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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Gewährleistung der revidierten Verfassung des Kantons Appenzell A.-Rh.

(Vom 5. Juni 1908.)

Tit.

Mit Schreiben vom 29. April 1908 haben uns Landammann und Regierungsrat des Kantons Appenzell A.-Rh. mitgeteilt, dass die Landsgemeinde dieses Kantons am 26. April 1908 mit grosser Mehrheit den Entwurf einer revidierten Kantonsverfassung angenommen hat. Die genannte Regierung sucht die eidgenössische Gewährleistung für die revidierte Verfassung nach und äussert dabei den dringenden Wunsch, die Bundesversammlung möchte schon in der Junisession darüber beschliessen, da die revidierte Verfassung gemäss Art. l der Übergangs- und Vollziehungsbestimmungen erst mit der eidgenössischen Gewährleistung in Kraft treten könne.

Der in mehreren Exemplaren hier beigeschlossene Bericht des Revisionsrates vom 25. März 1908 behandelt die Neuerungen, welche die Verfassungsrevision bringt, in ziemlich einlässlicher Weise. Ein grosser Teil dieser Neuerungen bezieht sieh auf Gebiete, die dem Bundesrecht entzogen sind.

Indem wir auf den erwähnten Bericht des Revisionsrates verweisen, beschränken wir uns auf folgende Bemerkungen.

102 I. In Art. 4 (alt 14), welcher das Landrecht regelt, ist der Anspruch der Kantonsbürger auf die Erwerbung des Bürgerrechts der Wohngemeinde gegenüber früher etwas eingeschränkt worden ; während sie früher diesen Anspruch schon durch fünfjährigen ununterbrochenen Wohnsitz in derselben Gemeinde erwarben, ist er jetzt ausserdem davon abhängig gemacht, dass der Kantonsbürger gut beleumdet und während der letzten zwei Jahre nicht wegen selbstverschuldeter Armut von seiner Heimatgemeinde unterstützt worden sei.

II. Nach Art. 8 können nunmehr die im Kanton bestehenden Religionsgenossenschaften, nach Art. 10 auch Korporationen und Genossenschaften zu öffentlichen Wohlfahrtszwecken vom Kantonsrat zu Korporationen des öffentlichen Rechts erklärt werden.

Der erste Absatz von Art. 10 erkennt den Einwohner- und Burgergemeinden diese Eigenschaft zu.

HI. Art. 9 bringt eine neue Regelung der Beziehungen zwischen den Einwohner- und Kirchgemeinden.

IV. In dem die persönliche Freiheit und nun auch das Hausrecht gewährleistenden Art. 11 ist der Grundsatz angemessener Entschädigung durch den Staat für ungesetzliche oder unbegründete Verhaftung aufgenommen worden.

V. Art. 13 (alt 11) betreffend die bürgerliche Handlungsfähigkeit hat eine neue, den Vorschriften des Bundesrechts entsprechende Fassung erhalten.

VI. Art. 16 sichert nicht mehr, wie der frühere Art. 10, bloss das Recht der K a n t o n s e i n w o h n e r , Vereine zu bilden, er schützt vielmehr die Ausübung des Vereinsrechts schlechthin im Rahmen des Art. 56 der Bundesverfassung und stellt ihm das Versammlungsrecht gleich.

VII. Eingehendere Prüfung erfordert die Regelung der Stimmberechtigung in Art. 19 (alt Art. 22).

Während Absatz 2 des alten Art. 22 in kantonalen Angelegenheiten die im Kanton wohnhaften Kantonsbürger und die niedergelassenen Schweizerbürger, in Gemeindeangelegenheiten die in der Gemeinde wohnhaften Gemeindebürger und niedergelassenen Kantons- und Schweizerbürger sofort zum Stimmrecht zuliess, gibt Absatz 2 des Art. 19 der revidierten Verfassung in kantonalen Angelegenheiten den niedergelassenen Schweizerbürgern, in Gemeindeangelegenheiten den niedergelassenen Kantons- und

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Schweizerbürgern das Stimmrecht erst nach drei Monaten. .Nach dem neuen Absatz 3 des Art. 19 erlangen die schweizerischen Aufenthalter die Stimmberechtigung ebenfalls nach drei Monaten.

Wir nehmen an, dass dieser dritte Absatz des Art. 19 sich nicht auf das Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten beziehe, sondern, wie Absatz 2, nur auf das Stimmrecht in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten. Es braucht daher das Bundesrecht gegenüber Absatz 3 des Art. 19 nicht vorbehalten zu werden.

