Kleinhandel mit gebrannten Wassern die Patenterteilung von gewissen Bedingungen abhängig mache, so gerate sie damit nicht in Widerspruch zur Bundesverfassung.

Von einer rechtsungleichen Behandlung des Rekurrenten könne keine Rede sein ; der Regierungsrat habe in allen ähnlichen Fällen gleich entschieden und sich bei der Abweisung von Gesuchen um Kleinverkaufspatente regelmässig auf den Bedürfnisparagraphen gestützt. Trotzdem er in dieser Hinsicht eine ziemlich strenge Praxis eingehalten habe, sei am 8. Oktober 1907 vom Grossen Rate eine Motion erheblich erklärt worden, welche eine noch weitergehende Beschränkung der Kleinverkaufsstellen bezwecke.

Entgegen der Behauptung des Rekurrenten könne das Bedürfnis für eine weitere Kleinverkaufsstelle in Wauwil nicht anerkannt werden. Das Dorf habe 592 Einwohner. Die zwei gutgeführten Wirtschaften, welche auch die Berechtigung zum Kleinverkauf haben, genügen dem vorhandenen Bedürfnis vollkommen, wie sich aus den Gutachten des Gemeinderats von

361 Wauwil und des Statthalteramts Willisau ergebe. Endlich sei auch noch zu erwähnen, dass der Rekurrent keine eigentliche Drogerie betreibe, jedenfalls bezeichne er sein Geschäft nicht als solche. Aus der Gemeinde Wauwil seien schon mehrere Gesuche um Kleinverkaufspatente abgewiesen worden.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Die vom Regierungsrat erhobene Einrede, der Bundesrat dürfe auf die vorliegende Beschwerde nicht eintreten, weil der Regierungsrat schon am 13. Oktober 1906 ein Kleinverkaufspatentgesuch des Rekurrenten abgewiesen und der Rekurrent diesen Entscheid nicht angefochten habe, ist nicht stichhaltig.

Der Regierungsrat hat über das vom Rekurrenten im Oktober 1907 gestellte Patentgesuch einen neuen materiellen Entscheid gefällt. Er hat sich nicht damit begnügt, seinen frühern, rechtskräftig gewordenen Entscheid zu. bestätigen, ja er hat nicht einmal auf diesen Entscheid verwiesen, sondern das Gesuch auf Grund neuer Gutachten des Gemeinderats und des Statthalteramts von Willisau abgewiesen, weil für die verlangte Bewilligung in Wauwil kein Bedürfnis bestehe. Der Entscheid des Regierungsrats vom 4. Januar 1908 unterliegt daher ohne Zweifel der Weiterziehung an den Bundesrat.

II.

Das Hauptargument des Rekurrenten geht dahin, dass der von ihm in Aussicht genommene Kleinhandel mit gebrannten Wassern und mit Flaschenweinen gemäss Art. 31 der Bundesverfassung nur auf Grund einer Gesetzesbestimmung von der Bedürfnisfrage abhängig gemacht werden könne, und dass eine solche Gesetzesbestimmung im Recht des Kantons Luzern nicht existiere.

Der erste Teil dieser Begründung ist offenbar richtig. Die Kompetenz der Kantone, den Kleinhandel mit geistigen Getränken den durch das öffentliche Wohl geforderten Beschränkungen zu unterwerfen, ihn also vom Bedürfnis abhängig zu

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machen, beruht auf Art. 31, lit. c, der Bundesverfassung, wo verlangt wird, dass diese Beschränkung der Gewerbefreiheit im Wege der Gesetzgebung aufgestellt werde. Weitergehende Kompetenzen sind den Kantonen weder durch Art. 31, lit. Z>, der Bundesverfassung, noch durch Art. 32bis der Bundesverfassung und die darauf beruhende Gesetzgebung eingeräumt worden.

III.

Es fragt sich nun, ob im Kanton Luzern eine gesetzliche Bestimmung die Bewilligung zum Kleinverkauf gebrannter Wasser und feiner Flaschenweine über die Gasse vom Bedürfnis abhängig mache.

Folgende Bestimmungen kommen in Betracht : A. Von dem Gesetz über die Wirtschaften vom 22. November 1883, abgeändert durch die Gesetze vom 23. Dezember 1886 und 3. März 1897 : I. Titel, a. Von der Wirtsberechtigung im allgemeinen : § 2, Absatz 1. Unter den Begriff der Wirtschaft im Sinne dieses Gesetzes fällt jede Art gewerbsmässigen Kleinverkaufs von Getränken, mit Ausschluss von gebrannten Wassern, und zubereiteten Speisen in eigens zu deren Genuss bestimmten Lokalen.

§ 3, Absatz 1. Der Kleinverkauf von gebrannten Wassern ist jedermann, der hierfür kein Realrecht oder kein besonderes Patent besitzt, verboten.

§ 5, Absatz 1. In grössern Ortschaften kann den Weinund Comestibleshandlungen auf die Dauer eines Jahres gegen eine Patentgebühr von Fr. 100--1000 bewilligt werden, feine Flaschenweine über die Gasse zu verkaufen.

II. Titel, a. Wirtschaftsbewilligungen.

§ 20. Das Patent für die Errichtung einer neuen, sowie die Erneuerung oder Übertragung der Konzession einer bereits bestehenden Wirtschaft ist überall zu verweigern, wo die Zahl der Wirtschaften dem öffentlichen Wohle schädlich ist und das Bedürfnis bereits übersteigt.