Bedenken erregt dagegen Absatz4 des Art. 19, welcher lautet: ,,Die Frist von drei Monaten wird in allen Fällen vom Tage der Ausstellung der Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung an gerechnet."1 Zwar, soweit sich die Bestimmung auf die Aufenthalter bezieht, kann sie nicht beanstandet werden, da Art. 43 der Bundesverfassung den Aufenthaltern das Stimmrecht in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten überhaupt nicht garantiert.

Bezüglich der Niedergelassenen dagegen steht die Bestimmung im Widerspruch zu der vom Bundesrat bisher befolgten Praxis, dass die dreimonatliche Frist spätestens vom Tage des Gesuches und nicht vom Tage der Erteilung der Niederlassungsbewilligung an zu berechnen sei (vgl. Bundesbl. 1891, III, 1039, 1221, Ziffer 12; Salis, II, Nr. 589; III, Nr. 1162, Ziffer Hj. Der Bundesrat hat diese Praxis mit dem Hinweis darauf begründet, dass es sonst ganz im Belieben der Behörde, vielleicht sogar eines blossen untern Angestellten liegen würde, durch Verzögerung der Ausfertigung oder der Zustellung der Niederlassungsbewilligung einen Bürger von dem ihm garantierten Stimmrecht auszuschliessen. Die Bundesversammlung ist noch nicht in die Lage gekommen, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Mit Rücksicht auf unsere bisherige Praxis sind wir der Ansicht, die eidgenössische Gewährleistung sei dem Absatz 4 des Art. 19, soweit er die im Kanton niedergelassenen Schweizerbürger betrifft, zu verweigern.

VIII. Nach dem neuen zweiten Absatz des Art. 20 (alt 23) ist jede volljährige, in bürgerlichen Ehren und Rechten stehende, im Kanton wohnhafte Schweizerbürgerin wählbar in Schul- und.

Armenbehörden.

IX. Die Art. 22 bis 24 bringen Abänderungen des Amtszwangs, der Amtsdauer der Behörden und der Inkompatibilitäten.

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X. Art. 26 gestattet den Gemeinden, eine Handänderungssteuer auf Liegenschaften einzuführen.

XI. Der Schulartikel (Art. 18) der alten Verfassung hat in den Art. 27 und 28 des Revisionswerkes eine starke Erweiterung im Sinne allseitiger staatlicher Förderung der Bestrebungen auf diesem Gebiete erfahren. Neu wird eingeführt die Unentgeltlichkeit des öffentlichen Sekundarunterrichts für die Schüler der betreffenden Gemeinde, sowie die unentgeltliche Abgabe der obligatorischen Lehrmittel für den öffentlichen Primarunterricht.

Spricht auch Art. 27 der neuen Kantonsverfassung bloss von der staatlichen ,, A u f s i c h t " über das gesamte Schulwesen, ohne die ausschliesslich staatliche ,, L e i t u n g " des Primarunterrichts zu erwähnen, so glauben wir doch, dass Art. 27 der Bundesverfassung nicht vorbehalten zu werden braucht, da die Abweichung mehr im Ausdruck als in der Sache liegt.

XII. Art. 30 macht es dem Staat zur Pflicht, auf einer Reihe von Gebieten durch Gesetzgebung und finanzielle Unterstützung fördernd einzugreifen. Art. 31 sieht ein Gesetz über das Sparkassenwesen vor. Durch Art. 32 findet der Grundsatz der unentgeltlichen Beerdigung Aufnahme. Gemäss Art. 37 soll der Regierungsrat zur Schlichtung von Streiks und Streitigkeiten, die zu solchen führen können, selbst Verhandlungen einleiten oder durch ein von ihm ernanntes Einigungsamt einleiten lassen.

XIII. Art. 40 befreit die über 60 Jahre alten Kantonseinwohner von der Pflicht zur Teilnahme an der Landsgemeinde und setzt für die ändern eine Busse von 10 Franken für das Fernbleiben von der Landsgemeinde ohne erhebliche Gründe fest.

XIV. Die etwas unbestimmte Vorschrift der alten Verfassung (Art. 27), dass der Landsgemeinde Vorlagen betreffend bedeutendere neue Bauten auf Kosten des Landes und überhaupt alle Kantonsratsbeschlüsse von finanziell grösserer Tragweite zur Bestätigung unterstellt werden müssen, ist jetzt in Art. 42, Ziffer 4, dahin präzisiert, dass die Landsgemeinde zu entscheiden hat, über Kantonsratsbeschlüsse, welche für den gleichen Gegenstand eine neue einmalige Ausgabe von mehr als Fr. 30,000 oder eine neue jährlich wiederkehrende Ausgabe von mehr als Fr. 10,000 zur Folge haben.

XV. Demgemäss ist auch in Art. 48 die Beschlussfassung des Kantonsrates über Ausgaben limitiert worden. Neu sind dieser Behörde im selben Artikel zugewiesen worden, in unter-

105 geordneten oder dringenden Fällen der Erlass von Verordnungen 'und Reglementen zum Vollzüge der Gesetzgebung des Bundes (Ziffer 4), die Entscheidung über Kompetenzstreitigkeiten zwischen der vollziehenden und der richterlichen Gewalt (Ziffer 10), in Art. 49, Ziffer 10, die Ernennung der Mitglieder des Verwaltungs- und Kreiseisenbahnrats der schweizerischen Bundesbahnen.

XVI. Die Art. 51 bis 54 regeln die Organisation und die Kompetenzen des Regierungsrates, dessen Geschäftsgang gemäss Art. 55 eine Verordnung des Kantonsrates normiert. Art. 54 speziell baut das jetzt schon bestehende Direktorialsystem weiter aus und gibt gegen Entscheide der Direktionen den Rekurs an den Gesamtregierungsrat. Von den dem Regierungsrat neu zugeschiedenen Kompetenzen heben wir besonders hervor, diejenige zur Verfügung über die kantonalen Truppen innert den Schranken der Bundesgesetzgebung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit in Notfällen (Art. 53).

XVII. Art. 56 stellt neu den Satz auf, dass gleichzeitig nicht mehr als zwei Mitglieder des Regierungsrates der Bundesversammlung angehören dürfen.

XVIII. Von den zahlreichen Neuerungen, die die Art. 57 bis 71 auf dem Gebiete der Rechtspflege bringen, erwähnen wir nur folgende: In strenger Durchführung des Grundsatzes der Gewaltentrennung überträgt Art. 57 die früher dem Kantonsrat zugewiesene Oberaufsicht über die gesamte Rechtspflege dem Obergericht.

Die Bestimmung des Art. 30 der alten Verfassung, dass Advokaten nur in den ans Obergericht weiterziehbaren Prozessen zugelassen werden, ist aus der neuen Verfassung verschwunden.

Art. 58 sieht die Einführung von Fachgerichten und gewerblichen Schiedsgerichten vor. Art. 63 bekleidet den Bezirksgerichtspräsidenten mit den Funktionen des Konkursrichters. Die Parteiverhandlungen vor Bezirksgericht, Obergericht und Kriminalgericht sind, ausgenommen in Ehescheidungsprozessen, öffentlich.

Art. 71 fordert die Einführung eines besondern Strafverfahrens für Jugendliche.

XIX. An den Bestimmungen betreffend die Revision der Verfassung ist nichts geändert worden.

Gemäss den vorstehenden Ausführungen stellen wir Ihnen, Tit., den Antrag, durch beigefügten Beschlussesentwurf der revidierten, von der Landsgemeinde am 26. April 1908 angenommenen Verfassung des Kantons Appenzell A.-Rh. die eid-

106 genössische Gewährleistung zu erteilen, hiervon aber den vierten Absatz des Art. 19 auszunehmen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 5. Juni 1908.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Brenner.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

er.

107 (Entwurf.)

ßundesbeschluss betreffend

die Gewährleistung der revidierten Verfassung des Kantons Äppenzell A.-Rh. vom 26. April 1903.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft und des Antrages des Bundesrates vom 5. Juni 1908, betreffend die revidierte Verfassung des Kantons Appenzell A.-Rh. vom 26. April 1908, in Erwägung: dass Absatz 4 des Art. 19 der revidierten Verfassung den Anfang der zur Erwerbung des Stimmrechts erforderlichen dreimonatlichen Frist in einer dem Art. 43 der Bundesverfassung nicht entsprechenden Weise bestimmt ; dass die revidierte Verfassung im übrigen nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung widerspräche ; in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung,

b e seh H es st: 1. Der revidierten Verfassung des Kantons Appenzell A.-Rh. wird mit Ausnahme des Art. 19, Absatz 4, soweit er sich auf die Niedergelassenen bezieht, dio eidgenössische Gewährleistung erteilt.

2. Der Bundesrat Beschlusses beauftragt.

wird mit der Vollziehung dieses

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10.06.1908

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