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B. Von der Verordnung betreffend den Kleinhandel mit gebrannten Wassern vom 3. Dezember 1887 : § l, Absatz 2. Dagegen ist der Kleinhandel mit gebrannten Wassern nur solchen Personen gestattet, welche hierfür ein besonderes Patent erwerben § 2. Der Kleinhandel umfasst : b. Den Kleinverkauf solcher Getränke' über die Gasse.

§ 3. Der Kleinhandel mit gebrannten Wassern darf nur solchen Personen, gestattet werden, welche : a. ein Wirtsrecht nach § 11, lit. a, b oder c, des Wirtschaftsgesetzes besitzen ; b. eine eigentliche Spirituosenhandlung oder solche Gewerbe betreiben, mit welchen regelmässig der Verkauf von flüssigen Genuss- und Lebensmitteln verbunden ist § 5. Jedes Gesuch um Erlangung eines solchen Patentes ist jeweilen vor dem 1. Januar an den Regierungsrat zu richten, welcher darüber das Gutachten des betreffenden Gemeinderates und Statthalteramtes in bezug auf das öffentliche Wohl und Bedürfnis und auf die Person des Bewerbers einzuholen hat.

Was zunächst die Bestimmungen des Wirtschaftsgesetzes betrifft, so fällt unter den Begriff der Wirtschaft in, § 2 nur der Kleinverkauf geistiger Getränke, mit Ausschluss von gebrannten Wassern, in eigens zu deren Genuss bestimmten Lokalen. Der Gewerbebetrieb, um dessen Bewilligung der Rekurrent eingekommen ist, nämlich der Kleinverkauf von gebrannten Wassern und Flaschenweinen über die Gasse, kann also unmöglich unter diesen Begriff der Wirtschaft subsumiert werden. Das geht auch deutlich daraus hervor, dass § 3 des Wirtschaftsgesetzes ein besonderes Patent, nämlich das in der Verordnung vom 3. Dezember 1887 näher bestimmte, für den Kleinverkauf von gebrannten Wassern vorsieht, und dass § 5 wiederum eine Spezialbewilligung mit besonderer Taxe für den Verkauf von Flaschenweinen über die Gasse einführt. Fällt aber der vom Rekurrenten in Aussicht genommene Gewerbebetrieb nicht unter den Begriff Wirtschaft im Sinne des luzernischen Wirtschaftsgesetzes, dann ist auch § 20 dieses Gesetzes nicht auf ihn anwendbar, da dieser nur die Wirtschaften, nicht aber den durch die §§ 2 und 5 von der Wirtsberechti-

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gung ausgenommenen Kleinverkauf von gebrannten Wassern und von Flaschenweinen über die Gasse beschlägt. Dass der Regierungsrat des Kantons Luzern in seiner Praxis gleichwohl stets gestützt auf § 20 des Wirtschaftsgesetzes Patentgesuche wie das des Rekurrenten wegen mangelnden Bedürfnisses abgewiesen hat, kann gegenüber dem klaren Wortlaut der Gesetzesbestimmungen nicht in Betracht kommen.

§ 5 der luzernischen Verordnung betreffend den Kleinhandel mit gebrannten Wassern schreibt allerdings vor, der Regierungsrat habe bei Patentgesuchen, die unter diese Verordnung fallen, das Gutachten der Gemeinde- und Bezirksbehörden in bezug auf das öffentliche Wohl und Bedürfnis etc. einzuholen. Allein da diese Bestimmung nur in einer reglerungsrätlichen Verordnung steht, Art. 31, lit. c, der Bundesverfassung aber verlangt, dass der Kleinhandel mit geistigen Getränken den durch das öffentliche Wohl geforderten Beschränkungen auf dem Wege der Gesetzgebung unterworfen werde, so kann dem Rekurrenten das verlangte Patent auf Grund des § 5 der genannten Verordnung nicht vorenthalten werden.

IV.

Nach dem unter II und III Gesagten braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob in Wauwil ein Bedürfnis nach dem vom Rekurrenten in Aussicht genommenen Kleinhandel mit geistigen Getränken vorhanden sei, und damit fällt auch die Frage der Verletzung der Rechtsgleichheit dahin, da der Rekurrent diese Verfassungsverletzung lediglich in der verschiedenen Beantwortung der Bedürfnisfrage für verschiedene Gemeinden erblickt.

Dass dem Rekurrenten die verlangte Bewilligung aus ändern, in seiner Person oder seinem bisherigen Gewerbebetrieb liegenden Gründen verweigert werden könne, ist nicht behauptet worden. Der Regierüngsrat hat zwar angeführt, der Rekurrent betreibe keine eigentliche Drogerie ; allein da der Rekurrent, wie nicht bestritten ist, eine Wein- und Mosthandlung betreibt, so kann ihm aus jenem Grund allein nach § 5 des Wirtschaftsgesetzes und § 3, lit. fe, der Verordnung betreffend den Kleinhandel mit geistigen Getränken die verlangte Bewilligung nicht vorenthalten werden.

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Demgemäss wird erkannt: Die Beschwerde wird begründet erklärt und die Regierung des Kantons Luzern eingeladen, dem Rekurrenten die verlangte Bewilligung zum Kleinverkauf gebrannter Wasser und feiner Flaschenweine über die Gasse zu erteilen.

B e r n , den 30. Juni-1908.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossenschaf t : Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des Josef Kaufmann-Graber in Wauwil betreffend Verweigerung einer Bewilligung zum Kleinverkauf geistiger Getränke. (Vom 30.

Juni 1908.)

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08.07.1908

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